Begegnungen11_Haselsteiner
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:45–52.
HORST HASELSTEINER
Anmerkungen zum Gestaltungsprinzip Föderalismus
Neben der demokratischen Partizipation, dem Wunsch nach sozialer Emanzipation, der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit ist in jüngster Zeit erneut der Föderalismus in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und der öffentlichen Diskussion gerückt – in Österreich selbst, in Mitteleuropa und weit über die Grenzen Mitteleuropas hinaus. Im Sinne der Mitgestaltung des öffentlichen und des gesellschaftlichen Lebens, im Interesse des Ausgleichs zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft und mit Rücksicht auf die ausgewogene Regelung des Verhältnisses zwischen Teilen und Ganzem wird der Gestaltungsgrundsatz Föderalismus bemüht. Die folgende Darlegung soll kurz auf Wesen und Ideengeschichte des Föderalismus eingehen.
Ein Definitionsversuch und zwei Vorbemerkungen seien gleich an die Spitze gestellt:
Der Föderalismus kann als innerstaatliches, überstaatliches und gesamtgesellschaftliches Gestaltungsprinzip bezeichnet werden, das der Regelung und dem Ausgleich der Beziehungen zwischen Teilbereichen und dem Ganzen der Gesellschaft dient.
– Föderalismus ist ein vielgestaltiger Begriff und ein komplexes Phänomen, das sich insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert in mehreren Varianten präsentierte.
– Es gab und es gibt bis heute keine einheitliche Theorie, keine übereinstimmende Auffassung über das Wesen des Föderalismus, das allen Spielarten gerecht wird und von allen akzeptiert wird.
Versuchen wir zunächst, uns mit der vielgliedrigen Gestalt des Föderalismus zu beschäftigen. Drei Erscheinungsformen sind nach föderativen Prinzipien eingerichtet:
1. Der öffentlich-rechtliche, innere staatliche Bereich. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob das jeweilige Staatswesen – meist national, regional oder konfessionell mehrschichtig zusammengesetzt – nach den Richtlinien des Föderalismus gegliedert ist. Dieser Staat ist als Bundesstaat zu bezeichnen. Um diesen Bundesstaat von dem im Punkt 2 genannten Staatenbund zu unterscheiden, seien einige Merkmale des bundesstaatlichen Aufbaus angeführt:
– Beim Bundesstaat kann man von einer geteilten Souveränität zwischen Oberstaat und Gliedstaaten sprechen. Die Zuständigkeit zwischen dem Bundesstaat und den Gliedstaaten ist so aufgeteilt, dass ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht, sie ergänzen einander komplementär. Der schweizerische Verfassungsrechtler Usteri hat dies sehr klar ausgedrückt: „Der komplexe Aufbau eines föderalistischen Staates, eines Bundesstaates impliziert ... das Vorhandensein eines materiell beschränkten, ergänzungsbedürftigen Gesamtrechtssystems und mehrerer materiell beschränkter, komplementärer Teilrechtssysteme.“
– Der einzelne Bürger kann mit der Zentralregierung und mit deren Behörden in direkten Kontakt treten. Eine Vermittlung der jeweils regional zuständigen Gliedstaaten ist dafür nicht erforderlich.
– Beim Bundesstaat gibt es eine gemeinsame Bundesregierung als oberste Exekutive, die auch die völkerrechtliche Vertretungsbefugnis nach außen wahrnimmt.
2. Die zweite Spielart ist der Föderalismus im internationalen, im überstaatlichen Bereich. Die Zusammenfassung über die vorgegebenen Staatsgrenzen hinaus kann in der Form des Staatenbundes, der Konföderation erfolgen. Im 20. Jahrhundert ist als zusätzliche Möglichkeit die nach föderativen Prinzipien angelegte Zusammenarbeit in den internationalen Organisationen (Völkerbund, Vereinte Nationen, Europäische Gemeinschaft etc.) zu erwähnen.
Auch beim Staatenbund seien drei Wesensmerkmale angeführt, die ihn vom Bundesstaat abgrenzen:
– Die Gliedstaaten genießen die volle völkerrechtliche Souveränität.
– Es gibt keinen direkten, unmittelbaren Kontakt der einzelnen Bürger der Teilstaaten mit den Zentralstellen des Staatenbundes.
– Gemeinsame Organe des Bundes sind wohl vorhanden – formal aber keine gemeinsame Bundesregierung.
3. Schließlich können alle menschlichen, gesellschaftlichen Vereinigungen – abgesehen von den in den ersten beiden Punkten genannten öffentlich-rechtlichen und international völkerrechtlichen Erscheinungsformen – nach föderativen Gliederungsprinzipien eingerichtet sein (Parteien, Verbände, Genossenschaften, Vereine etc.).
Es kann daher vom Föderalismus als nationalem, als internationalem und auch als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip gesprochen werden. Auf das Objekt des Föderalismus rückbezogen bedeutet dies, dass es um den Staat, um die Staaten im Plural und um die Gesamtgesellschaft geht.
Nach diesem Überblick über die Erscheinungsformen des Föderalismus sei ein kurzer Einblick in die Ideengeschichte angeschlossen.
Einer der frühen Theoretiker des Föderalismus war der Jurist und Stadtsyndikus der ostfriesischen Stadt Emden Johannes Althusius/Althaus (1557–1638). Ausgangspunkt für seine naturrechtlichen und staatsphilosophischen Überlegungen und seine umfassende Gesellschaftslehre waren der calvinische Determinismus, die Idee der Volkssouveränität und die Vorstellung von der genossenschaftlichen Durchgliederung des Staates von unten nach oben. Mit dieser Konzeption im Zusammenhang stehen seine Ansichten über die Bedeutung der Gemeindeverwaltung und des Widerstandsrechtes. Diese Prinzipien fasste er in seinem 1603 erschienenen Hauptwerk „Politica metodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata“ zusammen.
Seine Ansichten richteten sich gegen den sehr weitgehenden staatlichen Souveränitätsbegriff des französischen Staatsrechtlers Jean Bodin (1530–1596). Bodin vertrat die Unabhängigkeit der staatlichen Autorität – und damit der absolutistischen Zentralgewalt – von ständischen bzw. äußeren Bindungen. Bei diesen abzulehnenden Beeinflussungen von außen dachte der Franzose Bodin in erster Linie an Kaiser und Papst. Diese Auffassung von Bodin wurde dann vom Briten Thomas Hobbes (1588–1679) in seinem „Leviathan“ 1651 noch übersteigert. Der Staat tritt bei ihm in der Person des absoluten Herrschers als reale Überperson mit absoluter Souveränität und Gewalt auf. Nach Hobbes Auffassung gab es keine Beschränkung der monarchischen Macht, somit keine föderalistische Aufgliederung und keine Gewaltenteilung.
Es ist bekannt, dass im 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert die Tendenz zum zentralen Machtstaat sich als das stärkere Element erwies, stärker jedenfalls als ständischer Konstitutionalismus und föderalistischer Regionalismus. Hier genügt der Hinweis auf die Blüte des Absolutismus, des aufgeklärten Absolutismus und schließlich auf den im 19. Jahrhundert einsetzenden Siegeszug der nationalstaatlichen Einigung in Italien und in Deutschland, auf das Streben nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der kleinen Völker gegenüber den multinationalen Großreichen der Donaumonarchie und des Osmanischen Reiches.
Dennoch sind auch im 19. Jahrhundert konkrete Ansätze zur Verbreitung des föderativen Gedankens nicht zu übersehen. Zu erwähnen sind Alexis de Tocqueville, Constantin Frantz, Pierre Joseph Proudhon und Otto von Gierke.
In den Jahren 1831 und 1832 bereiste im Auftrag der französischen Regierung der Gerichtsassessor Alexis Clérel Graf de Tocqueville (1805–1859) Amerika, um den dortigen Strafvollzug zu studieren. Tocqueville wandte aber in erster Linie dem amerikanischen Regierungssystem, der amerikanischen Demokratie und dem amerikanischen föderalen Staatsaufbau sein Hauptaugenmerk zu. Durch seine mehrbändige Publikation: „De la démocratie en Amérique“ 1839/1840 wurde in Europa der Begriff Föderalismus wieder bekannt und gleichzeitig das Interesse für den Föderalismus geweckt. Die zahlreichen Übersetzungen seines Werkes in die meisten europäischen Sprachen (unter anderem bereits in den vierzier Jahren des 19. Jahrhunderts ins Ungarische) geben ein beredtes Zeichen dafür.
Von ideologisch und weltanschaulich verschiedenen Ausgangspositionen gingen die beiden im Folgenden kurz geschilderten Exponenten eines umfassenden Föderalismus an die Frage des Föderalismus heran.
Der deutsche konservative politische Schriftsteller Constantin Frantz (1817– 1891) vertrat gegen die von Otto von Bismarck verwirklichte kleindeutsche Lösung (ohne Österreich) das Konzept eines mitteleuropäischen föderativen Staatenbundes unter der Führung des Hauses Habsburg, somit eine föderalistische großdeutsche Lösung. 1879 publizierte er sein Buch: „Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland“.
Für Frantz ist der Föderalismus ein auf dem Naturrecht und auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhender gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsgrundsatz. Er erstreckt sich daher nicht nur auf den juridischen bzw. staats- und völkerrechtlichen Bereich. Bezeichnend für seine Auffassung eines integralen Föderalismus ist folgende Formulierung: „Der Föderalismus ist das Prinzip der Vergesellschaftung schlechthin, von den kleinsten Gruppen zur größten fortschreitend. Vom Ehe- und Freundschaftsbund zum Völkerbund.“ Frantz legte ein starken Wandlungen und Brüchen unterworfenes und damit nicht widerspruchsfreies Konzept einer umfassenden Ideologie des Föderalismus vor. Er wurde zum „Lehrer des deutschen Föderalismus“, zum vielzitierten Propheten der föderalistischen Idee. Sein Einfluss ging dadurch über den unmittelbar deutschsprachigen Bereich weit hinaus. Seine föderalistischen Konzeptionen spielten aber auch bei der Neustrukturierung Deutschlands nach 1945 eine bedeutsame Rolle.
Der französische Sozialist und Theoretiker des Anarchismus Pierre Joseph Proudhon (1809–1865) vertrat in seinem 1863 – knapp vor seinem Tode – erschienenen Essay: „Du princip fédératif“ gleichfalls einen umfassenden Föderalismus.
Proudhon wollte diesen Föderalismus neben dem politischen und juridischen Bereich auch auf die Gesellschaft und vor allem auf die Wirtschaft angewendet wissen, denn seiner Ansicht nach war die radikale Begrenzung der Aufgaben des Staates die Grundvoraussetzung für die kollektive und individuelle Freiheit, vor allem aber für den Ausgleich der wirtschaftlichen und damit der sozialen Gegensätze. Seine starke Ablehnung des Zentralismus und des Staates im Allgemeinen, vor allem jenes des modernen Machtstaates des 19. Jahrhunderts mit seinen ausufernden Kompetenzen, ist nicht zu übersehen. Dies geht deutlich aus folgender Passage seines Essays hervor: „Die erste Ursache aller Unordnungen, die die Gesellschaft heimsuchen, der Unterdrückung der Bürger und des Verfalls der Nationen besteht in der einzigen und hierarchischen Zentralisation der öffentlichen Gewalten; es ist not, sobald wie möglich diesem ungeheuren Parasitismus ein Ende zu machen.“
Schließlich sei noch auf die Arbeiten des in Berlin, in Breslau und in Heidelberg tätigen Rechtshistorikers Otto von Gierke (1841–1921) verwiesen. In seinem vierbändigen Werk „Das deutsche Genossenschaftsrecht“, erschienen zwischen 1868 und 1913, in seinen Arbeiten über Johannes Althusius und in seinem Beitrag: „Das Wesen der menschlichen Verbände“, erschienen 1902, trug er in Deutschland, trug er in ganz Europa nicht unwesentlich zur modernen wissenschaftlichen und staatsrechtlichen Diskussion über den Föderalismus als Gestaltungsprinzip bei.
Zeichen und Erklärungsmuster für die Vielgestaltigkeit und die Multifunktionalität des Föderalismus ist eine Zusammenfassung der Zielsetzungen, unter denen föderative Gestaltungsprinzipien bis heute angewendet werden:
1. Sie dienen der Selbstbestimmung des Kleinraumes und der Kleingruppe gegenüber dem übergeordneten Ganzen.
2. Es geht – zumindest in der Theorie – um den Schutz vor der Allmacht des modernen Machtstaates, um die Frontstellung gegen Absolutismus und gegen überzogenen Zentralismus.
3. Der föderative Zusammenschluss bedeutet eine angestrebte Überlebenschance der kleineren Staaten, der kleineren Völker gegenüber einer Bedrohung durch die mächtigen Nachbarn.
4. Die Funktion des Föderalismus ist als Mittel zur Überwindung von nationalen, religiösen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen in vielschichtig zusammengesetzten Staaten zu sehen. Damit ist allerdings auch die Gefahr verbunden, dass regionale oder gruppenspezifische Sonderinteressen eine Eigendynamik bekommen können.
5. Schließlich wäre die Ausgleichsfunktion des Föderalismus zwischen Kleingruppen und Großverband, zwischen Teilregion und Oberstaat anzuführen.
Aus der Empirie ist bekannt, dass sich der Umsetzung von föderalen Vorstellungen zahlreiche Schwierigkeiten in den Weg gestellt haben. Zum Abschluss ist es daher berechtigt, eine demonstrative Aufzählung der Imponderabilien, mit denen das Gestaltungsprinzip Föderalismus konfrontiert war, anzuführen.
– Über Aufbau und innere Struktur der angestrebten föderalen Lösungen gab es erhebliche Meinungsunterschiede. Die zu Beginn festzustellende Zustimmung der Beteiligten verflog häufig bei der Erörterung von Detailfragen und machte einer Enttäuschung, ja Ablehnung der Pläne Platz.
– Ein Hauptziel der beteiligten Partner war die Durchsetzung der eigenen Interessen und die Absicherung der eigenen Position. Von der zunächst angestrebten gleichberechtigten Mitbestimmung spannte sich der Bogen über die Herrschaftspartizipation bis zum häufig unverhüllt geäußerten und vor allem für die anderen erkennbaren Drang zu dominieren, über die Vorherrschaft zur Hegemonie aufzusteigen.
– Es kam auch zu nach außen hin zunächst gar nicht so klar deklarierten, zu verdeckten Mentalreservationen einzelner potentieller Partner. Da diese Vorbehalte meist erst spät offen angemeldet wurden, war dann die Enttäuschung, ja die Verbitterung über den Misserfolg umso größer.
– Allgemein ist festzustellen, dass vielen Lösungsvorschlägen ein allumfassendes, sämtliche Problembereiche umschließendes Gesamtkonzept fehlte. Meist standen durchaus wesentliche Teilbereiche im Mittelpunkt der Überlegungen, wie z.B. wirtschaftliche, finanz- und handelspolitische Erwägungen bzw. die Minderheitenfrage, während oft die erwünschte Übereinstimmung im rechtlichen und vor allem im sozialen Bereich schwächer ausgeprägt war. Mit diesen ungleichgewichtigen Schwerpunktsetzungen fehlte aber den Konzepten die für eine allfällige Realisierung nötige Balance und Ausgewogenheit.
– Gleichgeartete wie unterschiedliche Strukturen konnten – von Fall zu Fall durchaus verschieden in der Wechselwirkung – ein Hindernis für die Tendenz zum Zusammenwachsen sein.
– Ähnliches gilt – vor allem im wirtschaftlichen Bereich – für die integrationshemmende Wirkung von Krisen. Denn bei ernsthaften Schwierigkeiten im ökonomischen und sozialen Bereich erhielten die eigenen Intentionen, die Partikularinteressen erhöhten Stellenwert, die Neigung zu Rücksichtnahme, Kompromiss und Ausgleich nahm ab.
– Die Propagatoren der Föderalisierungspläne standen häufig nicht im Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses. In diesem Zusammenhang ist an die Rolle der Emigration sowie jene der Minderheitenvertreter erinnert. Pointiert ausgedrückt, könnte man von einer „Utopie der Außenstehenden“ sprechen.
– Es stellte sich auch die Frage, in welchem Ausmaß die vorgebrachten föderalen Lösungsvorschläge auf breitere Resonanz und Akzeptanz bei den angesprochenen Bevölkerungen stießen. Die „Popularisierung“ der Konzepte und die Gewinnung eines überwiegenden Teiles der öffentlichen Meinung stellten eine große Herausforderung dar.
– Nicht zu übersehen ist in einigen Fällen die unverhüllte Ablehnung der Pläne nach föderalem Zusammenschluss durch eine oder durch mehrere der traditionellen Großmächte. Zu verweisen ist nur beispielhaft auf den Tardieu-Plan, auf die Konzeption von Elemér von Hantos und auf die Föderationsvorstellungen von Tito und Georgi Dimitrov.
– Im Überschwang der Begeisterung für die auf neuen föderalen Grundlagen vorzunehmende Vereinigung wurde die anhaltend wirkende Kontinuität der altgewachsenen unterschiedlichen Strukturen, Mentalitäten und Einstellungen unterschätzt. Hier ist vor allem auf den Nationalismus und die nationalen Stereotypen und deren langandauernde Wirksamkeit zu verweisen.
– Zu beachten ist die eigenartige und ambivalente Wechselbeziehung, in welcher die beiden großen Integrationsbewegungen zueinander stehen: der Föderalismus und der Nationalismus. Beide Integrationsideologien bewegen sich in Richtung Einheit, Homogenität, Sicherheit und Stabilität. Der Föderalismus ist aber nicht bloß vom Nationalismus abhängig bzw. wird von ihm beeinflusst, er kann auch in direkten Gegensatz zu ihm geraten. Denn beide Gestaltungsprinzipien zeigen auch die Tendenz einander auszuschließen, miteinander in Konkurrenz zu treten, unterschiedliche Erwartungshaltungen zu wecken und differente Zielsetzungen zu erfüllen. Nationale Selbstbestimmung und das Streben nach supranationaler, grenzüberschreitender föderativer Zusammenführung stehen in einer Art dialektischer Beziehung zueinander. Die Synthese ist nur schwer zu verwirklichen.
– Daraus ergibt sich ein abschließender Gesichtspunkt zu den Realisierungsmöglichkeiten föderaler Gliederungsversuche: In der Vergangenheit fehlte oft die Bereitschaft, Schwierigkeiten durchzustehen, Rückschläge einzustecken, von der kurzfristigen und zu optimistischen Erwartungshaltung abzurücken. Aber gerade heute und in Zukunft wird man Geduld und langen Atem benötigen, um eine fundierte, ausgewogene und längerfristige Lösung zu Stande zu bringen.
Weiterführende Literatur
B. Dennewitz: Der Föderalismus. Sein Wesen und seine Geschichte. Hamburg, 1947.
G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung. Umrisse einer Philosophie des Föderalismus. o. O. und o. J.
F. W. Jerusalem: Die Staatsidee des Föderalismus. Tübingen, 1949.
C. J. Friedrich: Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis. In: Politische Vierteljahresschrift 5/1964.
Franz Neumann: Zur Theorie des Föderalismus. In: Ders.: Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt/Wien, 1967. 207–233.
Der österreichische Föderalismus und seine historischen Grundlagen, eds. Erich Zöllner, Alexander Novotny. Wien, 1969.
E. Deuerlein: Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips. München, 1972.
Horst Haselsteiner: Föderationen in Ostmittel-Europa. In: Integratio 73‘ Wien, 1973. 126–184.
Horst Haselsteiner: Föderationspläne in Südosteuropa. In: Südosteuropa-Fallstudien. 20 Jahre „Südosteuropäische Geschichte“ in Graz (= Zur Kunde Südosteuropas II, 16, Graz 1990) 7–22.
Horst Haselsteiner: Die Nationalitätenfrage in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und der föderalistische Lösungsansatz. In: Innere Staatenbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71–1914. Historikergespräche Österreich–Bundesrepublik Deutschland 1989, ed. Helmut Rumpler. Wien/München 1991. 317–329.
Horst Haselsteiner: Das Nationalitätenkonzept des Reichstages von Kremsier und der österreichischen Verfassungen bis 1867. In: Friedenssicherung in Südosteuropa. Föderationsprojekte und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenstaatlichkeit, eds. Mathias Bernath, Karl Nehring. München, 1985. 51–61.
Horst Haselsteiner: Nationale Frage, Föderalismus und die Christlichsozialen. In: Christliche Demokratie. Zeitschrift des Karl v. Vogelsang-Institutes, 9. Jg. Nr. 1/91–92, 133–143.
Horst Haselsteiner: Föderationspläne in Südosteuropa. In: National-Revolutionäre Bewegungen in Südosteuropa im 19. Jahrhundert (= Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 20, Wien, 1992) 123–133.
Horst Haselsteiner: Közép-Európa és a föderalizmus mint rendező elv (Mitteleuropa und das Gestaltungsprinzip Föderalismus). In: História, 1993/5–6, 43–45.
Keine Angst vor Europa. Föderalismus als Chance, ed. Andreas Doepfner. Zürich, 1992.
Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, ed. Herbert Schambeck. Wien, 1993.
Föderationsmodelle und Unionsstrukturen. Über Staatenverbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, ed. Thomas Fröschl (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 21, Wien/München, 1994.
Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus österreichischer und ungarischer Sicht, eds. Richard Georg Plaschka, Horst Haselsteiner, Anna M. Drabek (= Zentraleuropa-Studien 4, Wien, 1997.
Nationalitätenprobleme und Föderationsvorstellungen im Donauraum, ed. Horst Haselsteiner. Der Donauraum 1–2/1997.
Horst Haselsteiner ist Mitglied des Kuratoriums des Europa Institutes, eine der Treibkräfte der Zusammenarbeit ostmitteleuropäischer Historiker, Professor des Wiener Institutes. Mehrmals hielt er in Budapest Vorträge über die Theorie des Föderalismus und deren historische Voraussetzungen, so auch im Europa Institut (zuletzt anlässlich der Konferenz Trianon und das europäische Friedenssystem am 29. Mai 1995).
Begegnungen11_Haraszti
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:111–118.
GYÖRGY HARASZTI
Kulturelle Traditionen und Institutionen der ungarischen Juden
Die zur jüdischen Glaubensgemeinschaft Großungarns gehörende Bevölkerung wurde Mitte 1941 auf 725.000 Personen geschätzt. Zusammen mit den offiziell 58.000 jüdischer Abstammung, den unter das sog. Dritte Judengesetz fallenden Menschen christlichen Glaubens sowie den ca. 40.000 Menschen mit teilweiser jüdischer Abstammung lag die Zahl der ungarischen Staatsbürger, die unter Rassendiskriminierung und -verfolgung zu leiden hatten, bei min. 825.000 Seelen, d. h. ca. 5,4 % der Gesamtbevölkerung. Die judenfeindlichen Atrozitäten, den Arbeitsdienst und vor allem die der deutschen Besetzung des Landes folgenden Deportationen, die Todesprozessionen (der ungarische Holocaust) überlebten von den zwischen 1941 und 1945 auf dem Territorium Ungarns lebenden, unter den Judenverfolgungen leidenden 825.000 Einwohnern ca. 260.000. (Von ihnen kehrten in den darauffolgenden Monaten ca. 60.000, davon 25.000–40.000 in das an Rumänien zurückgeschlagene Nord-Siebenbürgen, ca. 15.000 in die der Sowjetunion zugeschlagene Karpatoukraine, gut 10.000 in die der Tschechoslowakei zurückgegebenen Oberland-Gebiete bzw. ein paar Tausend in die erneut zu Jugoslawien gehörende Bácska zurück. Die Zahl der Überlebenden, die aus den Lagern, wenn auch nur vorübergehend – nicht an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt sind, ist gering, bzw. lässt sich nicht genau feststellen.)
In den ersten Jahren nach dem Krieg war die antisemitische Stimmung besonders in den Provinzsiedlungen sehr stark, wo die Verfolgten überlebt hatten und die Rücksiedler ihre Güter zurückforderten und (schon allein wegen des Ausbleibens deutlicher staatlicher Maßnahmen) auf Antipathie der lokalen Bevölkerung stießen. Schreckensnachrichten, Ritualmord-Verdachte vergifteten die Atmosphäre. Auch die (anti)kommunistische Propaganda zeigte ihre Wirkung. Im Mai und Juni 1946 kam es in Kunmadaras bzw. Miskolc zu (parteipolitischen Untertönen nicht entbehrenden) Pogromen, bei denen fünf Juden ihr Leben verloren und zahlreiche verletzt wurden. Auch die zeitgenössische Presse war nicht frei von antisemitischen Äußerungen. Die Juden wurden u. a. beschuldigt, dass sie „Kapital aus ihren Kriegsleiden schlagen”. Mit der Stabilisierung der Wirtschaft gingen bis Ende 1946 die offenen antisemitischen Bewegungen zu Ende (obwohl es wiederholt zu Friedhofsschändungen kam), aber durch die angespannte politische Atmosphäre infolge der Dominanz der kommunistischen Partei, das wirtschaftliche Unmöglichmachen der jüdischen Bevölkerung (infolge der Verstaatlichungen) und die Meldungen über die baldige Gründung des Staates Israel hatten zahlreiche Juden zur Auswanderung animiert.
Nach der Beendigung des Krieges kam es zur Wiederherstellung, Neuorganisation der zentralen Büros der orthodoxen und neologen Glaubensgemeinschaften (die Status quo Gemeinden zählten damals bereits eindeutig zu den Neologe). Ganz im Gegensatz zur Zeit vor dem Krieg, als an der Spitze der Glaubensgemeinschaften und zentralen Büros prominente Mitglieder des jüdischen Finanzkapitals standen, wurden nach dem Krieg die Spitze auf wesentlich breiterer Basis gewählt und innerhalb weniger Jahre gelangten auch die Zionisten in bedeutende Positionen. Im Dezember 1948 kam es – ähnlich wie bei anderer Konfessionen – zwischen der Regierung und den zentralen Organen der jüdischen Glaubensgemeinschaften zu einer Vereinbarung. Die jüdische Konfession wurde offiziell anerkannt, ihr wurde die freie Glaubensausübung und kontinuierliche finanzielle staatliche Unterstützung zugesichert. (Diese Vereinbarung wurde 1968 erneuert). 1950 kam es auf Druck der Regierung hin zur gewaltsamen Vereinigung der drei religiösen Richtungen – Orthodoxe, Neologe, Status quo anta. (Den die am heftigsten die Zwangsvereinigung bekämpfenden Orthodoxen – ein gutes Zehntel des damaligen ungarischen Judentums – wurde innerhalb der neuen Organisation eine relativ breite Autonomie zugesichert). Die Spitzenorganisation der vereinten jüdischen Glaubensgemeinschaft wurde die Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (nach 1989 unter dem neuen Namen: Verband der Jüdischen Glaubensgemeinschaften Ungarns – MaZsiHiSz), der MIOK zur Entscheidung von religiösen Fragen wurden entsprechend den beiden Hauptrichtungen 2 Rabbiner-Ausschüsse gegründet, die mit dem Titel orthodoxer bzw. neologer Oberrabbi ausgestattet wurden.
Die Kontakte der ungarischen und ausländischen jüdischen Organisationen (wie auch die der einzelnen Menschen) wurden eingefroren, verboten, streng bestraft. Im Einklang mit den verschlechterten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wurde auch die ungarische Tätigkeit des J. D. C. allmählich unmöglich gemacht, Anfang 1953 verboten (der ungarische Leiter Dr. Frigyes Görög wurde zum Verlassen des Landes gezwungen). Die jüdischen pädagogischen Institutionen wurden in das allgemeine Unterrichtssystem integriert, wodurch die religiöse und zionistische Erziehung der jüdischen Jugend unmöglich wurde. (Die in den offiziellen politischen Rang erhobene Anti-Religiösität traf besonders tragisch die orthodoxen Lebensumstände, und obwohl es bis zur zweiten Hälfte der 50-er Jahre gelungen war, einige, den Religionsunterricht dienende Jeshibate aufrecht zu erhalten, wurde deren physisch-geistiger Nachschub immer problematischer und dies ist bis heute so.) Bald kam es in der Maske des Antizionismus zur Ablösung eines bedeutenden Teils der Kader jüdischer Herkunft. Die politischen Prozesse, Abrechnungen (Rajk-Prozess, Einkerkerung von Gábor Péter) erhielten einen starken antisemitischen Ton und unter den sog. feudalistischen und kapitalistischen Elementen, die 1951 von den Großstädten in die Provinz ausgesiedelt wurden, waren Schätzungen zufolge auch ca. 10.000– 15.000 Juden (in der Mehrheit aus Budapest). (Infolge der liberaleren Politik nach 1953 konnte die Mehrheit von ihnen an ihre früheren Wohnorte zurückkehren und bis 1956 wurden die meisten jüdischen Führer, die im Gefängnis saßen, entlassen, teilweise erfolgte auch ihre Rehabilitierung.)
Die Veränderungen zwischen 1945–1955 wurden symbolisch durch die Revolution von 1956 besiegelt. Entsprechend der Polarisierung der ungarischen Gesellschaft sind unter den Wegbereitern, Kämpfern und Feinden der Revolution gleichermaßen Personen jüdischer Abstammung zu finden, in großer Zahl waren sie aber auch unter den Opfern der Repressalien nach der Revolution. Zu antisemitischen Bewegungen kam es nur vereinzelt, vor allem in der Provinz, die Gerüchte darüber und die Angst vor russischen Repressalien bzw. der Rückkehr des kommunistischen Terrors zwang ca. 20.000 ungarische Staatsbürger jüdischer Abstammung (ca. 10 % aller „Dissidenten”) zur Flucht und in geringem Umfang setzte sich auch 1957 die Auswanderung der Juden (diesmal legal) fort. (Gleichzeitig standen jedoch viele der Zurückgebliebenen im Dienst der Kádár-Regierung, sie erwarteten von ihr die Garantie ihrer eigenen Sicherheit.) Den größten Verlust erlitt jedoch das jüdische organisierte (religiöse, wissenschaftliche usw.). Leben in einem bis dahin alles übersteigenden Umfang der Schwächung; die Créme de la Créme der jüdischen Elite, angesehene Rabbiner, Wissenschaftler, religiöse und weltliche Führer, größere orthodoxe Gruppen nahmen den Wanderstab in die Hand und ihr Fehlen konnte das in den vergangenen 30 Jahren wieder unter den Druck der Staatsgewalt geratene, durch die Selbstbewegung der Vergreisung, Verweltlichung und Assimilierung (infolge dessen es heute in jeder Familie gemischte Ehen gibt) desintegrierende, eine (neue). Identität suchende ungarische Judentum bis zum heutigen Tag nicht überwinden.
Ab Ende der 50er Jahre, jedoch eher ab Mitte der 60er Jahre bedeutete die allmähliche Liberalisierung des kommunistischen Systems in der Ausübung der Religion und auch im Leben der Gemeinschaften etwas Linderung, die grundlegenden Tendenzen veränderten sich jedoch nicht.
Im Interesse der Aufrechterhaltung des Überlebens, der Äußerlichkeiten und des zentralen Rahmens der Konfession wurde der MIOK, der mit der Kádár- Regierung (1956–1987/8) Beziehungen pflegte und die Wünsche des Systems oft übereifrig erfüllte, alle autonomen jüdischen Bewegungen unterdrückte, gestattet, dass ihre Vertreter ab den 60er Jahren erneut an den Sitzungen des Jüdischen Weltkongresses und anderen internationalen jüdischen Konferenzen teilnehmen konnten. Die ungarischen jüdischen Organisationen erhielten die Möglichkeit, Kontakte zu den jüdischen Gemeinschaften anderer mittel- und osteuropäischer Länder und zur Memorial Foundation for Jewish Cultur mit Sitz in den USA zu pflegen, die zahlreiche jüdische soziale, kulturelle und wissenschaftliche Institutionen in Ungarn unterstützte (so u. a. auch das unter der Leitung des berühmten Wissenschaftlers Sándor Scheiber (1958–1985) stehende Landesrabbinerausbildungsinstitut, das versuchte, den jüdischen Glauben bei den Jugendlichen zu bewahren und am 6. Dezember 1977 sein 100jähriges Bestehen im Beisein von westlichen Gästen feierte – die in Israel lebenden ehemaligen Schüler wurden nicht ins Land gelassen. Im Ergebnis der zwischen dem J. D. C. und dem ungarischen Staat im Februar 1980 geschlossenen Vereinbarung konnte auch der Joint seine Tätigkeit in Ungarn wieder aufnehmen. Als Symbol der sich wiederbelebenden Kontakte errichtete die ungarische Regierung im Mai 1980 in Auschwitz eine ständige Ausstellung zum Gedenken an die dort ermordeten 400.000 ungarischen Juden. Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und MIOK wurde sehr vielschichtig. (Im April 1980 wurde Oberrabbi László Salgó zur Vertiefung der Kontakte zwischen Staat und Jüdischer Kirche mit einer der größten staatlichen Auszeichnungen, dem Verdienstorden der Republik geehrt.) Daraufhin konnten – ähnlich wie auch bei anderen Konfessionen – in den letzten Jahrzehnten des Bestehens dieses Systems die (nicht offiziellen) Vertreter der Glaubensgemeinschaft ins Parlament einziehen.
Anfang der 70er Jahre wurde die jüdische Bevölkerung Ungarns, die nach der Sowjetunion die zweitgrößte in Osteuropa vor der in Rumänien ist, auf 70.000–80.000, die in Budapest lebende auf 60.000–70.000 geschätzt. (ca. 60 % der jüdischen Bevölkerung waren älter als 50 Jahre.) Im Leben der religiösen Gemeinde wurde der Anteil der mehr oder weniger aktiv Teilnehmenden auf 30–40 % geschätzt. Für die Zufriedenstellung der spirituellen Ansprüche sorgten 15 Rabbiner. Größere Gemeinden gab es in Miskolc, Pécs, Debrecen und Szeged, diese jedoch waren in keinerlei Hinsicht mit der hauptstädtischen Glaubensgemeinschaft vergleichbar. Zentrum des jüdischen Lebens war Budapest, hier hatten alle zentralen Organisationen ihren Sitz. In der Hauptstadt gab es ca. 20–24 Synagogen. Die Glaubensgemeinde unterhielt verschiedene religiöse (Synagogen, koscheres Essen usw.), soziale (Krankenhaus, Waisenhaus, Altenheim), kulturelle (Museum, Archiv). Institutionen sowie Hochschulinstitutionen, neben der Landesrabbinerausbildung eine Mittelschule mit vier Jahrgängen (deren Schüler immer weniger werden – Ende der 70-er Jahre wurde sie nur noch von 15 Schülern besucht), das Anne Frank-Gymnasium.
Nach dem einem Wunder gleichenden Zusammenbruch des kommunistischen Systems erwachte nach den langen Jahrzehnten der Stagnation und des Niedergangs nun auch das ungarische Judentum aus seinem Dornröschenschlaf. Es ist keine Übertreibung, wenn infolge und im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen und geistigen Erneuerung nach dem Systemwechsel von einer Renaissance des ungarischen jüdischen Lebens gesprochen wird. In erster Linie in qualitativer, aber im gewissen Sinne auch in quantitativer Hinsicht. (Viel mehr bekennen sich zum Judentum als noch vor zwei oder gar einem Jahrzehnt, bedeutend ist die Zahl jener gewachsen, die sich selbst als (ungarische) Juden bekennen, keine Angst vor der offenen Bekennung zum Judentum habend. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Geburten bei jüdischen Eltern bedeutend zurückgegangen, durch die gemischten Ehen jedoch ist der Mondkreis des Judentums wesentlich – um weit mehr als 100.000 angestiegen.
Eine genaue Definition, wer als (ungarischer) Jude betrachtet werden kann, kann infolge der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten Migration, gesellschaftlichen Veränderungen, Säkularisierung sowie des allmählichen Verschwindens der Grenzlinien zwischen den gesellschaftlichen Schichten, religiösen und ethnischen Gruppen nicht gegeben werden. Wir müssen uns damit begnügen, dass im heutigen Ungarn das Judentum in erster Linie eine Frage der Bekennung ist: der gemeinsame Nenner von Gruppen und Individuen mit verschiedenen Backgrounds, Zielen und Ideologien.
Das erste – auch im breiten Kreis sichtbare – Zeichen der Wiedergeburt der ungarischen Juden (infolge der Veränderungen) war am 19. November 1988 im Festsaal der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in der Burg im Beisein von fast tausend Interessenten die Gründung der Ungarischen Jüdischen Kulturellen Vereinigung. Die Organisation wollte den breitesten Kreis der Jüdischen Gesellschaft in Ungarn ansprechen, bewusst der damaligen Organisation der Glaubensgemeinde entgegentretend. Der MaZSIKE hat eine Ausbildungsinstitution (die Lauder Javne Schule der Jüdischen Gemeinde) gegründet und gibt unter dem Titel „Szombat” jährlich zehn Mal bis zum heutigen Tag eine Zeitung heraus. Obwohl die Kulturelle Vereinigung im vergangenen Jahrzehnt sehre viel von ihrer Bedeutung verloren hat (nicht zuletzt deshalb, weil der ungarische Staat auch weiterhin als Verhandlungspartner die (erneuerte) Spitzenorganisation der Glaubensgemeinschaft anerkennt, in die sich der MaZSIKE nicht wirklich integrierte), sind die historischen Verdienste der Organisation recht bedeutend.
Im Ergebnis des Zerfalls des totalitären Systems des Staatssozialismus erlangte auch die viele Leiden durchmachende ungarische jüdische Gemeinschaft ihre Freiheit zurück, für jeden bestand die Möglichkeit, frei zu wählen: Im Zeichen der sich verwischenden Grenzen zur Fortführung der natürlichen Assimilierung, zur Verstärkung des zionistischen Selbstbewusstseins und/oder zur eventuellen Auswanderung, zur Annahme einer doppelten Identität, vielleicht zur Wahl einer vierten oder fünften Option. Alle Möglichkeiten sind bestehende Realität. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre erstarkten die natürlichen Beziehungen der hier lebenden „Juden” (Anfang der 90er Jahre hat die überwiegende Mehrheit des ungarischen Judentums erneut zurückgewiesen, dass sie als ethnische Minderheit bezeichnet wird und bestand auf die konfessionelle Definition) zu Israel, zionistische Organisationen tauchten wieder auf, es blühen die zivilen und Jugendvereinigungen, das kulturelle, Schul- und Sportleben belebte sich.
In der offiziellen Politik der Glaubensgemeinde gelangte nach 45 Jahren nicht die langsame Selbstauflösung und die Verschleuderung des Vermögens der Gemeinde (nur ein Beispiel dafür ist, dass die Budapester Hauptkirche der Status Quo Richtung, die Synagoge in der Rumbach utca praktisch im letzten Augenblick, 1988, verkauft wurde), sondern die Wiedererfüllung der alten neuen Formen des Gemeindelebens mit Inhalt (beispielsweise 1994 die Gründung des Bálint Jüdischen Gemeindehauses, das verschiedene Institutionen beherbergte) und die Rückerlangung und/oder Erneuerung ihrer Immobilien in den Vordergrund. (Auch hier nur einige Beispiele: In den vergangenen Jahren kam es zur Zurückgabe eines früher enteigneten Vermögens der Glaubensgemeinde, Holocaust Denkmal der Emmanuel Stiftung (1990, ein Werk des Bildhauers Imre Varga), Umgestaltung der Synagoge in der Páva utca mit Hilfe des Staates in ein Holocaust-Gedenkmuseum und ein Dokumentationszentrum (erfolgt gegenwärtig), Restaurierung der neologen Hauptkirche in der Dohány utca unter Kostenübernahme des ungarischen Staates in Milliardenhöhe, Rekonstruktion der jüdischen Friedhöfe in der Provinz und der Hauptstadt, im fortgeschrittenen Zustand befindet sich die Rekonstruktion der orthodoxen Synagoge in der Kazinczy utca usw.).
Die Widersprüche, Spannungen der heutigen ungarischen gesellschaftlichen Veränderungen, spürt selbstverständlich auch das ungarische Judentum. Der Systemwechsel ermöglichte dem Judentum ein freies Leben. Es kamen jüdische Unterrichts-, kulturelle, karitative, Fremdenverkehrs-, gastronomische Netze (Reisebüro (Áviv, Biblical World Gallery, Hotel und Restaurant Kings, Carmel Keller, Konditorei Frühlich, Koscheres Lebensmittelgeschäft Rothschild) zustande oder wurden erneuert, aber auch die internationalen Kontakte erstarkten. Diese Zusammengehörigkeit wird jedoch durch den hier und da aufkommenden Antisemitismus gestärkt. (Experten zufolge habe in den vergangenen Jahren in Ungarn der Antisemitismus nicht zugenommen, in dem neuen, demokratischen System konnten jedoch die früher in die Illegalität gezwungenen antisemitischen Äußerungen erneut ans Tageslicht kommen. In den Spalten der ultranationalistischen Zeitungen (Magyar Fórum, Új Demokrata usw.) und auf den Veranstaltungen der Partei des Populisten István Csurka (MIÉP) erhalten erneut die den ungarischen Juden schadenden Anschauungen, die diese für die Schwierigkeiten des demokratischen Wandels verantwortlich machen, Öffentlichkeit. Es kam vereinzelt auch zu Zwischenfällen, Friedhofsschändungen.
Das Aufblühen des jüdischen Lebens ist u.a. daran zu messen, dass in den vergangenen zehn Jahren auch in den Provinzstädten Glaubensgemeinden zustande kamen, wo lange Zeit offiziell keine jüdische Familie lebte. Ein Teil der Abkömmlinge gemischter Ehen sucht ebenfalls seine jüdischen Wurzeln. Entgegen der eventuellen Ängste (oder Erwartungen) kam es nach dem Systemwechsel 1989 entgegen der riesigen jüdischen Emigration in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – nicht zu großen Auswanderungen. Das Judentum hat(te) sich wie nie zuvor in die ungarische Gesellschaft integriert. Von der in Europa als drittgrößte, in Mitteleuropa als größte jüdische Gemeinde angesehene (1995 /im halachischen Sinns als Juden angesehen, d. h. von einer jüdischen Mutter stammend/ auf 65.000–70.000 geschätzt) ungarischen (praktisch fast vollständigen Budapester) Israelitischen/jüdischen Bevölkerung lag die Zahl der nach Israel Auswandernden zwischen 1990 und 2000 (den Daten der Jüdischen Agentur/ Sochnut) zufolge bei 60–100 und der Großteil von ihnen kehrte zurück. (Darüber gibt es jedoch keine genauen Statistiken, die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen in andere Länder, in erster Linie nach Westeuropa und in die USA Auswandernden lag da weitaus höher.)
Das in die Rahmen der Glaubensgemeinde gehörende Spitzenorgan des ungarischen Judentums ist der Verband der jüdischen Glaubensgemeinden Ungarns, der MAZSIHISz, dessen Mitglieder sowohl die neologen Glaubensgemeinden, an deren Spitze mit der über die größte Mitgliederzahl verfügenden Budapester Jüdischen Glaubensgemeinde, als auch der seit 1994 erneut selbständigen Autonomen Orthodoxen Glaubensgemeinde Ungarns sind. Nach einer fast 50jährigen Periode, in der auch die jüdischen Führer von der kommunistischen Staatsmacht ausgewählt wurden, kam es 1990 aufgrund von neuen Statuten (zum ersten Mal) zur demokratischen Wahl der Führer der Glaubensgemeinden. Den Gläubigen stehen ca. 23–25 Synagogen und Gebetshäuser zur Verfügung. Die neologe Rabbinersektion (an der Spitze mit dem Landesoberrabbi Dr. József Schweitzer, dem früherer Rektor der Landesrabbinerschule, Róbert Deutsch, dem Leiter des Rabbinertums, und Róbert Frölich, Rabbi der neologen Hauptkirche in der Dohány utca, dem jüdischen Hauptpfarrer im Rang eines Generals der Ungarischen Armee) bestand in den 90er Jahren aus ca. 12 aktiven Rabbis. Der Rabbi der Aut. Orth. Glaubensgemeinde war der Israeli Aron Hoffman. Die periodisch erscheinende Egység und Gut Sábesz in ungarischer Sprache der hassidischen „Chabad” Bewegung verfügt seit Anfang der 90-er Jahre über eine eigene Synagoge, an ihrer Spitze der Delegierte der Lubavicser Bewegung, Rabbi Baruch Oberländer (ungarischer Abstammung). (In den vergangenen Jahren wurde nach angelsächsischem Muster auch die Reformvereinigung Szim Salem gegründet, deren Vorsitzende Katalin Kelemen ist die erste Frau als Rabbi in Ungarn.) Der MaZsiHiSz und der BZS unterhalten zahlreiche medizinische, soziale und kulturelle Institutionen, Jugendsommerlager mit koscherer Verpflegung, das Museum der Jüdischen Religiösen, Historischen und Archivarischen Sammlungen. Von den Institutionen der Aut. Orth. Isr. Glaubensgemeinden sind das Orthodoxe Altenheim, das Hanna Restaurant sowie die koschere Wurstfabrik, Bäckerei und Weinausschank erwähnenswert.
Von den außerhalb der engeren und weiteren Rahmen der Glaubensgemeinde – der säkularen jüdischen Organisationen (Verband der Ungarischen Zionisten, Internationaler Zionistischer Frauenverband, Ungarisch-Israelische Freundschaftsgesellschaft, Verband der Jüdischen Jugendlichen Ungarns usw.) ist bis heute die Kulturelle Vereinigung der Ungarischen Juden mit einigen hundert zahlenden Mitgliedern die größte. Von den zahlreichen jüdischen Zeitungen und Zeitschriften ist die bedeutendste die von János Kőbányai 1988 gegründete, jährlich viermal erscheinende „Múlt és Jövő” (‘Vergangenheit und Zukunft’). Die bedeutendsten Buchverlage sind: Múlt és Jövő und der Makkabi Verlag. Beachtenswert ist, dass die Mitgliederzahl der außerhalb und innerhalb der Gemeinden zusammen bei max. 5.000–10.000 liegt, was eindeutig zeigt, dass die Mehrheit der ungarischen Juden keiner organisierten Glaubensgemeinde oder sonstigen jüdischen Organisation angehört. (Ihre Einbeziehung in das Leben der jüdischen Gemeinden sowie die Zusammenarbeit der Glaubensgemeinden und der jüdischen „Weltorganisationen”, die Schaffung von gemeinsamen Interessenvertretungen vom Aspekt der Zukunft des ungarischen Judentums sind die zwei wichtigsten Aufgaben für den kommenden Zeitraum.)
Dem in der engeren und weiteren jüdischen Gemeinde herausgebildeten Konsens zufolge ist die Schlüsselfrage des jüdischen Lebens außerhalb Israels die Reorganisation des von den Traditionen entfremdeten (entfremdet säkularisierten) Judentums, die Erziehung der künftigen Generationen im jüdischen Sinne. Ende 1999 gab es in Budapest drei staatlich anerkannte jüdische Schulen mit ca. 1000 Schülern. Sowohl der BZSH, als auch die Autonome Orthodoxe Glaubensgemeinde betreiben eine Gesellschaft in Ungarn (der außerhalb der gegenwärtigen (offiziellen) Organisationen stehenden Mehrheit), das ist brennendste Aufgabe der nahen Zukunft, gleichzeitig die Gewähr für das weitere Bestehenbleiben und Erblühen der Gemeinde.
Die seit dem Systemwechsel vergangenen zehn Jahre sind nur ein recht kurzer Abschnitt im Leben der 300 Jahre lang bestehenden jüdischen Gemeinde, die längere und kürzere Zeitabschnitte des Aufschwungs, der Zerstörung und Stagnation miterlebte. Die Zukunft ist offen. Trotz der zahlreichen Alltagsprobleme ist das heutige Judentum in Ungarn, das (Glaubens) Freiheit und Gleichberechtigung genießt, aktiver Teilnehmer am öffentlichen Leben, seine Mitglieder sind in jedem Segment der ungarischen Gesellschaft – in enger Zusammenarbeit mit den Landsleuten anderer Religionen – zu finden. Die Zeichen verweisen darauf, dass (trotz und nach der gewaltsamen Abtrennung vor fast 50 Jahren) das ungarische Judentum erneut seinen traditionellen Weg beschreitet. Die erneuerte jüdische Gemeinschaft, die stolz auf den Staat Israel ist und die bewusst die strukturelle, an Traditionen, Konfessionen, das Geburtsland stark gebundene doppelte Identität, wählt, scheint sich, ähnlich wie die der westeuropäischen Gemeinden, zu festigen.
Literaturverzeichnis
Encyclopedia Judaica CD Rom Version (Jerusalem, Keter Publishing House Ltd., 1997), Abschnitt Hungary Ferenc Orbán, Das jüdische Leben in Ungarn (Budapest, Makkabi Kiadó, 1996); Tibor Erényi, Die Geschichte der Juden in Ungarn (Budapest, Útmutató Kiadó, (1996/7); Kalender des 5760. Synagogenjahres (Budapest, Aut. Orth. Glaubensgemeinde Ungarns, 1999); Raphael Patai: The Jews of Hungary History, Culture, Psychology, (Detroit, Wayne State University Presse, 1996); Tamás Stark: Versuch zur Ermittlung der Zahl der jüdischen Bevölkerung zwischen 1945 und 1995 (Manuskript).
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:205–208.
10 JAHRE EUROPA INSTITUT BUDAPEST
JUBILEUMSTAGUNG
Das Europa Institut Budapest wurde im Jahre 1990 gegründet. Die erste Kuratoriumssitzung hat am 13. März 1990 die Gründung des Institutes verkündet, die das Vorliegen des Statutes und finanzieller Grundlagen konstatierende Sitzung des Stiftungsrates fand am 5. Mai 1990 statt.
Am 6. Juli 2000 beteiligten sich einstige und derzeitige Stipendiaten an einer wissenschaftlichen Sitzung anlässlich des 10jährigen Jubiläums der Gründung des Institutes. Man berichtete aus diesem Anlass über die bisherige Forschungs- und Lehrtätigkeit und stellte Ausschnitte der neuesten Arbeiten vor. Selbstverständlich nahmen auch die Gründer des Institutes, einstige und gegenwärtige Mitglieder von Wissenschaftlichem Beirat und Kuratorium an der Sitzung teil.
FERENC GLATZ
Die Entstehungsgeschichte des Europa Institutes Budapest
Einleitung zur Konferenz
Wie war eigentlich das Europa Institut entstanden, eben vor 10 Jahren? – stellte mir ein Student, den ich gerade dazu überreden wollte, sich mit der Kultur- und Wissenschaftspolitik des Systemwandels zu beschäftigen, die Frage. Wenn man von einem Kollegen gefragt wird, dann muss man die Frage als Wissenschaftler, als Lehrer ernst beantworten. Ich begann also auf die Frage schriftlich eine Antwort zu formulieren, ungefähr wie folgt.
„Zurück nach Europa”, „Wir gehören seit tausend Jahren zu Europa” – dies waren wichtige Losungen der Intelligenz in der Zeit des Systemwandels in Ungarn in den 1980er Jahren, genauso wie für unsere in der sowjetischen Zone lebenden Nachbarn, für die Tschechen, Polen, Slowaken, Kroaten, Serben, Rumänen und Bulgaren. Die Losung hatte eine tagespolitische Bedeutung: wir möchten, statt sowjetisch besetzt zu sein, zu den Staaten der freien Welt gehören. Und die Losung hatte einen allgemeinen menschlich-kulturellen Sinn: wir möchten auf einem Niveau, als freie Bürger das einmal erlebbare Leben leben, und die Segnungen der am Ende des 20. Jahrhunderts sich ereignenden Kulturrevolution, der Revolution der Kultur des Umgangs genießen: frei reisen, teilnehmen am freien Strom der Informationen. Damals im Jahre 1989, als der Gedanke zum Europa Institut entstanden war, war diese Idee Bestandteil einer politischen Konzeption, die Ungarn und seine mittelosteuropäischen Nachbarländer wieder als Bestandteile Europas sehen wollte und dies auch zu formulieren wagte. Der erste Beweggrund zur Gründung des Europa Instituts Budapest war also nachstehender: ein Institut zu gründen, das den Gedanken der Rückintegration Ungarns und dieses Raumes nach Europa unterstützt und diese auch organisiert.
Der zweite Faktor, setzte ich die Beantwortung der Frage fort, wie nämlich das Europa Institut Budapest entstanden war, war im Jahre 1989 die starke Reformpolitik Ungarns. Die ungarische Regierung hatte den deutschen Flüchtlingen ihre Grenzen nach Österreich geöffnet, was zum Teil Mut vonseiten der ungarischen Politiker, zum Teil jedoch Klugheit, Lageerkenntnis bedeutete, dass sie unter der sowjetischen Besetzung die Möglichkeit fanden, der Besatzungsmacht Sowjetunion einen fast unvorstellbaren Schritt annehmen zu lassen. Dies legte sozusagen auch die Stelle Ungarns im Prozess des Zerfalls der sowjetischen Zone fest: Ungarn wurde für den Spitzenreiter der Aktion für den Abbau des sowjetischen Systems gehalten. Und die Sympathie der westlichen Welt wandte sich Ungarn zu. So fand dann die ungarische Intelligenz eine Unterstützung vom Westen, die geneigt war, ein sich europäische Forschungen zum Ziel setzendes Programm zu fördern.
Der dritte Faktor – fährt die Antwort fort, – war die traditionelle europäische Bildung der ungarischen Intelligenz. Der Umstand, dass es uns gelungen war, die traditionelle westeuropäische Bildung auch in der sowjetischen Epoche zu bewahren; der Umstand, dass unsere Generation, wenn auch beschränkt, mit stark spezialisierten fachlichen Beweggründen, doch rechtzeitig die westliche Welt kennenlernen konnte. Es gab also inländische Partner, Beamte, die Fremdsprachen gesprochen oder gelesen haben.
*
An dieser Stelle habe ich das Blatt Papier zur Seite gelegt, auf das ich mir die Antwortsätze notiert hatte. Vor mich hin murmelnd, wenn man sich den 60ern nähert, kann man es schon zugeben, dass man manchmal vor sich hin murmelt, dass sich also die schädlichen Alterserscheinungen melden, habe ich das Blatt mit dem niedergeschriebenen Text zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Warum? Deshalb, weil mir einfiel, wie ich die Frage beantworten würde, wenn ich kein ausgebildeter Historiker, Professor wäre, der jedes Ereignis zu den objektiven wirtschaftlich-gesellschaftlichen Prozessen zählen und so auf die Frage eine sogenannte wissenschaftliche Antwort geben will. Wie würde ich jedoch antworten, wenn ich auf der Ebene des Bauernwitzes und der alltäglichen Realität antworten möchte? – stellte ich nun die Frage an mich selbst.
Als erstes brauchte man die Idee, die sich im Kopf des damaligen Ministers deshalb herausbilden konnte, weil er in seiner Jugend – mit vielen osteuropäischen Gefährten zusammen – ein Jahr im Mainzer Institut für Europäische Geschichte verbringen konnte. Wo gerade am Anfang der 70er Jahre ein neuer Professor den Sessel des Direktors eingenommen und das Institut nach Osten hin geöffnet hatte. Es gab also ein Vorbild, wie wir unsere Konferenzen veranstalten sollen, wie wir mit den aus den verschiedenen Teilen der Welt nach Europa kommenden Studenten verhandeln, wie wir Kaffeerunden veranstalten sollen, usw. usf. Und wir haben es gesehen, dass ein solches Institut – mit seiner Kleinarbeit – Europa einen größeren Dienst erweisen kann als noch soviele Reden von Politikern. Der Professor, der dann Dutzende von osteuropäischen Studenten bei sich begrüßte und auch selbst häufig der östlichen Hälfte Europas Besuche abstattete, war Professor Karl-Ottmar Freiherr von Aretin, ein Gründungsmitglied des wissenschaftlichen Beirates unseres Instituts.
Dann gab es einen anderen Professor, Alois Riklin, den angesehenen schweizerischen Politologen, der in den Monaten der Gründung, weise seine Pfeife rauchend, nicht nur ständig Fragen an die Planer des Instituts richtete – an den Minister genauso wie an den Stellvertreter, an Professor Károly Manherz, der viel auch bei der Fixierung der konkreten organisatorischen Formen mitgeholfen hatte, unter denen wir bis heute im Institut unser Leben führen.
Und die deutsch-österreichische Ostpolitik hin oder her, und die ungarische Reformpolitik hin oder her, es gab einen Politiker auf der anderen Seite der Grenzen, der sich in den 80er Jahren mit persönlicher Sympathie der osteuropäischen Intelligenz zuwandte und im Jahre 1989 noch zur Zeit der sowjetischen Besatzung als österreichischer Kultusminister eine ganze Reihe von gemeinsamen österreichisch-ungarischen Aktionen startete. Erhard Busek war jener Ministerkollege, der die Ostforscher Wiens um sich versammelte, die damals noch jungen Horst Haselsteiner, Arnold Suppan, und mit ihnen zusammen die zur Gründung des Europa Instituts eingeleiteten Aktionen unterstützte.
Ungarische Meister, Ránki, Kosáry, die in europäischem Geiste lehrten und erzogen, Aretin, Riklin, Haselsteiner, Suppan, von den Ungarn die Professoren Manherz, Hanák, Nemeskürty, die mit ihrer persönlichen Freundschaft neben den Gedanken von der Gründung des Instituts traten. Bis heute sind sie, ausgenommen Professor Ránki und Hanák, die früh von uns gingen, Mitglieder der wissenschaftlichen Leitung und des wissenschaftlichen Beirates des Instituts.
Männer, Persönlichkeiten, die eine Vorstellung von der Welt hatten, die neben eine Vorstellung, einen Gedanken zu prägen wagten. Denn in der Geschichte funktionieren kein objektiver Geist, keine abstrakten Gesetzmäßigkeiten, sondern Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut, handelnde Menschen.
Und wie ich die Namen auf meinem Blatt Papier vor mich hin sage, da ich jetzt schon eine ganz neue Antwort auf die Frage formuliere, und gegen die abstrakte Wissenschaftlichkeit protestiere, muss ich natürlich ganz oben auf der Liste einen Namen aufschreiben, den Namen von Dr. Herbert Batliner.
Ihn hatte ich vor 1989 nicht gekannt, nicht einmal seinen Namen gehört. Im Oktober 1989 erschien er in der Gesellschaft von westlichen, sich für die Kultur interessierenden Geschäftsleuten im Sitzungszimmer des Ministers, in dem ich einen Vortrag über die Beziehung zwischen der ungarischen Kultur und Europa hielt und darüber sprach, wie wichtig in der Geschichte die Kleinarbeit ist. Wie mein Denken von den Stipendien in Mainz, Wien, München, Paris, London oder Moskau beeinflusst wurde, wie wichtig es war, dass die neue Generation in den persönlichen Kontakt zu den sich für das Schicksal des Kontinents sorgenden Kollegen geriet. Kleinarbeit: Seminare, Kaffeerunden, Konferenzen, Publikationen. Diese haben aber langfristig gesehen eine Wirkung. Und ich sprach über die Rolle des „Individuums” in der Geschichte, darüber, dass es nicht gleichgültig ist, wem welche Handlungsmöglichkeit gegeben wird, und vor allem, ob man diese Möglichkeit nutzt oder nicht. Und da sprang eine elegant gekleidete sportliche Figur auf, und bot seine finanzielle Unterstützung zur Gründung des von mir umrissenen Europa Instituts an. Sein Name war Herbert Batliner, von dem ich dann am nächsten Tag erfuhr, wie viel er für die Förderung der deutschsprachigen Kultur opfert, und dass er ein Förderer der ungarischen Kultur ist. Er wurde ein Gründer unseres Instituts, seither schon eine bekannte Gestalt in Ungarn, der in unserem Interesse und für uns fördert, organisiert, immer bescheiden im Hintergrund bleibend. Für uns, für mich ist er jedoch seit zehn Jahren als guter Freund mein Berater und mein Unterstützer.
Nun ja, liebe Kollegen! Der Wissenschaftler ist geneigt, die menschlichen Ereignisse in die Welt der großen wirtschaftlichen und sozialen Faktoren zu heben. Wir glauben, dass unsere Antworten auf die gestellten Fragen deshalb „wissenschaftlich” sind, dass wir wie die Physiker und Chemiker – nachträglich – als Triebkräfte zu den Handlungen die objektiven Faktoren schaffen. Und wir vergessen den Menschen, wir vergessen, dass der Mensch sich so und auch anders entscheiden kann! Wir vergessen, dass unsere hier aufgezählten Freunde aus individueller Absicht, von Ideen ausgehend die Gründung eines solchen – zu 100 % privaten – Instituts übernahmen. Ideen, Absichten, Tatkraft – und einige redliche Kollegen: Professoren, Politiker – engagierte Europäer. Ihr Werk ist dieses Institut. Und Ideen, gemeinschaftliches Engagement!
Das Produkt hiervon, das Produkt der Entscheidungen von starken Individuen, das Produkt der erzieherischen Tätigkeit ist dieses Institut.
Und jetzt muss ich zugeben, Ihnen verraten, dass die Gründermannschaft – zwar ein wenig älter geworden –, sich wiederum den Kopf zerbricht über die Planung der Zukunft: wie soll es weiter gehen? Europa ist an einem neuen Abschnitt seiner Entwicklung angelangt, und wir Gründer müssen uns an die Zeiten anpassen. Damit wir in zehn Jahren wiederum für ein bis zwei Tage innehalten können, damit wir Rechenschaft ablegen können. Indem wir suchen, was es zu verbessern gilt, indem wir untersuchen, wie sich die Zukunft gestalten wird.
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:159–160.
Hungary at the turn of the Millennium
Today Europe and the entire world are facing new challenges. The information revolution is more than merely an industrial-technological revolution; it is also a cultural revolution. With the invention of a new generation of microchips – in the early 1970’s – a new age has begun in the history of mankind and the culture of interhuman relations has been fundamentally altered. These changes have an impact on production, on social life, on the relations between individuals and states. With the acceleration of the process of globalization, every single local workplace is becoming part of the world-wide competition. The knowledge-radius of individuals is constantly expanding, people are capable of reviewing events happening in various parts of the world in seconds through travelling or telecommunications.
The continents (Europe among them), the national and state communities (including those of the Hungarians) and individuals (including ourselves as intellectuals), are facing new challenges. We must consider the new global processes, we must reconsider our new possibilities in the division of labour, and we must decide for ourselves what we really want to achieve. We are facing an imperative situation; together with the peoples of the continent – as well with the peoples of other cultures – we must determine what we should do.
Who should explore the alternatives becoming available for the continent, for the communities of individual nation states? The answer is: the intellectuals must do it! Above all, scholars and entrepreneurs should perform this task. We, scholars, are true cosmopolitan citizens – after all, our workshop is the entire globe – and we are also “patriots”, since we are also members of a given local and national culture. We are not thinking in terms of four-year electoral cycles as the political elites do; rather, our thinking is centred on humanity, the nation, the cultures of the world. These facts provide ample reason for intellectuals to attempt to ascertain the possibilities opening currently, and find the ”breakout points” for their respective communities.
In September 1996 as the new President of the Hungarian Academy of Sciences, I suggested, that the members of the Academy create a National Strategic Research Program. Let us have the Academy become the advisor to the nation!
The research program started under the title, “Hungary at the Turn of Millennium.” We raised certain questions, such as ”What direction is the world taking, and what is our position in this process?” “What sort of conditions will we have to face as a member of the European Union?” What can we, Hungarians, expect in general from the Eastern enlargement of the European Union in areas such as agriculture and food production, information transmission, the maintenance and protection of the ecosystem? How about NATO and strategic defence water management, the maintenance of bio-diversity, energy resources and the politics of energy conservation? What about the future of the languages of small nations, health care social policies, the information revolution and the coming information society, etc.? Fourteen large projects were started and had been completed between 1997 and 2000. In each case, the result was the publication of monographs dealing with the respective issues.
The Europe Institute Budapest decided to participate in the dissemination of these new Hungarian research findings in foreign languages. The Europe Intsitute, as the strongest civil organisation in the field of European studies wishes to act as a mediator between Hungarian and European intellectual ventures and strategies.
Volume 6 of “Begegnungen” (1998) had already issued a programmatic study entitled ”Hungary at the Turn of the Millennium” (”Begegnungen,” Budapest, 1998, vol. 6, pp. 9-30). Upcoming volumes of “Begegnungen” will include studies prepared within the framework of this Strategic Research Programme (selected in consultation with the Advisory Council of the Programme) in English and German languages.
(G.)
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:15–22.
FERENC GLATZ
Europa, europäische Identität, die Europäische Union
Neujahrsetüden
Über die historischen Verhältnisse der europäischen Integration, über die neue industrielle-technische Revolution
In unseren Tagen geht eine neuere industrielle-technische Revolution vor sich, über die sehr viel gesprochen wird. Doch weniger wird über die menschliche Dimension dieser technischen Revolution, über die Informatikrevolution gesprochen, die eine soziale und kulturelle Revolution ist. Die neue Technik, der Computer, das Telefon, das Fernsehen, das Internet und die Multimedien gestalten meiner Meinung nach nämlich grundlegend die Berührungskultur zwischen Mensch und Mensch um. Plötzlich wird der Kenntnisradius des Menschen erweitert, mit seinen Reisen sogar sein Bewegungsradius, ganz zu schweigen von der in der Fachliteratur schon häufig beschriebenen Revolution in der Produktionsorganisation. Von diesen Prozessen werden seit mehreren Jahrhunderten akzeptierte Lebensziele in Frage gestellt. Sie bringen eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft mit sich. Wir sprechen von einem neuen Individualismus – beschafft sich doch das Individuum fast uneingeschränkt vor dem Bildschirm seine Kenntnisse und formuliert sein Verhältnis zu bisher unbekannten Völkern, Religionen und Lebenszielen. Der Bürger der Jahrtausendwende ist selbstbewusster als seine Vorgänger. Doch sprechen wir auch von einem Kollektivismus neuen Typs. Der Mensch will nicht nur seine verschiedenen Identitäten – seine familiäre, freundschaftliche, geschlechtsmäßige, soziale, ethnische und religiöse Identität – selbst formulieren, er will auch mehrerlei Identitäten erleben. In einem selbstbewusst gewählten Identitätspluralismus. Es ist natürlich so – und nicht wegen des Jahres 2000, – dass auch die auf dem europäischen Kontinent lebenden Menschen ihr sie mit dem Weltall, mit der menschlichen Gemeinschaft als Ganzes, mit der Gemeinde, mit der nationalen Gemeinschaft und der kontinentalen Gemeinschaft (mit Europa) verbindendes Identitätsgefühl, ihre Identität neu formulieren wollen. Wir erleben die Zeit des Zerfalls, der Vermengung von jahrtausendealten Wertordnungen, der Entstehung von neuen Lebensprinzipien. Wir sollten ehrlich sein, wir können es nicht prophezeien, oder können es nur prophezeien, welche menschlich-kulturellen Lebensordnungen nach hundert Jahren entscheidend sein werden, welche dann die Lebensziele der auf dem Kontinent lebenden Menschen determinieren.
Über die europäische Identität
Inwiefern existiert eigentlich eine europäische Identität? Sprechen wir über eine „europäische Identität” oder über eine „europäische Unions-Identität”? Welche wollen wir festigen: die Identität mit der verwaltungsmäßigen Einheit, mit der EU? Statt einer staatsbürgerlichen Identität eine „europäische Unions-Identität”, oder eine bessere Bindung an die kulturellen Grundlagen unseres Europäertums, d. h. ein Europäerbewusstsein?
Es ist bekannt, dass die Grundlage unserer heutigen europäischen Kultur der griechisch-lateinische, christlich-jüdische Kulturkreis ist. Diesen wird vermutlich das 21. Jahrhundert in Frieden neben den mohammedanischen, buddhistischen u. a. Lebensprinzipien erleben. Und wahrscheinlich ist, dass wir immer die Interferenzen der Kulturen – auf gemeinschaftlicher, ja sogar auch auf individueller Ebene – sehen werden: die Kreuzungen der christlichen, der mohammedanischen, buddhistischen und sonstigen Lebensprinzipien – ja sogar der alltäglichen Ess- und Freundschaftsbräuche, der Glaubensprinzipien – im einmal erlebten Leben. Und wir werden es immer wieder neu formulieren, was innerhalb des christlich-jüdischen Kulturkreises die lateinamerikanische, die nordamerikanische, die afrikanische und die westeuropäische Identität bedeutet. Was halten wir aus unserer Gegenwart in der Zukunft für lebensfähig? – fragten wir 1992 in Gütersloh. Alle – frühere Philosophen und einfache Menschen von heute – beantworten diese Frage unterschiedlich.
Ich als stolzer Europäer kann die Grundlagen meiner europäischen Identität in drei Begriffen niederschreiben: Aufgeschlossenheit, Solidarität, kulturelle Diversität.
Die Aufgeschlossenheit ist unser erstes Merkmal – unsere mehrere tausend Jahre alte Tradition mit griechisch-lateinischen Wurzeln. Wir Europäer sind neugierige Völker. Unsere Anführer waren immer schon neugierig auf die gesamte Welt, sie waren Weltbürger. Nur in ganz kurzen Perioden (in gewissen Epochen der christlichen Kirche, in einzelnen diktatorischen Staatssystemen des 20. Jahrhunderts) und nur lokal kam die Politik der Ausschließung und der Abgeschlossenheit, der Isoliertheit zur Geltung. In der Geschichte Europas gab es nie eine Abgeschlossenheit wie im Leben der USA, Chinas oder Japans. Ich also erwarte von der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts, dass sie diese europäische Tradition, die Politik des sich für jeden Kontinent äußernden Interesses stärkt. Und auch das Interesse für die unterschiedliche Lebensprinzipien befolgenden Kulturen. Umso mehr, weil die neue industrielle-technische Revolution neben den regionalen und kontinentalen Integrationen auch eine Integration im Weltmaßstab, einen Wettbewerb im Weltmaßstab mit sich bringt. Und für uns kann diese Offenheit hin zu allem nur von Vorteil sein.
Das zweite Grundprinzip: die Solidarität. Die Grundlage der westeuropäischen Gesellschaftsordnung war, – und dies ist die riesige Errungenschaft des Christentums –, dass man ständig nach Gegenseitigkeit, nach Fürsorge strebte. Weder auf sozialem noch auf kulturellem Gebiet waren die Klüfte zwischen den führenden (reichen oder gebildetsten) Schichten der Gesellschaft und dem Durchschnittsmenschen so groß wie in den Kulturen mit anderen Grundprinzipien (der islamischen, der buddhistischen Kultur), oder in den Gesellschaften mit identischen Grundprinzipien, die sich auf anderen Kontinenten herausgebildet hatten, in der amerikanischen, russischen, südamerikanischen und afrikanischen Gesellschaft. Neben den christlich-jüdischen Lebensprinzipien wurde diese Beziehung, dieses soziale Wechselverhältnis von der allgemein verständlichen Buchstabenschrift, dem Buchdruck, später von der aus öffentlichen Geldern vermittelten massenhaften Allgemeinbildung auf hohem Niveau gebildet. Und von dem sozialen Netz, das zum sozialen Wohlfahrtsstaat des vergangenen halben Jahrhunderts geführt hat.
In der Gesellschaft soll es weder eine soziale, noch eine kulturelle Kluft geben. In der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts soll es keine Elendsviertel geben – kann dies nicht das eine Grundprinzip sein, von dem wir beim Studium der Vergangenheit, beim Nachdenken über die Zukunft geleitet werden könnten? Das bedeutet, dass eine Besonderheit der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts die soziale und kulturelle ausgleichende Rolle sein sollte. Doch wie sehr kennen wir die heutigen sozialen Bewegungen in Europa, oder die Wirkung der neuen industriellen-technischen Revolution? Ist es z. B. richtig, dass auf EU-Ebene kaum Aufmerksamkeit auf die die sozialen-kulturellen Bewegungen studierenden Sozialwissenschaften gerichtet wird? Schauen wir uns nur die wissenschaftlichen Rahmenprogramme an! In diesen standen bisher in erster Linie die mit der Produktion zusammenhängenden, sogenannten leblosen Naturwissenschaften im Mittelpunkt, jetzt endlich, mit dem 1999 angelaufenen V. Rahmenprogramm die Lebenswissenschaften (Biologie, Ökologie). Ist die Zeit zur Präferierung der Sozialwissenschaften noch nicht gekommen? Damit wir die Gesellschaften des Kontinents besser kennenlernen? Vielleicht wird es im 21. Jahrhundert dazu kommen.
Das dritte Grundprinzip: die kulturelle Diversität. Nirgendwo auf der Welt konnten sich auf einem so großen Gebiet so vielerlei muttersprachliche Kulturen und so vielerlei Gewohnheitsordnungen auf ein so identisches Niveau, auf ein literarisches Niveau wie in Europa erheben. Die vielfältigste Kultur der Welt existiert auch heute hier. Ein großer Vorteil Europas ist die Vermengung der Kulturen (ein Nachteil: der Kampf der Kulturen, vor allem in der Zeit der Nationalstaaten). Wir, darüber unterhielten wir uns im Mai 1992 in Moskau, möchten unser Alter in einer solchen EU leben, in der neben den großen Nationalkulturen auch die kleinen Nationalkulturen auf Weltniveau existieren. Das heißt, die EU des 21. Jahrhunderts soll das Europa der Bürger und der Nationen sein.
Ich glaube also, dass die europäische Identität über entsprechende Grundlagen verfügt, die Frage ist nur, sollen wir Intellektuelle auf diesen ein adäquates, modernes kulturelles Identitätsgebäude errichten? Es trifft zu, wie dies W. Schäuble auf dem Berliner Forum im Jahre 1998 gesagt hatte, dass der Euro das stärkste Bindeglied der europäischen Identität sein kann. Doch über die spontanen wirtschaftlichen und Verwaltungsfaktoren hinaus muss auch auf die geistigen Faktoren geachtet werden. Müsste man nicht auch die kultur- und unterrichtspolitischen Programme von diesem Gesichtspunkt aus überprüfen?
Und wenn ich schon bei den Vorschlägen angelangt bin (dies ist Berlin, 1998, das Blatt über das Gespräch mit Liz Mohn): weshalb gibt es kein Werk, keine Werke über die Geschichte Europas? Warum arbeiten wir in der beliebten Chronikreihe nicht eine „Chronik Europas” aus? Wie mir das Liz Mohn vorgeschlagen hatte, nachdem wir die „Chronik der Ungarn” zusammengestellt hatten. Die Selbstkritik auf diesem Gebiet ist berechtigt.
Über das Aufeinanderangewiesensein der westlichen und östlichen Hälfte Europas
Wenn wir uns die Vorgeschichte der Europäischen Union von historischem Gesichtspunkt aus betrachten, vergessen wir häufig, dass die europäische Integration von heute ein gerade 1000-jähriger Prozess ist.
Zuerst war das Frankenreich, danach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestrebt, seine gebietsorganisatorische Einheit bis zur identischen geographischen Grenze hinauszuschieben, welche geographische Grenze im Osten von den jetzt auf ihre Aufnahme in die EU wartenden 10 Staaten eingenommen wird. Und innerhalb dieser 1000 Jahre waren die Integrationsfäden zwischen dem Herzen Europas und dem östlichen Randgebiet manchmal stärker, manchmal schwächer. Es trifft aber zu, dass in allen diesen Integrationsperioden Wirtschaft und Sicherheitspolitik die Triebkräfte waren. (Und ohne diese Faktoren gibt es auch im 21. Jahrhundert keine Integration.) Die zweite große Lehre lautet, dass die Integration in jenen Gebieten stark war, wo das wirtschaftliche Aufeinanderangewiesensein auch mit der gesellschaftlich-kulturellen Integration gepaart war. Die Arbeitskultur, das Unterrichts- und Bildungswesen sowie die Bräuche und die Religion veränderten sich zur gleichen Zeit mit dem Ausbau der Handels- und Heerstraßen.
Die Frage ist, ob wir, wenn wir über die zukünftigen (östlichen) Grenzen der EU nachdenken, auch genug über die kulturelle Integration sprechen? Heute verfügt die EU bereits über ein markantes politisches System (Maastricht), über eine Verteidigungspolitik (NATO), über eine Wirtschafts- und Währungspolitik (Euro), jetzt hat sie auch schon eine Umweltpolitik, wie stark ist aber ihre humane Politik? Die organische Integration der östlichen, und fügen wir auch hinzu, der südlichen Randgebiete kann man sich nur durch eine entschiedenere humanpolitische Konzeption vorstellen. Müssten nicht die Präferenzen der finanziellen Aufwendungen der EU von diesem Gesichtspunkt aus neu untersucht werden?
Über das Verhältnis zwischen der EU und Russland
In der Geschichte der europäischen Kultur wandern die Zentren der Zivilisationen im Laufe der Jahrtausende, sie bewegen sich (wenn sie eine so lange Zeit erleben). Die Grundlage unserer Kultur beruht, wie bekannt ist, auf den griechisch-lateinischen, christlich-jüdischen Lebensprinzipien. Ihre ersten Zentren waren im ersten Jahrtausend vor Christus Griechenland bzw. das östliche Gebiet am Mittelmeer, danach Italien, Byzanz und im 2. Jahrtausend nach Christus das heutige Westeuropa (in ihm mit Nord- und Mitteleuropa). Doch breitete es sich in der Zwischenzeit auch auf die östlichen slawischen Gebiete (auf Russland), dann auf Süd- und Mittelamerika und zum Teil auf Afrika aus. Im 20. Jahrhundert wurde zweifelsohne Nordamerika das Zentrum des Kulturkreises, das für seinen größten Rivalen innerhalb der Kultur das osteuropäische Russland erachtete. Doch was wird jetzt, da Russland als Zentrum eines Weltreiches untergegangen ist? Wer ist jetzt der Rivale von wem? Ist vielleicht schon heute im freundschaftlichen Verhältnis zwischen Amerika und Westeuropa nicht doch das Element des Rivalisierens ins Übergewicht geraten? Und was bringt das Morgen? Und Russland?
Sehen wir es genau, mit wie viel Vorteilen die Osterweiterung der EU für Westeuropa verbunden ist? Und überhaupt, wie soll das Verhältnis der EU zu ganz Europa sein?
Es ist bekannt, dass die Europäische Union mit Europa weder im geographischen noch im kulturellen Sinne identisch ist. Vielleicht muss dies auch in der Zukunft gar nicht so sein. Wovon handelt aber die tausendjährige Integrationsgeschichte auch zugleich? Zum Teil davon, dass die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mächte Westeuropas schon immer aktive Kontakte zu den von östlichen (orthodoxen) Christen bewohnten Gebieten unterhielten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gerade während der Herausbildung des neuen Weltwirtschaftssystems, wurden die Beziehungen zu diesem System abgebrochen. Wegen des sowjetischen Systems war das Aufeinanderangewiesensein in Vergessenheit geraten. Mehr noch! Bis zur Gegenwart ist dieses Aufeinanderangewiesensein in Vergessenheit geraten.
Seien wir aber ehrlich: die Wirtschafts- und Außenpolitik der europäischen Integration trägt bis heute diese Einseitigkeit an sich: die verständliche Sowjetfeindlichkeit richtete die Aufmerksamkeit einseitig nur auf unsere amerikanischen Bindungen. Jetzt, nach dem Zerfall des sowjetischen Systems, beginnt die EU langsam – sehr langsam – in einer selbständigen Weltstrategie zu denken. (Diskussionsrede Weizsäckers, Warschau, August 1999) Müsste nicht eine neue Ostpolitik angeregt werden? Und müssten zu dieser nicht die auf ihren Beitritt wartenden 10 Staaten als Stützpunkte verwendet werden? Die Vereinigten Staaten haben eine Russlandpolitik. Hat jedoch die EU eine? Müsste diese Ostpolitik nicht zuerst gerade auf dem Gebiet der Kultur und der Wissenschaft aktiviert werden? Bevor Russland zum Müllhaufen der amerikanischen Kultur wird?
Was ist aber die EU und was ist ihr Ziel? (Moskau, 1992)
Die EU ist eine Verwaltungseinheit, deren Ziel es ist, dass die auf ihrem Territorium lebende Bevölkerung auf dem Weltmarkt der Produktion und der Kultur wettbewerbsfähig ist; sie soll die Lebensqualität und die Modernisierung der zahlreichen nationalen Kulturen und Gewohnheitsordnungen auf ihrem Territorium und so ihren Fortbestand sichern.
Wie lässt sich aber diese dreifache Zielsetzung realisieren?
In welcher Sprache werden wohl die Bürger der Union sprechen? Es ist eine ungehobelte Frage, doch sie muss gestellt werden: was wird mit den kleinen muttersprachlichen Kulturen? Von der Wettbewerbsfähigkeit wird einerseits gefordert, dass die Bürger der Union auf einem gewissen Niveau die lingua franca im Weltmaßstab, das Englische, sprechen können, und eine lokale lingua franca, das Französische, Deutsche, Russische und Spanische beherrschen. Doch fordert die Wettbewerbsfähigkeit auch, dass wir uns schon in unserer Kindheit in einer Sprache alle komplizierteren Kenntnisse der modernen Welt vollständig aneignen. Und dies ist nur in der Muttersprache möglich. Auch deshalb muss vielleicht in der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts ein viel größeres Gewicht auf den Sprachunterricht und auf die Bewahrung der lokalen Kulturschätze gelegt werden.
Und nun das informatische Instrumentarium! Wer nicht schon in seiner Kindheit die Handhabung der neuen Informationsträger erlernt, der bleibt im Wettkampf im Weltmaßstab zurück. Das Internet ist nur ein Teil – doch mit Recht einer der am häufigsten erwähnten Bestandteile, – dieser Multimedienkultur. Allgemein bekannt ist es, dass die europäischen Völker schon hinter den USA und Japan zurückgeblieben sind. Obzwar der Wettbewerb in der Produktion und Kultur des 21. Jahrhunderts sich darin entscheidet, – und dies ist eine Lehre der europäischen Geschichte und des Untergangs der Sowjetunion –, in welchem Maße gut ausgebildete Facharbeiter hinter den Spitzentechnologien aufgereiht werden können. Denn, wie dies auch im Clinton-Bericht im April 1997 enthalten ist, im Jahre 2015 würden nur 20 % der besten Facharbeiter von heute den zukünftigen Erwartungen entsprechen. Müsste nicht eine aktivere und konzentriertere Kultur- und Wissenschaftspolitik der EU angeregt werden? Darf man die Kultur- und Wissenschaftspolitik so auf dem Niveau der Nationalstaaten belassen?
Es ist in Ordnung. Bereits jetzt werden den Nationalstaaten ihre Jahrtausende alten Attribute geraubt: sie haben keine selbständige Verteidigungspolitik, keine selbständige Außenpolitik mehr und sie können es kaum erwarten, auch keine selbständige Finanzpolitik mehr zu haben. Doch müssen die Staaten dazu gezwungen werden, aus ihrem Machtstaat bewusst stärkere Dienstleistungsstaaten herauszubilden. (Diskussionsrede Santers, Berlin, 1998) Ich bin nicht dafür, dass die EU ein kontinentaler Superstaat wird, müsste man jedoch nicht darüber nachdenken, dass sie eine bewusstere humane Politik haben soll und dass sie ihren Mitgliedstaaten entschiedenere Normativen auf dem Gebiet des Unterrichtswesens (im Allgemeinen auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung) und der Förderung der Wissenschaft vorschreiben sollte?
Die Emanzipierung Europas
Warum vermag aber Europa noch nicht in einer selbständigen Weltstrategie zu denken? Was ist das Hindernis der Emanzipierung? Das eine ist jenes, ich zumindest habe mehrmals darüber gesprochen, dass die EU und die gesamte europäische Intelligenz vergangenheitsorientiert ist. Alle befassen wir uns in erster Linie mit unserer Vergangenheit. Uns selbst zerfleischend. Auch in der Vorgeschichte der EU zwischen 1946 und 1992 war dies nur einer ihrer Grundfaktoren: die Ausnutzung der Vorteile des großen Marktes, die Herausgestaltung der Produktionsgemeinschaft. (Davon wurde schon zu Beginn des Jahrhunderts auch der Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa hervorgebracht: Wettbewerbsfähigkeit mit dem Amerika der großen Räume.) Der andere Grundfaktor dieses halben Jahrhunderts jedoch ist das Schuldgefühl wegen der Weltkriege und der Massenvernichtungen. (Welches Schuldgefühl, dies sei hinzugefügt, auch berechtigt war und berechtigt blieb.) Wir europäische Intellektuellen blicken selbstkritischer auf unsere Vergangenheit zurück als die Intellektuellen eines jeden anderen Kontinents. Auch dann geben wir diesen unseren selbstkritischen Standpunkt nicht auf, wenn die politischen Faktoren anderer Kontinente – manchmal im Osten und manchmal im Westen – uns wegen der wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen auch wegen der Dummheiten oder Sünden unserer Großväter und Väter erpressen.
Das Problem ist, dass wir es vergessen haben, uns mit der Zukunft zu beschäftigen. Und wir haben vergessen, unsere Werte aus der Vergangenheit zu mobilisieren und zu verteidigen. Wir haben vergessen, auf unsere Vergangenheit stolze Europäer zu sein. Wir sind zum Europa des Kulturpessimismus geworden. Neben und gerade gegen die dynamische, zukunftsorientierte amerikanische Bruderkultur.
Müsste nicht eben die Bertelsmann-Stiftung ein modernes „think-tank” zustande bringen, das durch die Koordinierung von Instituten und Lehrstühlen von Universitäten unter dem Titel „Europa im Jahre 2030” eine Studie erstellen könnte, während untersucht würde, was mit dem Wirtschaftspotential des Kontinents wird, wo sich Ausbruchspunkte bieten? Was wird mit den Wasser- und Rohstoffvorräten des Kontinents, mit seinem Verkehr, seiner Informatik, mit den sprachlichen Kulturen, wie wird die Zukunft der europäischen Nationalstaaten sein, und so weiter? Eine konkrete Erfahrung ist nachstehende: In Ungarn wurden im Jahre 1996 von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sogenannte Nationale Strategische Forschungen in Angriff genommen, als deren Ergebnis bereits 18 kurz und gedrungen formulierte Studienbände über die Agrarwirtschaft, das politische System, über Informatik, Sicherheitspolitik, über die Donau, über den Regionalismus, über das Verhältnis zwischen der Muttersprache und den „linguae francae”, usw. vorliegen. Mit kurzen Resümees (von 2 bis 3 Seiten) einer in 65 000 Exemplaren erscheinenden Zeitschrift bombardieren wir die inländische politische Elite und die Mittelschicht: sie soll anfangen, zukunftsorientierter zu denken. Warum könnte man dieses Experiment nicht auch im Unions-Ausmaß aufnehmen? Wer könnte die strategischen Alternativen formulieren, wenn nicht die gelehrte Fachintelligenz? Aufgabe der Politiker wird es danach sein, die Auswahl unter den Alternativen zu treffen.
* Der Autor ist seit 1991 Mitglied jener Arbeitsgruppe, die sich mit dem Problemkreis der Osterweiterung der Europäischen Union befasst. Anlässlich der Tagungen dieser Arbeitsgruppe ging man auf die Sicherheitspolitik, das Bankensystem Osteuropas ein, auf Minderheitenprobleme, die Agrar- und Verteidigungspolitik. Ebenso wurden regelmäßig Stellungnahmen der Europäischen Kommission bzw. sich daraus ergebende Probleme diskutiert. Ins Leben gerufen wurde diese Arbeitsgruppe von der Bertelsmann Stiftung, finanziert in Übereinstimmung mit der Brüsseler Administration. Leiter ist Werner Weidenfeld, der bekannte deutsche Professor der Politologie, dem auch die Münchener Forschungsgruppe Europa im Centrum für angewandte Politikforschung untersteht. Dieser Arbeitsgruppe entwuchs das seit 1996 jährlich tagende Europa Forum. Das Europa Institut Budapest arbeitet und wirkt seit 1992 gemeinsam sowohl mit dem Münchener CAP als auch mit der Bertelsmann Stiftung.
Im Januar 2000 widmete sich ein Brain Storming der Kommission der Zukunft Europas. Man bat Jacques Delors (den früheren Vorsitzenden der Europäischen Kommission), das politische Zukunftsbild aufzuzeigen, den früheren Vizepräsidenten der Weltbank und jetzigen Staatssekretär Koch-Weser, über die wirtschaftlichen Aussichten zu sprechen, und Ferenc Glatz, den Direktor des Europa Institutes, einen Vortrag über die Humanzukunft der Union zu halten. Vorliegendes Material ist die schriftliche Grundlage des frei gehaltenen Vortrages am 13. Januar 2000.