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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:111–118.

GYÖRGY HARASZTI

Kulturelle Traditionen und Institutionen der ungarischen Juden

 

Die zur jüdischen Glaubensgemeinschaft Großungarns gehörende Bevölkerung wurde Mitte 1941 auf 725.000 Personen geschätzt. Zusammen mit den offiziell 58.000 jüdischer Abstammung, den unter das sog. Dritte Judengesetz fallenden Menschen christlichen Glaubens sowie den ca. 40.000 Menschen mit teilweiser jüdischer Abstammung lag die Zahl der ungarischen Staatsbürger, die unter Rassendiskriminierung und -verfolgung zu leiden hatten, bei min. 825.000 Seelen, d. h. ca. 5,4 % der Gesamtbevölkerung. Die judenfeindlichen Atrozitäten, den Arbeitsdienst und vor allem die der deutschen Besetzung des Landes folgenden Deportationen, die Todesprozessionen (der ungarische Holocaust) überlebten von den zwischen 1941 und 1945 auf dem Territorium Ungarns lebenden, unter den Judenverfolgungen leidenden 825.000 Einwohnern ca. 260.000. (Von ihnen kehrten in den darauffolgenden Monaten ca. 60.000, davon 25.000–40.000 in das an Rumänien zurückgeschlagene Nord-Siebenbürgen, ca. 15.000 in die der Sowjetunion zugeschlagene Karpatoukraine, gut 10.000 in die der Tschechoslowakei zurückgegebenen Oberland-Gebiete bzw. ein paar Tausend in die erneut zu Jugoslawien gehörende Bácska zurück. Die Zahl der Überlebenden, die aus den Lagern, wenn auch nur vorübergehend – nicht an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt sind, ist gering, bzw. lässt sich nicht genau feststellen.)

In den ersten Jahren nach dem Krieg war die antisemitische Stimmung besonders in den Provinzsiedlungen sehr stark, wo die Verfolgten überlebt hatten und die Rücksiedler ihre Güter zurückforderten und (schon allein wegen des Ausbleibens deutlicher staatlicher Maßnahmen) auf Antipathie der lokalen Bevölkerung stießen. Schreckensnachrichten, Ritualmord-Verdachte vergifteten die Atmosphäre. Auch die (anti)kommunistische Propaganda zeigte ihre Wirkung. Im Mai und Juni 1946 kam es in Kunmadaras bzw. Miskolc zu (parteipolitischen Untertönen nicht entbehrenden) Pogromen, bei denen fünf Juden ihr Leben verloren und zahlreiche verletzt wurden. Auch die zeitgenössische Presse war nicht frei von antisemitischen Äußerungen. Die Juden wurden u. a. beschuldigt, dass sie „Kapital aus ihren Kriegsleiden schlagen”. Mit der Stabilisierung der Wirtschaft gingen bis Ende 1946 die offenen antisemitischen Bewegungen zu Ende (obwohl es wiederholt zu Friedhofsschändungen kam), aber durch die angespannte politische Atmosphäre infolge der Dominanz der kommunistischen Partei, das wirtschaftliche Unmöglichmachen der jüdischen Bevölkerung (infolge der Verstaatlichungen) und die Meldungen über die baldige Gründung des Staates Israel hatten zahlreiche Juden zur Auswanderung animiert.

Nach der Beendigung des Krieges kam es zur Wiederherstellung, Neuorganisation der zentralen Büros der orthodoxen und neologen Glaubensgemeinschaften (die Status quo Gemeinden zählten damals bereits eindeutig zu den Neologe). Ganz im Gegensatz zur Zeit vor dem Krieg, als an der Spitze der Glaubensgemeinschaften und zentralen Büros prominente Mitglieder des jüdischen Finanzkapitals standen, wurden nach dem Krieg die Spitze auf wesentlich breiterer Basis gewählt und innerhalb weniger Jahre gelangten auch die Zionisten in bedeutende Positionen. Im Dezember 1948 kam es – ähnlich wie bei anderer Konfessionen – zwischen der Regierung und den zentralen Organen der jüdischen Glaubensgemeinschaften zu einer Vereinbarung. Die jüdische Konfession wurde offiziell anerkannt, ihr wurde die freie Glaubensausübung und kontinuierliche finanzielle staatliche Unterstützung zugesichert. (Diese Vereinbarung wurde 1968 erneuert). 1950 kam es auf Druck der Regierung hin zur gewaltsamen Vereinigung der drei religiösen Richtungen – Orthodoxe, Neologe, Status quo anta. (Den die am heftigsten die Zwangsvereinigung bekämpfenden Orthodoxen – ein gutes Zehntel des damaligen ungarischen Judentums – wurde innerhalb der neuen Organisation eine relativ breite Autonomie zugesichert). Die Spitzenorganisation der vereinten jüdischen Glaubensgemeinschaft wurde die Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (nach 1989 unter dem neuen Namen: Verband der Jüdischen Glaubensgemeinschaften Ungarns – MaZsiHiSz), der MIOK zur Entscheidung von religiösen Fragen wurden entsprechend den beiden Hauptrichtungen 2 Rabbiner-Ausschüsse gegründet, die mit dem Titel orthodoxer bzw. neologer Oberrabbi ausgestattet wurden.

Die Kontakte der ungarischen und ausländischen jüdischen Organisationen (wie auch die der einzelnen Menschen) wurden eingefroren, verboten, streng bestraft. Im Einklang mit den verschlechterten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wurde auch die ungarische Tätigkeit des J. D. C. allmählich unmöglich gemacht, Anfang 1953 verboten (der ungarische Leiter Dr. Frigyes Görög wurde zum Verlassen des Landes gezwungen). Die jüdischen pädagogischen Institutionen wurden in das allgemeine Unterrichtssystem integriert, wodurch die religiöse und zionistische Erziehung der jüdischen Jugend unmöglich wurde. (Die in den offiziellen politischen Rang erhobene Anti-Religiösität traf besonders tragisch die orthodoxen Lebensumstände, und obwohl es bis zur zweiten Hälfte der 50-er Jahre gelungen war, einige, den Religionsunterricht dienende Jeshibate aufrecht zu erhalten, wurde deren physisch-geistiger Nachschub immer problematischer und dies ist bis heute so.) Bald kam es in der Maske des Antizionismus zur Ablösung eines bedeutenden Teils der Kader jüdischer Herkunft. Die politischen Prozesse, Abrechnungen (Rajk-Prozess, Einkerkerung von Gábor Péter) erhielten einen starken antisemitischen Ton und unter den sog. feudalistischen und kapitalistischen Elementen, die 1951 von den Großstädten in die Provinz ausgesiedelt wurden, waren Schätzungen zufolge auch ca. 10.000– 15.000 Juden (in der Mehrheit aus Budapest). (Infolge der liberaleren Politik nach 1953 konnte die Mehrheit von ihnen an ihre früheren Wohnorte zurückkehren und bis 1956 wurden die meisten jüdischen Führer, die im Gefängnis saßen, entlassen, teilweise erfolgte auch ihre Rehabilitierung.)

Die Veränderungen zwischen 1945–1955 wurden symbolisch durch die Revolution von 1956 besiegelt. Entsprechend der Polarisierung der ungarischen Gesellschaft sind unter den Wegbereitern, Kämpfern und Feinden der Revolution gleichermaßen Personen jüdischer Abstammung zu finden, in großer Zahl waren sie aber auch unter den Opfern der Repressalien nach der Revolution. Zu antisemitischen Bewegungen kam es nur vereinzelt, vor allem in der Provinz, die Gerüchte darüber und die Angst vor russischen Repressalien bzw. der Rückkehr des kommunistischen Terrors zwang ca. 20.000 ungarische Staatsbürger jüdischer Abstammung (ca. 10 % aller „Dissidenten”) zur Flucht und in geringem Umfang setzte sich auch 1957 die Auswanderung der Juden (diesmal legal) fort. (Gleichzeitig standen jedoch viele der Zurückgebliebenen im Dienst der Kádár-Regierung, sie erwarteten von ihr die Garantie ihrer eigenen Sicherheit.) Den größten Verlust erlitt jedoch das jüdische organisierte (religiöse, wissenschaftliche usw.). Leben in einem bis dahin alles übersteigenden Umfang der Schwächung; die Créme de la Créme der jüdischen Elite, angesehene Rabbiner, Wissenschaftler, religiöse und weltliche Führer, größere orthodoxe Gruppen nahmen den Wanderstab in die Hand und ihr Fehlen konnte das in den vergangenen 30 Jahren wieder unter den Druck der Staatsgewalt geratene, durch die Selbstbewegung der Vergreisung, Verweltlichung und Assimilierung (infolge dessen es heute in jeder Familie gemischte Ehen gibt) desintegrierende, eine (neue). Identität suchende ungarische Judentum bis zum heutigen Tag nicht überwinden.

Ab Ende der 50er Jahre, jedoch eher ab Mitte der 60er Jahre bedeutete die allmähliche Liberalisierung des kommunistischen Systems in der Ausübung der Religion und auch im Leben der Gemeinschaften etwas Linderung, die grundlegenden Tendenzen veränderten sich jedoch nicht.

Im Interesse der Aufrechterhaltung des Überlebens, der Äußerlichkeiten und des zentralen Rahmens der Konfession wurde der MIOK, der mit der Kádár- Regierung (1956–1987/8) Beziehungen pflegte und die Wünsche des Systems oft übereifrig erfüllte, alle autonomen jüdischen Bewegungen unterdrückte, gestattet, dass ihre Vertreter ab den 60er Jahren erneut an den Sitzungen des Jüdischen Weltkongresses und anderen internationalen jüdischen Konferenzen teilnehmen konnten. Die ungarischen jüdischen Organisationen erhielten die Möglichkeit, Kontakte zu den jüdischen Gemeinschaften anderer mittel- und osteuropäischer Länder und zur Memorial Foundation for Jewish Cultur mit Sitz in den USA zu pflegen, die zahlreiche jüdische soziale, kulturelle und wissenschaftliche Institutionen in Ungarn unterstützte (so u. a. auch das unter der Leitung des berühmten Wissenschaftlers Sándor Scheiber (1958–1985) stehende Landesrabbinerausbildungsinstitut, das versuchte, den jüdischen Glauben bei den Jugendlichen zu bewahren und am 6. Dezember 1977 sein 100jähriges Bestehen im Beisein von westlichen Gästen feierte – die in Israel lebenden ehemaligen Schüler wurden nicht ins Land gelassen. Im Ergebnis der zwischen dem J. D. C. und dem ungarischen Staat im Februar 1980 geschlossenen Vereinbarung konnte auch der Joint seine Tätigkeit in Ungarn wieder aufnehmen. Als Symbol der sich wiederbelebenden Kontakte errichtete die ungarische Regierung im Mai 1980 in Auschwitz eine ständige Ausstellung zum Gedenken an die dort ermordeten 400.000 ungarischen Juden. Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und MIOK wurde sehr vielschichtig. (Im April 1980 wurde Oberrabbi László Salgó zur Vertiefung der Kontakte zwischen Staat und Jüdischer Kirche mit einer der größten staatlichen Auszeichnungen, dem Verdienstorden der Republik geehrt.) Daraufhin konnten – ähnlich wie auch bei anderen Konfessionen – in den letzten Jahrzehnten des Bestehens dieses Systems die (nicht offiziellen) Vertreter der Glaubensgemeinschaft ins Parlament einziehen.

Anfang der 70er Jahre wurde die jüdische Bevölkerung Ungarns, die nach der Sowjetunion die zweitgrößte in Osteuropa vor der in Rumänien ist, auf 70.000–80.000, die in Budapest lebende auf 60.000–70.000 geschätzt. (ca. 60 % der jüdischen Bevölkerung waren älter als 50 Jahre.) Im Leben der religiösen Gemeinde wurde der Anteil der mehr oder weniger aktiv Teilnehmenden auf 30–40 % geschätzt. Für die Zufriedenstellung der spirituellen Ansprüche sorgten 15 Rabbiner. Größere Gemeinden gab es in Miskolc, Pécs, Debrecen und Szeged, diese jedoch waren in keinerlei Hinsicht mit der hauptstädtischen Glaubensgemeinschaft vergleichbar. Zentrum des jüdischen Lebens war Budapest, hier hatten alle zentralen Organisationen ihren Sitz. In der Hauptstadt gab es ca. 20–24 Synagogen. Die Glaubensgemeinde unterhielt verschiedene religiöse (Synagogen, koscheres Essen usw.), soziale (Krankenhaus, Waisenhaus, Altenheim), kulturelle (Museum, Archiv). Institutionen sowie Hochschulinstitutionen, neben der Landesrabbinerausbildung eine Mittelschule mit vier Jahrgängen (deren Schüler immer weniger werden – Ende der 70-er Jahre wurde sie nur noch von 15 Schülern besucht), das Anne Frank-Gymnasium.

Nach dem einem Wunder gleichenden Zusammenbruch des kommunistischen Systems erwachte nach den langen Jahrzehnten der Stagnation und des Niedergangs nun auch das ungarische Judentum aus seinem Dornröschenschlaf. Es ist keine Übertreibung, wenn infolge und im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen und geistigen Erneuerung nach dem Systemwechsel von einer Renaissance des ungarischen jüdischen Lebens gesprochen wird. In erster Linie in qualitativer, aber im gewissen Sinne auch in quantitativer Hinsicht. (Viel mehr bekennen sich zum Judentum als noch vor zwei oder gar einem Jahrzehnt, bedeutend ist die Zahl jener gewachsen, die sich selbst als (ungarische) Juden bekennen, keine Angst vor der offenen Bekennung zum Judentum habend. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Geburten bei jüdischen Eltern bedeutend zurückgegangen, durch die gemischten Ehen jedoch ist der Mondkreis des Judentums wesentlich – um weit mehr als 100.000 angestiegen.

Eine genaue Definition, wer als (ungarischer) Jude betrachtet werden kann, kann infolge der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten Migration, gesellschaftlichen Veränderungen, Säkularisierung sowie des allmählichen Verschwindens der Grenzlinien zwischen den gesellschaftlichen Schichten, religiösen und ethnischen Gruppen nicht gegeben werden. Wir müssen uns damit begnügen, dass im heutigen Ungarn das Judentum in erster Linie eine Frage der Bekennung ist: der gemeinsame Nenner von Gruppen und Individuen mit verschiedenen Backgrounds, Zielen und Ideologien.

Das erste – auch im breiten Kreis sichtbare – Zeichen der Wiedergeburt der ungarischen Juden (infolge der Veränderungen) war am 19. November 1988 im Festsaal der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in der Burg im Beisein von fast tausend Interessenten die Gründung der Ungarischen Jüdischen Kulturellen Vereinigung. Die Organisation wollte den breitesten Kreis der Jüdischen Gesellschaft in Ungarn ansprechen, bewusst der damaligen Organisation der Glaubensgemeinde entgegentretend. Der MaZSIKE hat eine Ausbildungsinstitution (die Lauder Javne Schule der Jüdischen Gemeinde) gegründet und gibt unter dem Titel „Szombat” jährlich zehn Mal bis zum heutigen Tag eine Zeitung heraus. Obwohl die Kulturelle Vereinigung im vergangenen Jahrzehnt sehre viel von ihrer Bedeutung verloren hat (nicht zuletzt deshalb, weil der ungarische Staat auch weiterhin als Verhandlungspartner die (erneuerte) Spitzenorganisation der Glaubensgemeinschaft anerkennt, in die sich der MaZSIKE nicht wirklich integrierte), sind die historischen Verdienste der Organisation recht bedeutend.

Im Ergebnis des Zerfalls des totalitären Systems des Staatssozialismus erlangte auch die viele Leiden durchmachende ungarische jüdische Gemeinschaft ihre Freiheit zurück, für jeden bestand die Möglichkeit, frei zu wählen: Im Zeichen der sich verwischenden Grenzen zur Fortführung der natürlichen Assimilierung, zur Verstärkung des zionistischen Selbstbewusstseins und/oder zur eventuellen Auswanderung, zur Annahme einer doppelten Identität, vielleicht zur Wahl einer vierten oder fünften Option. Alle Möglichkeiten sind bestehende Realität. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre erstarkten die natürlichen Beziehungen der hier lebenden „Juden” (Anfang der 90er Jahre hat die überwiegende Mehrheit des ungarischen Judentums erneut zurückgewiesen, dass sie als ethnische Minderheit bezeichnet wird und bestand auf die konfessionelle Definition) zu Israel, zionistische Organisationen tauchten wieder auf, es blühen die zivilen und Jugendvereinigungen, das kulturelle, Schul- und Sportleben belebte sich.

In der offiziellen Politik der Glaubensgemeinde gelangte nach 45 Jahren nicht die langsame Selbstauflösung und die Verschleuderung des Vermögens der Gemeinde (nur ein Beispiel dafür ist, dass die Budapester Hauptkirche der Status Quo Richtung, die Synagoge in der Rumbach utca praktisch im letzten Augenblick, 1988, verkauft wurde), sondern die Wiedererfüllung der alten neuen Formen des Gemeindelebens mit Inhalt (beispielsweise 1994 die Gründung des Bálint Jüdischen Gemeindehauses, das verschiedene Institutionen beherbergte) und die Rückerlangung und/oder Erneuerung ihrer Immobilien in den Vordergrund. (Auch hier nur einige Beispiele: In den vergangenen Jahren kam es zur Zurückgabe eines früher enteigneten Vermögens der Glaubensgemeinde, Holocaust Denkmal der Emmanuel Stiftung (1990, ein Werk des Bildhauers Imre Varga), Umgestaltung der Synagoge in der Páva utca mit Hilfe des Staates in ein Holocaust-Gedenkmuseum und ein Dokumentationszentrum (erfolgt gegenwärtig), Restaurierung der neologen Hauptkirche in der Dohány utca unter Kostenübernahme des ungarischen Staates in Milliardenhöhe, Rekonstruktion der jüdischen Friedhöfe in der Provinz und der Hauptstadt, im fortgeschrittenen Zustand befindet sich die Rekonstruktion der orthodoxen Synagoge in der Kazinczy utca usw.).

Die Widersprüche, Spannungen der heutigen ungarischen gesellschaftlichen Veränderungen, spürt selbstverständlich auch das ungarische Judentum. Der Systemwechsel ermöglichte dem Judentum ein freies Leben. Es kamen jüdische Unterrichts-, kulturelle, karitative, Fremdenverkehrs-, gastronomische Netze (Reisebüro (Áviv, Biblical World Gallery, Hotel und Restaurant Kings, Carmel Keller, Konditorei Frühlich, Koscheres Lebensmittelgeschäft Rothschild) zustande oder wurden erneuert, aber auch die internationalen Kontakte erstarkten. Diese Zusammengehörigkeit wird jedoch durch den hier und da aufkommenden Antisemitismus gestärkt. (Experten zufolge habe in den vergangenen Jahren in Ungarn der Antisemitismus nicht zugenommen, in dem neuen, demokratischen System konnten jedoch die früher in die Illegalität gezwungenen antisemitischen Äußerungen erneut ans Tageslicht kommen. In den Spalten der ultranationalistischen Zeitungen (Magyar Fórum, Új Demokrata usw.) und auf den Veranstaltungen der Partei des Populisten István Csurka (MIÉP) erhalten erneut die den ungarischen Juden schadenden Anschauungen, die diese für die Schwierigkeiten des demokratischen Wandels verantwortlich machen, Öffentlichkeit. Es kam vereinzelt auch zu Zwischenfällen, Friedhofsschändungen.

Das Aufblühen des jüdischen Lebens ist u.a. daran zu messen, dass in den vergangenen zehn Jahren auch in den Provinzstädten Glaubensgemeinden zustande kamen, wo lange Zeit offiziell keine jüdische Familie lebte. Ein Teil der Abkömmlinge gemischter Ehen sucht ebenfalls seine jüdischen Wurzeln. Entgegen der eventuellen Ängste (oder Erwartungen) kam es nach dem Systemwechsel 1989 entgegen der riesigen jüdischen Emigration in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – nicht zu großen Auswanderungen. Das Judentum hat(te) sich wie nie zuvor in die ungarische Gesellschaft integriert. Von der in Europa als drittgrößte, in Mitteleuropa als größte jüdische Gemeinde angesehene (1995 /im halachischen Sinns als Juden angesehen, d. h. von einer jüdischen Mutter stammend/ auf 65.000–70.000 geschätzt) ungarischen (praktisch fast vollständigen Budapester) Israelitischen/jüdischen Bevölkerung lag die Zahl der nach Israel Auswandernden zwischen 1990 und 2000 (den Daten der Jüdischen Agentur/ Sochnut) zufolge bei 60–100 und der Großteil von ihnen kehrte zurück. (Darüber gibt es jedoch keine genauen Statistiken, die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen in andere Länder, in erster Linie nach Westeuropa und in die USA Auswandernden lag da weitaus höher.)

Das in die Rahmen der Glaubensgemeinde gehörende Spitzenorgan des ungarischen Judentums ist der Verband der jüdischen Glaubensgemeinden Ungarns, der MAZSIHISz, dessen Mitglieder sowohl die neologen Glaubensgemeinden, an deren Spitze mit der über die größte Mitgliederzahl verfügenden Budapester Jüdischen Glaubensgemeinde, als auch der seit 1994 erneut selbständigen Autonomen Orthodoxen Glaubensgemeinde Ungarns sind. Nach einer fast 50jährigen Periode, in der auch die jüdischen Führer von der kommunistischen Staatsmacht ausgewählt wurden, kam es 1990 aufgrund von neuen Statuten (zum ersten Mal) zur demokratischen Wahl der Führer der Glaubensgemeinden. Den Gläubigen stehen ca. 23–25 Synagogen und Gebetshäuser zur Verfügung. Die neologe Rabbinersektion (an der Spitze mit dem Landesoberrabbi Dr. József Schweitzer, dem früherer Rektor der Landesrabbinerschule, Róbert Deutsch, dem Leiter des Rabbinertums, und Róbert Frölich, Rabbi der neologen Hauptkirche in der Dohány utca, dem jüdischen Hauptpfarrer im Rang eines Generals der Ungarischen Armee) bestand in den 90er Jahren aus ca. 12 aktiven Rabbis. Der Rabbi der Aut. Orth. Glaubensgemeinde war der Israeli Aron Hoffman. Die periodisch erscheinende Egység und Gut Sábesz in ungarischer Sprache der hassidischen „Chabad” Bewegung verfügt seit Anfang der 90-er Jahre über eine eigene Synagoge, an ihrer Spitze der Delegierte der Lubavicser Bewegung, Rabbi Baruch Oberländer (ungarischer Abstammung). (In den vergangenen Jahren wurde nach angelsächsischem Muster auch die Reformvereinigung Szim Salem gegründet, deren Vorsitzende Katalin Kelemen ist die erste Frau als Rabbi in Ungarn.) Der MaZsiHiSz und der BZS unterhalten zahlreiche medizinische, soziale und kulturelle Institutionen, Jugendsommerlager mit koscherer Verpflegung, das Museum der Jüdischen Religiösen, Historischen und Archivarischen Sammlungen. Von den Institutionen der Aut. Orth. Isr. Glaubensgemeinden sind das Orthodoxe Altenheim, das Hanna Restaurant sowie die koschere Wurstfabrik, Bäckerei und Weinausschank erwähnenswert.

Von den außerhalb der engeren und weiteren Rahmen der Glaubensgemeinde – der säkularen jüdischen Organisationen (Verband der Ungarischen Zionisten, Internationaler Zionistischer Frauenverband, Ungarisch-Israelische Freundschaftsgesellschaft, Verband der Jüdischen Jugendlichen Ungarns usw.) ist bis heute die Kulturelle Vereinigung der Ungarischen Juden mit einigen hundert zahlenden Mitgliedern die größte. Von den zahlreichen jüdischen Zeitungen und Zeitschriften ist die bedeutendste die von János Kőbányai 1988 gegründete, jährlich viermal erscheinende „Múlt és Jövő” (‘Vergangenheit und Zukunft’). Die bedeutendsten Buchverlage sind: Múlt és Jövő und der Makkabi Verlag. Beachtenswert ist, dass die Mitgliederzahl der außerhalb und innerhalb der Gemeinden zusammen bei max. 5.000–10.000 liegt, was eindeutig zeigt, dass die Mehrheit der ungarischen Juden keiner organisierten Glaubensgemeinde oder sonstigen jüdischen Organisation angehört. (Ihre Einbeziehung in das Leben der jüdischen Gemeinden sowie die Zusammenarbeit der Glaubensgemeinden und der jüdischen „Weltorganisationen”, die Schaffung von gemeinsamen Interessenvertretungen vom Aspekt der Zukunft des ungarischen Judentums sind die zwei wichtigsten Aufgaben für den kommenden Zeitraum.)

Dem in der engeren und weiteren jüdischen Gemeinde herausgebildeten Konsens zufolge ist die Schlüsselfrage des jüdischen Lebens außerhalb Israels die Reorganisation des von den Traditionen entfremdeten (entfremdet säkularisierten) Judentums, die Erziehung der künftigen Generationen im jüdischen Sinne. Ende 1999 gab es in Budapest drei staatlich anerkannte jüdische Schulen mit ca. 1000 Schülern. Sowohl der BZSH, als auch die Autonome Orthodoxe Glaubensgemeinde betreiben eine Gesellschaft in Ungarn (der außerhalb der gegenwärtigen (offiziellen) Organisationen stehenden Mehrheit), das ist brennendste Aufgabe der nahen Zukunft, gleichzeitig die Gewähr für das weitere Bestehenbleiben und Erblühen der Gemeinde.

Die seit dem Systemwechsel vergangenen zehn Jahre sind nur ein recht kurzer Abschnitt im Leben der 300 Jahre lang bestehenden jüdischen Gemeinde, die längere und kürzere Zeitabschnitte des Aufschwungs, der Zerstörung und Stagnation miterlebte. Die Zukunft ist offen. Trotz der zahlreichen Alltagsprobleme ist das heutige Judentum in Ungarn, das (Glaubens) Freiheit und Gleichberechtigung genießt, aktiver Teilnehmer am öffentlichen Leben, seine Mitglieder sind in jedem Segment der ungarischen Gesellschaft – in enger Zusammenarbeit mit den Landsleuten anderer Religionen – zu finden. Die Zeichen verweisen darauf, dass (trotz und nach der gewaltsamen Abtrennung vor fast 50 Jahren) das ungarische Judentum erneut seinen traditionellen Weg beschreitet. Die erneuerte jüdische Gemeinschaft, die stolz auf den Staat Israel ist und die bewusst die strukturelle, an Traditionen, Konfessionen, das Geburtsland stark gebundene doppelte Identität, wählt, scheint sich, ähnlich wie die der westeuropäischen Gemeinden, zu festigen.

 

Literaturverzeichnis

Encyclopedia Judaica CD Rom Version (Jerusalem, Keter Publishing House Ltd., 1997), Abschnitt Hungary Ferenc Orbán, Das jüdische Leben in Ungarn (Budapest, Makkabi Kiadó, 1996); Tibor Erényi, Die Geschichte der Juden in Ungarn (Budapest, Útmutató Kiadó, (1996/7); Kalender des 5760. Synagogenjahres (Budapest, Aut. Orth. Glaubensgemeinde Ungarns, 1999); Raphael Patai: The Jews of Hungary History, Culture, Psychology, (Detroit, Wayne State University Presse, 1996); Tamás Stark: Versuch zur Ermittlung der Zahl der jüdischen Bevölkerung zwischen 1945 und 1995 (Manuskript).