Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:15–22.
FERENC GLATZ
Europa, europäische Identität, die Europäische Union
Neujahrsetüden
Über die historischen Verhältnisse der europäischen Integration, über die neue industrielle-technische Revolution
In unseren Tagen geht eine neuere industrielle-technische Revolution vor sich, über die sehr viel gesprochen wird. Doch weniger wird über die menschliche Dimension dieser technischen Revolution, über die Informatikrevolution gesprochen, die eine soziale und kulturelle Revolution ist. Die neue Technik, der Computer, das Telefon, das Fernsehen, das Internet und die Multimedien gestalten meiner Meinung nach nämlich grundlegend die Berührungskultur zwischen Mensch und Mensch um. Plötzlich wird der Kenntnisradius des Menschen erweitert, mit seinen Reisen sogar sein Bewegungsradius, ganz zu schweigen von der in der Fachliteratur schon häufig beschriebenen Revolution in der Produktionsorganisation. Von diesen Prozessen werden seit mehreren Jahrhunderten akzeptierte Lebensziele in Frage gestellt. Sie bringen eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft mit sich. Wir sprechen von einem neuen Individualismus – beschafft sich doch das Individuum fast uneingeschränkt vor dem Bildschirm seine Kenntnisse und formuliert sein Verhältnis zu bisher unbekannten Völkern, Religionen und Lebenszielen. Der Bürger der Jahrtausendwende ist selbstbewusster als seine Vorgänger. Doch sprechen wir auch von einem Kollektivismus neuen Typs. Der Mensch will nicht nur seine verschiedenen Identitäten – seine familiäre, freundschaftliche, geschlechtsmäßige, soziale, ethnische und religiöse Identität – selbst formulieren, er will auch mehrerlei Identitäten erleben. In einem selbstbewusst gewählten Identitätspluralismus. Es ist natürlich so – und nicht wegen des Jahres 2000, – dass auch die auf dem europäischen Kontinent lebenden Menschen ihr sie mit dem Weltall, mit der menschlichen Gemeinschaft als Ganzes, mit der Gemeinde, mit der nationalen Gemeinschaft und der kontinentalen Gemeinschaft (mit Europa) verbindendes Identitätsgefühl, ihre Identität neu formulieren wollen. Wir erleben die Zeit des Zerfalls, der Vermengung von jahrtausendealten Wertordnungen, der Entstehung von neuen Lebensprinzipien. Wir sollten ehrlich sein, wir können es nicht prophezeien, oder können es nur prophezeien, welche menschlich-kulturellen Lebensordnungen nach hundert Jahren entscheidend sein werden, welche dann die Lebensziele der auf dem Kontinent lebenden Menschen determinieren.
Über die europäische Identität
Inwiefern existiert eigentlich eine europäische Identität? Sprechen wir über eine „europäische Identität” oder über eine „europäische Unions-Identität”? Welche wollen wir festigen: die Identität mit der verwaltungsmäßigen Einheit, mit der EU? Statt einer staatsbürgerlichen Identität eine „europäische Unions-Identität”, oder eine bessere Bindung an die kulturellen Grundlagen unseres Europäertums, d. h. ein Europäerbewusstsein?
Es ist bekannt, dass die Grundlage unserer heutigen europäischen Kultur der griechisch-lateinische, christlich-jüdische Kulturkreis ist. Diesen wird vermutlich das 21. Jahrhundert in Frieden neben den mohammedanischen, buddhistischen u. a. Lebensprinzipien erleben. Und wahrscheinlich ist, dass wir immer die Interferenzen der Kulturen – auf gemeinschaftlicher, ja sogar auch auf individueller Ebene – sehen werden: die Kreuzungen der christlichen, der mohammedanischen, buddhistischen und sonstigen Lebensprinzipien – ja sogar der alltäglichen Ess- und Freundschaftsbräuche, der Glaubensprinzipien – im einmal erlebten Leben. Und wir werden es immer wieder neu formulieren, was innerhalb des christlich-jüdischen Kulturkreises die lateinamerikanische, die nordamerikanische, die afrikanische und die westeuropäische Identität bedeutet. Was halten wir aus unserer Gegenwart in der Zukunft für lebensfähig? – fragten wir 1992 in Gütersloh. Alle – frühere Philosophen und einfache Menschen von heute – beantworten diese Frage unterschiedlich.
Ich als stolzer Europäer kann die Grundlagen meiner europäischen Identität in drei Begriffen niederschreiben: Aufgeschlossenheit, Solidarität, kulturelle Diversität.
Die Aufgeschlossenheit ist unser erstes Merkmal – unsere mehrere tausend Jahre alte Tradition mit griechisch-lateinischen Wurzeln. Wir Europäer sind neugierige Völker. Unsere Anführer waren immer schon neugierig auf die gesamte Welt, sie waren Weltbürger. Nur in ganz kurzen Perioden (in gewissen Epochen der christlichen Kirche, in einzelnen diktatorischen Staatssystemen des 20. Jahrhunderts) und nur lokal kam die Politik der Ausschließung und der Abgeschlossenheit, der Isoliertheit zur Geltung. In der Geschichte Europas gab es nie eine Abgeschlossenheit wie im Leben der USA, Chinas oder Japans. Ich also erwarte von der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts, dass sie diese europäische Tradition, die Politik des sich für jeden Kontinent äußernden Interesses stärkt. Und auch das Interesse für die unterschiedliche Lebensprinzipien befolgenden Kulturen. Umso mehr, weil die neue industrielle-technische Revolution neben den regionalen und kontinentalen Integrationen auch eine Integration im Weltmaßstab, einen Wettbewerb im Weltmaßstab mit sich bringt. Und für uns kann diese Offenheit hin zu allem nur von Vorteil sein.
Das zweite Grundprinzip: die Solidarität. Die Grundlage der westeuropäischen Gesellschaftsordnung war, – und dies ist die riesige Errungenschaft des Christentums –, dass man ständig nach Gegenseitigkeit, nach Fürsorge strebte. Weder auf sozialem noch auf kulturellem Gebiet waren die Klüfte zwischen den führenden (reichen oder gebildetsten) Schichten der Gesellschaft und dem Durchschnittsmenschen so groß wie in den Kulturen mit anderen Grundprinzipien (der islamischen, der buddhistischen Kultur), oder in den Gesellschaften mit identischen Grundprinzipien, die sich auf anderen Kontinenten herausgebildet hatten, in der amerikanischen, russischen, südamerikanischen und afrikanischen Gesellschaft. Neben den christlich-jüdischen Lebensprinzipien wurde diese Beziehung, dieses soziale Wechselverhältnis von der allgemein verständlichen Buchstabenschrift, dem Buchdruck, später von der aus öffentlichen Geldern vermittelten massenhaften Allgemeinbildung auf hohem Niveau gebildet. Und von dem sozialen Netz, das zum sozialen Wohlfahrtsstaat des vergangenen halben Jahrhunderts geführt hat.
In der Gesellschaft soll es weder eine soziale, noch eine kulturelle Kluft geben. In der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts soll es keine Elendsviertel geben – kann dies nicht das eine Grundprinzip sein, von dem wir beim Studium der Vergangenheit, beim Nachdenken über die Zukunft geleitet werden könnten? Das bedeutet, dass eine Besonderheit der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts die soziale und kulturelle ausgleichende Rolle sein sollte. Doch wie sehr kennen wir die heutigen sozialen Bewegungen in Europa, oder die Wirkung der neuen industriellen-technischen Revolution? Ist es z. B. richtig, dass auf EU-Ebene kaum Aufmerksamkeit auf die die sozialen-kulturellen Bewegungen studierenden Sozialwissenschaften gerichtet wird? Schauen wir uns nur die wissenschaftlichen Rahmenprogramme an! In diesen standen bisher in erster Linie die mit der Produktion zusammenhängenden, sogenannten leblosen Naturwissenschaften im Mittelpunkt, jetzt endlich, mit dem 1999 angelaufenen V. Rahmenprogramm die Lebenswissenschaften (Biologie, Ökologie). Ist die Zeit zur Präferierung der Sozialwissenschaften noch nicht gekommen? Damit wir die Gesellschaften des Kontinents besser kennenlernen? Vielleicht wird es im 21. Jahrhundert dazu kommen.
Das dritte Grundprinzip: die kulturelle Diversität. Nirgendwo auf der Welt konnten sich auf einem so großen Gebiet so vielerlei muttersprachliche Kulturen und so vielerlei Gewohnheitsordnungen auf ein so identisches Niveau, auf ein literarisches Niveau wie in Europa erheben. Die vielfältigste Kultur der Welt existiert auch heute hier. Ein großer Vorteil Europas ist die Vermengung der Kulturen (ein Nachteil: der Kampf der Kulturen, vor allem in der Zeit der Nationalstaaten). Wir, darüber unterhielten wir uns im Mai 1992 in Moskau, möchten unser Alter in einer solchen EU leben, in der neben den großen Nationalkulturen auch die kleinen Nationalkulturen auf Weltniveau existieren. Das heißt, die EU des 21. Jahrhunderts soll das Europa der Bürger und der Nationen sein.
Ich glaube also, dass die europäische Identität über entsprechende Grundlagen verfügt, die Frage ist nur, sollen wir Intellektuelle auf diesen ein adäquates, modernes kulturelles Identitätsgebäude errichten? Es trifft zu, wie dies W. Schäuble auf dem Berliner Forum im Jahre 1998 gesagt hatte, dass der Euro das stärkste Bindeglied der europäischen Identität sein kann. Doch über die spontanen wirtschaftlichen und Verwaltungsfaktoren hinaus muss auch auf die geistigen Faktoren geachtet werden. Müsste man nicht auch die kultur- und unterrichtspolitischen Programme von diesem Gesichtspunkt aus überprüfen?
Und wenn ich schon bei den Vorschlägen angelangt bin (dies ist Berlin, 1998, das Blatt über das Gespräch mit Liz Mohn): weshalb gibt es kein Werk, keine Werke über die Geschichte Europas? Warum arbeiten wir in der beliebten Chronikreihe nicht eine „Chronik Europas” aus? Wie mir das Liz Mohn vorgeschlagen hatte, nachdem wir die „Chronik der Ungarn” zusammengestellt hatten. Die Selbstkritik auf diesem Gebiet ist berechtigt.
Über das Aufeinanderangewiesensein der westlichen und östlichen Hälfte Europas
Wenn wir uns die Vorgeschichte der Europäischen Union von historischem Gesichtspunkt aus betrachten, vergessen wir häufig, dass die europäische Integration von heute ein gerade 1000-jähriger Prozess ist.
Zuerst war das Frankenreich, danach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestrebt, seine gebietsorganisatorische Einheit bis zur identischen geographischen Grenze hinauszuschieben, welche geographische Grenze im Osten von den jetzt auf ihre Aufnahme in die EU wartenden 10 Staaten eingenommen wird. Und innerhalb dieser 1000 Jahre waren die Integrationsfäden zwischen dem Herzen Europas und dem östlichen Randgebiet manchmal stärker, manchmal schwächer. Es trifft aber zu, dass in allen diesen Integrationsperioden Wirtschaft und Sicherheitspolitik die Triebkräfte waren. (Und ohne diese Faktoren gibt es auch im 21. Jahrhundert keine Integration.) Die zweite große Lehre lautet, dass die Integration in jenen Gebieten stark war, wo das wirtschaftliche Aufeinanderangewiesensein auch mit der gesellschaftlich-kulturellen Integration gepaart war. Die Arbeitskultur, das Unterrichts- und Bildungswesen sowie die Bräuche und die Religion veränderten sich zur gleichen Zeit mit dem Ausbau der Handels- und Heerstraßen.
Die Frage ist, ob wir, wenn wir über die zukünftigen (östlichen) Grenzen der EU nachdenken, auch genug über die kulturelle Integration sprechen? Heute verfügt die EU bereits über ein markantes politisches System (Maastricht), über eine Verteidigungspolitik (NATO), über eine Wirtschafts- und Währungspolitik (Euro), jetzt hat sie auch schon eine Umweltpolitik, wie stark ist aber ihre humane Politik? Die organische Integration der östlichen, und fügen wir auch hinzu, der südlichen Randgebiete kann man sich nur durch eine entschiedenere humanpolitische Konzeption vorstellen. Müssten nicht die Präferenzen der finanziellen Aufwendungen der EU von diesem Gesichtspunkt aus neu untersucht werden?
Über das Verhältnis zwischen der EU und Russland
In der Geschichte der europäischen Kultur wandern die Zentren der Zivilisationen im Laufe der Jahrtausende, sie bewegen sich (wenn sie eine so lange Zeit erleben). Die Grundlage unserer Kultur beruht, wie bekannt ist, auf den griechisch-lateinischen, christlich-jüdischen Lebensprinzipien. Ihre ersten Zentren waren im ersten Jahrtausend vor Christus Griechenland bzw. das östliche Gebiet am Mittelmeer, danach Italien, Byzanz und im 2. Jahrtausend nach Christus das heutige Westeuropa (in ihm mit Nord- und Mitteleuropa). Doch breitete es sich in der Zwischenzeit auch auf die östlichen slawischen Gebiete (auf Russland), dann auf Süd- und Mittelamerika und zum Teil auf Afrika aus. Im 20. Jahrhundert wurde zweifelsohne Nordamerika das Zentrum des Kulturkreises, das für seinen größten Rivalen innerhalb der Kultur das osteuropäische Russland erachtete. Doch was wird jetzt, da Russland als Zentrum eines Weltreiches untergegangen ist? Wer ist jetzt der Rivale von wem? Ist vielleicht schon heute im freundschaftlichen Verhältnis zwischen Amerika und Westeuropa nicht doch das Element des Rivalisierens ins Übergewicht geraten? Und was bringt das Morgen? Und Russland?
Sehen wir es genau, mit wie viel Vorteilen die Osterweiterung der EU für Westeuropa verbunden ist? Und überhaupt, wie soll das Verhältnis der EU zu ganz Europa sein?
Es ist bekannt, dass die Europäische Union mit Europa weder im geographischen noch im kulturellen Sinne identisch ist. Vielleicht muss dies auch in der Zukunft gar nicht so sein. Wovon handelt aber die tausendjährige Integrationsgeschichte auch zugleich? Zum Teil davon, dass die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mächte Westeuropas schon immer aktive Kontakte zu den von östlichen (orthodoxen) Christen bewohnten Gebieten unterhielten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gerade während der Herausbildung des neuen Weltwirtschaftssystems, wurden die Beziehungen zu diesem System abgebrochen. Wegen des sowjetischen Systems war das Aufeinanderangewiesensein in Vergessenheit geraten. Mehr noch! Bis zur Gegenwart ist dieses Aufeinanderangewiesensein in Vergessenheit geraten.
Seien wir aber ehrlich: die Wirtschafts- und Außenpolitik der europäischen Integration trägt bis heute diese Einseitigkeit an sich: die verständliche Sowjetfeindlichkeit richtete die Aufmerksamkeit einseitig nur auf unsere amerikanischen Bindungen. Jetzt, nach dem Zerfall des sowjetischen Systems, beginnt die EU langsam – sehr langsam – in einer selbständigen Weltstrategie zu denken. (Diskussionsrede Weizsäckers, Warschau, August 1999) Müsste nicht eine neue Ostpolitik angeregt werden? Und müssten zu dieser nicht die auf ihren Beitritt wartenden 10 Staaten als Stützpunkte verwendet werden? Die Vereinigten Staaten haben eine Russlandpolitik. Hat jedoch die EU eine? Müsste diese Ostpolitik nicht zuerst gerade auf dem Gebiet der Kultur und der Wissenschaft aktiviert werden? Bevor Russland zum Müllhaufen der amerikanischen Kultur wird?
Was ist aber die EU und was ist ihr Ziel? (Moskau, 1992)
Die EU ist eine Verwaltungseinheit, deren Ziel es ist, dass die auf ihrem Territorium lebende Bevölkerung auf dem Weltmarkt der Produktion und der Kultur wettbewerbsfähig ist; sie soll die Lebensqualität und die Modernisierung der zahlreichen nationalen Kulturen und Gewohnheitsordnungen auf ihrem Territorium und so ihren Fortbestand sichern.
Wie lässt sich aber diese dreifache Zielsetzung realisieren?
In welcher Sprache werden wohl die Bürger der Union sprechen? Es ist eine ungehobelte Frage, doch sie muss gestellt werden: was wird mit den kleinen muttersprachlichen Kulturen? Von der Wettbewerbsfähigkeit wird einerseits gefordert, dass die Bürger der Union auf einem gewissen Niveau die lingua franca im Weltmaßstab, das Englische, sprechen können, und eine lokale lingua franca, das Französische, Deutsche, Russische und Spanische beherrschen. Doch fordert die Wettbewerbsfähigkeit auch, dass wir uns schon in unserer Kindheit in einer Sprache alle komplizierteren Kenntnisse der modernen Welt vollständig aneignen. Und dies ist nur in der Muttersprache möglich. Auch deshalb muss vielleicht in der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts ein viel größeres Gewicht auf den Sprachunterricht und auf die Bewahrung der lokalen Kulturschätze gelegt werden.
Und nun das informatische Instrumentarium! Wer nicht schon in seiner Kindheit die Handhabung der neuen Informationsträger erlernt, der bleibt im Wettkampf im Weltmaßstab zurück. Das Internet ist nur ein Teil – doch mit Recht einer der am häufigsten erwähnten Bestandteile, – dieser Multimedienkultur. Allgemein bekannt ist es, dass die europäischen Völker schon hinter den USA und Japan zurückgeblieben sind. Obzwar der Wettbewerb in der Produktion und Kultur des 21. Jahrhunderts sich darin entscheidet, – und dies ist eine Lehre der europäischen Geschichte und des Untergangs der Sowjetunion –, in welchem Maße gut ausgebildete Facharbeiter hinter den Spitzentechnologien aufgereiht werden können. Denn, wie dies auch im Clinton-Bericht im April 1997 enthalten ist, im Jahre 2015 würden nur 20 % der besten Facharbeiter von heute den zukünftigen Erwartungen entsprechen. Müsste nicht eine aktivere und konzentriertere Kultur- und Wissenschaftspolitik der EU angeregt werden? Darf man die Kultur- und Wissenschaftspolitik so auf dem Niveau der Nationalstaaten belassen?
Es ist in Ordnung. Bereits jetzt werden den Nationalstaaten ihre Jahrtausende alten Attribute geraubt: sie haben keine selbständige Verteidigungspolitik, keine selbständige Außenpolitik mehr und sie können es kaum erwarten, auch keine selbständige Finanzpolitik mehr zu haben. Doch müssen die Staaten dazu gezwungen werden, aus ihrem Machtstaat bewusst stärkere Dienstleistungsstaaten herauszubilden. (Diskussionsrede Santers, Berlin, 1998) Ich bin nicht dafür, dass die EU ein kontinentaler Superstaat wird, müsste man jedoch nicht darüber nachdenken, dass sie eine bewusstere humane Politik haben soll und dass sie ihren Mitgliedstaaten entschiedenere Normativen auf dem Gebiet des Unterrichtswesens (im Allgemeinen auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung) und der Förderung der Wissenschaft vorschreiben sollte?
Die Emanzipierung Europas
Warum vermag aber Europa noch nicht in einer selbständigen Weltstrategie zu denken? Was ist das Hindernis der Emanzipierung? Das eine ist jenes, ich zumindest habe mehrmals darüber gesprochen, dass die EU und die gesamte europäische Intelligenz vergangenheitsorientiert ist. Alle befassen wir uns in erster Linie mit unserer Vergangenheit. Uns selbst zerfleischend. Auch in der Vorgeschichte der EU zwischen 1946 und 1992 war dies nur einer ihrer Grundfaktoren: die Ausnutzung der Vorteile des großen Marktes, die Herausgestaltung der Produktionsgemeinschaft. (Davon wurde schon zu Beginn des Jahrhunderts auch der Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa hervorgebracht: Wettbewerbsfähigkeit mit dem Amerika der großen Räume.) Der andere Grundfaktor dieses halben Jahrhunderts jedoch ist das Schuldgefühl wegen der Weltkriege und der Massenvernichtungen. (Welches Schuldgefühl, dies sei hinzugefügt, auch berechtigt war und berechtigt blieb.) Wir europäische Intellektuellen blicken selbstkritischer auf unsere Vergangenheit zurück als die Intellektuellen eines jeden anderen Kontinents. Auch dann geben wir diesen unseren selbstkritischen Standpunkt nicht auf, wenn die politischen Faktoren anderer Kontinente – manchmal im Osten und manchmal im Westen – uns wegen der wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen auch wegen der Dummheiten oder Sünden unserer Großväter und Väter erpressen.
Das Problem ist, dass wir es vergessen haben, uns mit der Zukunft zu beschäftigen. Und wir haben vergessen, unsere Werte aus der Vergangenheit zu mobilisieren und zu verteidigen. Wir haben vergessen, auf unsere Vergangenheit stolze Europäer zu sein. Wir sind zum Europa des Kulturpessimismus geworden. Neben und gerade gegen die dynamische, zukunftsorientierte amerikanische Bruderkultur.
Müsste nicht eben die Bertelsmann-Stiftung ein modernes „think-tank” zustande bringen, das durch die Koordinierung von Instituten und Lehrstühlen von Universitäten unter dem Titel „Europa im Jahre 2030” eine Studie erstellen könnte, während untersucht würde, was mit dem Wirtschaftspotential des Kontinents wird, wo sich Ausbruchspunkte bieten? Was wird mit den Wasser- und Rohstoffvorräten des Kontinents, mit seinem Verkehr, seiner Informatik, mit den sprachlichen Kulturen, wie wird die Zukunft der europäischen Nationalstaaten sein, und so weiter? Eine konkrete Erfahrung ist nachstehende: In Ungarn wurden im Jahre 1996 von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sogenannte Nationale Strategische Forschungen in Angriff genommen, als deren Ergebnis bereits 18 kurz und gedrungen formulierte Studienbände über die Agrarwirtschaft, das politische System, über Informatik, Sicherheitspolitik, über die Donau, über den Regionalismus, über das Verhältnis zwischen der Muttersprache und den „linguae francae”, usw. vorliegen. Mit kurzen Resümees (von 2 bis 3 Seiten) einer in 65 000 Exemplaren erscheinenden Zeitschrift bombardieren wir die inländische politische Elite und die Mittelschicht: sie soll anfangen, zukunftsorientierter zu denken. Warum könnte man dieses Experiment nicht auch im Unions-Ausmaß aufnehmen? Wer könnte die strategischen Alternativen formulieren, wenn nicht die gelehrte Fachintelligenz? Aufgabe der Politiker wird es danach sein, die Auswahl unter den Alternativen zu treffen.
* Der Autor ist seit 1991 Mitglied jener Arbeitsgruppe, die sich mit dem Problemkreis der Osterweiterung der Europäischen Union befasst. Anlässlich der Tagungen dieser Arbeitsgruppe ging man auf die Sicherheitspolitik, das Bankensystem Osteuropas ein, auf Minderheitenprobleme, die Agrar- und Verteidigungspolitik. Ebenso wurden regelmäßig Stellungnahmen der Europäischen Kommission bzw. sich daraus ergebende Probleme diskutiert. Ins Leben gerufen wurde diese Arbeitsgruppe von der Bertelsmann Stiftung, finanziert in Übereinstimmung mit der Brüsseler Administration. Leiter ist Werner Weidenfeld, der bekannte deutsche Professor der Politologie, dem auch die Münchener Forschungsgruppe Europa im Centrum für angewandte Politikforschung untersteht. Dieser Arbeitsgruppe entwuchs das seit 1996 jährlich tagende Europa Forum. Das Europa Institut Budapest arbeitet und wirkt seit 1992 gemeinsam sowohl mit dem Münchener CAP als auch mit der Bertelsmann Stiftung.
Im Januar 2000 widmete sich ein Brain Storming der Kommission der Zukunft Europas. Man bat Jacques Delors (den früheren Vorsitzenden der Europäischen Kommission), das politische Zukunftsbild aufzuzeigen, den früheren Vizepräsidenten der Weltbank und jetzigen Staatssekretär Koch-Weser, über die wirtschaftlichen Aussichten zu sprechen, und Ferenc Glatz, den Direktor des Europa Institutes, einen Vortrag über die Humanzukunft der Union zu halten. Vorliegendes Material ist die schriftliche Grundlage des frei gehaltenen Vortrages am 13. Januar 2000.