Begegnungen10_Szabo
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:241–247.
DEZSŐ SZABÓ
Die deutschsprachige Arbeiterpresse Ungarns in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts
Ein Fallbeispiel
Einführung. Die deutschsprachige Presse in Ungarn am Anfang des 20. Jahrhunderts
Das Deutschtum hatte in Ungarn traditionell eine wichtige Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung gespielt. So war dies auch nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich der Fall, wobei es hier einerseits um die Ungarn ansässigen Deutschen, andererseits aber auch um die aus Österreich eingewanderten deutschen Arbeiter geht, die den ungarischen wirtschaftlichen Aufschwung maßgebend bestimmten. An dieser Stelle kann man auch erwähnen, dass sich ein beträchtlicher Teil der Betriebe im Eigentum deutscher oder deutschsprachiger jüdischer Unternehmer befand. Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass der Anteil der Deutschen an der Industriearbeiterschaft höher als ihr Anteil an der Landesbevölkerung war. Dementsprechend und als Ergebnis des wirtschaftlichen Aufschwungs wurden zahlreiche deutschsprachige Fachblätter (Handel, Industrie, Druckereigewerbe usw.) herausgegeben, und es erschienen die ersten deutschsprachigen Arbeiterzeitungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm auf der anderen Seite die Zahl der Leser deutschsprachiger Blätter in Ungarn wegen der zunehmenden Assimilation ab. Aber auch wenn die traditionelle Facharbeiterschaft ihre einstige Bedeutung und ihre deutsche Prägung verloren hatte, spielte der erfahrene Fachmann, der alle Arbeitsphasen kannte und der meistens deutscher Abstammung war, noch jahrzehntelang eine wichtige Rolle im Betrieb und bei den Entscheidungen, die dort bzw. in den Gewerkschaften getroffen wurden. Laut offiziellen Angaben gab es übrigens im Jahre 1906 in Ungarn 1787 Presseorgane mit einer Gesamtauflage von 160 Millionen, Budapest besaß 39 Tageszeitungen, mehr als irgendeine andere europäische Hauptstadt. 1937 bestanden jedoch nur noch 74 Tages- und 300 Wochenzeitungen, davon 21 Tages- und 170 Wochenzeitungen in Budapest. Die Zeitungen in der Provinz gehörten fast ausschließlich den Komitaten, hatten meistens lokalen Charakter und deswegen kaum politische Bedeutung. Allgemeingültig war, dass die Blätter eine staatliche Lizenz haben mussten. (Später von den im Jahre 1943 insgesamt 28 deutschsprachigen Zeitungen Ungarns waren 6 kirchlich orientiert, die anderen volksdeutsch. Auch diese Zahlen sind aber vorsichtig zu behandeln, denn tatsächlich befindet sich darunter nur eine geringe Zahl solcher Blätter, die wirklich aus der Volksgruppe hervorgegangen sind und von dieser als Leserschaft getragen wurde.) Die meisten anderen deutschsprachigen Zeitungen stützten sich ebenfalls auf eine deutschsprachige städtische Mittelschicht.
Wir können grob drei Gebiete der deutschsprachigen Presse unterscheiden:
– politische Presseorgane
– wissenschaftliche Zeitschriften
– die Fachorgane der einzelnen Berufsgruppen
Die wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitungen:
– Pester Lloyd, Oedenburger Zeitung, Preßburger Zeitung, Hermannstädter Zeitung, Temesvarer Zeitung, Günser Zeitung, Westungarisches Volksblatt u.a.
Zeitschriften:
– Ungarische Rundschau, Ungarische Jahrbücher, Deutsch-ungarische Heimatblätter (später Neue Heimatblätter, dann Deutsche Forschungen in Ungarn)
Charakteristisch war die Tendenz der Spezialisierung sämtlicher Presseprodukte, um somit möglichst ein festes Leserpublikum an das jeweilige Blatt binden zu können. Der gleichen Bestrebung dienten die immer intensiver in Anspruch genommenen neuen technischen Möglichkeiten, sowie die Versuche, die Mitteilungsabsicht mit kulturellen Inhalten zu mischen. Ich versuche in den folgenden Ausführungen, ein Blatt, das deutschsprachige Organ der Sozialdemokratischen Partei Ungarns kurz vorzustellen.
Die Sozialdemokratische Partei Ungarns und ihre Organe
Wir begegnen bereits am Anfang unserer Untersuchung die Frage, warum wohl die SPD in Ungarn einen Zeitlang eine wichtige, wenn auch nicht einzige Trägerin der deutschsprachigen Presse sein konnte. Dies hängt in erster Linie mit der politischen Situation zusammen. Die deutsche Volkspartei konnte keine Massen hinter sich aufweisen, da auf die Ungarndeutschen in dieser Zeit – wie eigentlich schon immer – eine apolitische Grundhaltung charakteristisch war. Die überwiegend in der Landwirtschaft tätigen Schwaben politisierten zwar nicht, die Interessenvertretung der in der Industrie tätigen, zu verschiedenen Berufen gehörenden deutschsprachigen Werktätigen war jedoch lebenswichtig. Dies ist die Zeit des großen wirtschaftlichen Aufschwunges, der Herausbildung des ungarischen kapitalistischen Systems und somit auch der Herausbildung des Proletariats. Die erste sozialistische Organisation der ungarischen Arbeiterschaft, der Allgemeine Arbeiterverein wurde 1868 in Pest gegründet, wobei die deutsche Arbeiterschaft eine bedeutende Rolle spielte. Dieser Verein gab 1870 ein neues Wochenblatt mit dem Titel Általános Munkás Újság heraus, dessen deutschsprachige Version die Allgemeine Arbeiter-Zeitung war. (Bei der Gründung des Blattes spielte Viktor Külföldi, alias Jakob Mayer aus Württemberg eine wichtige Rolle) Erst später gründete man die Wochenzeitung Brüderlichkeit. 1870 rief man die allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse ins Leben, deren Vorsitzender der Weimarer Karl Rauchmaul war. In diesem Jahr wurde ein neues Wochenblatt, die Arbeiter Wochen-Chronik gegründet, die 1878 von Leo Frankel übernommen wurde, während Külföldi 1877 eine eigene Wochenzeitung, die Volksstimme ins Leben rief. 1880 einigten sich die beiden Parteien unter der Leitung von Frankel, und im Zuge der Vereinigung wird Népszava zum ungarischen, die Arbeiter Wochen-Chronik zum deutschen Organ der Partei. Es gab andauernd Schwierigkeiten wegen den Pressemaßnahmen der Regierung. Die als Wochenzeitung erscheinende Presseprodukte mussten z. B. eine Kaution hinterlegen, und zu Zeiten, wo die Volksstimme diese nicht zu leisten vermochte, erschien sie als Monatszeitschrift vermummt jede Woche unter einem anderen Titel.
Die Periode 1900–1919
1910 betrug die Zahl der in Handwerk und Großindustrie beschäftigten Deutschen 180.000. Die Zielsetzung war in dieser Periode, die Abhängigkeit der sozialdemokratischen Presse von den bürgerlichen Druckereien abzuschaffen. Dies gelang Anfang September 1905 in Budapest, als mit 50.000 Kronen Aktienkapital die Világosság („Licht”) Buchdruckerei-Aktiengesellschaft gegründet wurde. Die Druckerei konnte am 15. März 1906 mit zwei größeren und einer kleineren Schnellpresse, zwei amerikanischen Tiegeldruckpressen und einer Rotationsmaschine in Betrieb genommen werden. Bereits ab Anfang April wurde in der ungarischen Hauptstadt die Tageszeitung der Partei, die Volksstimme mit dieser Technik hergestellt. 1909 bezog die Druckerei ein eigenes Heim. Jetzt wurde auch möglich, den deutschsprachigen Werktätigen entgegenzukommen. Man hat aus der bisher dreimal wöchentlich erscheinenden deutschsprachigen Beilage ein Tagblatt gemacht. Über die Motivation kann man im Kalender der Volksstimme folgendes lesen: „Bezüglich der Parteipresse (...) erklärt die Parteileitung, dass nur derjenige Arbeiter seine Pflicht der Partei gegenüber in vollem Maße erfüllt, welcher auf das Zentralblatt der Partei, auf die Népszava bzw. wenn er der ungarischen Sprache nicht mächtig ist, auf jenes Zentralblatt abonniert, welches er versteht (hervorgehoben von mir, D. Sz.). Der Parteitag verpflichtet jede Organisation und jeden Arbeiter, diesem Beschluß Geltung zu verschaffen.” Wie jetzt gesehen wurde als weiterer Schritt der Entwicklung nun auch der Kalender herausgegeben. Dieser hatte die Aufgabe – wie diese Presseform es traditionell verlangt – das Publikum zu informieren, und noch mehr, es zu unterhalten. Über den Volksstimme-Kalender verfasste János Szabó eine kleine Studie, ich gehe deshalb nur kurz auf Details ein. Der Aufbau des Kalenders zeigt folgende Struktur: der klassische Kalenderteil (Angaben zu Namens- und Feiertagen, Wetter, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang usw.); dann politische Artikel und Berichte aus dem Parteileben, über Geschehnisse im Ausland. Im Anschluss an diese folgten Artikel mit kultureller Thematik und am Ende des Bandes ein umfangreiches Verzeichnis nützlicher Adressen (Vereine, Gewerkschaften, Redaktionen, Bibliotheken usw.). Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass sich die Struktur des Kalenders der der Zeitung angepasst war, d.h. auch hier versuchte man möglichst viel Unterhaltendes reinzubringen. Eine Mission erfüllten die Kalender im Allgemeinen, indem sie für literarische “Lesefutter“ sorgten. Sie brachten vor allem unterhaltende Lesestoffe, Erzählungen, Gedichte auf deutscher Sprache. Charakteristisch für diese Beiträge ist die Bildhaftigkeit und leicht Verständlichkeit der Sprache. Wichtig ist es zu betonen, dass der Kalender eine Komplementärfunktion erfüllte, indem er kulturelles und literarisches Material reichlich brachte, was auf die Volksstimme nicht charakteristisch war. Des weiteren hatte der Kalender auch die Aufgabe, an die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres zu erinnern, diese zusammenzufassen, da es der Redaktion klar war, dass viele Arbeiter sich ein Abonnement nicht leisten konnten Die kulturelle Thematik der Volksstimme sowie auch ihres Kalenders lässt sich kurz zusammenfassen:
Literatur
Berichterstattung über kulturelle Ereignisse
Übernahme von fremden Autoren (deutsche politische Dichtung, österreichische Literatur)
Übersetzungen (z.B. und v.a. Turgenew, Tolstoi, Gorki)
Werke ungarischer Autoren (v.a. Mikszáth, Petőfi und die Vertreter des kritischen Realismus)
Ungarnländisch-deutsche Autoren (z.B. Friedrich Krasser, Nikolaus Schmidt)
Gelegentlich Sport
Wie sah nun eine Nummer der Volksstimme aus? Nehmen wir zum Beispiel die Ausgabe vom 28. Dezember 1906, so ergibt dies folgende Struktur:
Auf Seite 1 bis 2 lesen wir den Leitartikel über das Thema Dynastie und Wahlrecht, ebenfalls auf dieser Seite folgen die Aufrufe der Partei, Abonnementwerbungen und andere Mitteilungen. Die Seiten 2 und 3 waren für die Rubrik „Politische Rundschau” reserviert, während Seite 4 die Auslandsnachrichten brachte. Seite 4 bis 5 war der Platz für die Rubrik „Allerlei von der Woche” – eine bunte Berichtssammlung, auf den Seiten 7 und 8 konnte man über die Angelegenheiten der Partei lesen. Schließlich auf der Seite 8 konnte man ab und zu mal über Kultur und Literatur lesen. Allerdings handelte es sich dabei nicht um Werke, sondern nur um Buchempfehlungen und Rezensionen. Die Volksstimme übernahm nach 1906 von der Pester Lloyd den leitenden Feuilleton, d.h. gelegentlich wurden kleine Feuilletons auch selbständig publiziert, im Gegensatz zu der Pester Lloyd aber nie auf der ersten Seite. Ein weiteres Kuriosum des Blattes war, dass es seine Leser nur ganz selten über Kino- bzw. Theaterprogramme informierte. Dies ist überraschend, wenn man bedenkt, dass die potentiellen Leser in den Städten lebten, wo sie sehr wohl solche Informationen hätten gebrauchen können. Selbst die volksdeutschen Blätter brachten regelmäßig die Programme auf ihren Spalten, obwohl ihr Publikum größtenteils auf dem Lande in kleineren Ortschaften lebte. Am 3. Januar 1907 bringt die Volksstimme ein Feuilleton von Anatole France mit dem Titel „Sancta Justitia”. Auf den nächsten Literaturartikel mussten die Arbeiter dann bis zum 11. April desselben Jahres warten. Dann konnten sie von Edmondo de Amicis („Zwiegespräch”) etwas lesen. (Ein lehrreiches Gespräch, in dem der Sohn seiner Mutter erklärt, wieso er Sozialdemokrat geworden ist, zieht dann auch noch lapidare Vergleiche zum Christentum und entblößt schließlich Jesus selbst als wahren Sozialdemokraten und somit als den Patriarch aller Arbeitern). Am 9. Mai stoßen wir erneut auf einen berühmten Namen: Upton Sinclair („Eine Sozialistenpredigt”), allerdings handelt es sich nur um einen Auszug aus dem Roman, wo die Arbeiter noch einmal erfahren wie jemand zum Sozialisten wird – ein weiteres Beispiel für die Funktionsauffassung der Literatur. Diese Auffassung kann auch dadurch untermauert werden, dass man es in vielen Fällen nicht für nötig hält, konkrete Angaben zum Autor und Werk zu geben. Letzteres Phänomen ist besonders bei Zitaten und Auszügen aus russischen Werken zu beobachten. Am 2. Januar 1908 liest man von Emile Zola den Menschenzwinger, der nächste Literaturartikel kommt dann am 27. März von Hermann Hesse „die Armensündermiene”.
Das es dem Blatt finanziell in diesen Jahren etwas besser erging, sieht man aus der wachsenden Anzahl der Werbungen. Die Platzierung der Werbungen entspricht dem Modell anderer Zeitungen, d.h. immer auf den letzten Seiten. Es gab zwar keine spezifisch in der Volksstimme werbende Firmen, es lässt sich aber feststellen, dass es in den meisten Fällen um kleinere Unternehmen handelt. Am 30. Oktober 1908 erfahren wir aus der Volksstimme, wie die Partei die Zukunft des Blattes sah: „Aufruf an die deutschen Sozialdemokraten Ungarns. Die Volksstimme (...) soll und kann nur dann den Unzulänglichkeiten eines Wochenblattes entgehen und dreimal wöchentlich erscheinen, wenn die Abonnentenzahl des Blattes um zwei Drittel des heutigen vermehrt wird.” Interessant ist es auch, wie das Blatt sich über die Assimilationsfrage äußert. Hierfür findet man am 28. August 1908 ein gutes Beispiel. Der Anlass bzw. die Vorgeschichte ist, dass eine ungarische Zeitung (höchstwahrscheinlich der Pester Lloyd) von der Notwendigkeit der Assimilation spricht, da „die ungarische Kultur sowieso die höhere sei”. Darauf antwortet die Volksstimme folgendermaßen: „Wir halten diesen Standpunkt im ganzen für verfehlt. Wohl ist es (...) wünschenswert, die auf einer niedrigen Kulturstufe stehenden Völker auf eine höhere zu überführen – aber nicht durch Wegnahme der Sprache, sondern durch die Anwendung einer höheren Produktionsart.” Die Nationalitätengegensätze interpretiert das Blatt schlicht als Ablenkungsmanöver der herrschenden Klasse, und meint, dass die Magyarisierungspolitik eine „schreckliche antikulturelle Wirkung” ausübe. Das Ergebnis sei der kulturelle Analphabetismus. Die Lösung wäre laut Meinung der Volksstimme auf der Grundlage der Autonomie jeder Nationalität zu suchen. Diese Formulierung ist nicht nur der Ausdruck einer für die damaligen Verhältnisse mutigen Denkweise, sondern auch vom „offiziellen” Standpunkt der Sozialdemokratie her gesehen überraschend, der Grundthese nach spielten nämlich die Nationalitätenunterschiede in Hinsicht auf den großen Prozess der Vereinigung aller Proletarier der Welt und somit auf die Internationalisierung eine eher geringere Rolle.
Man könnte nach dem Lesen dieser Zeilen denken, dass die Sprachfrage innerhalb der Bewegung in bester Ordnung gewesen wäre. In den die Geschichte der ungarischen sozialdemokratischen Partei behandelnden Arbeiten kann man oft darüber lesen, dass die Redner der Partei auf öffentlichen Versammlungen in mehreren Sprachen redeten, es gab ja bekanntlich auch mehrere deutschsprachige Organe (Volksstimme, in Temesvar die Volkswille, in Preßburg die Westungarische Zeitung). Demgegenüber wissen wir, dass es bereits 1907, anlässlich einer Großversammlung zu heftigen Debatten um die Frage der Mehrsprachigkeit des Organs der Partei gekommen war. (Am 1. April hielten die deutschen Gesandten eine außerordentliche Sitzung). Es kam 1910 sogar vor, dass der Abgeordnete, Alfred Horovitz – der übrigens die Abschaffung der Volksstimme und eine Dezentralisierung vorgeschlagen hatte – seine Rede auf Deutsch anfing, dann aber wegen Proteste auf Ungarisch fortsetzen musste. Im Februar 1913 folgte ein weiteres Warnzeichen: man sah sich gezwungen, die Deutschkurse für die Druckerei-Arbeiter in Budapest wegen mangelnden Interesse abzuschaffen. Seit 1914 wurde es immer schwieriger, die Volksstimme herauszugeben. Am 24. Juni 1914 erschien im Bruderblatt, in der ungarischsprachigen Népszava ein Aufruf, um die zu diesem Zeitpunkt bereits in einer schweren finanziellen Krise befindliche Volksstimme zu retten.
Bis 1914 läßt sich eine Vielfalt an literarischen Artikel beobachten, dann aber, mit dem Ausbruch des Krieges wird die kulturelle Thematik in den Hintergrund gedrängt. Diese Tendenz kann man auch beim Kalender feststellen, die letzte Folge erschien 1919. Es wurde immer weniger angeboten, Kulturelles weicht fast vollständig auf den Kalender aus. Parallel dazu gab es Schwierigkeiten, neue Abonnenten zu gewinnen bzw. überhaupt die alten zu behalten. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Bemühungen auch für den Wechsel von der Frakturschrift zu den lateinischen Buchstaben seit 1917 verantwortlich waren. Während den Kriegsjahren kann man die Spuren der immer strenger gewordenen Zensur erkennen: es wurden manchmal ganze Artikel unmittelbar vor dem Druck gestrichen. Dies hängt wiederum mit der Kursänderung der Sozialdemokraten, die ja anfangs den Krieg befürworteten, seit dem Kongress von 1915 aber entschieden gegen den Krieg auftraten.
Autoren, Personalien
Schriftleiter: seit 1908 Max Großmann, Adolf Redlinger, Emanuel Buchinger, seit 1919 Moritz Rothenstein.
Auswahlliste der wichtigsten, regelmäßig publizierenden Autoren:
Josef Diner-Dénes, Eduard Baron, Richard Schreiter, Richard Schwarz (Redakteur des Literaturteils), Karl Hanslitschek, Nikolaus Schmidt, Arthur Holitscher, Max Winter
Literatur
Bellér, Béla: Kurze Geschichte der Deutschen in Ungarn bis 1919, Budapest, 1986.
Dezsényi, Béla–Nemes, György: A magyar sajtó 250 éve (250 Jahre ungarische Presse). Budapest, 1954
Erényi, Tibor: Az 1918 előtti magyarországi munkásmozgalom és a nemzeti kérdés – A magyar nacionalizmus kialakulása és története (Die ungarnländische Arbeiterbewegung vor 1918 und die nationale Frage – Herausbildung und Geschichte des ungarischen Nationalismus), Budapest., 1964. S. 187–208
Erényi,Tibor: Deutschtum, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung in Budapest. In: Deutsche in Budapest (Zusgt.: Wendelin Hambuch) Budapest, 1999. S. 112–121.
Farkas, József (Hg.): A magyar sajtótörténet irodalmának válogatott bibliográfiája 1705– 1945 (Die Literatur der ungarischen Pressegeschichte. Eine Auswahlbibliographie. 1705–1945), Budapest, 1972. S. 259–261.
Kalmár, György: Szociáldemokrácia, nemzeti és nemzetiségi kérdés Magyarországon (1900–1914) (Sozialdemokratie, die Nationale- und die Nationalitätenfrage in Ungarn 1900–1914) Akadémiai Kiadó Budapest, 1976. 248 S
Kemény, György (Hg.): Magyarország időszaki sajtója 1911–1920, Budapest 1942. S. 332
Kende, János: A Magyarországi Szociáldemokrata Párt nemzetiségi politikája 1903–1919 (Die Nationalitätenpolitik der Ungarnländischen Sozialdemokratischen Partei 1903– 1919), Budapest, 1973. 124 S
Réz, Heinrich: Deutsche Zeitungen und Zeitschriften in Ungarn von Beginn bis 1918, München, 1935.
Rózsa, Mária: Die deutschsprachige Presse in Ungarn im Überblick. Eine Budapester Dokumentation. In: Anton Schwob-Horst Fassel (Hg.): Deutsche Sprache und Literatur aus Südosteuropa, Südostdeutsches Kulturwerk München, 1996. S. 265–277.
Sipos, Péter: Die Sozialdemokratische Partei Ungarns und die Gewerkschaften 1890–1944, Akadémiai Kiadó Budapest, 1991. 150 S
Szabó, János: Literatur und Kultur im „Volksstimme-Kalender”, Budapest, 1906 bis 1919. In: Arbeiterbewegung und Arbeiterdichtung, München, 1981. S. 115–129.
Volksstimme, Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (1894–1924), ab 1919 Zentralorgan der Ungarnländischen Sozialistischen Partei. (verwendete Jahrgänge: 1906, 1907, 1908, 1913, 1914, 1917 und 1918)
Volksstimme-Kalender, hrsg. v. der Volksstimme (1906–1919) (verwendete Jahrgänge: 1907, 1909, 1910, 1912, 1915, 1919)
Begegnungen10_Schambeck
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:143–161.
HERBERT SCHAMBECK
Aspekte des parlamentarischen Ein- und Zweikammersystems
Formen der Organisation des Parlaments1 zu bedenken, ist ein grundlegendes Erfordernis für einen demokratischen Staat. Das Parlament lässt geradezu seismographisch den Weg der Staatswillensbildung und damit auch die Legitimation des Staatshandelns erkennen. Es setzt in einer Demokratie die Repräsentation des Volkes voraus; das Parlament ist der Ort hierzu.
Je nach der Struktur des Volkes und Gebietes eines demokratischen Staates wird danach auch das Parlament strukturiert sein. In dieser Sicht kann das Parlament als die Visitenkarte eines demokratischen Staates bezeichnet werden.
So wie das Volk und das Gebiet eines Staates zu den konstanten Elementen eines Staates zählen, gehört auch das Parlament zu den gleichbleibenden Faktoren einer Demokratie und teilt deshalb auch ihre Entwicklung.
Gerade in einer Zeit, in der einerseits in manchen Staaten, vor allem in Mittelund Osteuropa, neue Wege zum demokratischen Verfassungsstaat beschritten werden, und andererseits in anderen Demokratien, besonders auch in West- und Mitteleuropa, vielfach Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit Platz greifen, was auch bisweilen zu Alternativszenerien mit anarchistischen und terroristischen Zügen führt, kommt es darauf an, ein Parlament zu haben, in dem sich das Volk möglichst umfassend vertreten sieht und von dem es die Grundlage des Staatshandelns erwarten kann.
In einer Demokratie hat das Parlament auch die Aufgabe, den Einzelmenschen mit dem Staat zu verbinden. Die Meinungs-, Urteils- und Willensbildung des Einzelnen in einer Demokratie ist ja entscheidend für die Wahl und diese für die Zusammensetzung des Parlaments. In einer Demokratie wird somit der Einzelne durch das Parlament zu einer politischen Aktivhaltung genötigt und umgekehrt wird sich das Parlament mit seinen Mandaturen laufend vor der Öffentlichkeit2, deutlich begleitet von den Massenmedien, wie Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen, zu rechtfertigen haben. Diese Massenmedien registrieren, kritisieren, ignorieren oder propagieren das parlamentarische Geschehen. Wie weit auch die Organisation des Parlaments den Erwartungen der Öffentlichkeit und der einzelnen Menschen gerecht werden kann, hängt mit von der Organisation eines Parlaments ab.
Diese Organisation eines Parlaments ist mit der zur Institution gewordene Ausdruck der politischen Situation der Demokratie eines Staates,3 deren Geschichte und deren Entwicklung. In dieser Sicht lebt in einem Parlamentssystem jeweils auch Geschichte fort und je pluralistischer die Demokratie in einem Staat ist, desto vielfältiger werden auch die politischen Ordnungsvorstellungen in der Politik dieses Staates sein. Sie verlangen für die Verfassung als die politische und rechtliche Grundordnung des Staates ein gegenseitiges Verstehen und Entgegenkommen, nämlich einen Kompromiss. Das Parlament kann daher jeweils als ein Kompromiss sowohl zwischen den einzelnen politischen Ordnungsvorstellungen der Zeit der Verfassungsgebung als auch zwischen den früheren und späteren Repräsentations- und Legitimationsnotwendigkeiten eines demokratischen Staates angesehen werden.
I.
Das Parlament als Institution steht im Dienst einer der drei Staatsfunktionen, nämlich der Gesetzgebung und nimmt als solche an der jeweiligen Form der Gewaltenteilung in den einzelnen Staat teil.4 Die Lehre von der Gewaltenteilung wissen wir aus der Entwicklung der Staatslehre hat eine Geschichte, welche auf Hesiod5, Aristoteles6 und John Locke7 zurückreicht. Ihre klassische bis heute reichende Prägung hat sie durch Montesquieu in seinem vielzitierten Werk „Vom Geist der Gesetze” erlangt.
Montesquieu8 sprach sich in diesem seinen Werk nicht nur für die Ausübung der einen Staatsgewalt in drei von verschiedenen Personengruppen, nämlich Ständen, ausgeübten Staatsfunktionen aus, heute uns als Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung geläufig, sondern auch, was nicht immer in gleicher Weise erkannt und betont wird, dafür, dass die Aufgabe der Gesetzgebung nicht von einem einzigen, sondern von zwei sich gegenseitig kontrollierenden Kammern erfüllt wird. Montesquieu ist aber damals der herrschenden Vorstellung folgend nicht von einer Republik, sondern von der Staatsform der Monarchie, zwar nicht der absolutistischen, sondern der konstitutionellen Monarchie ausgegangen. Er schrieb in dieser Zeit 1748: „So wird die gesetzgebende Gewalt sowohl der Körperschaft des Adels wie der gewählten Körperschaft, welche das Volk repräsentiert, anvertraut sein. Beide werden ihre Versammlungen und Beratungen getrennt führen, mit gesonderten Ansichten und Interessen.”9
Wenngleich sich die hierarchische Ständegesellschaft der Zeit Montesquieus inzwischen zur pluralistisch strukturierten Volksgemeinschaft der Gegenwart gewandelt hat, in der anstelle der Über- und Unterordnung der Stände das Nebeneinander der Verbände getreten ist, ist aber die Idee Montesquieus von der Teilung und gegenseitigen Kontrolle der Gewalten sowie innerhalb der Gesetzgebung von der Teilung in zwei Kammern aktuell erhalten geblieben.
„Die Lehre von Montesquieu10 blieb aber nicht allein; nach ihm vertrat Jean-Jacques Rousseau11 die Idee von der Volkssouveränität, die er in seiner Schrift „Der Gesellschaftsvertrag” propagierte. Sie verlangt das Gegenteil von der Gewaltentrennung Montesquieus, nämlich die Gewalteneinheit in einem total demokratisierten Staat, in dem der volonté genérale die allein bestimmende Kraft zu sein hat. Die Lehre Rousseaus führt zum Einheitsstaat und zum Einkammersystem und lässt keine Abschwächung oder gar Durchbrechung des Volkswillens zu. In dieser Sicht hat auch Abbé Sieyès12, der Wegweiser und Propagandist der französischen Nationalversammlung und des sogenannten freien Mandats war, festgestellt, dass es menschlichen Verstand übersteige, eine wirksame und sinnvolle Zweite Kammer zu schaffen, denn, wo eine Zweite Kammer dem Volkswillen beipflichte, sei sie überflüssig, wo hingegen sie ihm widerspreche, sei sie von Übel.
Wer vergleichsweise die Parlamentssysteme der einzelnen Staaten studiert, wird mit jeweils eigener Geschichte und Prägung das Ein- und Zweikammersystem13 vorfinden, und das unabhängig von der Staatsform der Monarchie oder Republik; so eignet bekanntlich Großbritannien in der klassischen Form des House of Westminster das Zweikammersystem, der Monarchie Schwedens hingegen das Einkammersystem. Von den 83 im Sammelband „Les parlaments dans le monde” dargestellten Parlamenten haben 28 zwei Kammern gehabt.14
Diese zweite Kammer ist vor allem entweder ein konservatives, territoriales oder berufsständisches Element im Parlament. Nach dem eben genannten Sammelband über die Parlamente der Welt haben alle Bundesstaaten mit Ausnahme der Komoren eine zweite Kammer. Aber auch neben den Föderalstaaten kennzeichnet auch Einheitsstaaten eine zweite Kammer, so z.B. Frankreich. In dem erwähnten Sammelband sind von den 28 Zweikammerparlamenten 12 Einheitsstaaten.
Vergleicht man allgemein die verschiedenen Parlamentssysteme, so zeigt sich dort, wo es das vorherrschende, aber nicht alleine seiende Einkammersystem gibt, dass die Idee Rousseaus von der Volksherrschaft sich durchgesetzt hat; dort aber wo man zwei parlamentarische Vertretungskörper antrifft, ist diese zweite Kammer Ausdruck einer Differenziertheit im politischen Leben, wie immer auch diese begründet sein mag. Solche Differenziertheit kann föderal, regional oder sonst territorial, aber auch personal, nämlich sozial und konservativ bedingt sein. Wo aber ein Staat bezüglich seines Staatsvolkes und Staatsgebietes mehr homogen und nicht differenziert ist, dort sind für eine Zweitkammer nicht die entsprechenden Voraussetzungen gegeben.
Zweite Kammern sind in einer Monarchie meist ein Ausdruck des Konservativismus, das war bis 1918 in Österreich das Herrenhaus15, in das die Berufung durch Geburt oder Ernennung durch den Kaiser erfolgte, ihm gehörten Mitglieder des Kaiserhauses, des Adels und bedeutende Repräsentanten des geistigen Lebens an, das ist bis heute in Großbrittanien16 das House of Lords, in das neben Spitzenrepräsentanten des Adels und der Kirche auch frühere Spitzenrepräsentanten der Regierung und des House of Commons von der Königin berufen werden können.
Der britischen zweiten Kammer sehr ähnlich war die „Magnatentafel” des ungarischen Reichstages, die bis 1918 bestand. Die Magnatentafel als Oberhaus bildete sich aus Angehörigen des königlichen Hauses, den großjährigen Grafen und Baronen und den durch ihr Amt ihr angehörenden Würdenträger, nämlich Hofwürdenträger, höchste Richter und Würdenträger der Rezipierten, das heißt der vom Staat anerkannten christlichen Kirchen. Die zweite Kammer des ungarischen Reichstages war die „Deputiertentafel”, die sich neben den Vertretern einiger königlicher Kreisstädte vorwiegend aus den durch den Komitatsadel gewählten Ablegaten der Komitate zusammensetzte. Mit dem neuen Wahlrecht 1848 wurden die Abgeordneten des nun genannten Unterhauses in unmittelbaren Wahlen gewählt.17
Von den beiden Häusern des Parlaments besaß das Oberhaus faktisch weniger Gewicht, da es seine Rechte, z.B. seine Einflussmöglichkeit auf das Budget, vielfach nicht ausschöpfte. Nach achtjähriger Unterbrechung kam es im Jahre 1926 zur Wiederherstellung des Oberhauses in veränderter Form. So setzten sich seine Mitglieder aus vier Gruppen zusammen, nämlich 1. Mitglieder aufgrund ihres Amtes oder ihrer Würde (z.B. Bischöfe und Gerichtspräsidenten) 2. den Angehörigen des Hauses Habsburg-Lothringen, sofern sie volljährig, in Ungarn wohnhaft, ungarische Staatsbürger waren und Liegenschaften im Lande hatten, 3. Mitglieder durch Wahl, die von den Munizipien und verschiedenen berufsständischen Organisationen und von den Familien, die früher das Recht auf erbliche Mitgliedschaft besaßen, gewählt wurden, und 4. Mitgliedern, die das Staatsoberhaupt auf Vorschlag des Ministerrats auf Lebenszeit ernannt hatte, deren Zahl aber auf 40 begrenzt war. Die Rechte des Oberhauses wurden vorübergehend im Vergleich mit denen des alten nur geringfügig zugunsten des Abgeordnetenhauses geändert, 1937 allerdings wieder aufgehoben, wodurch das Oberhaus mit den gleichen Rechten wie das Unterhaus ausgestattet wurde. Nur Gesetze, die den Staatshaushalt betrafen, konnte das Unterhaus ohne Zustimmung des Oberhauses dem Regenten zuleiten. Waren bei anderen Gesetzen Differenzen aufgetreten und eine vorgeschriebene Vermittlungsprozedur fehlgeschlagen, so war eine gemeinsame Sitzung beider Häuser vorgesehen, bei der die in Frage stehenden Gesetze ohne Debatte zur Abstimmung kamen. In der Verfassung vom 20. April 1949, zuletzt geändert im Jahre 1994, ist nun das höchste Organ der Staatsgewalt und die Volksvertretung der Republik Ungarn die Landesversammlung18, die für die Dauer von vier Jahren gewählt wird.
Gelegentlich lassen sich aber auch in einer Republik konservative Elemente erkennen. So sieht die kroatische Verfassung vom 22. 12. 1990 im Art. 71 vor, dass der Staatspräsident aus der Reihe besonders verdienter Bürger bis zu 5 Abgeordnete in die Zupanijenkammer berufen kann. Auch er selbst verbleibt nach Ablauf seines Mandates auf Lebenszeit Mitglied dieser Kammer, wenn er nicht ausdrücklich auf diese Funktion verzichtet. Alle anderen Abgeordneten dieser Kammer und die der Abgeordnetenkammer werden allerdings von den Bürgern jeder Zupanija auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts direkt und geheim gewählt. Auch Art. 80 der indischen Verfassung vom 26. Jänner 1950 sieht eine ähnliche Regelung vor. Danach werden für die „Radya Sabha”, der maximal 250 Mitglieder angehören, zwölf Persönlichkeiten aus dem Bereich der Wissenschaft und Kunst vom Staatspräsidenten nominiert. Alle anderen Abgeordneten dieser Kammer werden indirekt gewählt.
Im Laufe der Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates ist die Stellung der parlamentarischen, sogenannten zweiten Kammer, welche also nicht der Volksvertretung dient, verändert worden; sie hat nämlich eine Art Herabstufung erfahren. Ausgehend von früheren Zeiten war diese parlamentarische Kammer als eine Art Oberhaus erste Kammer und wurde im Zuge der Demokratisierung der Staaten immer mehr zu einer zweiten Kammer, auch wenn sie z.B. wie heute noch in den Niederlanden Erste Kammer19 heißt oder in London die Königin ihre Ansprache zur Parlamentseröffnung im House of Lords und nicht im House of Commons hält.
John Stuart Mill, der Selbst von 1865–1868 dem englischen Unterhaus angehörte, hatte in seinem Buch „Consideration on Representative Government” 1861 die Auffassung vertreten: „Eine parlamentarische Versammlung, die im Vergleich zu einer anderen sich nicht auf eine gesellschaftliche Machtposition im Lande stützen kann, ist gegenüber dieser machtlos”.20 Er sagte dies im Hinblick auf die damalige politische Entwicklung in seinem Land im allgemeinen, den Verlust an politischem Einfluss des Adels und im Hinblick auf die zunehmende Demokratisierung, welche sich besonders in der Entwicklung des Wahlrechts zeigte, im Besonderen. Um die Richtigkeit seiner damaligen Beurteilung, die auch heute in vielen Staaten mit einem Zweikammersystem geteilt wird, „beurteilen zu können, bedarf es eines Vergleichs der Verfassung und Parlamentssysteme” sowie einer Berücksichtigung der politischen Situation des jeweiligen Staates. Im Hinblick auf die Staatenvielzahl kann dies aber nur an Hand einiger weniger Beispiele erfolgen. Diese zeigen, dass abgesehen dort, wo in einem Staat, wie z.B. in Dänemark21, Schweden22, Griechendland23, Luxemburg24 und Portugal25 nur ein Einkammersystem ist, jeweils die weitere parlamentarische Vertretung, welche Funktion sie auch immer hat, die erste Kammer, nämlich die Volksvertretung, als das Parlament schlechthin angesehen, gewertet und auch langläufig so bezeichnet wird.
II.
„Wenngleich die Bezeichnung Parlament als Institutionenbezeichnung nicht immer eine Verwendung im jeweiligen Verfassungstext findet, sondern oft bloß eine Gebäudebezeichnung ist, wird diese ausdrücklich oder im übertragenen Sinne im Verfassungsrecht oder im übertragenen Sinn in nahezu jedem Staat ausschließlich für die jeweilige Volksvertretung, also für die erste Kammer, gebraucht. Bei einem Zweikammerparlament ist nicht immer ein Gesamtbezeichnung für das Parlament gegeben. In Österreich war dies bis 1918 der Fall, Abgeordneten und Herrenhaus waren Teile des Reichsrates; es bleibe dabei nicht unerwähnt, dass die damalige Parlamentsbezeichnung „Reichsrat” Teil der Staatsbezeichnung war, der österreichische Teil der Donaudoppelmonarchie hieß nämlich bis 1918: „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder”.26 Heute kennt das österreichische Verfassungsrecht für das Parlament dieses Bundesstaates keine umfassende Gesamtbezeichnung für die beiden gesetzgebenden Kammern. Im Art. 24 B-VB steht bloß: „Die Gesetzgebung des Bundes übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat aus.” Meist wird in Österreich unter dem Begriff Parlament der Nationalrat genauso verstanden wie bei gleicher Situation in der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag.
„Eine umfassende Bezeichnung bei einem Zweikammerparlament kennt Irland, wo nach Art 15 der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937 das Nationale Parlament die Bezeichnung Direachteas führt und aus dem vom Volk gewählten Repräsentantenhaus Dail Eiveann genannt, und dem Senat, Seanad Eiveann bezeichnet, das aus 11 ernannten und 49 gewählten Mitgliedern besteht, sich zusammensetzt.
In ähnlicher Weise verwendet die Verfassung der Republik Italien vom 27. Dezember 1947 im Art. 55 den Überbegriff Parlament für das Abgeordnetenhaus und den Senat, die beide vom Volk direkt gewählt werden.
„Ebenso sieht die japanische Verfassung vom 3. Mai 1947 ausdrücklich vor, dass das Ober- und Unterhaus, Sangi-in und Shugi-in genannt, das Parlament, das als Kokkai bezeichnet wird, bilden. Dieses stellt nach Art. 41 das einzige Gesetzgebungsorgan und das höchste Organ im Staat dar.
„Auch die indische Verfassung kennt als Gesamtbezeichnung den Begriff Parlament. Dieses setzt sich nach Art. 79 aus der Lok Sabha, der Volkskammer, deren 545 Abgeordnete direkt gewählt werden, und der Radya Sabha, der Staatenkammer, deren Mitglieder — abgesehen von jenen 12, die der Staatspräsident nominiert — nach der Wahl durch die Landtagsabgeordneten von diesen entsendet werden, zusammen.
„In den Niederlanden wird für die beiden Kammern der Begriff Generalstaaten verwendet, wobei im Art. 51 der niederländischen Verfassung die Zweite Kammer, die vom Volk direkt gewählt wird, das Parlament schlechthin ist, während die sogenannte Erste Kammer von den Mitgliedern der Provinzialstaaten gewählt werden.
„Einen übergeordneten Begriff für die bei den vom Volk gewählten parlamentarischen Kammern kennt auch die Verfassung des Königreiches Spanien vom 29. Dezember 1978, nämlich die Cortes Generales, sie bestehen nach Art. 66 aus dem Kongress der Abgeordneten als der Volksvertretung und dem Senat als der Kammer der territorialen Repräsentation, wobei die Wahlberechtigten in jeder Provinz gem. Art. 69 je vier Senatoren wählen. Der Kongress besteht gem. Art. 68 aus mindestens 300 und höchstens 400 Abgeordneten.
In der Verfassung der Republik Kroatien vom 22. Dezember 1990 führen die beiden Kammern die Gesamtbezeichnung Sabor. Dieser setzt sich nach Art. 70 aus der Abgeordnetenkammer und der Zupanijenkammer, deren Mitglieder teils gewählt und teils ernannt werden, zusammen.
Schließlich bestimmt auch die französische Verfassung vom 4. Oktober 1958 in Art. 24, dass das Parlament aus der Nationalversammlung und dem Senat besteht, wobei die Abgeordneten der Nationalversammlung in unmittelbarer Wahl gewählt werden und der Senat in mittelbarer. Nähere Regelungen bezüglich der Zahl der Mitglieder, der Wählbarkeitsbedingungen, der Amtsdauer jeder Kammer und dergleichen mehr haben durch ein Organgesetz zu erfolgen.
Unterschiedlich ist in jedem Zweikammersystem nicht nur die vorhandene oder fehlende Gesamtbezeichnung beider Kammern des Parlaments. Unterschiedlich ist auch, wie schon einleitend betont, die Art und Weise ihrer Legitimierung, Funktion und vor allem Beschickung. Die erste und ursprünglich einzige Form des Typs einer zweiten Kammer war ein rein konservatives Element in Form einer Art Adelskammer in der Gesetzgebung. An diese hatte ursprünglich aus der Sicht seiner Zeit, wie schon betont, Montesquieu gedacht. Das bekannteste Beispiel einer solchen Adelskammer war und ist das House of Lords in London. Es entstand auch zunächst in Konfrontation zum Monarchen und musste in späteren Zeiten ihre Differenzierung sowie hernach Konfrontierung mit der Volksvertretung erleben und ihr den ersten Platz in der Gesetzgebung abtreten.
Im heutigen Verfassungsleben am meisten anzutreffen sind die Länderkammern in einem Bundesstaat; sie können entweder wie in der Schweiz27 der Ständerat mit gleicher Zahl von 2 pro Kantone und einem Mitglied pro Halbkanton vom Volk direkt gewählt werden, ebenfalls übrigens mit gleicher Anzahl von 2 Senatoren pro Staat in den USA, oder aber die Länderkammer wird wie in Deutschland nicht vom Volk direkt gewählt, sondern setzt sich aus Repräsentanten der einzelnen Landesregierungen zusammen; für eine dritte Variante habe ich den österreichischen Bundesrat zu nennen; er wird von den einzelnen Landesparlamenten gewählt.
Während also die sogenannten ersten Kammern als Volksvertretungen direkt vom Volk gewählt werden und das auf eine Legislaturperiode hin, d.h. für die ganze Volksvertretung ist eine Totalerneuerung vorgesehen, wie z.B. in Österreich der Nationalrat und in Deutschland der Bundestag, ist dies beim österreichischen Bundesrat28 anders. Er kennt eine partielle Erneuerung, weil in Österreich nach jeder Landtagswahl, das ist mit Ausnahme von sechs Jahren in Oberösterreich, alle fünf Jahre die Landtage ihre Bundesräte nominieren. Dabei können diese Bundesräte der Landesregierung, wie in Deutschland, angehören; die Mitgliedschaft zum Landtag selbst ist unvereinbar. In den USA ist die Partialerneuerung beim Senat ebenfalls vorgesehen, zumal die Senatoren auf sechs Jahre,29 die Mitglieder des Repräsentantenhauses hingegen auf zwei Jahre gewählt werden.30 Ein Drittel der Senatoren wird alle zwei Jahre neu gewählt, so dass immer nur eine Minderheit von neuen Abgeordneten in den Senat eintreten kann.
Dort, wo, wie in Deutschland, die Länderkammer aus Vertretern der Landesregierungen besteht, handelt es sich um einen Exekutivföderalismus, der meist, wie im deutschen Bundesrat, von einem gebundenen Mandat gekennzeichnet ist, das einheitlich für das betreffende Bundesland im Bundesrat auf Grund eines Regierungsbeschlusses abzugeben ist, anders hingegen, wenn, wie in Österreich, die Mitglieder der Länderkammer von parlamentarischen Körperschaften entsandt werden. Ihnen steht dann das freie Mandat des Parlamentariers zu, welches aber im politischen Alltag unter Berücksichtigung der parteipolitischen Zugehörigkeit, also fraktionsabgestimmt abgegeben wird. Die „Länderrepräsentanz im Bundesrat erfolgt nämlich nach dem Parteienproporz im Landtag!”
Viele weitere Beispiele ließen sich noch nennen, welche verdeutlichen, dass jeder Bundesstaat seine eigens strukturierte Länderkammer hat, genauso wie jeder Föderalstaat seine eigene Entstehungsgeschichte hat. So sind z.B. Deutschland, die Schweiz und die USA aus einem Staatenbund ein Bundesstaat geworden, Österreich hingegen aus einem dezentralisierten Einheitsstaat.31
Österreich32 hatte mit Ausnahme der Übergangszeit nach Ausrufung der Republik 1918 bis 1920, als es zunächst eine provisorische und dann eine konstituierende Nationalversammlung gab, stets nach der Dezemberverfassung 1867 und seit dem Bundes-Verfassungsgesetz 1920 — unterbrochen nur von der autoritären Zeit von 1934 bis 1945 —, stets ein Zweikammersystem, wobei die parlamentarische zweite Kammer in der Monarchie im Herrenhaus ein konservatives Element und in der Republik im Bundesrat ein föderalistisches Element darstellte.
Anders ist die Geschichte des deutschen Bundesrates33; seine Bestellung und die gebundene Mandatsausübung seiner Repräsentanten entsprechen einer alten deutschen Verfassungstradition, welche vom Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation über den Bundestag des Deutschen Bundes, den Bundesrat des Norddeutschen Bundes und des Wilhelminischen Kaiserreiches bis zum Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland reicht.
III.
Die dritte Form der zweiten Kammer ist die des Senats, welche einer regionalen oder berufsständischen Repräsentation dient. Diese in Senatsform organisierte Kammer kann, wie z.B. der spanische Senat, bestimmte Gebiete mit unterschiedlicher Sitzverteilung repräsentieren oder wie der Senat der USA als Staatenvertretung mit gleicher Sitzverteilung. Auch der Senat der Republik Italien wird auf regionaler Basis gewählt, wobei die Verteilung der Sitze auf der Grundlage der Bevölkerungszahl der jeweiligen Region beruht.
Die schon erwähnte österreichische Länderkammer, die aber nicht nach dem Senatssystem gebildet wurde, stellt einen Kompromiss zwischen dem föderalen und demokratischen Prinzip insofern dar, als die Landtage nach Art. 35 B-VG die Bundesräte entsenden, aber die Zahl ist für die neun Bundesländer nicht gleich, sondern wird mit Entschließung des Bundespräsidenten nach jeder Volkszählung nach der Stärke der Bevölkerung für jedes Bundesland von drei bis 12 Mandaten, also nicht in der gleichen Zahl der Sitze, verteilt.
Neben der Repräsentanz von Territorien kann nach dem Senatsprinzip auch die Repräsentanz von bestimmten Kenntnissen, Erfahrungen und Interessen, vor allem auch bestimmter Berufe zum Tragen kommen; man könnte von einer „Repräsentation des Sachverstandes” sprechen.
Der Gedanke der Berufsstände wurde schon von Papst PIUS XI. in seiner Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno” 1931 zum Tragen gebracht und die B-VG-Novelle 1929 hatte die Umwandlung des Bundesrates, also der Länderkammer des österreichischen Parlaments, in einen Länder- und Ständerat vorgesehen. Dazu ist es aber nicht gekommen, vielmehr hat sich nach 1945 auf freiwilliger Basis eine Zusammenarbeit der großen Sozial- und Wirtschaftsverbände in der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Allgemeinen und der Preis- und Lohnpolitik im Besonderen ergeben. Daraus zeigt sich, wie sehr neben der Repräsentanz des Volkes durch die politischen Parteien34 eine solche durch Interessenverbände35 eine politische Rolle spielen.
Ein Musterbeispiel für eine derartige berufsständische Vertretung ist der Bayerische Senat36, eingeführt durch die Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946, der aber mehr eine beratende Tätigkeit hat. Sie ist gerade in einer Zeit der Mehrzweckverwendung des Staates von großer Bedeutung. Neben dem mehr ideologisch und weltanschaulich orientierten Wollen der politischen Parteien treten die Sachanliegen der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der Bayerische Senat besteht aus 60 Mitgliedern, nämlich aus 11 Vertretern der Land und Forstwirtschaft, 5 Vertretern der Industrie und des Handels, 5 Vertretern des Handwerks, 11 Vertretern der Gewerkschaften, 4 Vertretern der freien Berufe, 5 Vertretern der Genossenschaften, 5 Vertretern der Religionsgemeinschaften, 5 Vertretern der Wohltätigkeitsorganisationen, 3 Vertretern der „Hochschulen und Akademien sowie 6 Vertretern der Gemeinden und Gemeindeverbände. Diese werden von den zuständigen Körperschaften des öffentlichen oder privaten Rechts gewählt.
In ähnlicher Weise wurde durch die Verfassung vom 25. Juni 1991 auch in Slowenien die Vertretung von Trägern der sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und örtlichen Interessen durch den Staatsrat vorgesehen, dessen Kompetenz aber insofern über die des Bayrischen Senates hinausgeht, als er nicht nur eine beratende Funktion hat, sondern im Gesetzgebungsverfahren über ein suspensives Veto verfügt. Nach Art. 96 umfasst der Staatsrat 40 Mitglieder, und zwar 4 Vertreter der Arbeitgeber, 4 Vertreter Der Arbeitnehmer, 4 Vertreter der Bauern, der Gewerbetreibenden und der freien Berufe, 6 Vertreter der nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten und 22 Vertreter der lokalen Interessen.
Aus der Strukturierung des Parlaments und der Zusammensetzung der jeweiligen Kammer kann einerseits die Stärke des demokratischen Baugesetzes und andererseits für den Fall der zweiten Kammer der sonstige Einfluss bestimmender Kräfte in dem betreffenden Staat erkannt werden. Früher war es die Auseinandersetzung der Ständegesellschaft beginnend mit dem Adel und der Kirche mit dem Monarchen, später sind mit der Demokratisierung des Wahlrechtes und der Entwicklung des Parlaments von einer Stände- zu einer Volksvertretung immer mehr weitere Kreise der Bevölkerung hinzugekommen, wie das Bürgertum, die Bauern und die Arbeiterschaft.
„Als der demokratische Verfassungsstaat neben dem Rechts- und Machtzweck zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung für den Kultur und Wohlfahrtszweck zuständig wurde und sich auch der Staat um kulturellen Fortschritt, wirtschaftlichen Wachstum und soziale Sicherheit bemühte, hatte dieser Mehrzweckstaat auch eine Mehrzweckgesetzgebung zur Folge, welche auch ein Mehrzweckparlament verlangte.
IV.
„In jedem Staat hat man im Verfassungsrecht institutionalisiert oder sonst im politischen Leben aktiviert neben den politischen Parteien, die als Wahlparteien ins Parlament gewählt, dort Fraktionen bilden, auch verschiedene Interessenverbände, sei es in eigenen parlamentarischen Kammern oder neben der parlamentarischen Staatenwillensbildung, wie in Österreich die Sozialpartnerschaft37, wirkkräftig; „kein demokratischer Staat mit Mehrzweckverwendung kommt heute ohne sie aus.”
„Während die Stärke der politischen Parteien durch die Zahl an Stimmen und durch sie an der Sitzverteilung im Parlament ablesen kann, ist die Bedeutung der Interessenverbände nicht leicht quantifizierbar. So kann ein Unternehmer hunderten oder tausenden Arbeitnehmern Beschäftigung geben und ist in seinem Aufgabenbereich unverzichtbar für die Wirtschaft eines Staates, trotzdem aber seiner Bedeutung und Funktion nach nicht leicht in einer parlamentarischen Kammer in einer entsprechenden Mandatszahl zu quantifizieren und zu platzieren. Je mehr die Aufgaben des Staates an Vielfalt zunehmen und er nicht mehr bloßer „Nachtwächterstaat” ist, desto mehr kommt es auf eine über die bloße parteipolitische Dimension hinausgehende Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung an.
„In dieser Mehrdimensionalität, welche sich in einer zweiten Kammer zeigt, dokumentiert sich neben der Teilung der Gewalten zwischen den drei Staatsfunktionen: Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung auch eine solche innerhalb der jeweiligen Gesetzgebung; die zweite Kammer sollte die erste Kammer kontrollieren!
Die Kontrollfunktion entspricht auch der Gewaltenteilungslehre Montesquieus und wurde von ihm auch in der Gegenüberstellung der beiden Kammern wahrgenommen; er dachte dabei an das Nebeneinander von Vertretung des Volkes und des Adels; heute ist es das Nebeneinander von Repräsentanten des Volkes, der Territorien und der organisierten Interessen, wobei das Volk in einer parlamentarischen Volksvertretung quantifizierend leichter zu organisieren ist und Territorien leichter zu repräsentieren sind, als die Interessenvertretungen zu qualifizieren!
Eine solche zweite Kammer hat aber nur dann einen effektiven Wert, wenn sie neben der einen Kammer als Volksvertretung ein strukturell gegebenes und erlebbares Prinzip, wie dies z.B. der Föderalismus, Regionalismus oder der Autonomismus ist, in einer zweiten Art Territorialkammer zum Tragen bringt. In diesem Fall wird durch das neben dem demokratischen Baugesetz, erlebbar in der ersten Kammer, wie immer geprägte Territorialprinzip ein Mitdenken, Mitbeurteilen und Mitentscheiden auf parlamentarischer Ebene möglich.
Gerade die Vielfältigkeit des heutigen Staates und seiner Gesetzgebung verlangt ein verständnisvoll kritisches, eigenständiges, mitverantwortliches und mitentscheidendes Denken auch auf parlamentarischer Ebene. Eine solche zweite Kammer wird aber nur dann Anerkennung, Glaubwürdigkeit und Bestand haben, wenn sie sich von der ersten Kammer, also der sogenannten Volksvertretung, unterscheidet. Sie ist aber gefährdet, wenn diese Pluralität an Legitimation, wie etwa Föderalismus neben Demokratismus, nicht gegeben ist, weil etwa die gleichen politischen Faktoren nämlich die politischen Parteien, undifferenziert nur in verschiedenen Wahlvorgängen parlamentarisch in beiden Kammern repräsentiert werden. Eine solche Verdoppelung lässt sich vor der Bevölkerung nur sehr schwer rechtfertigen; sie ist gegeben, wenn politische Parteien beide Kammern, etwa einmal als Volksvertretung und ein andermal als Senat, der keine territoriale oder berufsständische Vertretung als Begründung hat, darstellen.
V.
Unterschiedlichkeiten beider parlamentarischen Kammern können gegeben sein
1) im Wahlmodus:
Volkswahl durch das Gesamtvolk der einen Kammer als Volksvertretung sowie Wahl durch das Volk, durch das Parlament oder die Regierung des jeweiligen Landes für eine Ländervertretung oder Entsendung durch Verbände eines Territoriums für die zweite Kammer;
2) in den Voraussetzungen; dass das passive Wahlalter beider Kammern unterschiedlich, meist bei der zweiten Kammer höher ist und bestimmte Eigenschaften vorausgesetzt werden und
3) dass der ersten Kammer eine Legislaturperiode mit Totalerneuerung und der zweiten Kammer eine Partialerneuerung sowie damit die Kontinuität eignet.
Letzteres ist beim österreichischen Bundesrat gegeben, der nach jeder Landtagswahl nach der Stärke der politischen Parteien im Landesparlament die Bundesräte des einzelnen Bundeslandes entsendet erhält; es ist daher Partialerneuerung gegeben. Wenngleich in der österreichischen Bundesgesetzgebung Nationalrat und Bundesrat Parlamentarier aus den politischen Parteien hat, zeichnet sich in dieser Parteienlandschaft doch insofern ein Unterschied und eine Gewaltenteilung ab, als nämlich während einer Legislaturperiode des Nationalrates und damit einer Funktionsperiode der vom Vertrauen der Mehrheit des Nationalrates getragenen Bundesregierung das Wählerverhalten in den Ländern sich ändern kann und im Nationalrat und Bundesrat unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse sich ergeben, was nach den jeweiligen Kompetenzen der zweiten Kammer zur Verzögerung oder Verhinderung in der Gesetzgebung führen kann. In diesem Fall gilt es beispielsweise die Kompetenzen des österreichischen38 und deutschen39 Bundesrates sowie der Senate der USA40, Italiens41, Spaniens42 und Frankreich43 zu beachten.
So steht dem österreichischen Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren44 in der Regel nur ein suspensives Veto zu, das heißt er kann zwar gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates Einspruch erheben, das Gesetz kann aber trotzdem in Kraft treten, wenn der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss fasst. Es gibt jedoch Angelegenheiten, in denen dem österreichischen Bundesrat durch die Verfassung ein weitergehendes Mitwirkungsrecht eingeräumt wurde. In seiner Funktion als Länderkammer muss er etwa gem. Art. 44 Abs. 2 B-VG zu Verfassungsgesetzen, mit denen die Zuständigkeit der Länder in Gesetzgebung oder Vollziehung eingeschränkt werden soll, seine Zustimmung geben, wobei diese Zustimmung wiederum erhöhter Quoren im Bundesrat bedarf, nämlich Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und Mehrheit von zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Allerdings gibt es auch Bundesgesetze, die unter Ausschaltung des Bundesrates erzeugt werden, wie etwa die Bewilligung des Bundesvoranschlages oder die Genehmigung des Bundesrechnungsabschlusses. Neben der Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren kommt dem Bundesrat auch das Recht zur Gesetzesinitiative zu, entweder durch Beschluss des Bundesrates oder durch ein Drittel der Mitglieder des Bundesrates45. Außerdem besitzen ein Drittel der Mitglieder des österreichische Bundesrates das Recht, Bundesgesetze beim Verfassungsgerichtshof anzufechten.46 Neben dieser rechtlichen Kontrolle steht dem österreichischen Bundesrat auch eine Mitwirkung an der politischen Kontrolle zu. So hat er das Interpellations47, Resolutions48, Petitions49 und Zitationsrecht50 sowie das Recht zur Abhaltung von Enqueten51. Sosehr der Bundesrat an der rechtlichen und politischen Kontrolle im österreichischen Parlament beteiligt ist, hat er hingegen keinen Zugang zur finanziellen Kontrolle, denn der Rechnungshof, der schon 1761 unter Kaiserin Maria Theresia gegründet wurde,52 ist ausschließlich ein Organ des Nationalrates, der auch den Präsidenten des Rechnungshofes wählt.
Die Kompetenzen des Deutschen Bundesrates gehen im Gegensatz zum österreichischen weiter. So sind schon zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens Vorlagen der Bundesregierung gem. Art. 76 Abs. 2 dem Bundesrat zuzuleiten. Dieser kann innerhalb von sechs Wochen dazu Stellung nehmen. Erst dann leitet die Bundesregierung ihre Vorlagen zusammen mit der Stellungnahme des Bundesrates gem. Art. 77 an den Bundestag weiter, der die Gesetzte beschließt. Nach der Annahme durch den Bundestag sind die Bundesgesetze dem Bundesrat zu übermitteln, der im Falle der sogenannten Zustimmungsgesetze mit dem Beschluss des Bundestages einverstanden sein muss, damit dieser in Kraft treten kann. Da über die Hälfte der Bundesgesetze zustimmungsbedürftig sind, steht der Bundesrat dem Bundestag in einer Vielzahl der Gesetzgebungsverfahren als gleichberechtigte Kammer gegenüber. Darüber hinaus bedarf gem. Art. 79 Abs. 2 eine Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates. Bei den nicht-zustimmungsbedürftigen Gesetzen hat der Bundesrat ein Einspruchsrecht, das vom Bundestag überstimmt werden kann. Außerdem gibt es für den Fall der Nichteinigkeit zwischen den beiden Kammern den Vermittlungsausschuss. Dieser Ausschuss dient der Kompromisssuche für den Fall, dass das Zustandekommen eines Gesetzes zu scheitern droht, weil der Bundesrat den Beschluss des Bundestages nicht gutheißt. Des Weiteren ist dem Bundesrat das Recht eingeräumt, Gesetzesvorlagen einzubringen.
Eine weitgehende Gleichberechtigung der Kammern findet sich in Italien. So legt die Verfassung Italiens in Art. 70 fest, dass die gesetzgebende Gewalt von den beiden Kammern, nämlich Abgeordnetenkammer und Senat, gemeinsam ausgeübt wird. So wird gem. Art. 72 jeder Gesetzesentwurf, der einer der Kammern vorliegt, von einem Ausschuss geprüft und danach von der Kammer selbst angenommen. Die Gesetzesinitiative bedarf in Italien nicht den Beschluss einer Kammer, sondern kann durch jedes Parlamentsmitglied ausgeübt werden.
In Spanien kommt dem Senat im Falle einfacher Gesetze wiederum nur ein suspensives Veto zu.53 So kann zwar der Senat gegen den vom Kongress angenommenen Text sein Veto einlegen oder Änderungsanträge einbringen, der Kongress kann jedoch den ursprünglichen Text neuerlich beschließen. Entwürfe für eine Verfassungsänderung müssen allerdings gem. Art. 167 durch eine Mehrheit von drei Fünftel jeder der beiden Kammern gebilligt werden. Kommt ein Einvernehmen zwischen den beiden Kammern nicht zustande, so wird versucht, es durch die Bildung eines Ausschusses herbeizuführen, der paritätisch mit Abgeordneten und Senatoren besetzt ist und der einen Text vorlegt, über den Kongress und Senat beschließen. Kommt jedoch derart eine Annahme der Verfassungsänderung nicht zustande, so kann der Kongress die Änderung mit zwei Drittel Mehrheit beschließen, wenn der Senat dem Text mit absoluter Mehrheit zugestimmt hat. Außerdem steht dem Senat auch die Gesetzesinitiative zu.
Auch in Japan54 steht dem Oberhaus nur ein suspensives Veto zu. Grundsätzlich wird ein Gesetz beschlossen, indem es beide Häuser passiert. Nachdem das Unterhaus einem Gesetzesvorschlag zugestimmt hat, leitet es ihn an das Oberhaus weiter. Sollte dieses dem Gesetzesentwurf nicht zustimmen, kann das Unterhaus das Gesetzt mit einer Zweidrittelmehrheit trotzdem beschließen. Darüber hinaus hat es aber die Möglichkeit, eine gemeinsame Sitzung der beiden Kammern zu initiieren, in der sich diese über das Gesetz beraten und zu einem Konsens kommen können.
Der französische Senat55 hat alle Gesetzesentwürfe und Gesetzesvorschläge zu beraten. Wenn eine solcher Entwurf oder Vorschlag in Folge einer Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Kammern nicht angenommen werden konnte, so ist der Premierminister berechtigt, einen paritätisch besetzten Ausschuss einzuberufen, der eine Fassung der noch strittigen Bestimmungen vorzuschlagen hat. Die von diesem Ausschuss ausgearbeitete Fassung kann den beiden Kammern zur Annahme vorgelegt werden. Gelangt allerdings der Ausschuss nicht zur Annahme einer gemeinsamen Fassung, so überlässt die Regierung die endgültige Entscheidung der Nationalversammlung. Verfassungsänderungen müssen wiederum gem. Art 89 von beiden Kammern in gleicher Fassung beschlossen werden. Die Gesetzesinitiative steht den Mitgliedern des Parlaments, also beider Kammern, zu.
Der amerikanische Senat56 verfügt im Vergleich zum französischen Senat über weitergehende Kompetenzen, wobei er, abgesehen von seinem Mitspracherecht bei der Ernennung der obersten Beamten und beim Abschluss auswärtiger Verträge, grundsätzlich dieselben Befugnisse wie das Repräsentantenhaus hat. Die Verabschiedung eines Gesetzes setzt die Zustimmung beider Häuser voraus, wobei diese unabhängig voneinander beraten und abstimmen. Sollten das Repräsentantenhaus und der Senat dabei keine Einigung hinsichtlich eines Gesetzesentwurfes erzielen, kommt dem Sprecher des Repräsentantenhauses oder dem Vizepräsidenten des Senates das Recht zu, einen aus Mitgliedern der beiden Häuser gebildeten Vermittlungsausschuss einzusetzen, der versuchen muss, eine verabschiedungsreife Kompromissvorlage zu erarbeiten. Erst wenn sowohl das Repräsentantenhaus als auch der Senat einem solchen Gesetzesentwurf zustimmen, kann das Gesetz dem Präsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt werden. Lehnt dieser das Gesetz durch sein Veto ab, kann sich der Kongress über dieses nur durch eine nochmalige Abstimmung hinwegsetzen, wobei dafür allerdings eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern vorgesehen ist, so dass dies nur sehr selten vorkommt.
Ähnlich wie in den USA geht auch die indische Verfassung von einem annähernd äquivalenten Stärkeverhältnis zwischen den beiden Kammern aus. Nach Art. 107 Abs. 2 haben sowohl die Lok Sabha als auch die Radya Sabha einem Gesetzesvorschlag zuzustimmen. Diejenige der beiden Kammern, in der der Gesetzesvorschlag zuerst eingebracht worden ist, kann diesen mit einfacher Mehrheit annehmen. Anschließend wird der Gesetzesentwurf an die andere Kammer weitergeleitet, die drei Möglichkeiten einer Entscheidung hat. Sie kann dem Gesetzesentwurf zustimmen, sie kann Änderungsvorschläge machen, auf die jene Kammer, die den Gesetzesvorschlag bereits angenommen hat, eingehen kann, oder sie lehnt den Gesetzesentwurf ab. Können nun Differenzen zwischen den beiden Kammern nicht beigelegt werden, beruft der Staatspräsident nach Art. 108 eine gemeinsame Sitzung beider Kammern ein. Das Gesetz kann dabei mit einfacher Mehrheit der Mitglieder beider Häuser beschlossen werden.
Zu den besonderen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um Mitglied einer zweiten Kammer werden zu können, sei z.B. der Bayerische Senat57 hervorgehoben. So kann zum Senator nur ein wahlfähiger Staatsbürger berufen werden, dr das 40. Lebensjahr vollendet hat. Außerdem soll er sich durch Rechtlichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung auszeichnen. Damit wollte der Verfassungsgeber ein Parlament reifer, urteilsfähiger Persönlichkeiten schaffen. Daraus ergibt sich auch, dass der Senat häufig als „Rat der Weisen” oder „Rat der Alten” bezeichnet wird.58
Auch in der Verfassung Italiens findet sich in Art. 58 die Regelung, dass zu Senatoren alle Wahlberechtigte gewählt werden können, die das 40. Lebensjahr vollendet haben. Außerdem wird jeder ehemalige Präsident der Republik Senator von Rechts wegen und auf Lebenszeit, sofern er nicht darauf verzichtet. Darüber hinaus kann der Präsident der Republik fünf Bürger, die sich durch höchste Verdienste auf sozialem, wissenschaftlichem, künstlerischem und literarischem Gebiet in besonderer Weise dem Vaterland zur Zier gereichen, zu Senatoren auf Lebenszeit ernennen.
Ebenso werden in den vereinigten Staaten von Amerika persönliche Anforderungen an die Kandidaten für den Senat gestellt.59 So müssen Senatoren mindestens 30 Jahre alt sein, seit 9 Jahren die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten besitzen und zum Zeitpunkt der Wahl in dem Einzelstaat wohnhaft sein der ihn wählt. Durch diese Voraussetzungen für die Wahl sollen eine größere Lebenserfahrung der Senatoren und ihre bessere Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen des Staates gewährleistet sein. Insoweit drückt sich darin auch die Funktion des Senates als Element der politischen Stabilität aus.
In Indien sieht Art. 84 der Verfassung vor, dass Abgeordnete der Radya Sabha indische Staatsbürger sein und das 30. Lebensjahr vollendet haben müssen. Darüber hinaus können einzelne vom Parlament beschlossene Gesetze besondere Qualifikationen fordern.
VI.
Viele weitere Beispiele an zweiten Kammern ließen sich noch in weiteren Verfassungssystemen der Welt geben. Sie alle stellen einen zur Institution gewordenen Ausdruck der Auseinandersetzung mit der übernommenen politischen Struktur eines Staates, seiner Gegenwartserfordernisse und Zukunftserwartungen dar. Personale und territoriale Komponenten sind dabei bestimmend, was sich in der zweiten Kammer nun als berufsständische Vertretung oder als Länderkammer besonders zeigt. Sie sollten in dem in ihnen zum Tragen kommenden Prinzip den in der sogenannten ersten Kammer zur Geltung gelangenden Grundsatz der demokratischen Repräsentation ergänzen: entweder um das gleiche Volksganze nach anderen territorialen Gesichtspunkten, wie es der Föderalismus und Regionalismus ermöglicht in einer Ländervertretung zu repräsentieren oder um z.B. bestimmte berufliche Interessen, Sachanliegen, die für die Allgemeinheit von Bedeutung sind, in der Gesetzeswerdung zu vertreten.
„Gerade in einer Zeit der Mehrzweckverwendung des Staates kommt einer breiten parlamentarischen Staatswillensbildung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Sie liegt, das sei zusammenfassend betont, vor allem in ihren „Möglichkeiten der Mitwirkung an der Gesetzgebung, der Kontrolle, der Gerichtsbarkeit oder sonst der Exekutive; dabei kann eine solche zweite Kammer Funktionen der Repräsentation und der Kommunikation erfüllen, was auch gerade bei einem Staat mit pluralistischer Demokratie eine vermittelnde und integrierende Wirkung zur Folge haben kann.
„Alle diese Funktionen einer zweiten Kammer können zu einer zeitgemäßen Gewaltenteilung60, zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen, zu einer möglichst sachlich orientierten Gesetzgebung und damit zum Gemeinwohl61 beitragen.
„Welche Funktionen und welche Zusammensetzung eine zweite Kammer immer haben wird, sie wird wie eine andere parlamentarische Einrichtung um ihre Anerkennung und ihren Bestand zu kämpfen haben. Suzanne S. Schüttemeyer und Roland Sturm haben schon treffend geschrieben: Zweite Kammern müssen den Weg zwischen der Scylla der Identität und der Charybdis der zu großen Abweichung steuern.62
„Diese Mühen um die zweite Kammer und mit ihr zahlen sich aber aus; denn gerade die weitgespannte Gesetzgebung des heutigen Staates mit den großen Kosten und lang nachwirkenden Folgen der Gesetze verlangt ein Mitdenken auch auf breiter parlamentarischer Basis; auch eine noch so vielfache Lesung eines Gesetzentwurfes in einer Kammer ersetzt das Mitdenken, Miturteilen und Mitentscheiden einer zweiten Kammer nicht. Gerade bei der Komplexität der Aufgaben des heutigen Staates kommt der überlegenden Mitwirkung der zweiten Kammer einer nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Die heutige politökonomische Abstimmungsforschung, vor allem bei William H. Riker63, zeigt deutlich, wie sehr durch das parlamentarische Zweikammersystem ein mehr ausgewogener, weil mehr überlegender parlamentarischer Willensbildungsprozess Platz greift. Diese heute immer mehr um sich greifende Einsicht erinnert an das Beisammensein von zwei Klassikern des politischen Denkens64, nämlich von George Washington und Thomas Jefferson, der ursprünglich gegen das Zweikammersystem in den USA war. Bei dieser Aussprache der beiden Gründungsväter der USA goss Jefferson mehrmals seinen heißen Tee von seiner Tasse in die Untertasse und wieder zurück, worauf Washington auf die gleiche Wirkung des Zweikammersystems aufmerksam machte: es ist eine abkühlende und ausgleichende. Wer wollte nicht leugnen, dass diese Bedeutung, auf die Washington vor mehr als 200 Jahren für das Zweikammersystem aufmerksam machte, nicht heute in einer Zeit so vieler Gegensätzlichkeiten und Gemeinwohlerfordernisse nicht auch gegeben ist. In dieser Sicht kommt der Frage nach Aspekten des Ein- und Zweikammersystems sowohl eine Bedeutung für die staatsrechtliche Ordnung wie für die politische Kultur in der Demokratie unserer Zeit zu.
Anmerkungen
1
Näher dazu Herbert Schambeck, Vom Sinn und Zweck des Parlamentarismus, in: Österreichs Parlamentarismus–Werden und System, hrsg. von demselben, Berlin 1986, S. 1 ff.
2
Siehe Herbert Schambeck, Staat, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 17, Berlin 1992.
3
Beachte Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Festschrift für Karl R. Stadler, hrsg. von Gerhard Botz u. a., Wien 1974, S. 419 ff.”
4
Hiezu Max Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit, in: Gedanken und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, hrsg. von demselben, Wien 1965, S. 37 ff; Günther Winkler, Das österreichische Konzept der Gewaltentrennung in Recht und Wirklichkeit, Der Staat 1967, S. 293 ff; Manfred Welan, Die Gewaltenteilung, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 481 ff; Karl Korinek, Von der Aktualität der Gewaltenteilungslehre, Journal für Rechtspolitik 1995, S. 151 ff sowie Herbert Schambeck, Zur Idee und heutigen Formen der Gewaltenteilung im Staat, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 1. Halbband, Nr. 5, Basel 1996, S. 423 ff.
5
Hesiod, Werke und Tage, Vers 213 ff.
6
Aristoteles, Politik IV, 1298a.
7
John Locke, Two Treaties of Civil Government, 1690.
8
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748, Buch XI, Kapitel 6.
9
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kapitel 6.
10
Beachte Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Berlin 1959.
11
Hierzu Max Imboden, Rousseau und die Demokratie, Tübingen 1963.
12
Vergleiche Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der Dritte Stand ?, hrsg. von Otto Dann, Essen 1988, S. 68 ff.
13
Näher dazu Hans Albrecht Schwarz-Liebermann von Wahlendorf, Struktur und Funktion der sogenannten Zweiten Kammer–eine Studie zum Problem der Gewaltenteilung, Tübingen 1958; Annemarie Huber-Hotz, Das Zweikammersystem: Anspruch und Wirklichkeit, in: Das Parlament–Oberste Gewalt des Bundes?, hrsg. von den Parlamentsdiensten, Bern 1991, S. 165–182 sowie Suzanne S. Schüttemeyer–Roland Sturm, Wozu Zweite Kammern? Zur Repräsentation und Funktionalität Zweiter Kammern in westlichen Demokratien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1992, S. 517 ff.
14
Les Parlements dans le monde. Receuil de données comparatives. Preparé par le Centre
international de documentation parlementaire de l’Union interparlementaire. Deux volumes, deuxième édition, Bruxelles 1986/87.
15
Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung, RBGl. Nr. 141/1867.
16
Näher Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1 Berlin–Heidelberg–New York 1967, S. 237 ff.
17
Dolf Sternberger–Bernhard Vogel (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, Band I: Europa, Berlin 1969, S. 1365 ff.
18
Art. 19 ff der Verfassung der Republik Ungarn.
19
Art. 51 der Verfassung des Königreiches der Niederlande vom 17. Februar 1983.
20
John Stuart Mill, Consideration on Representative Government, 1861, Indianapolis 1958, S. 188.
21
§§ 28 f der Verfassung des Königreiches Dänemark vom 5. Juni 1953.
22
Verfassungsdokumente von Schweden vom 1. Jänner 1975, Der Regierungsapparat, Kapitel 3.
23
Art. 51 ff der Verfassung der Republik Griechenland, beschlossen von dem fünften Verfassungsändernden Parlament am 9. Juni 1975 und in Kraft getreten am 11. Juni 1975.
24
Art. 50 ff der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg vom 17. Oktober 1868.
25
Art. 150 ff der Verfassung der Republik Portugal vom 2. April 1976.
26
Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung, RGBl. Nr. 141/1867.
27
Art. 80 ff der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874.
28
Siehe Herbert Schambeck, Der Bundesrat der Republik Österreich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF Band 26, Tübingen 1977, S. 215 ff; Irmgard Kathrein, Der Bundesrat, in: Österreichs Parlamentarismus–Werden und System, S. 337 ff sowie Robert Walter–Heinz Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 8. Auflage, Wien 1996, S. 172 ff.
29
Art. 1 Abschnitt 2 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 11. September 1787.
30
„Art. 1 Abschnitt 3 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika; siehe näher Herbert Schambeck–Helmut Widder–Marcus Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1993.
31
Beachte insbesondere Herbert Schambeck, Zum Werden und zu den Aufgaben des österreichischen Föderalismus, in: Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, hrsg. von demselben, Wien 1992, S. 17 ff.
32
Siehe Ernst Carl Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Auflage, Wien–New York 1974, S. 374 ff; Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Auflage, Wien 1992, S. 154 ff.
33
Gerhadr Anschütz–Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Band, Tübingen 1930, S. 17 ff; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, 2. Auflage, München 1980, S. 109 ff.
34
Vergleiche hierzu Herbert Schambeck, Politische Parteien und österreichische Staatsrechtsordnung, in: Staatsrecht in Theorie und Praxis, Festschrift Robert Walter zum 60, Geburtstag, hrsg. v. Heinz Mayer u.a., Wien 1991, S. 603 ff.
35
Näher Herbert Schambeck, Die Interessenverbände–ihr Auftrag in Staat und Gesellschaft, in: Grundfragen der Politik, Wien–Freiburg–Basel 1968, S. 61 ff.
36
Art. 35 Verfassung des Freistaates Bayern; siehe Walter Schmitt Glaeser–Bodo Klein, Der Bayerische Senat, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Band 39, 1990, S. 105 ff.
37
Dazu besonders Herbert Schambeck, Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft, Wirtschaftspolitische Blätter 1970, 17. Jahrgang, S. 25 ff; Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, Wien 1970; Herbert Schambeck, Parlamentarismus und Sozialpartnerschaft, in: Um Parlament und Partei, Alfred Maleta zhum 70. Geburtstag, hrsg. von Andreas Khol, u.a., Graz–Wien–Köln 1976, S. 181 ff. sowie Karl Korinek, Ideen und Entwicklung der Sozialpartnerschaft, in: Rechtsfragen der Sozialpartnerschaft, hrsg, von Georg Ress, Köln 1987, S. 9 ff.
38
Art. 41 ff B-VG.
39
Art. 70 ff des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949.
40
Art. I, IV und V der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.
41
Art. 70 ff der Verfassung der Republik Italien.
42
Art. 81 ff der Verfassung des Königreiches Spanien.
43
Art. 34 ff der Verfassung der Republik Frankreich.
44
Näher Walter-Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, S. 186 ff.”
45
Art. 41 Abs. 1 B-VG.
46
Art. 140 Abs. 1 B-VG.
47
Art. 52 Abs. 1 B-VG.
48
Art. 52 Abs. 1 B-VG.
49
Art. 11 StGG in Verbindung mit § 25 Geschäftsordnung des Bundesrates.
50
Art. 75 B-VG.
51
§ § 66 f GO-BR
52
Vergleiche dazu 200 Jahre Rechnungshof, Festschrift zum zweihundertjährigen Bestehen der obersten staatlichen Kontrollbehörde Österreichs, hrsg. vom Präsidium des Rechnungshofes, Wien, 1961; Johannes Hengstschläger, Der Rechnungshof-Organisation und Funktion der obersten Finanzkontrolle in Österreich, in: Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 426, Berlin 1982, S. 19 ff sowie Walter Schwab, Der Rechnungshof als Organ der parlamentarischen Finanzkontrolle, in: Österreichs Parlamentarismus–Werden und System, S. 758 f.
53
Art. 90 Abs. 2 der Verfassung des Königreiches Spanien.
54
Art. 59 der Verfassung von Japan.
55
Art. 45 der Verfassung der Republik Frankreich.
56
Art. I. Abschnitt 7 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika; vergleiche hierzu Karl Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung, Berlin 1954, S. 52 ff.
57
Art. 36 Abs. 2 und 3 Verfassung des Freistaates Bayern.
58
Schémitt Glaeser–Klein, Der Bayerische Senat, S. 111.
59
Art. I Abschnitt 3 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.
60
Siehe Karl Korinek, Von der Aktualität der Gewaltenteilungslehre, S. 151 ff sowie Herbert”Schambeck Zur Idee und heutigen Formen der Gewaltenteilung im Staat, S. 423 ff.
61
Beachte besonders Johannes Messner, Das Naturrecht, 5. Auflage, Innsbruck–Wien– München 1966, S. 725 ff.
62
Suzanne S. Schüttemeyer–Roland Sturm, Wozu Zweite Kammern? Zur Repräsentation und Funktionalität Zweiter Kammern in westlichen Demokratien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1992, S. 519; vergleiche hierzu auch ausführlich Jean Mastias–Jean „Grangé, Les secondes chambres du parlement en Europe occidentale, Paris 1987, S. 31 ff.”
63
Dazu besonders Wilhelm H. Riker, The Justification of Bicameralism, in: International Political Science Review 13, 1992, S. 101–116.
64
Siehe Schambeck–Widder–Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika; Herbert Schambeck, Thomas Jefferson und der moderne Staat, Juristische Blätter 1994, 116. Jahrgang, Heft 1, S. 2 ff.
Begegnungen10_Sarkozy
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:127–142.
TAMÁS SÁRKÖZY
Modelle der Privatisierung in Ostmitteleuropa
Der Produktionsgang, die Gliederung der Gesellschaft und sogar das Beziehungssystem zwischen Mensch und Gemeinschaft waren in den ehemaligen sozialistischen Ländern bestimmt von der staatlichen Monopolstellung bei den Eigentumsverhältnissen. Gerade aus diesem Grund war die Privatisierung in sämtlichen Staaten einer der wichtigsten Teilprozesse des Systemwandels. Ihr Ablauf beeinflusst die gegenwärtigen und zukünftigen Verhältnisse in der Gesellschaft genauso, wie es die Dominanz von Staatseigentum in der Vergangenheit getan hat. Um ihre Auswirkungen ermessen zu können, müssen wir erst die verschiedenen Wege der Privatisierung selbst überblicken.
Der Begriff der Privatisierung
In der internationalen Fachliteratur wird der Begriff „Privatisierung“ mit zwei grundverschiedenen Inhalten gebraucht:
1. „Privatisierung“: Eindämmung der Einmischung des Staates in die Gesellschaft und Wirtschaft – ein Mittel des wirklich wirksamen, sich selbst einschränkenden Regierens. Die „entstaatlichende“ Privatisierung in diesem Sinne war zusammen mit der Liberalisierung und der Deregulierung eine Losung der Reagan-Ära in den 80-er Jahren. Sie ist zugleich Begründer der globalen Angriffe der neoliberalen Wirtschaftslehre auf die Institutionen des Sozialstaates.
2. „Privatisierung“: Wechsel des Inhabers, also Veräußerung staatlicher Beteiligungen in den Aktiengesellschaften gegen Entgelt an Privateigentümer. Diese Art der Privatisierung begann in Westeuropa dank der Politik der Regierung Thatcher ebenfalls in den 80-er Jahren, sie verbreitete sich aber schrittweise auch in solchen Ländern Westeuropas, in denen der Anteil von Staatseigentum relativ hoch war (Österreich, Italien, Frankreich). Beschäftigte sich die westeuropäische Wirtschafts- und Rechtsliteratur im Zeitraum zwischen 1950 und 1958 eher mit den spezifischen Problemen des Staatssektors (Typen von staatlichen Unternehmen, wettbewerbspolitische Beurteilungen, etc.), richtete sich ab den 80-er Jahren das Augenmerk in Westeuropa ebenfalls auf die Privatisierung.
Es ist anzumerken, dass der Begriff der Privatisierung auch in den ehemaligen sozialistischen Ländern gebraucht wird und zwar in einem – der amerikanischen Literatur über die Privatisierung ähnlichen – recht weiten Sinn: Privatisierung bezieht sich hier auf den ganzen Prozess der Schaffung von Privateigentum und der Gründung von Privatunternehmen. In dieser Studie verstehen wir im Weiteren unter Privatisierung jedoch nur den Wechsel des Inhabers, also den Übergang von Staatseigentum in Privatbesitz.
II. Die Eigenheiten der Privatisierung in Ostmitteleuropa
Die systemimmanente Privatisierung im Westen
Bei der Privatisierung in West- und Ostmitteleuropa (genauer gesagt bei der, die sich in den ehemaligen sozialistischen Ländern vollzieht) handelt es sich jeweils um die Eigentumsprivatisierung. Charakteristischer sind jedoch vielmehr die Unterschiede: die Privatisierung in Westeuropa ist ins System integriert und stärkt die Position des Privateigentums, während die in Osteuropa hingegen das Eigentumssystem verändert. Für die Privatisierung in Westeuropa ist typisch, dass
1. sie einen relativ kleinen Bereich der Volkswirtschaft betrifft, da ja der Anteil des Staates am Nationalvermögen Mitte der 80er Jahre in Frankreich 16 %, in Italien und Österreich 14 %, in England und Deutschland 10 % betrug;
2. die Privatisierung zur Durchführung gelang, als die Weltwirtschaft respektive die Volkswirtschaften der betroffenen Länder sich in einer Wachstumsphase befanden;
3. die Privatisierung eine betont partikuläre Erscheinung ist, die sukzessiv und verzögert durchgeführt wird. So ist in England in 12 Jahren nur ca. 10 % vom Staatssektor privatisiert worden;
4. ausschließlich die Unternehmen privatisiert werden, die auf handelsrechtlicher Grundlage (hauptsächlich AG) funktionieren (die öffentlich-rechtliche Formen – public corporation, nationale französische Unternehmen, deutsch-österreichische öffentlich-rechtliche Sondervermögen – also nicht). Infolgedessen ist die westeuropäische Privatisierung fast nur eine Börsenprivatisierung, also der Verkauf staatseigener Aktien an der Börse, was dazu führt, dass die in Osteuropa üblichen Probleme der Vermögensbewertung gar nicht erst auftauchen (obwohl Korruptionsskandale in der Privatisierung natürlich auch in Westeuropa nicht ausblieben).
Die systemmodifizierende Privatisierung im Osten
In Ostmitteleuropa ist die Privatisierung dagegen eine zentrale Erscheinung des allgemeinen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbruchs, kann doch ohne die Dominanz des Privateigentums weder die Marktwirtschaft, noch eine bürgerliche Gesellschaft existieren. Der Anteil des Staatseigentums am Nationalvermögen nahm in der überwiegenden Mehrheit der einstigen sozialistischen Länder ungeahnte Dimensionen an: 96 % in der Sowjetunion und in der DDR, 97 % in der Tschechoslowakei, in Rumänien, Bulgarien sowie in Jugoslawien (im letzteren nicht der Anteil des Staates, sondern das sog. gesellschaftliches Eigentum) jeweils 98 %, in Albanien sogar 99 %. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen: Polen mit 81 % und Ungarn mit nur 65 % – in diesen zwei Ländern ist die Privatisierung entsprechend einfacher. Gleichzeitig überwog auch in Ungarn das Staatseigentum, auch bei uns war der Staat – zumindest bis Mitte der 90er Jahre – der maßgebende Eigentümer. In diesem Sinne kann die Privatisierung in den einstigen sozialistischen Ländern auch als systemtheoretischer Selbstzweck angesehen werden, sie gerät in den Mittelpunkt des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbruchs. Solange der Staat die Macht und das Eigentum gleichermaßen in den Händen hält, kann der demokratische Rechtsstaat in Osteuropa nicht konsolidiert werden. Die Ursache liegt darin, dass die öffentliche Macht des Staates, welche gezwungenermaßen mit dem Eigentumsrecht verbunden ist, potenziell prädestiniert ist, das parlamentarische Mehrparteiensystem des demokratischen Staates zu zerstören. Solange der Staat in der Wirtschaft mehrheitlicher Eigentümer ist, wird die Bürokratie die Privatunternehmen stets beeinträchtigen, während die Wettbewerbsvorteile des Staates den Markt verzerren.
Die Insolvenz staatlicher Unternehmen
Doch für die Privatisierung sprechen in den ehemaligen Ostblockstaaten – im Gegensatz zu Westeuropa – nicht primär theoretische Gründe. Die Mehrheit der staatlichen Unternehmen geriet zu Anfang der 90-er Jahre unmittelbar an den Rand des Ruins, dringende Kapitalspritzen mussten her. (1989–1990 wurden in Polen im Rahmen einer Privatisierung, bei der leistungsschwache staatseigene Unternehmen liquidiert wurden, 20 % der Staatsbetriebe aufgegeben, in Ungarn mussten infolge des Konkursgesetzes 400 solcher Unternehmen schließen.) Nebenbei waren die hochverschuldeten Staatsetats der betroffenen Länder dringend auf die vorläufigen Einnahmen aus der Privatisierung angewiesen. Die Beschleunigung der Privatisierung, eine Art „Schocktherapie“, wurde auch durch den rasanten Wertverlust des Staatsvermögens am Markt gerechtfertigt – in Ungarn betrug der Verlust innerhalb von 8 Jahren beispielsweise etwa 50 %. Zu dieser volkswirtschaftlichen Zwangslage kommt noch der starke internationale Druck von außen: die Weltöffentlichkeit, die internationalen Geldinstitute, die USA und die Regierungen der maßgebenden westeuropäischen Länder sehen in dem Voranschreiten der Privatisierung den grundlegenden Indikator für die politische Wende in den osteuropäischen Länder. Den Regierungen ostmitteleuropäischer Staaten wurde deutlich gemacht: solange das Staatseigentum überwiegt (das heißt mit einer sich von der westeuropäischen grundlegend unterscheidenden Besitzstruktur), ist an einen Beitritt zur Europäischen Union nicht zu denken. Die Beschleunigung der Privatisierung und ihre Durchführung innerhalb von ca. 10 Jahren ist in Ostmitteleuropa also gleichzeitig ein realpolitisches Sollen. Mit den Mitteln der Regierung Thatcher würde die Privatisierung – wie der namhafte amerikanische Experte Professor Savas schreibt – in den einstigen sozialistischen Ländern jedoch rund 200 Jahre dauern. Darin liegt der Grund für die mit vielen Nachteilen verbundene „Schocktherapie“. In den Ländern Ostmitteleuropas geht es also um den Verkauf von Staatseigentum in ungeheuren Dimensionen zu Dumpingpreisen und zwar im Vergleich zu Westeuropa unter wesentlich schwierigeren weltwirtschaftlichen und binnenwirtschaftlichen Bedingungen. In den früheren Staaten des Ostblocks wurde mit der Privatisierung des Staatsvermögens nämlich zur Zeit einer Rezessionsphase in der Weltwirtschaft an der Wende der 80er Jahre begonnen. Parallel zur Privatisierung haben die kleinen Staaten Ostmitteleuropas durch den Zusammenbruch der RGW ihre Märkte im Osten größtenteils verloren. Die Mehrheit der staatseigenen Unternehmen in Osteuropa hat mit akuten Liquiditätsengpässen und beträchtlichen Schulden zu kämpfen. Die Bürden des Umweltschutzes im Staatssektor wiegen ebenfalls schwer – die Schulden und eventuelle spätere Umweltschutzauflagen haben das Investitionsrisiko in hohem Maße erhöht (und dabei zum Preisverfall beigetragen). Durch die tiefe Krise des Umschwungs hat sich das Bruttoinlandsprodukt in Ostmitteleuropa binnen 6–8 Jahren um bemerkenswert hohe 20–30 % verringert; vor allem die industrielle Produktion fiel auf das Niveau der frühen siebziger Jahre zurück, eine hohe im allgemeinen mehr als 10 %-ige Arbeitslosigkeit wurde dabei zur Regel. Die Privatisierung ist indes geeignet, die im Staatssektor noch immer vorhandene versteckte Arbeitslosigkeit in eine offene Arbeitslosigkeit umzuwandeln. Das stimmt die im Sozialismus an soziale Sicherheit gewohnte Bevölkerung jedoch noch mehr gegen die Privatisierung und macht dabei die Gewerkschaften, die in dieser Region politisch traditionell einflussreich sind, einerseits zum Gegner der Privatisierung, andererseits werden dadurch sowohl linke, als auch rechte populistische Bewegungen mobilisiert. Die Privatisierung in Ostmitteleuropa ist eine Privatisierung, die sich in einer tiefen Krise der wirtschaftlichen Umwandlung vollzieht. In dieser Krise wird von der Privatisierung leider nicht das erwartet, wozu sie geeignet ist, nämlich die Eigentumsverhältnisse des Landes zu verändern und die strukturellen Grundlagen des Eigentums in der Marktwirtschaft zu sichern, sondern sie wird allgemein als eine Art wirtschaftliches Wundermittel betrachtet. Nach dieser Auffassung ist die Aufgabe der Privatisierung – siehe § 2 des ungarischen Privatisierungsgesetzes aus dem Jahre 1995 – den ökonomischen Strukturwandel zu meistern, der sich in diesen Ländern seit gut 20 Jahren hinzieht. Die Privatisierung muss der technischen Entwicklung, der Beschäftigung, dem Umweltschutz und weiteren, etwa 20–30 wirtschaftspolitischen Zielsetzungen Genüge tun. Dies ist jedoch undurchführbar.
Das fehlende Instrumentarium
Bei der Privatisierung in den einstigen sozialistischen Ländern fehlten (fehlen) die entsprechenden Institutionen und die Infrastruktur. Das heißt:
1. in den meisten Ländern gab es keine entsprechenden rechtlichen Grundlagen, ohne Zivilrecht ist die Privatisierung jedoch nicht möglich. Aus dieser Sicht sind nicht Ungarn oder Tschechien typisch, sondern die Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder Albanien. Im Russischen gibt es beispielsweise für Handelsgesellschaften nicht einmal eine sprachliche Entsprechung – die Begriffe „towaritschestwo“ oder „obstschestwo“ spiegeln eine ganz andere Gedankenwelt wider. Selbst in Ungarn ist die tatsächliche Rechtsanwendung hinter der wirtschaftlichen Gesetzgebung zurückgeblieben;
2. es fehlen die Institutionen der Marktwirtschaft, wie zum Beispiel eine zuverlässige Erfassung der Immobilien (Grundbuch), ein entsprechendes Handelsregister, schnelle Firmenverfahren, eine durch entsprechend wirksame Rechtsanwendung gewährleistete Rechtssicherheit (Vollziehbarkeit der Gerichtsurteile etc.);
3. es fehlt das System der Buchführung und der Bilanzierung; Die Umstellung des radikal abweichenden „hosrastschot“-Systems auf die in der Europäischen Union übliche Buchführung würde (wird) viel Zeit in Anspruch nehmen;
4. die personellen Bedingungen waren unzulänglich, es fehlten (fehlen) entsprechende Juristen für Handelsrecht und der Gerichtsbarkeit im Wirtschaftsbereich sowie Buchprüfer, Auditoren, Notare etc. Diesen Bedingungen ist mit fortwährender Schulung einerseits und mit dem Hinzuziehen von Beratern aus dem Westen andererseits nur teilweise beizukommen. Den Beratungsfirmen im Westen mangelte es im Hinblick auf die spezifischen Umstände in Osteuropa an Erfahrung, sie benahmen sich häufig wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. So erwies es sich als Illusion, die osteuropäische Privatisierung durch Beratungsfirmen zu privatisieren;
5. die sozialistische staatliche Unternehmensform war nicht geeignet das Unternehmen zu vermarkten, da dieses im rechtlichen Sinne als eine Anstalt des öffentlichen Rechts gilt. Das Unternehmen als Institution kann dergestalt nicht veräußert werden. Die sozialistischen Länder waren aus diesem Grund gezwungen, zuerst die Staatsbetriebe in staatliche Einmanngesellschaften (AG oder GmbH) umzuwandeln und zwar mit dem aus der deutschen Rechtsschöpfung übernommenen Verfahren die Umwandlung mit der allgemeinen Rechtsnachfolge. Diese sogenannte formelle oder rechtliche Privatisierung ist die Kommerzialisierung der rechtlichen Form ohne die Veränderung der Eigentumsverhältnisse – dieser Schritt war in der westeuropäischen Privatisierung gar nicht nötig. Der formell-rechtlichen Privatisierung kann nur die reale, auch im volkswirtschaftlich-soziologischen Sinne wirkliche Privatisierung folgen, nämlich die Vermarktung der Aktien der ursprünglichen staatlichen Einmanngesellschaften zugunsten von Privatunternehmen und Privatpersonen. So wird die Privatisierung gezwungenermaßen zweistufig, was den Prozess erheblich verzögert.
Das fehlende Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage
Professor Lewandowski (er war nebenbei eine Zeit lang Minister für Privatisierung in Polen) charakterisierte die osteuropäische Privatisierung wie folgt: der Verkauf herrenloser Vermögensgegenstände von unbekanntem Wert und unglaublichem Ausmaß an Käufer, die gar nicht kaufen wollen und kein Pfennig haben. Damit gelangen wir zu zwei weiteren neuralgischen Punkten der osteuropäischen Privatisierung, der Vermögensbewertung respektive dem grundlegenden Widerspruch zwischen Angebot und Nachfrage: dem immensen staatlichen Vermögensangebot steht eine äußerst geringe, finanzschwache Nachfrage gegenüber. Die Erfassung des Vermögens staatlicher Unternehmen nach Ende des Sozialismus und unter den undurchsichtigen Marktverhältnissen ist notgedrungen problematisch. Der Marktpreis liegt dank des Überangebotes auf jeden Fall weit unter dem ideellen Wert des staatlichen Vermögens (von der öffentlichen Meinung übrigens meist überbewertet). Die Fachkompetenz der westlichen Investoren übertrifft die des anbietenden Staatsapparates deutlich (Daran ändern auch die ausländischen Beratungsfirmen nicht viel, da für sie der Investor einen potenziellen Auftraggeber darstellt.). Die Privatisierung ist für die Investoren ein knallhartes Geschäft und keine Sozialhilfe, so trägt die osteuropäische Privatisierung tatsächlich zahlreiche Merkmale eines Ausverkaufs. Aufgrund der unsicheren Vermögenserfassung kann prinzipiell beinahe jede größere oder komplexere Transaktion im Rahmen der Privatisierung zum Skandal werden (oder zu einem solchen gemacht werden) und zwar unabhängig von der Art der Organisation – Ministerium, Treuhand oder Aktiengesellschaft – (siehe den Fall Thyssen in Deutschland oder der berühmte ungarische sog. Tocsik-Skandal). Dadurch wird die Privatisierung dunkel und undurchsichtig, die nicht nur von den populistischen, extremen rechts- und linksgerichteten Kräften attackiert wird – gegebenenfalls kämpfen beispielsweise die Christdemokraten und Sozialisten Schulter an Schulter für die Erhaltung staatlichen Eigentums und der Einstellung der Privatisierung.
Der Widerstand des Staatsapparats
Die osteuropäische Privatisierung muss letztendlich unter dem heftigen Widerstand des Staatsapparates vonstattengehen. Der sozialistische Verwaltungsstaat hatte den überwiegenden Teil des nationalen Vermögens inne und das Eigentumsbewusstsein ist im Staatswesen recht stark ausgeprägt. Die Einstellung jeder osteuropäischen Regierung zur Privatisierung ist von Zwiespalt geprägt: auf der einen Seite will sie privatisieren, weil sie von den westlichen Regierungen und den internationalen Geldinstituten dazu gedrängt wird und sie die Einnahmen aus der Privatisierung braucht, auf der anderen Seite will sie wiederum nicht privatisieren, da sie ja durch jede einzelne Privatisierung die eigene Macht beschneidet. Theoretisch kann sie angesichts des starken politischen Widerstandes und der Interessengegensätze an jeder größeren Privatisierung scheitern. So entsteht für die osteuropäischen Regierungen eine klassisch widersprüchliche Situation. Der Staatsapparat wäre natürlich kein Staatsapparat, hätte er auf die Herausforderung durch die Privatisierung nicht mit der Errichtung einer riesigen zentralen Organisation eigens zu diesem Zweck reagiert. Dieser zentralen Organisation gehören sowohl territoriale Abteilungen als auch Fonds, Agenturen, Beratungsfirmen und Hintergrundeinrichtungen an. Die Privatisierung ist selbstverständlich eine vorübergehende Aufgabe, doch der Staatsapparat (seine sogenannte Entschädigungsbehörde inbegriffen) richtet sich auf eine ständige staatliche Funktion ein. Es sind mehrere Typen dieser Organisationen mit immensem Personal (man versucht die Angestellten aus den leer werdenden Wirtschaftsministerien hier unterzubringen) entstanden: Ministerium (z.B. in Polen und Tschechien), Treuhand, sie gilt im Wesentlichen als eine Anstalt des öffentlichen Rechts (z.B. in Deutschland, Slowenien, Kroatien, das ungarische Staatliche Vermögensagentur, ung. ÁVÜ) oder Unternehmen mit Handels- und juristischer Funktion (Aktiengesellschaft für Privatisierung und Verwaltung staatlicher Vermögen in Ungarn, ung. ÁPV Rt., Regierungsunternehmen in Estland und Lettland). Eine zügigere Privatisierung setzt offenbar mehr die Einbeziehung einer Institution mit Handels- und juristischer Funktion voraus, während eine verzögerte, kontrollierte Privatisierung eher die Mitwirkung einer Einrichtung des Staatshaushaltes oder des öffentlichen Rechts erfordert. Missbrauch gab es jedoch auch bei den Ministerien beziehungsweise Vermögensagenturen reichlich. Der aufgeblähte Privatisierungsapparat und die Gesetzgebung, die ein bürokratisches Vorgehen bei der Privatisierung vorschreibt, das frei von jeglicher Verantwortung ist (Wettbewerb um jeden Preis, von Fall zu Fall mehr Sachverständige und Berater), führen natürlich zu enormen Kosten, deren Deckung in einigen Fällen etwa 50 % der Einnahmen aus der Privatisierung wieder verschlingt. Es ist eine allseitige Tendenz, dass man die für die Privatisierung zuständige Organisation in der Endphase der Privatisierung zu einem ständigen staatlichen Organ zur Vermögensverwaltung umzubilden versucht (in Deutschland ist das nicht gelungen, da die Treuhandanstalt aufgelöst wurde). Gleiches gilt für die Ausnutzung der Privatisierung zur Unterstützung von politischen Anhängern. Dies ist die sogenannte politische Privatisierung zugunsten sogenannter politischer Unternehmer. Geht man von der Verkäufer- auf die Käuferseite über, liegt das Problem darin, dass der überwiegende Teil der ostmitteleuropäischen Bevölkerung zu kapitalschwach ist, um an dem Erwerb von Staatseigentum teilzuhaben (infolge ihres früheren sozialistischen Bewusstseins will sie das meist auch gar nicht). Gleichzeitig übt sie Druck aus, damit dieses Eigentum unentgeltlich verteilt wird. Auf politisch-soziologischer Seite tauchen zahlreiche Anliegen – ähnlich zu den bereits angesprochenen volkswirtschaftlichen Scheinprioritäten – an die ostmitteleuropäische Privatisierung auf, denen die Privatisierung als rein Eigentumsverhältnis verändernde Institution nicht beikommen kann. Solche sind zum Beispiel:
– gerecht zu privatisieren,
– Privatisierungsstrategien verwirklichen, die den Mittelstand stärken,
– mit der Privatisierung die gesellschaftliche Chancengleichheit und die soziale Angleichung fördern,
– die Informations- und Beziehungsdominanz der früheren Nomenklatur und vor allem den positionellen Vorteil der Unternehmensführung ins Gleichgewicht bringen etc.
Diese gesellschaftlichen Ziele sind offensichtlich in sich widersprüchlich und mit den volkswirtschaftlichen Zielsetzungen unvereinbar. Es ist ein berechtigtes Anliegen, dass die Privatisierung für die Öffentlichkeit durchschaubar sein soll, doch kaufen kann nur derjenige, der über die nötigen Mittel verfügt. Sozial gesehen ist es auch ungerecht, dass nur derjenige ein Rinderfilet im „Gundel“ (ein exklusives Restaurant in Budapest) ist, der es bezahlen kann, und aus diesem Grund werden Entschädigungskupons als Zahlungsmittel auch weiterhin nicht akzeptiert. Gleichzeitig ist auch klar, dass bei der Privatisierung eines solch riesigen staatlichen Vermögens die Bevölkerung und die heimischen Unternehmer – ungeachtet ihres Kapitalmangels – nicht unberücksichtigt gelassen werden können. Das ist nicht nur politisch erforderlich, sondern auch wirtschaftlich, denn das gesamte ostmitteleuropäische Vermögen kann einfach nicht an ausländische Investoren verkauft werden, selbst dann nicht, wenn man die diesbezügliche Absicht der interessierten Regierungen annimmt. Die Absicht, den Großteil des nationalen Vermögens an ausländische Investoren zu verkaufen, war neben den durch die 40jährige russische Vorherrschaft in Osteuropa zwangsläufig ausgelösten nationalistischen Tendenzen in der Politik freilich in keinem der betroffenen Länder spürbar vorhanden – dieses Problem ist also rein fiktiv. Der Hauptteil des Staatsvermögens der einstigen sozialistischen Länder ist für die ausländischen Investoren nämlich von vornherein unerreichbar, es besteht kein Kaufinteresse (eine Reihe von verschuldeten, veralteten Industriebetrieben mittlerer Größe bleibt dem Staat am Halse hängen, weshalb dieser verzweifelt versucht, solche Betriebe mit vereinfachten Privatisierungsverfahren – das war sogar in Ostdeutschland so – auf die Unternehmensführungen abzuwälzen). Seit 1990 ist im Allgemeinen äußerst wenig Fremdkapital in die Region geflossen – Ungarn liegt im Jahre 1997 mit 16 Mrd. Dollar deutlich an erster Stelle, was jedoch auch an hiesigen Maßstäben gemessen zu wenig ist (in Russland erreichen die ausländischen Investitionen noch nicht einmal 1 %). Es ist zudem deutlich zu sehen, dass das ausländische Kapital bemüht ist (übrigens ähnlich zu den heimischen Unternehmern), Investitionen auf der sogenannten grünen Wiese zu verwirklichen, anstatt an langwierigen, skandalverdächtigen und zu riskanten staatlichen Privatisierungen teilzunehmen (gewöhnlich fließt mindestens Zweidrittel der ausländischen Investitionen in Projekte auf der grünen Wiese). Das relativ geringe Interesse ausländischer Investoren erklärt sich aus den viel lukrativeren Investitionsmöglichkeiten in der dritten Welt (China, Indien, Indonesien, Thailand, Brasilien, Mexiko), der instabilen politischen Lage in Osteuropa (Bürgerkriege in der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawien) und daraus, dass das deutsche Kapital in Ostdeutschland gebunden ist, obzwar deutsche Investitionen in dieser Region seit vor dem zweiten Weltkrieg Tradition hatten. Die beträchtliche Inflation, die unsichere monetäre Lage und ungeklärte Besitzverhältnisse bei den Immobilien schrecken ebenfalls ab. Das Ergebnis: Nicht nur, dass kein neuer Marshallplan die Festigung der Demokratie in Ostmitteleuropa und den Ausbau der Marktwirtschaft unterstützt (warum auch – schließlich würde das den Kaufpreis in die Höhe treiben), auch die Privatisierung erfüllt nicht die in sie gesetzten Hoffnungen. Zwar bringt das Erscheinen von multinationalen Unternehmen viel Positives mit sich (z.B. Führungskultur, Hightech, Marketing), doch gleichzeitig verursachen unüberlegte, habgierige ausländische Investitionen schmerzvolle Einschnitte, was die Abneigung gegenüber solche Investitionen erhöht.
Das Ausland hat nämlich im Laufe der Privatisierung in den früheren sozialistischen Ländern deutlich weniger gekauft als von der Öffentlichkeit angenommen, doch infolge seiner Finanzkraft hat es meist das erworben, was auch die Bevölkerung gerne gekauft hätte (die besten Stücke sozusagen – Kaufhäuser, Tabakfabriken etc.). Teilweise sind es sogar die sogenannten strategischen Zweige (Energieversorgung, Erdölindustrie, Gasversorgung), womit die ausländischen Investoren auch für die Preiserhöhungen in diesen Bereichen verantwortlich sind, welche die Bevölkerung am härtesten treffen. Die Bevölkerung gewöhnt sich freilich allmählich an das ausländische Eigentum, das momentan auch in Ungarn deutlich weniger beträgt (selbst nach der Privatisierung des Energiesektors) als vor dem zweiten Weltkrieg. Immer weniger Menschen lassen sich durch die Übermystifizierung des Eigentums täuschen: Hätten die Dänen auf der Óbuda-Insel (Insel auf der Donau in Budapest) Hotels gebaut, hätten sie die Insel nicht nach Skandinavien zaubern können, ihre Hotels hätten das ungarische Bruttosozialprodukt vermehrt, die Zulieferer, Subunternehmer, Arbeiter und das Personal wären überwiegend aus Ungarn gekommen etc. Ausländische Investitionen haben also gewöhnlich mehr Vor- als Nachteile, man darf jedoch auch die Nachteile nicht außer Acht lassen.
Die Einbeziehung heimischer Kräfte
Kehren wir zum Grundgedanken zurück: mit Ausnahme Ungarns und Tschechiens ist die ausländische Kaufkraft in den einstigen sozialistischen Ländern vorerst verschwindend gering, doch selbst in Ungarn erreicht sie nicht mehr als ein Drittel der Gesamtkaufkraft. Will man also den Großteil des Staatseigentums zugunsten des Privateigentums abschaffen, müssen die Einheimischen in den Privatisierungsprozessmit einbezogen werden. Diesbezüglich wurden in den ehemaligen sozialistischen Ländern vier verschiedene Versuche unternommen.
Reprivatisierung
Aus juristischer Sicht wäre diese Methode der Privatisierung die einfachste. Die Verstaatlichungsgesetze würden sowohl den damals gültigen, als auch den gegenwärtigen bürgerlichen Verfassungen zufolge als offenbar verfassungswidrig gelten – obzwar die osteuropäischen Verfassungsrichter sich scheuten dies auszusprechen. Im Falle der Außerkraftsetzung respektive Abschaffung dieser Gesetze würde das ursprüngliche Eigentumsrecht automatisch wiederhergestellt werden, denn Eigentumsansprüche verjähren nämlich nicht. Mit Ausnahme Deutschlands, wo die Berücksichtigung von eigentumsrechtlichen Ansprüchen der ehemaligen Eigentümer (oder deren rechtmäßige Nachfolgern) ein wesentlicher Bestandteil des Privatisierungsprozesses war, haben sich fast alle Länder statt der Reprivatisierung für eine ziemlich eingeschränkte und komplizierte Entschädigung entschieden. Der Grund dafür liegt zum einen in der Verschuldung, zum anderen darin, dass die Reprivatisierung investitionsfeindlich gewesen wäre. Auch politisch war zu erfahren, dass die bereits im Sozialismus aufgewachsenen jüngeren Generationen, also die Mehrheit der Bevölkerung, die bedeutendere kostenfreie Beteiligung vorheriger Generationen am Nationalvermögen unter den Bedingungen einer allgemeinen wirtschaftlichen Regression einfach nicht akzeptiert hat. Der Anspruch auf Reprivatisierung ging vor allem von einkommensschwachen und materiell schlechter gestellten Rentnern aus – siehe Péter Esterházys berühmte Bemerkung „Boden nehme ich nicht zurück“. Das Ausbleiben der Reprivatisierung ging im Übrigen jedoch auch mit einem sozialpsychologischen Nachteil einher: ein Teil der Politiker, der Presse und der Öffentlichkeit denkt, dass die Privatisierung mit der Verteilung von Gemeinbesitz gleichzustellen ist. Dies ist ein Irrtum. Vor 1948 verfügten die Staaten Ostmitteleuropas über fast gar kein Unternehmensvermögen. Dieses Vermögen entstammte grundsätzlich nicht Steuergeldern oder Leistungen der Arbeitnehmer, der Staat beschlagnahmte einfach das Vermögen von anderen. Der Staat privatisiert demnach nicht das Volksvermögen, sondern das der Esterházys und Onkel Schwartz – in welchem Verhältnis der Wert des verstaatlichten Vermögens damals und heute zueinander steht, wird noch viel Stoff für Meinungsverschiedenheiten liefern.
Kleinprivatisierung
In den Ländern, in denen die Bevölkerung eine gewisse Kaufkraft hatte und mehr oder weniger offene, beziehungsweise verhüllte Formen der Privatunternehmen recht verbreitet waren – in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen und Slowenien –, tat sich die Möglichkeit der Vermarktung von Einheiten des Einzelhandels, der Gastronomie und von Dienstleistungsbetrieben (Geschäfte, Restaurants usw.) zugunsten einheimischer Unternehmer auf. Diese sogenannte Kleinprivatisierung ging der allgemeinen Privatisierung voraus, somit kann sie auch als Vorprivatisierung betrachtet werden. In den betroffenen Ländern – obwohl es auch hier Missbrauch und andere Anomalien gab – war die Kleinprivatisierung bis 1993–94 bereits erfolgreich abgeschlossen, die heimischen Kleinunternehmen gingen daraus deutlich gestärkt hervor. In Ländern wie z.B. Albanien tauchte der Gedanke der Kleinprivatisierung im Grunde gar nicht erst auf.
Dezentralisierte (spontane) Privatisierung
In den Ländern, in denen sich zu Lasten der zentralen Staatsmacht in den 80er Jahren ein selbstständiges Unternehmenseigentum herausgebildet hat (vor allem in Ungarn, Polen und in geringerem Maße in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aber wegen des Kollektiveigentums der gesellschaftlichen Selbstverwaltung muss auch Jugoslawien dazugezählt werden), schien es folgerichtig, bei der Privatisierung die Unternehmensführung und die Belegschaft zu begünstigen. Das war die Grundlage des Vorschlags zur dezentralisierten Eigenprivatisierung der Unternehmen, welche seitens des Staates später als spontane Privatisierung bezeichnet wurde. (Diese spätere Bezeichnung setzte sich in den Massenmedien durch.) Am stärksten ausgeprägt war diese dezentralisierte (und aus der Sicht der Unternehmensführung überhaupt keine spontane) Privatisierung in Ungarn 1989–90, doch als Pachtprivatisierung war sie auch in der Ukraine und in Weißrussland recht verbreitet sowie verständlicherweise in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und in Polen, besonders zu Anfang des Prozesses. Einerseits war die gesellschaftliche Antipathie beziehungsweise der Widerstand der neuen politischen Elite (Bezichtigung der Benutzung interner Informationen, Privileg der an der Quelle Sitzenden, die spontane Privatisierung ist nichts weiter, als „die Selbstprivatisierung der früheren Nomenklatur“ usw.) gegenüber der Umwandlung der reellen Macht der Unternehmensführungen in die Macht der Eigentümer beträchtlich. Andererseits hat der Staatsapparat die politische Wende mit Unterstützung der für die Schulden aufkommenden internationalen Geldinstitute dazu benutzt, um das in den 80er Jahren entstandene selbstständige Unternehmenseigentum quasi wieder zu verstaatlichen. 1990–91 geht die dezentralisierte Privatisierung in allen einstigen sozialistischen Ländern zu Ende und eine streng zentrale, staatlich gesteuerte Privatisierung nimmt ihre Stelle ein. In diese staatlich gesteuerte Privatisierung wurde die Möglichkeit der Belegschaft zum begünstigten Eigentumserwerb in Höhe von 5–20 % allgemeingültig integriert (am höchsten war dieser Anteil in Polen mit 20 %), der Kauf durch die Unternehmensführungen jedoch wird offiziell als eine ausnahmsweise Privatisierungsmethode in den Hintergrund gedrängt (im Verborgenen dagegen waren die Unternehmensführungen in der Privatisierung recht aktiv und hinter den MRP-Organisationen in Ungarn steckte oft nichts anderes als „management-buy-out“).
Unentgeltliche Kuponprivatisierung
Die mit Ausnahme Ungarns und der DDR in allen früheren sozialistischen Ländern angewandte Kuponprivatisierung (vouchere, Privatisierungsscheck etc.) als grundlegendes Instrument der Massenprivatisierung ist eine Erfindung der damals noch vereinten Tschechoslowakei. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder in den Staaten des Balkans gibt es aufgrund der Rückständigkeit des Privatsektors gar keine andere Möglichkeit einer allgemeinen und relativ schnellen Privatisierung. Es sei denn, jeder volljährige Einwohner erhält auf Grundlage des Staatsbürgerrechts spezifische Wertpapiere, die er direkt oder über Investmentfonds gegen Wertpapiere der – mittlerweile in Aktiengesellschaften umgewandelten – Staatsunternehmen tauscht. „Das Unternehmen hunderttausender Kleinunternehmer“ ist volkswirtschaftlich gesehen natürlich ineffektiv, es hindert ausländische Investitionen und da viele Bürger die Dividende losen Aktien der verlustreichen Unternehmen wieder loswerden wollen, besteht dauernd die reelle Gefahr der „Rückverstaatlichung“ (siehe z.B. die Erfahrungen Russlands und Tschechiens). Hier gelangen wir zum Schluss des Vergleichs: In Westeuropa bedeutet die Privatisierung ein kleines Börsenangebot für kapitalkräftige Investoren. In Osteuropa jedoch berührt die Privatisierung fast die ganze Volkswirtschaft und zwar unter ungünstigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Dadurch ist die Privatisierung in den ehemaligen sozialistischen Ländern ein äußerst widersprüchlicher Prozess, in dem die lang– und kurzfristigen Interessen, die unterschiedlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele einander ständig im Wege sind.
Grundlegende Richtungen der ostmitteleuropäischen Privatisierung
Die Privatisierung der ehemaligen sozialistischen Länder lässt sich im Grunde genommen in drei große Gruppen einteilen:
1. Ostdeutschland, oder wie der reiche Bruder aus dem Westen privatisiert (eine bereits beendete Privatisierung).
2. Vom Staatssozialismus zum Staatskapitalismus führende, auf dem Primärstatus der unentgeltlichen Kuponprivatisierung basierende Quasiprivatisierung, die sich über Jahrzehnte hinzieht (in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme einiger baltischer Staaten, außerdem in Rumänien, Bulgarien, Albanien und Serbien).
3. Privatisierung mit verschiedenen Methoden in Ländern, in denen mehr als 50 % der Volkswirtschaft bereits in Privatbesitz ist und die Chancen gut stehen, dass die institutionelle Privatisierung bis 2000 beendet sein wird. Zu dieser Gruppe gehören fünf bis acht Länder: Ungarn, Estland (und eventuell Lettland), Tschechien (und eventuell die Slowakei), Polen, Slowenien (und eventuell Kroatien)
Vollständige Privatisierung
Zwischen März 1990 und Januar 1995 hat das im Grunde von der letzten DDR-Regierung auf gesetzlicher Grundlage errichtete – heute nicht mehr existierende – Spezialorgan des öffentlichen Rechts, die Treuhandanstalt, 95 % des ganzen Staatssektors der DDR privatisiert: insgesamt 8000 Kombinate mit 45000 Betriebseinheiten (Typ „1“). Dies ist im Wesentlichen die Privatisierung des reichen Bruders aus dem Westen: Die Großunternehmen Westdeutschlands haben die ehemaligen ostdeutschen Betriebe zu ihren Tochtergesellschaften umgebildet. Dabei gab es kaum finanzielle Probleme: die alten Schulden wurden von der Treuhandgesellschaft geregelt, so hat sie vor der Privatisierung saniert, Kredite gewährt sowie Bürgschaften übernommen. In der deutschen Privatisierung spielte fremdes Kapital kaum eine Rolle: Es gab keine Kupons, es wurde kein Tender ausgeschrieben, Börsentransaktionen sowie der Erwerb von Anteilen durch Mitarbeiter oder durch die Unternehmensführung waren ebenfalls selten, man konnte sich sogar eine relativ umfangreiche Reprivatisierung leisten. Die Privatisierung bedurfte kaum des Ausbaus der Infrastruktur: im Sommer 1990 übernahm man praktisch mit dem sogenannten Mantelgesetz das „westdeutsche“ Handels– und Gesellschaftsgesetz, statt der mit langwierigen und blutigen Streitigkeiten um die Vermögensbewertung verbundene Umstrukturierung einzelner Unternehmen setzte man auf eine automatische Umbildung: aus den Kombinaten wurden kraft Gesetzes AGs mit jeweils 100.000 Mark Grundkapital, aus den Kombinatsbetrieben GmbHs mit jeweils 50.000 Mark Stammkapital. Die Privatisierung der ehemaligen DDR vollzog sich zwar bisher am schnellsten, trotzdem möchte ich anmerken: auch hier waren 1993 besondere Maßnahmen zur Beschleunigung des Prozesses erforderlich (z.B. bei den Firmenregistrierungen), auch hier gab es Skandale und Korruption (ferner sogar Schießereien und Bombenanschläge).
Quasiprivatisierungen
Auf der anderen Seite stehen die Länder (Typ „2“), in denen bis jetzt Privatisierungen im eigentlichen Sinn kaum durchgeführt wurden. Wohl aber hat sich die Überführung des Staatseigentums in Handelsgesellschaften vollzogen und anstelle der Kleinprivatisierung kamen partielle Funktionsprivatisierungen zum Tragen, es wurden z.B. Betriebe vermietet oder konzessioniert. In diesen Ländern bedeutet die Kuponprivatisierung die eigentliche Privatisierung, das heißt, die im Wesentlichen kostenlose Verteilung von Staatsanteilen unter der Bevölkerung. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Russland, die Ukraine und Weißrussland, wo der private Anteil in der Volkswirtschaft noch immer unter 20 % liegt, ferner Albanien, Serbien und Mazedonien (bei den letzten beiden sollte der Bürgerkrieg berücksichtigt werden), sowie die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken in Asien oder die Mongolei, wo der Staatsbesitz noch immer mehr als 90 % ausmacht. Die besten Werte weisen innerhalb dieser Gruppe Bulgarien und Rumänien auf, im ersteren lag der Anteil von Privatbesitz Ende 1996 bei ca. 25 %, im letzteren bei ca. 35 %. Es ist leicht abzusehen, dass die Privatisierung in diesen Ländern noch Jahrzehnte dauern wird, der Kapitalfluss aus dem Ausland ist sehr gering. In diesen Ländern sind die Voraussetzungen (juristisch, institutionell, infrastrukturell und personell) am schlechtesten, der Nihilismus im Rechtswesen am stärksten ausgeprägt. Die Privatisierung kann deshalb generell nur mittels unentgeltlicher Kupons, die nur eingeschränkten Besitz ermöglichen, verhältnismäßig beschleunigt werden. Gerade aus diesem Grund ist die Annahme berechtigt, dass die Quasiprivatisierung in diesen Ländern durch Schaffung halbwegs staatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen vom Staatssozialismus zum kommerzialisierten Staatskapitalismus führt. Dem vereinten Europa kann man sich mit diesem System jedoch nicht anschließen – diese Erkenntnis reift seit 1997 vor allem in Rumänien.
Gemischte Privatisierung
Die unterschiedlichen Privatisierungsmethoden in fünf verschiedenen Ländern kennzeichnen die mittlere Gruppe (Typ „3“). In diesen Ländern ist das Staatseigentum im Wesentlichen auf die Hälfte des Bruttosozialproduktes (oder noch weiter) zurückgegangen und allen Skandalen und Unkenrufen zum Trotz stehen in diesen Ländern die Chancen gut, dass die institutionelle Privatisierung um 2000 herum abgeschlossen wird und damit die Besitzverhältnisse dem Unionsbeitritt nicht mehr im Wege stehen. Diese Gruppe wird – und das ist keine nationale Befangenheit – von Ungarn angeführt, wo der Prozess schon um 1998 beendet sein könnte. Von den ehemaligen sozialistischen Ländern hatte Ungarn die beste wirtschaftliche Ausgangslage, die fortschrittlichste Gesetzgebung und das beste Institutionssystem, hier begann die Privatisierung am frühesten, nämlich schon 1989. In Ungarn gab es überhaupt keine Kuponprivatisierung, vielmehr setzte man auf eine Privatisierung mithilfe des Marktes, wobei die Inanspruchnahme von begünstigten Privatisierungsverfahren unter 20 % blieb. Zuerst wurde fast der ganze Energie- und Bankensektor privatisiert, bei den mittleren und bei den Kleinunternehmen kam es zu einer recht umfangreichen, vereinfachten Privatisierung, zudem ist der Anteil ausländischer Investitionen in Ungarn bei weitem am höchsten. Betrachten wir die statistischen Werte der Privatisierung, liegt Estland vor Ungarn, was auch deswegen beachtlich ist, weil die Privatisierung dort erst 1992–93 begann. (Estland ist neben Ungarn das einzige Land, wo die Privatisierung nicht durch ein Verwaltungsorgan geleitet wird, sondern durch eine Organisation mit Unternehmensstatus.) Gleichzeitig ist die Privatisierung in den kleineren Staaten des Baltikums (Lettland geht den gleichen Weg wie Estland, jedoch viel langsamer, während sich Litauen eher an dem ukrainisch-weißrussischen Beispiel orientiert) aus meiner Sicht recht verzerrt: eine nachhaltige Privatisierung mithilfe ausländischer Investoren wird durch eine ausgedehnte unentgeltliche Kuponprivatisierung ergänzt, was keine echten Eigentümer auf dem Markt schafft. Tschechien hatte – nach der Entstehung der selbstständigen Slowakei – von den einstigen sozialistischen Ländern die beste wirtschaftliche Position inne. Die technisch versierte und qualifizierteste Führung der Region hat eine stark zentralisierte Privatisierungspolitik verwirklicht. Die tschechische Privatisierung war bislang die komplexeste: „kleine Privatisierung“ und Kuponprivatisierung, Tenderausschreibungen und direkte Privatisierung nach Verhandlungen sind gleichermaßen in Erscheinung getreten, die Privatisierung zugunsten der Arbeiter jedoch war minimal. Dem Ausland gegenüber wurde eine ziemlich einseitige Investitionspolitik betrieben, die deutsches Kapital in den Vordergrund stellte. Die wirtschaftlichen Erschütterungen des Jahres 1997 führen vermutlich zur Beschleunigung der Privatisierung. Polen verfügte durch die Reformen der 1970–80er Jahre über eine ähnlich gute Ausgangsposition wie Ungarn, die Kuponprivatisierung und die Privatisierung zugunsten der Arbeiter sind bedeutend. Eine Eigenheit der polnischen Privatisierung besteht darin, dass im Gegensatz zu Ungarn die ehemaligen kommunalen Betriebe fast vollständig die Gemeindeverwaltungen erhalten haben, wodurch die Privatisierung seitens der Selbstverwaltungen ein hohes Ausmaß annahm. Slowenien steht als kleiner Bruder Italiens und Österreichs ebenfalls gut da. Die eigenartigen, sich selbstverwaltenden Volksbetriebe in Jugoslawien mussten erst verstaatlicht werden, um privatisiert werden zu können, was jedoch den ganzen Prozess aufgehalten hat (dies war das grundlegende Problem der Teilstaaten Jugoslawiens zwischen 1989 und 1991). Die Privatisierung im eigentlichen Sinn begann 1992, im Wesentlichen mit der tschechischen gemischten Methode, doch der Privatisierung zugunsten der Arbeiter wurde aus traditionellen Gründen eine höhere Bedeutung zugemessen. Der privatisierte Teil betrug Anfang 1997 in Estland ca. 70 %, in Ungarn ca. 65 %, in Tschechien und Slowenien etwa 60 % und in Polen rund 55 %. Diesen fünf Ländern nähern sich – aber mit deutlich schlechteren Resultaten – das bereits erwähnte Lettland (estnische Methode), die Slowakei (gemeinsame Grundlagen mit Tschechien bei der Gesetzgebung und auf institutioneller Ebene, aber ein viel stärkerer Nationalismus sowie weniger ausländische Investitionen) und Kroatien (ähnliche Methoden wie in Slowenien, doch die Züge des Staatskapitalismus sind deutlich ausgeprägter).
Fazit
In den Ländern der Gruppe „2“ werden die Spuren der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung infolge staatskapitalistischer, halbwegs staatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen noch lange zu spüren sein. In der letzten Ländergruppe wird der Abschluss der Privatisierung dagegen die konsequente Anwendung moderner und vollwertiger marktwirtschaftlicher Lösungen ermöglichen. Auch in Ungarn müssen sich nach Beendigung der Privatisierung die Haltung des Staates und die Führungsstruktur grundlegend verändern. Das Überwiegen von Staatseigentum wird es nicht mehr geben, der Staat darf in der Wirtschaft nur eine behördlich-regelnde Funktion wahrnehmen. Der Staat muss für die Wirtschaft stabile Rahmenbedingungen schaffen und den Teilnehmern der Wirtschaft z.B. öffentliche Sicherheit und Rechtssicherheit gewährleisten. Angesichts der Dominanz des Privateigentums kann sich ein vollwertiger marktwirtschaftlicher Wettbewerb entfalten, der Staat kann konsequent gegen Monopole vorgehen. Die Chancen für eine strategische, langfristige Wirtschaftspolitik stehen somit gut.
Begegnungen10_Peykovska
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:233–239.
PENKA PEYKOVSKA
Hungarian-Bulgarian Relations in Education from 1880s until 1940s
There is a quite a large literature on the history of Hungarian-Bulgarian relations1 but hardly anything that concerns the field of education. Thus my paper is a first and sketchy attempt to reconstruct the Hungarian-Bulgarian relations in the field of education during a period of half a century. The subject is topical as far as it pertains to the modernization of Bulgaria in the last quarter of the 19th century. After the Russian-Turkish War of 1877–1878 the newly formed Bulgarian state suffered from lack of its own well-trained experts. Intellectuals from Germany, France, Russia, Austria-Hungary too, came to take part in the creation of the modern Bulgarian administration and culture. Therefore Bulgaria was open to foreign, including Hungarian, influence. That’s why this paper aims at examining the Hungarian role in the creation of the modern educational system in Bulgaria and the part of Hungarian universities in the training of Bulgarian experts in different fields of economy and culture. It follows another aspect as well, that is how trends in Hungary’s and Bulgaria’s political interests influenced the bilateral relations in the field of education.
The time from the 1880s to the 1940s encompasses two historically distinct periods, divided by World War I, which actually represented different political frameworks for the development of Hungarian-Bulgarian cultural relations. But these were essentially uniform in terms of tradition and continuity. Moreover a unifying feature of the whole period was the absence of a formal cultural agreement between the two countries;2 so, the realization of the bilateral relations to a large extent depended on the personal interests and initiative of outstanding Hungarian and Bulgarian intellectuals, public and political figures.
The period examined starts with the 1880s when Austria-Hungary began to implement her new policy of economic penetration in the Balkans. Within this trend of the Monarchy’s common foreign policy Hungary pursued its own goals in the Balkans. Being a direct neighbour of the Balkans, Hungary was considered to be a bridge between the West and East. But Hungary’s and the Balkan countries’ cultural knowledge of each other was regarded to play an important role in the realization of their commercial connections. It was achieved mainly by means of education.
The great interest on the Austro-Hungarian part towards education was determined by the Monarchy’s role in the creation of modern culture and in the training of Monarchy-oriented Bulgarian intellectuals. A number of Austro-Hungarian intellectuals, usually teachers, practiced their profession in Bulgaria, e.g. the first Bulgarian Minister of Education came from the Monarchy. He was the young historian of Czech origin, later distinguished Slav scholar, Konstantin Jirecek. In September 1881 he mentioned in his diary the emperor himself, Franz Josef’s interest in the situation at Bulgarian schools, expressed during his visit to the court. According to K. Jirecek one fourth of the teachers at the existing 12 secondary schools was from Austria-Hungary.3
At the same time young Bulgarians also got scholarships at schools and universities in Austria-Hungary. In fact this tendency began in the 1870s when they were already orientated towards schooling at Western universities. Thus with the help of the well-known and very influential Balkans traveller of Hungarian origin Felix Kanitz, the young Ivan Shishmanov, future Minister of Education (1903–1907), got such a scholarship in 1876 for studying in Vienna. In the 1880s the already old Felix Kanitz interceded with K. Jirecek and I. Shishmanov, at that time adviser at the Ministry of Education, for giving positions as teachers to Bulgarians who had finished their studies in Austria-Hungary.4
During the seven years of Stefan Stambolov’s administration (1887–1894) Austria-Hungary set up a number of joint-stock companies. Experts were needed for the effective work of these agencies. Benjamin Kállay, the best expert in the Balkans, was the first Hungarian politician who saw the necessity of educating the Monarchy’s diplomats in Balkan studies. In 1873 he wrote a report on the activity of Austria-Hungary’s Eastern delegations. According to him their efficiency was low since the diplomats were not acquainted enough with the traditions and history of the Eastern peoples. The superficial, sometimes even misleading information of their reports on the political situation in the region was dangerous for the Monarchy in making her Eastern policy. The Hungarian Royal Eastern Commercial Academy in Budapest (founded two decades later) was supposed not only to train Hungarian experts in economic and commercial relations with Eastern countries, but also to give them a good knowledge of these peoples’ languages, history and traditions. At the turn of 19th century it became a real center of Balkan studies.
During the twenty-five school-years before 1917, 685 regular students had graduated from the Academy as experts in Eastern commerce: most of them were Hungarians, but there were Jews, Germans, Romanians and Southern Slavs as well; among the latter there were some descendents of Bulgarian settlers in the Banat region, too.6
The educational program of the Hungarian Royal Eastern Commercial Academy included mainly economic disciplines and banking. Besides this there were several courses which gave common knowledge on traditions, culture, history and geography of the Balkan peoples. In addition Turkish, Modern Greek, Romanian, Serbian and Bulgarian languages were studied by the students’ own choice together with an obligatory Western language.
In fact from 1891 to the 1910s Hungary’s cultural activity concerning Bulgaria was realized through the work of the Eastern Commercial Academy in Budapest. It was expressed through one outlet, i.e. teaching of Bulgarian studies, which covered three general fields within the framework of Balkan studies. Bulgarian language was first taught by the Hungarian prime minister’s interpreter Sándor Popovics, and from 1894 in the course of two decades by the eminent Slavist Oszkár Asbóth. Bulgarian economic geography, included in the general course of Eastern commercial geography was taught by the excellent specialist in Bulgaria, the economist and folklorist Adolf Strausz. Bulgarian ethnography and history was taught by the famous orientalist Ignácz Kunós within the course „Ethnographical and historical knowledge of the East”.
In 1896 when I. Kunós was chosen as head of the Academy, some changes were made in the syllabus. The two courses concerning geography and humanities were joined under the name of „Ethnography and Geography of the East” taught by A. Strausz. Within it Bulgarian history was taught on the basis of K. Jirecek’s book „History of the Bulgarians”7 and F. Kanitz’s „Danubian Bulgaria and the Balkans”8. Another change was made in 1897 when the emphasis concentrated on the further development of export trade. New subjects were introduced, such as economic and trade policy, customs legislation and knowledge of goods, which covered Bulgaria as well.
The first Bulgarian grammar for Hungarians was published in 1893 in Budapest under the title „Bulgarian grammar for school and private usage”.9 Being published in German too,10 it was the first systematic Bulgarian grammar in Western Europe. A. Strausz and I. Dugovics wrote it to meet the needs of merchants and industrialists, and for the students of the Eastern Academy. The textbook was prepared with the cooperation of the Bulgarian government.11 I. Shishmanov was the person through whom A. Strausz asked Ivan Vazov, the „father of modern Bulgarian literature”, to write the introduction to his grammar, as well as for translations of Hungarian poems into Bulgarian to be used as examples in it.12 So, among the texts for reading practice we find Vazov’s translation of Pefőfi’s poem „The Mad Man”.
The practical part of the education at the Eastern Commercial Academy included school-excursions in the Balkan countries, organized every year. Their purpose was to make the students acquainted with the most important industrial and commercial centres of the East and with the culture of the Eastern peoples as well as to examine the economic situation in the Eastern countries.
The result of the Academy’s educational activity was reflected in the work of her twenty-six students, who after graduation, became employees of Bulgarian banks and trade offices as well as of Austro-Hungarian agencies in Bulgaria and thus personally took part in the creation of the modern Bulgarian financial and commercial structure.13
Besides the regular tuition, during the four years from 1897 to 1901 the Eastern Commercial Academy every year organized an evening Eastern language course. Its purpose was to help the Hungarian merchants and industrialists who were interested in Balkan trade. Bulgarian was included within this course. Representatives of such famous factory-owners’ families in Hungary as Weis and Rosenberg took part in it.
Bulgarian studies in the field of linguistics were taught at the P. Pázmány University within the framework of Slavistics. Bulgarian language, being a Slav one, was taught in the Russian course. In fact Old Bulgarian was studied and only occasionally Modern Bulgarian grammar. It was the Indo-European linguist Aurél Mayer who first began teaching the Old Bulgarian grammar in 1875–76. In 1880 Oszkár Asbóth taught it as a separate discipline under the name of Old Slav (later renamed Old Bulgarian)14 With regard to the teaching of Bulgarian language in Slavistics we should recognize that in the period until World War I it depended on the possibilities and vision of the scholar-expert in the field, who chiefly took care to train one or two disciples.
The first impulse for change in the teaching of Slavistics and, in its framework, of Bulgarian language as well, came in the 1910s as a result of changes in the character of Hungarian domestic and foreign policy. In the domestic aspect it was the quantitative development of the Hungarian educational system on a very large scale during the last decade of the Monarchy’s existence. In foreign policy it came with the Balkan war and with the new concepts of paying greater attention to the Southern Slavs (Bulgarians, Serbs and Croats). At that time Hungarian-Bulgarian relations concerned not only commerce, but had political aspects as well: In particular Austria- Hungary’s new Minister of Foreign Affairs, István Burián emphasized the necessity of opposing Serbia with a strong Bulgarian state as an ally.
At the end of 1912 Lajos Thallóczy, B. Kállay closest confidant and under-secretary of state, summed up in a memorandum Hungary’s cultural and economic intentions in the Balkans. It was a real programme, whose part about education envisaged the foundation of a Department for Balkan Studies at the P. Pázmány University in Budapest, obligatory study of Balkan languages at the local higher schools, education of Balkan youths at Hungarian commercial schools. Working on the memorandum Thallóczy consulted his confidants. Thus O. Asbóth’s student, the linguist János Melich proposed to L. Thallóczy to introduce at the universities the Study of Bulgarian and Serbo-Croatian language and literature.15 Next year young Kunó Klebelsberg, the later famous cultural politician, offered Thallóczy a broader program, including Byzantinology, Orthodox Church Slavonic, Turkology and Slavistics. His idea was to connect the introduction of the Southern Slav and Balkan studies with the emergence of the newly founded Debrecen University. He wanted it to become their centre by creating relevant departments. K. Klebelsberg envisaged the establishment of departments at Debrecen University in Byzantinology under the direction of the famous scholar in Ancient Roman studies Jenő Darkó; in Orthodox Church Slavonic with emphasis on the conversion of the Slavs to Christianity; in Ottoman History with regard to the history of the Turkish occupation in Hungary; in the history of the Southern Slavs and in Southern Slav linguistics. Thus it was supposed the Hungarian educational system would be more attractive to the Eastern youth, anyway the Hungarian language was isolated.16
The regular schooling of Bulgarians in Hungary began in 1916-1917, when „Bulgarian educational action” was successfully organized by the Hungarian Turan Society. It was connected with the still optimistic projects concerning the results of the war, the realization of Great Bulgaria and of a common Hungarian-Bulgarian border17 and the creation of the two countries’ economic community.18
Thus in 1916 the leader of Turan Society Pál Teleki and the intendant of the Hungarian State Theatres Miklós Bánffy visited Bulgaria in order to look into the possibility of negotiations for schooling of Bulgarian young people in Hungary.19 In May talks were carried on in Budapest between Hungarian and Bulgarian deputies and the two sides came to a common consent. So, in the school-year of 1917–1918 fourty Bulgarians studied mainly in Temesvár and in 1918–1919 – eighty-one in Szeged, Temesvár, Budapest and Csaktornya.20 In 1919 another twenty-two young Bulgarians arrived in Budapest, where they were admitted to the Medical and Philosophical Departments of P. Pázmány University as well as to the Polytechnics.
Actually Hungarian universities really attracted the Bulgarian young people’s attention in the interwar period and during World War II. Their preference for them was due to the increasing political intimacy of Hungary and Bulgaria, which after the Peace Treaties of Trianon and Neuilly tried to overcome the isolation from the neighbouring countries and to realize the revision of the Peace Treaties.21 In contrast to Bulgaria, which pursued a policy of non-commitment, Hungary, supported by Italy, openly declared her revisionist aims. During the whole interwar period Hungary tried to gain Bulgaria as a partner in her foreign policy. Evolution in Bulgaria’s behaviour towards Hungary was evident as well especially in the years before the outbreak of World War II when both countries already moved towards Germany. The political rapprochement of the two countries was accompanied by the extension of Hungarian cultural propaganda in Bulgaria and vice versa. It concerned also the popularization of the Hungarian universities whose reputation considerably increased after the reformation of the educational system in the 1920s, carried out by Minister Kunó Klebelsberg.
Between 1918 and 1944 about four hundred Bulgarian students visited Hungarian universities – mostly the Polytechnics, P. Pázmány University and the University of Physical Education, all in Budapest, but there were Bulgarians at the Erzsébet University in Pécs as well as at the I. Tisza University in Debrecen.22 The specialities mostly preferred by them were medicine, engineering, physical education, veterinary medicine, agronomy. The absence of polytechnic education in Bulgaria and the fact that the higher schooling of such specialities as medicine, agronomy, veterinary medicine, economics, music, fine arts was comparatively new for the Bulgarian educational system comes to explain the desire of Bulgarian young people to study abroad. Moreover, for instance, the Medicine Department of the P. Pázmány University was well-known for its world famous scholars in the Interwar period. When trying to answer the question why Bulgarians went to study a given speciality in Hungary we should not ignore the personal connections of some Hungarian intellectuals the Bulgarian Ministry of Education, who succeeded in creating a real tradition in accepting Bulgarian young people at certain universities. (Such is the case with the University of Physical Education and its professors.) In the spirit of traditions education was one of the three flieds23 which the Hungarian-Bulgarian Cultural Agreement of February 1941 covered. It envisaged the establishment of lectureships at the Budapest and the Sofia Universities and provision of two scholarships by each Ministry of Education.
Finally, trying to summarize the main tendencies in Hungarian-Bulgarian relations in education we should say that they touched the subject-matter of instruction and the student-potential. The subject-matter of instruction concerned the teaching of Bulgarian studies (language, ethnography, history, economics) within the framework of the regular tuition and of free training at Hungarian higher schools. With regard to student potential it found expression in the education of Bulgarian students in Hungary.
In the last quarter of the 19th century and in the first decade of the 20th century Hungary’s economic interests in the Balkans were reflected in her educational system by the establishment of a special higher school for Eastern commercial studies. It was a part of the process for modernizing the Hungarian educational system. The main tendency within Hungarian-Bulgarian relations in the field of education was the teaching of Bulgarian studies in Hungary. It came to answer the challenge of making Hungarians acquainted with the culture of the Balkan peoples including those of the Bulgarians. From the time of World War I onwards this tendency in Hungarian education concerning Bulgarians changed. In the interwar period Hungary paid greatest attention to educating Bulgarian students at Hungarian high schools. Returning home they brought with themselves new ideas and knowledge and by starting to practice their professions they enriched Bulgarian medicine, physical education, culture, industry, agriculture with Hungarian experience.
Notes
1
E. Palotás: Az Osztrák-Magyar Monarchia a berlini kongresszus után. 1878–1881. Budapest. 1982; M. Lalkov: Balkanskata politika na Avstro-Ungarija. 1914–1917. Sofija. 1983, Balgarija v balkanskata politika na Avstro-Ungarija. 1878–1903. Sofija. 1993; R. Mishev: Avstro-Ungarija i Balgarija. 1879–1894. Politicheski otnoshenija. Sofija. 1988; K. Gardev: Balgarija I Ungarija. 1923–1941. Sofija. 1988; I. Naidenova: Ungarskata hudozestvena literatura I vazpriemaneto I v Balgarija. Sofija. 1989.
2
The first Hungarian-Bulgarian cultural agreement was concluded on February 18, 1941.
3
K. Jirecek: Balgarski dnevnik. 30. X. 1878 – 26.X.1884. Sofija. 1930-1932. p. 15.
4
NABAN (Archives of the Bulgarian Academy of Sciences). F. 3. Op. 1. A. e. 660. p. 10, 12–14; F. 11. Op. 3. A.e. 659. p. 1, 5.
5
MOL (Hungarian National Archives). P 344. 44. cs. É. 4.
6
This data is taken from the annual statistics of the Academy, published in its issue „A Keleti Kereskedelmi Akadémia 1891.-ik évi jelentései”.
7
Published in 1876. Hungarian edition – „A bolgárok története”. Nagybecskerek. 1889.
8
F. Kanitz travelled in Bulgaria in 1869–1872 and published his impressions in the three volumes of „Donau-Bulgarien und der Balkan”, Leipzig, 1875-1879.
9
A. Strausz–I. Dugovich: Bolgár nyelvtan iskolai és magán használatra. A legújabb bolgár nyelvtanok alapján. Budapest. 1893.
10
A Strauss–I. Dugovics: Bulgarische Grammatik. Ein Handbuch zur Erlernung der Modernen Bulgarischen Schrift- und Verkehrsprache Wien-Leipzig. 1895. It was published in French too.
11
NABAN. F. 11. Op. 3. A.e. 1714. p. 1, 3.
12
NABAN. F. 11. Op. 3. A.e. 1713. p. 31, 38.
13
See: „A M. Kir. Keleti kereskedelmi akadémia szövetségi értesítõje”. 1908, N 3, p. 7–8; 1909, N 4–7, p. 8– 9.
14
I. Kniezsa: A magyar szlavisztika problémai és feladatai. – In: MTA I. osztályának közleményei. XII. Budapest, 1958. p. 69–90;P. Király: Patyat i rezultatite na balgaristikata v Ungaria. Sofia. 1988. p. 9–22.
15
OSZK. Levelestár. (Manuscript Section of the National Széchényi Library). F XI / 673. f. 5.
16
OSZK. Levelestár. F XI / 549. p. 5, 6.
17
Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. 1914-1918. Rd. M. Komjathy. Budapest. 1966, p. 447–448.
18
O. Faludi: Magyarország szerepe a magyar-bolgár gazdasági viszony kiépitésében.-In: A Temesvári Balkán Iroda kiadványai. Budapest. 1917. III; F. Fodor: Temesvár és Szeged földrajzi helyzete és balkáni hivatása.-In: Op. cit., IV.
19
Körösi Csoma Archivum. Budapest. 1940. Vol. III, N 1, p. II; Turán. 1917, N 6–7, p. 333.
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K. Gardev: Balgarija i Ungarija. 1923–1941. Sofija. 1988. p. 196–197.
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P. Pejkovska: Hungarian Universities and the Formation of the Bulgarian Intellectuals between 1918 and 1944. – In: Bulgarian Historical Review. 1998, N 3-4, p. 215-234.
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The other two were science and cultural propaganda.
Begegnungen10_Oplatka
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:113–126.
ANDREAS OPLATKA
„Bashing Switzerland”
Anmerkungen zu einer Kontroverse
Zu der Zeit, da der Verfasser dieser Zeilen über das Thema „Geldforderungen internationaler jüdischer Organisationen gegenüber der Schweiz und ihren Banken” im Budapester Europa-Institut einen Vortrag hielt, war der Gegenstand noch aktuell. Die Kontroverse ist seither mit einem Vergleich beigelegt worden, der die zwei Schweizer Großbanken 1,25 Milliarden Dollar teuer zu stehen kommt. Nachwehen des Konflikts, um den es sich in der Tat handelte, sind, zumal in der schweizerischen Öffentlichkeit, heute noch spürbar, doch die schnell wechselnde internationale Nachrichtenszene hat die damaligen Schlagzeilen schon längst gegen andere ausgetauscht.
Zum Fall gibt es in der Schweiz mittlerweile eine umfangreiche Literatur; in Wirklichkeit gab es sie schon lange zuvor, ohne dass das Ausland sie zur Kenntnis genommen hätte. Es kann hier mithin in keiner Weise darum gehen, Vollständigkeit anzustreben. Festgehalten werden im Folgenden lediglich einige Anmerkungen. Der Standort des Schreibenden bedarf dabei vielleicht einer vorangestellten, skeptisch-selbstkritischen Erläuterung. Es soll nicht verheimlicht werden, dass auf den hier folgenden Seiten die schweizerische Perspektive vorherrscht. Dies aus dem Bedürfnis, für einmal Argumente ins Feld zu führen, die in der mehrheitlich von amerikanischen Nachrichtenagenturen gefütterten Weltpresse kaum je Berücksichtigung fanden. So boten seinerzeit auch die ungarischen Medien ein völlig einseitiges Bild der Auseinandersetzung; sie übernahmen Tag für Tag die aus amerikanischen Quellen stammenden Meldungen, und kaum ein Journalist in Ungarn kam auf die Idee, sich in die – schließlich nicht so weit entfernte – Schweiz zu begeben, um sich auch über den dort bestehenden Standpunkt zu informieren.
Nun bin ich aber jemand, der, in Budapest geboren, als Halbwüchsiger in die Schweiz gekommen und dort aufgewachsen ist und der als sogenannter Wahlschweizer vermutlich von der Neigung nicht frei sein kann, seine zweite Heimat über Gebühr, mit einer kompensierenden Unbedingtheit zu verteidigen. Dem mag so sein. Vermerken kann ich dazu nur, dass ich mir bei meinen Wertungen dieser Gefahr zumindest bewusst bin. Und hinzufügen lässt sich immerhin, dass die Sicht des Zugezogenen vielleicht auch die eine oder andere Erkenntnis ermöglicht, die sich echten Einheimischen nicht sogleich erschließen.
Und damit zur Sache. Im wesentlichen handelte es sich um drei Punkte, in denen gegen die Schweiz Anklage erhoben wurde: Ihre Banken hätten sich das bei ihnen deponierte Geld von Opfern des Holocaust angeeignet; die Nationalbank sei eine Drehscheibe des von Nazideutschland getätigten Goldhandels gewesen und die Schweiz habe mit Deutschland Handel getrieben; und schließlich seien an der Schweizer Grenze Tausende jüdischer Flüchtlinge zurückgewiesen worden. Die Vorwürfe sollen hier in dieser Reihenfolge behandelt werden. Zum einen geht es mir dabei darum, gewisse Fakten in Erinnerung zu rufen, und zum anderen um den Versuch, die Fakten zu deuten und anhand der Beispiele auch danach zu fragen, inwiefern der Historiker späterer Generationen sich auf moralische Urteile einlassen soll und darf.
Die Banken also und ihre „schlafenden Konten”. Der Tatbestand an sich ist unbestritten: Vor dem Zweiten Weltkrieg in Schweizer Banken deponierte Guthaben etlicher europäischer Juden sind nie mehr abgeholt worden, falls der Eigentümer ein Opfer von Hitlers „Endlösung” geworden war. Nachkommen der Ermordeten, die auf die eine oder andere Art vom Vorhandensein des Geldes Kenntnis hatten, sind in den Nachkriegsjahren von den Banken abgewiesen worden, sofern sie nicht imstande waren, die genauen Nachweise über das Konto und über die eigene Verfügungs-Berechtigung vorzulegen. Dies war in vielen Fällen schon darum nicht möglich, weil die fraglichen Konto-Inhaber – zu einem großen Teil am Vorabend des Weltkriegs in Deutschland bereits bedrängte Juden, die ihr Vermögen auf diese Weise gegen die deutschen Devisenvorschriften ins Ausland retteten –, ihr Konto bei der Schweizer Bank aus naheliegenden Gründen nicht mit Namen und Adresse zeichneten, sondern lediglich eine Rubrik-Nummer oder ein Pseudonym wählten. Wurde der Inhaber von den Nazis umgebracht, so war die Bezeichnung eben niemandem mehr bekannt. Was beispielsweise hätten die Schweizer Banken mit einer Auskunft beginnen sollen – der Fall ist echt –, wenn sich der Neffe eines Ermordeten mit der Legitimierung meldete, sein Onkel habe in Auschwitz kurz vor seinem Tod einem Mithäftling anvertraut, dass er „Geld in der Schweiz” habe?
Sodann wäre auf einen Aspekt hinzuweisen, der außerhalb der Schweiz gewöhnlich nicht in Erwägung gezogen wird. Darauf nämlich, dass diejenigen, die in den dreißiger Jahren oder unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg noch imstande waren, Geldüberweisungen zu tätigen und ihr Vermögen oder Teile davon ins Ausland zu retten, die Schweiz nicht unbedingt als einen sicheren Hort ansehen konnten. Die heutige Vorstellung, die Schweiz habe den Weltkrieg unversehrt überlebt, folglich müsse sie den damaligen Europäern auch als eine Insel des immer währenden Friedens erschienen sein, ist eine typische unhistorische Rückprojizierung. Im Gegenteil, weder um die Schweiz noch in der Schweiz selber konnte man insbesondere in den Jahren 1939 bis 1943 voraussagen, dass das kleine Land den Krieg ohne Schaden und ohne deutsche Besetzung überstehen werde. In dieser Lage transferierten denn auch sehr viele Schweizer selber und gewiss ebenso viele europäische Juden ihr Geld weiter, in die Vereinigten Staaten. Die auf solche Weise nach Amerika gebrachten Guthaben mussten nach Kriegsschluss Fall für Fall mit Eigentümer-Nachweisen deblockiert werden, weil die amerikanischen Behörden sie – aus Angst, es könnte sich um Nazi-Fluchtgelder handeln – vom Sommer 1941 an mit Beschlag belegt hatten. Für zahlreiche solche aus der Schweiz nach Amerika transferierte Konten, die oft unter einem Kennwort als Sammelkonten mehreren Besitzern gehörten, meldeten sich nach dem Krieg keine Eigentümer mehr, weil sie nicht mehr am Leben waren. Die Guthaben fielen gemäß der amerikanischen Gesetzgebung nach zehn Jahren an den Staat. Was man jetzt, in den neunziger Jahren, in der Schweiz suchte, konnte auch in Amerika verschollen sein.
Die schweizerischen Behörden hatten die Banken bereits in den frühen sechziger Jahren zu einer Suche nach besitzlosen Geldern verpflichtet, und die Aktion wurde, diesmal mit breiteren Auflagen, nach dem heftigen Auftritt jüdischer Organisationen in Amerika in den neunziger Jahren wiederholt. Sie förderte in der Größenordnung 80 Millionen Franken zu Tage, eine beträchtliche Summe, doch wesentlich weniger als die mehreren Milliarden, von denen in den ersten Verdächtigungen die Rede gewesen war. Dazu kam – dies zeigte sich bei der Veröffentlichung von Namenslisten –, dass die schlafenden Konten nur zu einem kleineren Teil in einen Zusammenhang mit Opfern des Holocaust gebracht werden konnten. Von rund 6,8 Millionen Konten, die es in den Kriegsjahren auf Schweizer Banken gegeben hatte, wurden für 4,1 Millionen Belege gefunden, obwohl das schweizerische Gesetz die Banken zur Aufbewahrung ihrer Akten nur während zehn Jahren nach der Schließung der jeweiligen Konten verpflichtet. Rechnen wir die Ablösesumme, welche die zwei Großbanken – im Interesse der Erhaltung ihres Amerika-Geschäfts – schließlich auf sich nahmen, nicht auf, und lassen wir die in Hunderte von Millionen gehenden Kosten der unter Zwang unternommenen Suche beiseite. Und klammern wir ebenso den Streit aus, welcher der Frage gilt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die unter nicht mehr bekannten Umständen geschlossenen Konten mit Opfern des Holocaust in Zusammenhang gebracht werden können. Halten wir hingegen fest, dass der vom ehemaligen Vorsitzenden der US-Nationalbank Paul Volcker präsidierte internationale Ausschuss, dessen Kontrolle die Schweizer Finanzinstitute sich unterworfen hatten, Anfang 2000 in seinem Schlussbericht zum Ergebnis kam, die Schweizer Banken hätten Vermögenswerte von Holocaust-Opfern weder diskriminiert noch veruntreut, und ebenso wenig seien Akten systematisch vernichtet worden.
Worin also bestand trotzdem das – in der Schweiz selber allgemein zugegebene – Fehlverhalten der Banken? Man sprach auf schweizerischer Seite wohl von Erpressung. Man musste aber hinzufügen, dass eine solche Aktion nur gegen jemanden geführt werden kann, der eben erpressbar ist. Was also lieferte der anderen Seite den Grund oder Vorwand zu ihrer Vorgehensweise? Die summarische Antwort wäre die, dass die Banken das Problem der schlafenden Konten von Holocaust-Opfern zwar kannten, es aber zu ignorieren und die Lösung der Zeit anzuvertrauen suchten. Zur Antwort gehört sodann unbedingt der Hinweis auf den herzlos bürokratischen und leider oft überheblichen Ton, in dem subalterne Bankangestellte die Nachkommen von Opfern abwiesen.
Vielleicht eignet sich gerade ein krasses, vielzitiertes Beispiel zur Erklärung. Mitgliedern von Familien, die nach ihren Guthaben suchten, wurde an Bankschaltern wiederholt die Frage gestellt, ob sie mit einem Totenschein belegen könnten, dass der ursprüngliche Eigentümer des deponierten Geldes wirklich gestorben sei. Wir wissen: Die Mörder in Auschwitz stellten keine Totenscheine aus. Dieses Verhalten machte unendlich viel böses Blut und war zu einem guten Teil für die späteren Geschehnisse verantwortlich. Freilich, die Geldinstitute verteidigten das Bankgeheimnis, und sie wehrten sich gegen eine der meistgefürchteten Möglichkeiten: dagegen, dass jemand sich als Erbe vorstellt und unbefugt ein Guthaben abhebt – mit der Folge, dass später ein anderes Familienmitglied das Geld für sich beansprucht und wegen dessen anderweitiger Auszahlung gegen die Bank einen Prozess anstrengt. So schwer eine Lösung selbst aus heutiger Perspektive noch anmutet, die Banken ließen es jedenfalls an Phantasie fehlen, suchten nach keiner umfassenden Regelung der Frage und keinem Gesprächspartner auf Seiten der jüdischen Gemeinschaften, sondern verhielten sich passiv und handelten, wie sie sich guten Gewissens sagten, strikt nach dem Gesetz.
Doch diese Gesetze, auf die sich gewissenhafte Beamte zu ihrer eigenen Entlastung beriefen, stammten aus einer Zeit, in der sich niemand hatte vorstellen können, dass eine bedeutende Gruppe der Bankkunden einem Massenmord zum Opfer fällt. Mit derartigem hatte keine friedliche Legislation gerechnet, und die Direktionen der Schweizer Banken begriffen offensichtlich nicht, dass sie am 8. Mai 1945 nicht dort weitermachen konnten und nicht mehr in der gleichen Welt lebten, die bis zum 1. September 1939 bestanden hatte. Es gehört nun einmal tatsächlich zu einer friedlichen bürgerlichen Normalität, dass bei einem Todesfall ein Arzt einen Totenschein ausstellt, der sich am Bankschalter vorlegen lässt. Doch in einem Europa, in dem in Vernichtungslagern Millionen ermordet worden waren, kehrte die einstige friedliche Normalität auch nach dem Frühjahr 1945 nicht mehr wieder. Die Banken verkannten die Tragödie des europäischen Judentums und nahmen nicht zur Kenntnis, dass die außerordentliche historische Situation auch von ihnen selber eine außerordentliche Handlungsweise verlangt hätte. Dafür war jetzt, Jahrzehnte später, ein hoher Preis zu bezahlen.
Bleibt die Frage: Warum? Den Ansatz einer Erklärung gibt, wie mir scheint, der grosse Schweizer Germanist Karl Schmid in seinem bereits in den fünfziger Jahren erschienenen Aufsatz „Versuch über die schweizerische Nationalität”. Schmid spricht darin von der „Schicksalslosigkeit” der Schweiz, und nennt als Gegenbeispiele vergleichbar kleine Länder wie Finnland und Ungarn, die am Weltgeschehen auf eine tragische Weise Anteil hatten. Dass die Schweiz außerhalb des internationalen Geschehens stehen durfte und dessen zerstörerische Wirkung nicht erlitt, verdankt sie ihrer geschickt angewandten Neutralitätspolitik. Sie bescherte dem Land Sicherheit und Wohlstand, doch auch eine Abgeschlossenheit und – als Wirkung der spezifischen, eigenen Geschichte – einen mangelnden Sinn für all die Dramen, die sich außerhalb der Landesgrenzen abspielten. Der Befund ist heute, inmitten eines Überangebots an Kommunikation, vermutlich nicht mehr voll gültig. Vor einem halben Jahrhundert, am Ende des letzten Weltkriegs, mochte er es aber sein und war als Phänomen vermutlich verantwortlich für die Verhaltensweise der Banken.
Der zweite Anklagepunkt betraf den Goldhandel und den Warenaustausch mit dem Dritten Reich allgemein. Zu der Gold-Frage liegt mittlerweile der im Mai 1998 publizierte Bericht der Unabhängigen Expertenkommission vor, einer von der Schweizer Regierung eingesetzten Gruppe von einheimischen und ausländischen Historikern. Ihnen war als Reaktion auf die Angriffe gegen die Schweiz die Aufgabe anvertraut worden, über die umstrittenen Kapitel der Schweizergeschichte in den Jahren des Zweiten Weltkriegs Nachforschungen anzustellen und deren Ergebnisse zu publizieren. In der Kommission fanden zu einem Teil Wissenschaftler Platz, die – und dies gilt auch für die Einheimischen unter ihnen – der Schweiz und ihrem bisher überwiegend geltenden Geschichtsbild in keiner Weise wohlgesinnt sind. Die Schaffung der Expertengruppe stieß denn auch in der Schweiz nicht unbedingt nur auf Zustimmung. Manche fragten sich laut, ob es sinnvoll sei, auf eine feindliche Kampagne von außen so zu reagieren, dass man Experten einsetzt und selber teuer bezahlt, damit sie Material für die Gegner zu Tage fördern. Die schweizerische Öffentlichkeit akzeptierte indessen mehrheitlich die Kommission, und sie bestätigte damit eine landestypische Eigenschaft: den Willen, eine Hausaufgabe, sofern man sie übernommen hat, gründlich und genau zu erledigen. Mittlerweile liegt auch der Bericht der von Professor Jean-François Bergier präsidierten Gruppe über die Behandlung der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg vor. Darüber wird hier unter Punkt drei näher zu berichten sein.
Der Goldbericht der Kommission bestätigte im wesentlichen bereits bekannte Tatsachen, so auch im Bereich des Goldhandels, der in den Kriegsjahren zwischen Deutschland und der Schweiz getätigt wurde. Das Kapitel erschien auf dem Höhepunkt der gegen die Schweiz geführten Angriffe in der Weltpresse regelmäßig unter der Schlagzeilen-Formulierung „Raubgold”, und die Meinung setzte sich fest, die Schweizer Geldinstitute, insbesondere die Nationalbank, hätten als Komplizen des NS-Staats das von den Nazis den Juden geraubte Gold übernommen. Das Hitler-Regime, so las man nicht selten, habe das so erbeutete Gold „in die Schweiz gerettet”, oder es hieß summarisch, das Gold sei „in die Schweiz geschafft worden”.
Demgegenüber wäre vor allen Dingen einmal festzuhalten, dass die Schweizer Nationalbank – und zu einem wesentlich kleineren Anteil die Geschäftsbanken – das fragliche Gold von den Deutschen für Schweizerfranken gekauft haben. Hinzuweisen ist sodann darauf, dass sich der Ausdruck „Raubgold” in erster Linie auf Gold bezog, welches die Deutschen sich in den Nationalbanken besetzter Staaten angeeignet hatten, und nicht auf konfiszierte jüdische Guthaben oder sogenanntes Opfergold, das von den NS-Schergen in den Todeslagern eingesammelt worden war.
In geraffter, vereinfachter Form die Fakten: Das Deutsche Reich lieferte in die Schweiz für 1,6 bis 1,7 Milliarden Franken Gold an die Schweizer Nationalbank, wovon diese einen Teil im Wert von 1,2 Milliarden Franken kaufte. Der Rest diente dem Handel der Reichsbank mit anderen Zentralbanken und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Man war sich in der Eidgenossenschaft allerdings bald darüber im Klaren, dass die von Berlin verkaufte Goldmenge schon früh jene Bestände überschritt, über welche Deutschland vor Kriegsbeginn verfügt hatte. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Es musste sich um kriminell beschafftes Gold handeln. Die Leiter der Schweizer Nationalbank gaben sich dennoch mit beruhigenden Erklärungen ihrer deutschen Kollegen zufrieden – dies trotz Warnungen der Alliierten, die namentlich gegen Kriegsende darauf hinwiesen, sie würden nach dem Friedensschluss die Korrektur der fraglichen Transaktionen verlangen. Man kann der Berner Nationalbank in diesem Sinne zwar nicht den Vorwurf des Raubs, wohl aber den der Hehlerei machen.
Demgegenüber ist die Anklage wegen bewusster Bereicherung an geraubtem jüdischem Vermögen nicht haltbar. Die Bergier-Kommission bestätigte die früheren Feststellungen, wonach nur ein ganz geringer Teil der deutschen Lieferungen Gold solcher Herkunft enthielt, nämlich im Wert von rund 580 000 Franken. Ebenso stellte die Historiker-Gruppe in ihrem Bericht fest, es gebe keinerlei Hinweise, wonach die Verantwortlichen der Schweizer Nationalbank davon Kenntnis hatten, dass Barren mit solchem Gold von der Reichsbank geliefert worden waren. Bei diesem Punkt drängt sich aus menschlicher wie geschichtswissenschaftlicher Perspektive eine Bemerkung auf. Die Schrecken der von den Nazis betriebenen Vernichtungslager sind der Welt in ihrer vollen Wirklichkeit im Frühjahr 1945 bekannt geworden, und unsere Einbildungskraft versagt selbst heute noch – trotz allem gesicherten historischen Wissen –, wenn es darum geht, das Ausmaß der dort begangenen Verbrechen zu ermessen. Wie nun hätten biedere Schweizer Bankbeamte während des Kriegs auf den Gedanken kommen sollen, dass deutsche KZ-Wächter in Vernichtungslagern damit beschäftigt waren, Häftlingen die Eheringe vom Finger zu reißen, und dass Zahnärzte (die einst einen Eid des Hippokrates geleistet hatten), sich in Auschwitz täglich der Aufgabe unterzogen, die Goldkronen aus den Kiefern der umgebrachten Opfer herauszubrechen. Und dass Nazi-Deutschland da eine industrielle Ausbeutung der geschändeten menschlichen Leiber betrieb. Dergleichen hatte damals in der Vorstellung einfach keinen Platz. Wir nun, die es Jahrzehnte später besser wissen, manchmal aber selbst heute noch kaum an derartige Grausamkeiten glauben können, wir sollten uns davor hüten, unsere Kenntnisse in jene Zeit zurückzuprojizieren und damalige Menschen nach diesem Maßstab zu beurteilen.
Doch warum handelten die Verantwortlichen der Schweizer Nationalbank auf die beschriebene Weise? Gewinnsucht, die ihnen in der Kampagne der neunziger Jahre heftig vorgehalten wurde, war kaum im Spiel, denn der Goldhandel mit Drittländern warf, gemessen an seinem Gesamtvolumen, mit rund 18 Millionen Franken einen unbeträchtlichen Gewinn ab. Hingegen war das Edelmetall wegen des in der Schweiz aufrechterhaltenen Goldstandards entscheidend für die Stabilität der Währung, ihm kam im internationalen Zahlungsverkehr wegen der im Krieg eingeschränkten Haltbarkeit der Devisen eine erstrangige Funktion zu, und es diente zur Inflationsbekämpfung, indem sich durch Goldverkauf die Geldmenge reduzieren ließ. Die Schweiz hielt während des Kriegs an der freien Konvertibilität des Frankens fest, und die Schweizer Währung, mit der sich in der ganzen Welt einkaufen ließ, war aus diesem Grund für die Kriegswirtschaft beider Seiten von Interesse. Auch die Alliierten brauchten Schweizerfranken. Allein in den Vereinigten Staaten kaufte die Schweiz Goldbarren für 2,2 Milliarden Franken, in größerer Menge also als von Deutschland.
Die Nationalbank verteidigte somit den Schweizer Finanz- und Werkplatz, suchte das Gleichgewicht der inländischen (Kriegs)-Wirtschaft zu erhalten und auch die Aufwertung der im Ausland begehrten Schweizer Währung zu verhindern. Sie betrieb nicht gerade „business as usual”, denn die äußeren Umstände waren nicht gewöhnlich. Aber sie konzentrierte sich voll auf die Erfordernisse im Inland und nahm deshalb, namentlich gegen das Ende des Kriegs, die Warnungen der Alliierten nicht zu ihrem vollen Nennwert. Die Schweiz und ihre Nationalbank wurden von den Westalliierten nach dem Krieg insofern zur Kasse gebeten, als ihnen nach zähen Verhandlungen in Washington schließlich ein Vertrag auferlegt wurde, demgemäß die schweizerische Seite den Siegermächten Gold im Wert von 250 Millionen Franken übergab. In der Schweiz empfand man diesen auferlegten Zwang mehrheitlich als bitter, trifft es doch, wie schon erwähnt, tatsächlich zu, dass die Nationalbank das fragliche Gold seinerzeit gekauft hatte. Die Alliierten ihrerseits machten dagegen geltend, dass die übergebene Menge nur einen Teil des in die Schweiz gebrachten Raubgoldes ausmachte. Sie begnügten sich aber mit der in Washington ausgehandelten Menge und gestanden im Vertrag zu, dass hernach jeder weitere Anspruch der Schweiz gegenüber hinfällig werde. Es war der jüngsten Kampagne gegen die Schweiz vorbehalten, die Forderung nach Neuverhandlung des Washingtoner Abkommens aufzuwärmen. Dazu kam es schließlich doch nicht. In der Schweiz wies man mit Recht darauf hin, dass ein solcher Schritt – abermalige Verhandlungen über einen seinerzeit von allen Seiten ratifizierten Vertrag unter Druck der stärkeren Macht, und dies ein halbes Jahrhundert später – sich im internationalen Leben unheilvoll destabilisierend auswirken müsste und dass die Verlierer bei einer solchen Entwicklung stets die Kleinstaaten wären.
Ein Argument wog in der Gold-Debatte auf Seiten der Schweiz schwer: Der Goldhandel mit Deutschland hätte möglicherweise nicht den beschriebenen Umfang erreicht, wenn die aus Sicherheitsgründen nach Amerika überführten Schweizer Goldreserven von den USA im Sommer 1941 nicht ebenso mit Sperre belegt worden wären wie alle anderen europäischen Guthaben. Die Schweizer Nationalbank suchte ihr Vorgehen während des Kriegs später auch mit dem Hinweis zu rechtfertigen, die Wichtigkeit des Goldhandels für Deutschland habe eine Sicherheitsgarantie bedeutet und so zum Schutz der Schweiz vor einem deutschen Angriff beigetragen. Das Argument erscheint allerdings eher als eine nachträgliche, aus der Retrospektive gemachte Aussage. Namentlich in der Schlussphase des Kriegs, wo sich das Festhalten am Goldhandel angesichts der Warnungen der Westmächte nicht mehr plausibel erklären ließ, blieb die Spitze der Nationalbank bei ihrer wohl engen Optik, die praktisch ausschließlich von inländischen Bedürfnissen und Überlegungen bestimmt war. Das Phänomen ist ähnlicher Art wie unter dem ersten Punkt dargelegt: fehlende Weitsicht und Kombinationsgabe, mangelndes Reaktions- und Improvisationsvermögen, wenn es gilt, die veränderte Weltlage wahrzunehmen und sich danach zu richten.
Grundsätzlich anders verhält es sich dagegen im Falle des Warenaustausches mit dem Dritten Reich. Dass sie mit dem NS-Staat Handel getrieben habe, dies konnte und kann der Schweiz nur Ignoranz oder böser Wille zum Vorwurf machen. Geschehen ist dies in der jüngsten Kampagne dennoch auf massive Art, so auch in der Form der wiederholten Anklage, die Schweiz als Handelspartnerin Deutschlands habe „den Krieg verlängert”.
In Tat und Wahrheit führte die Schweiz nach Kriegsbeginn Handel mit beiden Seiten, wobei die Ausfuhren an die Westalliierten bedeutender waren. Internationales Recht schreibt dem Neutralen vor, bei bewaffneten Konflikten, soweit möglich, den Warenaustausch mit allen Ländern im gewohnten Maß fortzusetzen. Die Lage in Europa und für die Schweiz veränderte sich jedoch im Sommer 1940 radikal. Nach dem Fall von Paris befand sich die kleine Alpenrepublik plötzlich in einem Ring, den Hitlers Großdeutschland, das faschistische Italien und das besetzte Frankreich bildeten. Die Schweiz war aber weder an Lebensmitteln noch an Energieträgern je selbstversorgend gewesen. Durch die Abschnürung der Verbindung zum Hafen von Genua oder durch die Sperrung des Rheins hätten es nun Deutschland und Italien jederzeit in der Hand gehabt, die Schweiz in einigen wenigen Monaten aufs Knie zu zwingen. Dass die NS-Führung die Schweiz als „germanischen Boden” betrachtete, ihre Demokratie hasste und entschlossen war, auch das kleine Land „heim ins Reich” zu holen, darüber gab es keinerlei Zweifel. „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das holen wir am Rückweg ein”, so lautete in Deutschland das gereimte Programm. Wenn die Schweiz überleben wollte, musste sie mit Deutschland Handel treiben.
Die Schweiz wollte aber überleben, und sie wollte auch ihre Freiheit und Demokratie verteidigen. Die jüngsten, aus Amerika gegen die Schweiz lancierten Angriffe muteten gerade darum besonders grotesk an und erweckten so viel Bitterkeit, weil sie sich gegen ein Land richteten, das in den Kriegsjahren zutiefst entschlossen war, sich gegen Nazi-Deutschland notfalls auch militärisch bis aufs äußerste zu wehren.
Tatsächlich war die Schweiz in jenen Jahren imstande und willens, bei einer Bedrohung durch die Wehrmacht in wenigen Tagen 800 000 Mann ihrer Milizarmee zu mobilisieren. Dies hinderte jetzt eine amerikanische Senatorin jedoch nicht daran, vorwurfsvoll festzustellen, die Schweiz habe im Krieg nicht einmal über eigene Streitkräfte verfügt. Historische und selbst geographische Ignoranz – mancher amerikanische Politiker verwechselte „Sweden” und „Switzerland” – bezichtigte die Schweiz der Komplizität mit Hitler, ohne auch nur zu ahnen, dass es in der Schweiz während der Kriegszeit bloß eine winzige Partei von Nazi-Sympathisanten gab, die keine Vertreter ins Parlament zu entsenden vermochte. Das Führer- und Einheitsprinzip, das Hitlerdeutschland verkörperte, widersprach aufs gründlichste der schweizerischen Staatsauffassung, deren maßgebende Elemente direkte Demokratie, Mehrsprachigkeit, starke lokale Autonomie, eine schwache Zentralmacht, Toleranz sowie Kompromisswille heißen.
Kein Zweifel, die wegen der amerikanischen Angriffe geführte Debatte brachte der schweizerischen Bevölkerung eine unbestreitbare Tatsache ins Bewusstsein, die in den Jahrzehnten zuvor im Zuge der Bildung einer nationalen Legende verdrängt worden war. Man nahm nun wieder zur Kenntnis, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht nur dank glücklichen Umständen und der abschreckenden Macht ihrer Armee verschont geblieben war, sondern vor allem auch als das Ergebnis einer geschickten Handelspolitik, die man hatte führen müssen, die sich aber – anders als die Einsatz- und Opferbereitschaft der Armee – bestimmt nicht heldenhaft nennen ließ. Notwendig war der Handel auf der einen Seite, wie schon ausgeführt, zum materiellen Überleben der Schweiz. Er bedeutete aber auch für die deutsche Seite eine wichtige Quelle für gewisse kriegsnotwendige Produkte, so namentlich im waffentechnischen Bereich der Zünder, sodann beim Import von Werkzeugmaschinen und von elektrischem Strom.
Hat sich die Schweiz am Handel bereichert, wie in der jüngsten Debatte anklagend behauptet wurde? Einzelnen brachte der Warenaustausch mit dem Dritten Reich zweifellos Gewinne ein. Das Land selber wies am Ende des Kriegs allerdings eine deutlich gesunkene Rate des pro Kopf berechneten Nationalprodukts auf. Wichtig war aber der Handel neben dem eigenen physischen Überleben und der Vermeidung der Arbeitslosigkeit vor allem darum, weil er eine Sicherheitsgarantie bedeutete. So unberechenbar sich die deutschen Reaktionen auch ausnahmen, auf schweizerischer Seite musste man doch annehmen, dass es bei Fortsetzung des Handels doch eher im Interesse des großen nördlichen Nachbarn lag, die Schweiz nicht anzutasten, statt es auf einen zerstörerischen Besetzungskrieg ankommen zu lassen. Mit anderen Worten: Der Warenaustausch war eines der Mittel, mit denen die Eidgenossenschaft die gefährlichen Zeiten heil zu überstehen suchte.
Hat die Schweiz auf solche Weise den Krieg verlängert, wie ihr jetzt, ein halbes Jahrhundert später, mit ausgestrecktem Zeigefinger vorgehalten wurde? Materiell ist dazu zu sagen, dass die schweizerischen Lieferungen an das Reich ungefähr ein Prozent von dessen eigenen industriellen Leistungen ausmachten. Zu antworten wäre aber vor allen Dingen, dass es unstatthaft und aus heutiger Sicht unhistorisch ist, in Abrede zu stellen, dass in den grausamen Wirren des Zweiten Weltkriegs der Schweiz ebenso wie allen anderen Staaten das Recht zukam, zuerst für das eigene Überleben zu kämpfen. Die Neutralität war nie ein Ziel an sich, sondern ein Mittel zur Sicherung der kleinstaatlichen Existenz. Der propagandistische Vorwurf in der jüngsten unschönen Auseinandersetzung, die Schweiz habe zwischen 1939 und 1945 im Ringen zwischen dem Guten und dem Bösen die Neutralität gewählt, verkennt vollkommen, dass die Schweiz inmitten des vom NS-Staat beherrschten Europa doch bis zuletzt eine Demokratie geblieben ist.
Seltsam wirkte eine vom amerikanischen stellvertretenden Staatssekretär Stuart Eizenstat abgegebene Meinung. Die Schweiz, so befand er gut fünfzig Jahre nach den Ereignissen, hätte nach der Schlacht bei Stalingrad – sprich: Anfang 1943 – alle Handelskontakte mit Deutschland abbrechen sollen. Eizenstat forderte damit von den damaligen Akteuren der Geschichte, in diesem Fall von den Mitgliedern der Schweizer Regierung, nichts anderes, als dass sie auf der Grundlage unseres heutigen Kenntnisstands hätten handeln sollen. Wie stark oder schwach Deutschland zu dem Zeitpunkt war, zu welcher Aggressivität es sich gegenüber dem kleinen Nachbarn gegebenenfalls würde hinreißen lassen, dies konnten die Schweizer Politiker, die inmitten der damaligen Ereignisse unverzügliche Entscheide fällen mussten, nach menschlichem Ermessen nicht mit Bestimmtheit berechnen. Ganz abgesehen davon, dass die Kraft der Wehrmacht selbst im März 1944 noch dazu ausreichte, beispielsweise Ungarn zu besetzen. Churchill, nach der Jalta-Konferenz wegen Polens Preisgabe von Gewissensnöten geplagt, schrieb in seinen Memoiren, die Westmächte hätten auf die Allianz mit der Sowjetunion nicht verzichten können zu einer Zeit, da Deutschland immer noch zwischen zwei- und dreihundert kämpfende Divisionen an der Front hatte. Diese Einschätzung kam nun nicht aus dem Munde eines Schweizers, der mit der begrenzten militärischen Macht eines Kleinstaates rechnen musste, sondern stammte vom Premierminister eines Landes, das über ein Weltreich gebot; und sie bezog sich nicht auf Anfang 1943, sondern auf das Frühjahr 1945.
Doch es gab an Pauschalvorwürfen noch Schlimmeres. Eizenstat, der mit seinen undifferenzierten Äußerungen in der Schweiz besonders bittere Gefühle weckte, bezeichnete ganz generell Neutralität im Zweiten Weltkrieg als „unmoralisch”. Der amerikanische Politiker meinte selbstredend nicht das Verhalten der Vereinigten Staaten zwischen September 1939 und Dezember 1941, sondern den Status der Schweiz. Wie sich aber die Eidgenossenschaft ein Leumundszeugnis hätte beschaffen sollen – etwa mit einer Kriegserklärung an Hitler oder mit ähnlichem Schicksal, wie es die Niederlande, ihre Bevölkerung und die holländischen Juden erlitten haben –, darüber schwieg sich Eizenstat aus.
Ebenso ersparte er sich Gedanken darüber, wer etwa im Frühjahr 1943 der Schweiz im Falle eines Kräftemessens mit Deutschland Beistand geleistet hätte. Angesichts der damaligen militärischen Lage auf dem europäischen Kontinent lässt sich die Antwort allerdings mit weitgehender Sicherheit geben: niemand. Wären nun die Herausforderung Hitlers, ein Krieg auf Schweizer Boden und die anschließende deutsche Besetzung der Schweiz die „richtige” Lösung gewesen? Hätte man die in einem solchen Fall unweigerlich folgende, diesmal nun wirklich vollständige Einfügung der schweizerischen Industrien in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft sowie die zweifellos unvermeidliche Deportierung und Ermordung der Schweizer Juden und der im Land aufgenommenen jüdischen Flüchtlinge hinnehmen sollen? Wäre das wirklich „moralischer” gewesen?
Es bleibt in dieser Aufzählung noch der dritte Punkt, die Behandlung der Flüchtlinge, und auch über dieses Thema liegt mittlerweile der Bericht der Bergier-Kommission vor. Er förderte, um dies vorwegzunehmen, in der Hauptsache kaum Neues zu Tage, kaum etwas, das in der zuvor während Jahrzehnten schon geführten schweizerischen Debatte nicht bekannt gewesen wäre. Die Experten kamen zum Schluss, dass die Schweiz während der Kriegsjahre rund 21 000 verfolgte Juden aufnahm und in der Größenordnung einer ähnlichen Anzahl die Einreise ins Land verweigerte. Die Feststellung, dass mehr verfolgte Leben hätten gerettet werden können, ist unbestreitbar, und besonders beschämend sind jene Fälle – auch sie sind im vorliegenden Bericht nicht zum ersten Mal dokumentiert –, bei denen die Schweizer Behörden jüdische Flüchtlinge, die bereits schweizerisches Gebiet erreicht hatten, aus dem Land schafften, praktisch den Nazis auslieferten und in den sicheren Tod zurückschickten. Dass Kenntnis der tödlichen Judenverfolgungen im europäischen Osten und später Informationen über die Todeslager der Schweizer Regierung vorlagen, ist ebenso erwiesen. Nicht zu leugnen, dass für diese Handlungsweise bei einzelnen höheren Beamten und Vollzugsorganen auch antisemitische Motive mit maßgebend waren.
Im Gegensatz zum Bericht über den Goldhandel begegnete indessen die Publikation der Unabhängigen Expertenkommission über die Flüchtlingsfrage verbreiteter Kritik. Beanstandet wurde namentlich die Methode, das Gesamtbild mit Vorliebe anhand von Einzelschicksalen zu entwerfen, ferner der Verzicht darauf, das schicksalsschwere Thema nicht isoliert, sondern im damaligen internationalen Kontext darzustellen. Gemeint war mit letzterem der ausgebliebene Vergleich mit der Flüchtlingspolitik anderer Länder. Als unannehmbare, apodiktische Aussage erschien sodann vielen der Befund der Kommission, wonach keine Hinweise gefunden wurden, die wahrscheinlich machten, dass die Schweiz bei einer großzügigeren Öffnung ihrer Grenzen mit einer erhöhten militärischen Gefährdung durch das Deutsche Reich hätte rechnen müssen.
Halten wir diese letzte Aussage fest. „Keine Hinweise” bedeutet doch selbst aus heutiger Optik nicht so viel, dass die Möglichkeit der Gefährdung völlig ausgeschlossen werden darf. Doch die „richtige” Frage, so man die damaligen schweizerischen Staatsmänner gerecht beurteilen will, stellt sich ja nicht danach, ob Berlin als Reaktion auf die schweizerische Flüchtlingspolitik tatsächlich militärische Retorsionen erwog oder womöglich auch vorbereite. Gefragt werden müsste vielmehr nach dem Kenntnisstand, auf dessen Grundlage die Schweizer Behörden in Bern ihre Entscheide fällten. Und da ist die Einsicht naheliegend: Die Schweizer Regierung kam um die Überlegung nicht herum, dass die bedingungslose Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in den Augen der NS-Führung als Provokation gewirkt und für die Schweiz möglicherweise schwerwiegende Folgen gezeitigt hätte.
Das Maß zwischen „großzügiger” und „unbegrenzter” Flüchtlings-Aufnahme zu finden, bedeutete eine schwere Gratwanderung, zumal die Entscheide auf einer unsicheren Informationsgrundlage jeweils mit kurzer Frist zu fällen waren. Hinzu kam, dass die oft irrationalen Reaktionen von Deutschlands „Führer” unberechenbar waren. Und so schwankten die Schweizer Behörden jener Jahre zwischen humanitärer Verpflichtung und Realpolitik hin und her. Keine sehr heroische, aber auch keine unverständliche Haltung.
Wenn heute (überaus seltene) amerikanische Selbstkritik daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten damals weniger jüdische Flüchtlinge aufnahmen als die Schweiz, dass auch die USA um Einlass nachsuchende Juden nach Europa zurückschickten und dass es darum nicht angebracht sei, jetzt entrüstet gegen das kleine Alpenland zu wettern, so nimmt man derartige Äußerungen auf schweizerischer Seite mit Genugtuung zur Kenntnis. Doch die Parallele ist falsch. Für die Vereinigten Staaten, eine Großmacht, von Hitler-Deutschland durch den Atlantik getrennt, war der Entscheid über Aufnahme oder Abweisung frei von allen sicherheitspolitischen Überlegungen. In der Schweiz dagegen, einem bedrohten Kleinstaat in unmittelbarer Nachbarschaft des Dritten Reichs, konnte man es sich bei der Behandlung der Flüchtlinge nicht leisten, auf die Einschätzung sicherheitspolitischer Risiken zu verzichten.
Und damit wären zuletzt einige Worte fällig über den Unterschied der politischen und der historischen Betrachtungsweise. Die gegen die Schweiz geführte Kampagne – „Bashing Switzerland”, wie sie im englischen Jargon offen hieß – war politischer und wirtschaftspolitischer Art. Dies nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach. In der Sache ging es um Geld, um sehr viel Geld. In der Präsentierung aber verlangte man von der Schweiz eine (wie auch immer geartete) „Aufarbeitung” der eigenen Vergangenheit. Doch wurde dabei Geschichte instrumentalisiert und in den Dienst der Anklage gestellt. Dazu war auch Geschichtsklitterung gut genug. Ein Beispiel und einen Höhepunkt des propagandistischen Feldzugs stellte etwa die Behauptung des Fernsehens der BBC dar, die Schweiz habe während des Kriegs mit Wissen ihrer Regierung ihr Eisenbahnnetz für Deportationen aus Italien zur Verfügung gestellt. Die BBC verkaufte ihren verleumderischen Film an zahlreiche ausländische TV-Anstalten, fand sich aber zu keiner Korrektur, geschweige denn zu einer Entschuldigung bereit, als das Jüdische Dokumentationszentrum in Mailand kategorisch erklärte, Deportationen über Schweizer Gebiet hätten niemals stattgefunden. Auch der Bergier-Bericht fand, wie es darin heißt, keine entsprechenden Hinweise.
Das Beispiel führt zur abschließenden Frage nach dem Umgang mit der Moral. Dazu ist – sine ira et studio – dies festzuhalten: Es ist überaus fragwürdig, wenn spätere Generationen mit den Vorfahren allein im Namen der Moral historisch ins Gericht gehen. Es gibt eben mehrere Arten der Moralbetrachtung und der moralischen Handlungsweise. Berufen kann man sich auf eine absolut gefasste Ethik, vor deren unbedingten Kriterien freilich kaum jemand zu bestehen vermag. Sie gerade wurde in dem geschilderten Streit – im Namen der Humanität, der Gerechtigkeit und der mitmenschlichen Verpflichtung zur Hilfe – gegen die Schweizer Behörden der Kriegszeit gekehrt. Unter Bemühung so hehrer Ideale ist man heute mit der Schweiz von gestern ins Gericht gegangen und hat sie schuldiggesprochen.
Nun kennt man aber auch eine Verantwortungsethik. Mit ihrer Beachtung fängt Geschichtsbetrachtung erst an. Sie führt im vorliegenden Fall zu einigen hart tönenden, deswegen aber nicht minder wahren Schlüssen. So zu der Feststellung, dass die Schweizer Staatsmänner der Kriegsjahre einen demokratischen Auftrag hatten, der sie primär dazu verpflichtete, auf das Wohl ihres Landes und seiner Bevölkerung bedacht zu sein. Das Ziel, dem sie gemäß ihrem Mandat alles unterordnen mussten, konnte nur darin bestehen, die Schweiz aus dem Krieg herauszuhalten. Bei all ihren Erwägungen hatten sie sich stets von der Verantwortung und der Frage nach den Folgen zu leiten. Absolut gefasste Ethik mag ihnen vorhalten, nicht das Menschenmögliche zur Rettung von Verfolgten und zur Unterstützung der gerechten Sache getan zu haben. Und nüchterne historische Analyse darf ihnen gewiss Fehler ankreiden. Zweierlei indessen steht fest: Die Schweiz hat weder den Krieg noch den tödlichen Rassenwahn entfesselt. Ihr vorhalten, dass sie in jenen Jahren und in nächster geographischer Nähe des Bösen durch die Flut von Pech und Schwefel nicht mit tadellos sauberen Händen hindurchgekommen sei, wird nur derjenige, der – bewusst oder naiv – den weltfremden Grundsatz vertritt, Verantwortungsträger an der Spitze von Staaten hätten bei ihren Entscheidungen stets die Wahl zwischen Gut und Böse. In Wirklichkeit, zumal in der schrecklichen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs, blieb auch den Regierenden in der Schweiz nur die Wahl zwischen Schlimm und Schlimmer. Sie hatten sich die Rahmenbedingungen nicht ausgesucht und mussten sich fügen. Als Schluss drängt sich hier eine lapidar-resignierte Weisheit auf; Raymond Aron hielt sie einst einem französischen Präsidenten entgegen, der einzig in Kriterien einer kartesianischen Logik zu denken bereit schien: „Er vergisst leider, dass die Geschichte tragisch ist.”