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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:283–288.

HARRIET NEMESKÜRTY

Gedanken beim Überfahrenwerden

 

I. Überfahren vom Bus

Am 21. November 2000 fand in der Pester Redoute die Premiere eines ungewöhnlichen Erich-Kästner-Abends statt unter dem Titel „Gedanken beim Überfahrenwerden”. Das Stück entstand auf Anregung des Europa Institutes, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf die deutsche Literatur zu lenken. So kam die Idee der Dramaturgie: keine Lesung, sondern eine Kette von zu Dialogen und Situationen verarbeiteten Gedichten – ein Theaterstück also, welches die Geschichte von vier Menschen erzählt; teilweise mit vertonten Kästner-Gedichten und Musik aus jener Zeit.

„Gedanken beim Überfahrenwerden” heißt der Titel eines Kästner-Gedichtes. Berlin in den zwanziger Jahren: Ein Mann spaziert, in Gedanken vertieft, durch die nassen Straßen von Berlin und wird plötzlich von einem Autobus überfahren: vor seinem Tode gehen ihm etliche Gedanken über seine Ehe durch den Kopf...

Doch es würde sich nicht um Erich Kästner handeln, wenn diese tragische Situation nicht mit dem für Kästner so typischen, eigenartigen sarkastischen Humor behandelt wäre. „Wer Kopfweh hat, nimmt Pyramidon. Wer an Magendrücken leidet, schluckt doppeltkohlensaures Natron. Bei Halsschmerzen gurgelt er mit Wasserstoffsuperoxyd. Und in dem Schränkchen, das Hausapotheke heißt, halten sich, dem Menschen zu helfen, überdies Baldrian, Leukoplast, Choleratropfen, Borsalbe, Pfefferminztee, Mullbinden, Jodtinktur und Sublimatlösung in Alarmbereitschaft. Aber manchmal helfen keine Pillen. Denn was soll einer einnehmen, den die trostlose Einsamkeit des möblierten Zimmers quält oder die nasskalten, nebelgrauen Herbstabende? Zu welchen Rezepten soll der greifen, den der Würgengel der Eifersucht gepackt hat? Womit soll ein Lebensüberdrüssiger gurgeln? Was nützen dem, dessen Ehe zerbricht, lauwarme Umschläge? Was soll er mit einem Heizkissen anfangen? Die Einsamkeit, die Enttäuschung und das übrige Herzeleid zu lindern, braucht es andere Medikamente. Einige davon heißen: Humor, Zorn, Gleichgültigkeit, Ironie, Kontemplation und Übertreibung. Es sind Antitoxine. Doch welcher Arzt verschriebe sie, und welcher Provisor könnte sie in Flaschen füllen? Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles sind bewährte Heilmethoden.” (Kästners Vorwort zu seinem Gedichtband „Erich Kästners Lyrische Hausapotheke” dtv München, 1988.)

Das Stück wurde vom Deutschsprachigen Theater in Budapest aufgeführt, die Regie führte András Frigyesi, es spielten Nikolaus Lechthaler aus Graz, Ildikó Iván, Mitglied der Budapester Oper, Klára Karsai, Mitglied des Theaters von Győr und Bálint Merán eine Neuentdeckung, er spielt zurzeit in Szekszárd, bei der Deutschen Bühne.

Die Aufführung hatte großen Erfolg und es gibt weitere Aufführungen in der Pester Redoute sowie am 19. März 2001 in Sopron, bzw. am 11. Mai in Berlin im Rahmen der Veranstaltungen der Europa-Woche.

Die „Lyrische Hausapotheke” sowie Kästners Gedanken über Liebe und Leben beim Überfahrenwerden mögen ihren Zweck erfüllen!

 

II. Überfahren von der Literaturwissenschaft?

Die Literatur- und Leserwelt feierte 1999 das 100-jährige Jubiläum der Geburt, bzw. den 25. Todestag von Erich Kästner. Wie gewohnt, erschienen zahlreiche biographische Werke, Analysen und Bewertungen von Literaturhistorikern und auch das Kästnersche Lebenswerk wurde wissenschaftlich neubearbeitet herausgegeben.

Die Biographien, statt wie erwartet und üblich eine Neuanalyse der schriftstellerischen Leistung und Tätigkeit des Jubilanten zu geben, beschäftigen sich mit „nagelneuen Enthüllungen” über das Privatleben von Erich Kästner.

Was ist bloß einzuwenden gegen einen linksorientierten, konsequenten Antimilitaristen, einen tief humanistisch denkenden Schriftsteller, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden und der zwischen 1939 und 1945 in Deutschland verboten war?

Das Kernproblem heißt: Erich Kästner blieb während des Zweiten Weltkriegs zu Hause, in seiner Heimat, in Deutschland – ausgenommen einer unfreiwilligen Reise nach Österreich, wegen der Verfolgung der Gestapo – und er emigrierte nicht, wie z.B. Thomas Mann oder Bertolt Brecht, ins Ausland. Dem folgend munkelt man bis heute, es sei von Kästner eine Art Kollaboration mit den Nazis gewesen, während des Dritten Reiches in Deutschland zu bleiben. Kästner selbst wusste über die Vorwürfe gegen ihn Bescheid und versuchte sie mehrfach zu bekämpfen – anscheinend bis heute vergeblich.

Erich Kästner schrieb darüber folgendes: „Alle Amerikaner, die sich amtlich mit mir abgeben mussten, haben mich gefragt, warum ich in Deutschland geblieben sei, obwohl ich doch nahezu zwölf Jahre verboten war. Und obwohl ich, wenn ich emigriert wäre, in London, Hollywood oder auch in Zürich ein viel ungefährlicheres und angenehmeres Leben hätte führen können. Und nicht alle der Amerikaner, die mich amtlich fragten, haben meine Antwort gebilligt und verstanden. Ich habe ihnen nämlich gesagt: »Ein Schriftsteller will und muss erleben, wie das Volk, zu dem er gehört, in schlimmen Zeiten sein Schicksal erträgt. Gerade dann ins Ausland zu gehen, rechtfertigt sich nur durch akute Lebensgefahr. Im Übrigen ist es seine Berufspflicht, jedes Risiko zu laufen, wenn er dadurch Augenzeuge bleiben und eines Tages schriftlich Zeugnis ablegen kann.« (Gescheit und trotzdem tapfer. IN: Erich Kästner: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Vermischte Beiträge. Verl. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1959. S. 23.)

Warum möchte die Literaturwissenschaft Kästners Selbstbekenntnisse nicht wahrnehmen und akzeptieren? Warum ist einer „unzuverlässig”, der bleibt, und warum ist der „zuverlässig”, der auswandert?

In der FAZ erschien am 20. Februar 1999. eine Gedenkschrift über Erich Kästner unter dem Titel „Gescheit und trotzdem tapfer”. Untertitel: „Muttersohn und Maskenspieler, Sänger zwischen den Stühlen – und am Ende doch ein großer Dichter.” Der Titel weist unverblümt darauf hin, dass man Erich Kästner für einen Opportunisten halte. Bei der Meinungsäußerung der FAZ gibt es aber mehrere grobe Verschiebungen: der „Sänger zwischen den Stühlen” weist auf einen Gedichtband „Gesang zwischen den Stühlen” von Kästner hin, welcher 1932 erschien, also Jahre vor dem Krieg; die Behauptung, er sei „gescheit, und trotzdem tapfer” bezieht sich auf einen Artikel von Kästner unter demselben Titel, der aber nach dem Krieg – „Pinguin“, Januar 1946 – erschien und sich mit dem Neuaufbau des Landes beschäftigt, wo er schreibt:

„Aber der Mensch ist ein denkendes Wesen. Er gehört zum Teil in die Naturkunde... Das meiste von dem, was er braucht, muss er sich durch Arbeit und Klugheit selber schaffen. Falls er nicht vorzieht, es durch Gewalt anderen zu entreißen. Wenn die anderen sich dann wehren, Hilfe erhalten und ihm, was er tat, heimzahlen, geht es ihm so, wie es in den letzten Jahren uns ergangen ist. Dann steht er, wie wir jetzt, zwischen Trümmern und Elend. Dann wird es hohe Zeit, wie bei uns, dass er sich besinnt. Dass er aus der Sackgasse, an deren Ende er angelangt ist, entschlossen herausstrebt. Dass er nicht, mit den Händen in den Hosentaschen, faul und achselzuckend herumsteht. Sondern dass er einen neuen Weg einschlägt. Mutig, und trotzdem vernünftig. Gescheit, und trotzdem tapfer.“ (Gescheit, und trotzdem tapfer. Ebenda, S. 22.)

Es wird also, um Kästners Verhalten im Dritten Reich zu charakterisieren, auf zwei seiner Werke hingewiesen, aber nur die Titel zitierend, die aus dem Kontext herausgehoben und entstellt worden sind. Die Frage bleibt aber immer noch offen: warum Exportartikel deutscher Literatur Nummer Eins auf dem Kinderbüchermarkt in den Schlamm ziehen?

Noch interessanter und unverständlicher sind aber die „Neuenthüllungen“ über die Privatsphäre, genauer über die Herkunft von Erich Kästner. Wie es aus seinem Lebenslauf – und aus seinen Kinderromanen – bekannt ist, stammt Kästner aus armen Verhältnissen. Über seine Mutter schreibt er sehr viel, über den Vater viel weniger. Die Mutter liebte er abgöttisch – bei Männern keine Rarität –, zum Vater dagegen hatte er eher einen korrekten Kontakt. Der Vater, Emil Kästner, war Sattlermeister, die Mutter arbeitete zu Hause, später versuchte sie sich als Friseuse – siehe: „Emil und die Detektive”.

Nun aber haben Forscher jetzt in Erfahrung gebracht, dass der Sattlermeister Emil Kästner doch nicht der leibliche Vater des Autors ist. Der Informationsgeber sei sein unehelicher Sohn, dem es unter vier Augen ein österreichischer Schauspieler, dem es unter vier Augen Erich Kästner persönlich erzählt haben soll.

„Erst 1982, acht Jahre nach Kästners Tod, wird der österreichische Kabarettist, Autor und Kästner-Schüler Werner Schneyder anlässlich einer kritischen Würdigung von Kästners Werk die Wahrheit über die Kästnersche Familiengeschichte aufdecken. Tatsächlich ist nicht der ungeliebte Emil Kästner der Vater des Jungen, sondern der langjährige Hausarzt der Familie, Sanitätsrat Dr. Zimmermann. So hat es die Mutter dem Sohn eines Tages gebeichtet; so hat Erich Kästner es beinahe sechzig Jahre später der Mutter seines Sohnes entdeckt. Hinzufügen ist, dass dr. Zimmermann Jude war.” (Klaus Kordon: Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner. Beltz/Gelberg, 1994, Weinheim und Basel. S. 14. Hingewiesen auf: Werner Schneyder: Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor. München, Kindler, 1982.)

Aus einer anderen, sich ebenfalls anlässlich des 100jährigen Jubiläums mit der schriftstellerischen Tätigkeit von Erich Kästner beschäftigenden Biographie erfahren wir, dass der jüdische Arzt, dr. Zimmermann, verheiratet gewesen wäre und auch eine Tochter gehabt hätte. Im FAZ-Artikel bekommen wir Folgendes zu lesen: „Und seine jüdische Abkunft war jetzt zu einem Geheimnis geworden, das aus ganz anderen Gründen gewahrt werden musste als zur familiären Vertuschung eines Ehebruchs.”

Es ist nicht schwer herauszufinden, was die Zeilen uns beibringen wollen: Erich Kästner sei jüdischer Abstammung, er hätte es aber geleugnet, weil er während des Dritten Reiches Angst gehabt hätte, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen... (Ob die über alles geliebte und auch von den Literaturwissenschaftlern verehrte Mutter des Autors, Frau Ida Kästner damit einverstanden wäre nach ihrem Tode schlicht als Ehebrecherin hingestellt zu werden?)

Nun stellen sich zwei Fragen. Die erste: Warum beschäftigt sich die deutsche Literaturgeschichte anhand des Kästner-Jubiläums nicht, wie erwartet, mit seiner schriftstellerischen Leistung, sondern mit seinen unbewiesenen und ganz persönlichen Familienverhältnissen? Es ist interessant und sogar von Bedeutung, dass außer den Literaturhistorikern keiner aus Kästners Verwandtschaft sich zum Thema zu Wort meldete, weder Kästners Sohn, der angebliche „Verräter” des Familiengeheimnisses, noch die Familie des angeblichen Vaters, Dr. Zimmermann, obwohl Zimmermanns Familie, bloß des Urheberrechtes wegen, Anspruch auf Kästners literarischen Nachlass hätte. Warum meldet sich niemand? Umso schlimmer, eine Behauptung ohne Stellungnahme aller Beteiligten als Tatsache zu behandeln.

Zweitens: unfassbar, warum ein einfacher Sattlermeister der deutschen Literaturwissenschaft nicht gut genug ist. Denn Erich Kästner war ihr schon gut genug. Und wenn die Gerüchteküche doch mit Recht brodelt? Verändert das etwas? Hauptsache ist ja, und dies nicht nur im Falle eines weltbekannten und weltweit beliebten Schriftstellers, sondern jedes Mitmenschen von nebenan – der Vater ist, wen man als Vater anerkennt. Und Erich Kästner erkannte den einfachen Sattlermeister als seinen Vater an, vielleicht, weil er, der „ungeliebte“ Emil Kästner, trotz des eventuellen leiblichen Vaters den kleinen Kästner großzog, oder vielleicht, weil – Adieu, Sensation – bedauerlicherweise doch er der leibliche Vater ist. Erich Kästner schreibt allerdings mit zärtlicher Liebe über seinen Vater; keine Spur des Hasses oder vertuschten Ehebruchs. Sollte er vielleicht lügen, der Erich Kästner? Doch die Regel heißt: man vertraue dem Autor! Wessen Informationen soll man Glauben schenken: denen des Autors, der über seine eigenen Privatverhältnisse ja bestens informiert sein muss, oder den Kritikern und Literaturhistorikern, die in erster Linie die Informationen des Autors zur Kenntnis nehmen sollten und erst dadurch ihre Schlussfolgerungen zu ziehen haben; ist also der Primär- oder der Sekundärliteratur mehr zu glauben?! Der Leser aber soll selbst entscheiden, ob der Autor uns wirklich an der Nase herumführt!

„Fünfundvierzigmal hintereinander hab ich mit meinen Eltern zusammen die Kerzen am Christbaum brennen sehen... Diesmal werden meine Eltern am Heiligabend allein sein. Im Vorderzimmer werden sie sitzen und schweigend vor sich hinstarren. Das heißt, der Vater wird nicht sitzen, sondern am Ofen lehnen. Hoffentlich hat er eine Zigarre im Mund. Denn rauchen tut er für sein Leben gern. »Vater hält den Ofen, damit er nicht umfällt« sagte meine Mutter früher. Mit einem Male wird er »Gute Nacht« murmeln und klein und gebückt, denn er ist fast achtzig Jahre alt, in sein Schlafzimmer gehen.“ (Sechsundvierzig Heiligabende. Ebenda, S. 17.)

„Als ich wieder einmal die Eltern besuchte – es ist lange her, und mein Vater mag damals Siebzig gewesen sein –, meinte die Mama: Er tut seit Wochen so geheimnisvoll. Jede Minute steckt er im Keller. ... Hier brachte er das ramponierte Lederzeug der Nachbarn wieder ins Geschick... Meist kannte die Kundschaft ihren Kram kaum wieder, so prächtig war er hergerichtet. Und man zahlte statt mit Geld mit guten Zigarren. Denn Zigarettenrauchen war (und ist heute noch) »Vater Kästners« große Leidenschaft. Früher einmal hatte er die Werkstatt in der Küche aufgeschlagen gehabt, noch dazu vor dem einzigen Fenster. Bis die Mama kategorisch erklärt hatte, Leimgeruch vertrage sich nicht mit den sonstigen Küchendüften; und so war er, ein wenig in seiner Berufsehre gekränkt, samt dem Handwerkzeug in den Keller umgezogen... Warum habe ich die kleine Geschichte erzählt?... Ich wollte von jenen großen alten Männern sprechen, die heute achtzig Jahre und älter sind, übermütig, heiter, vital, genußfroh, zäh wie Sohlenleder und in ihren Berufen wie auch ihren Steckenpferden so sattelfest, dass man sie beneiden könnte. Da kam mir das Pferd des kleinen Handwerkers, der mein Vater ist, sehr zupasse... Wie werden wir ausschauen, wenn wir so alt sind? Man könnte die alten Herren beneiden. Doch ich finde, wir sollten sie bewundern. Es macht mehr Freude.“ (Das lebensgroße Steckenpferd. Ebenda, S. 199.)

„In diesen Septembertagen war ich, seit Weihnachten 1944, zum ersten Male wieder daheim. Ich käme am Sonnabend, schrieb ich, wisse nicht genau, wann, und bäte sie deshalb, zu Hause auf mich zu warten. Als ich schließlich gegen Abend klingelte, öffnete mir eine freundliche alte Frau. Ich kannte sie nicht. Es war die den Eltern zugewiesene Untermieterin. Ja, die beiden stünden seit dem frühen Morgen am Neustädter Bahnhof. Die Mutter hab sich nicht halten lassen. Wir hätten uns gewiss verfehlt... Ich sah die Eltern schon von weitem. Sie kamen die Straße, die den Bahndamm entlangführt, so müde daher, so enttäuscht, so klein und gebückt. Der letzte Zug, mit dem ich hätte eintreffen können, war vorüber. Wieder einmal hatten sie umsonst gewartet... Da begann ich zu rufen. Zu winken. Zu rennen. Und plötzlich, nach einer Sekunde fast tödlichen Erstarrens, beginnen auch meine kleinen, müden, gebückten Eltern zu rufen, zu winken und zu rennen.“ (Und dann fuhr ich nach Dresden. Ebenda, S. 82.)

Die Frage ist und bleibt doch unbeantwortet: warum Erich Kästner, seine Familie und seine literarische Tätigkeit mit einem Fragezeichen zu versehen? Warum einen der besten und weltweit berühmtesten Dichter der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Beschuldigungen zu „überfahren“? Wobei er in seinen Werken eben das Gegenteil beweist! Ist er doch ein verdammt guter Schauspieler, dieser Erich Kästner, der uns ins Gesicht lacht? Oder sollte man die Fähigkeit der Gestapo wirklich so herunterspielen, dass man es wahrhaftig glaube, sie hätte das bestgehütete Geheimnis der Familie Kästner, also Kästners jüdische Herkunft – wobei die Gestapo ihn kaum aus den Augen ließ – nicht im Nu herausbekommen? Und ihn auf freiem Fuß herumlaufen lassen? Und dass Erich Kästner, über seine eigene Herkunft wohl wissend, die über alles geliebte Mutter nicht versucht hätte, in Sicherheit zu bringen? Und selbst doch lieber nicht emigriert wäre, da er schon so ein feiger Mensch war, laut der Literaturwissenschaft?

Wie dem auch sei: zum Glück zählen in erster Linie die Werke eines Künstlers, so auch bei Erich Kästner. Und in dem Sinne hat er nichts zu verbergen: seine Werke samt seiner „kleinen moralischen Anatomie“ lassen sich von niemandem überfahren. Sie sprechen Bände für sich – und für ihn.

Begegnungen11_Manherz

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:141–155.

KÁROLY MANHERZ

Identität und Sprachgebrauch bei den Minderheiten

 

1. Sprache und Identität in Sprachinsel-Situation

Die ungarländischen ethnischen Minderheiten zeigen in ihrer soziologischen Stratifikation und im Verhalten zur Hochsprache und Mundart ein relativ buntes Bild. Der Großteil der Volksgruppen gehörte zum Bauerntum, die Sprache, die als Muttersprache bezeichnet wurde, war meistens ein angestammter Dialekt, der je nach geographischer Lage bzw. Region auch verkehrssprachliche Charakteristika aufweisen konnte. Tägliche Kommunikation, religiöses Leben, Sitte, Brauchtum und z.T. materielle Kultur bediente sich dieser Ortsmundart oder der regionalen Verkehrssprache, oft auch der hochdeutschen Umgangssprache bzw. Literatursprache.

Da die meisten ungarländischen Minderheiten eine Sprachinsel bilden, sollte ihr Sprachgebrauch von der Sprachinsel-Situation her gesehen erklärt werden.

Sprachinsel sollte generell, nicht nur linguistisch verstanden werden, sondern als Sammelbegriff sämtlicher Lebensäußerungen der in eine Sprachinsel zusammengefassten Gemeinschaft. Nach W. Kuhn und C. J. Hutterer sind Sprachinseln „raumlich abgrenzbare und intern strukturierte Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer anderssprachigen Mehrheit. Im Normalfall liegen Sprachinseln im Hoheitsgebiet der anderssprachigen Mehrheit, z. B. deutsche Sprachinseln in Ungarn bzw. ungarische Sprachinseln in Österreich. Seltener kommt es vor, dass infolge der Diskrepanz zwischen ethnischer und politischer Grenzziehung u. ä. innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes eigensprachige Sprachinseln entstehen im sonst geschlossenen fremdsprachigen Raum wie etwa im deutsch-polnischen Kontaktgebiet im früheren Deutschen Reich oder ungarische Sprach- (keine Dialekt-)inseln im geschlossenen rumänischen Staatsgebiet, aber im ungarischen Staatsgebiet vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Sprachinsel ist gleichzeitig Enklave (in Bezug auf den Staat bzw. die Nationalsprache[n] des Staates, dem sie räumlich-politisch angehört) und Exklave (in Bezug auf den Staat bzw. die Staaten und dessen/ deren Nationalsprache, dem bzw. denen sie ethnisch, sprachlich und – mindestens zum Teil – auch kulturell in genetischer Hinsicht zuzuordnen ist). Einen Sonderfall bilden die Sprachinseln jener Gruppen, die nur Enklaven sind, da ein politisch etabliertes Hinterland ihnen abgeht, z. B. einige räumlich abgrenzbare Zigeunergruppen in vielen Staaten der Erde.

Laut der Zusammenfassung bei W. Kuhn hat die deutsche Sprachinselforschung als Disziplin die gesamtheitliche Erforschung und Darstellung der deutschen Sprachinseln als geschlossener, wohlabgegrenzter Lebenseinheiten zum Gegenstand. Die linguistische Erforschung der deutschen Sprachinseln bildet zugleich einen Teil der deutschen Dialektologie und – bes. dank den Kontaktforschungen – der allgemeinen Sprachwissenschaft. Die Bezeichnung (wie auch der Begriff) ,Sprachinsel’ gehört heute fest zu der Terminologie der Linguistik in der ganzen Welt, und die in der (deutschen) Volkskunde gelegentlich vertretene Meinung, sie sei politisch diskreditiert, kann linguistischerseits nicht akzeptiert werden.1

Wenn wir davon ausgehen, dass die ungarländischen Minderheiten sprachlich gesehen in einer „Sprachinsel-Situation“ existierten, dann sind auch die für die Sprachinsel charakteristischen Entwicklungstendenzen zu beobachten. Im Prozess der Ansiedlung (Umsiedlung), Mischung und des Ausgleichs haben sich ihre Dialekte entwickelt, wobei die ausschlaggebenden Impulse aus der Sprache der Mehrheit, aus dem Ungarischen kamen, so eine Art Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit fördernd.

Sprachgebrauch und Identität sind bei den ungarländischen Minderheiten grundlegende Fragen. Oft ist man der Meinung, dass bei der Bestimmung einer nationalen Minderheit der aktuelle Sprachgebrauch, der jeweilige Sprachzustand die relevantesten Kennzeichen sind. Da Sprachgebrauch auch für die Tradition der Volkskultur, für mündliche und schriftliche Weitergabe besonders der Folklore bedeutend ist, kann man ohne weiteres behaupten, dass die Untersuchung des Sprachgebrauchs, der Sprachaktivitäten, des Sprachzustandes einer Minderheit auch über die Existenz ihrer Volkskultur aber auch über ihre Identität wichtige Informationen enthalten kann.

Untersucht man die Zusammenhänge zwischen Sprachgebrauch und Identität bei der größten Minderheit in Ungarn, bei den Ungarndeutschen, so kann man erstens über den Sprachgebrauch folgendes feststellen:

Die in Ungarn angesiedelten Deutschen sprachen verschiedene mittel- und süddeutsche Dialekte. Nach der Ansiedlung vereinheitlichten sich diese oft am gleichen Ort unterschiedlichen Dialekte durch komplexe Sprachausgleichprozesse zu Mischmundarten. Diese Ortsdialekte bildeten bei der überwiegenden Mehrheit vieler Generationen der Deutschen in Ungarn bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das primäre Kommunikationsmittel.

Die Entwicklung einer über der jeweiligen Mundart stehenden Ausgleichsform, einer Verkehrssprache, oder deren annehmbarer ad-hoc-gebrauch war bei der Lebensweise und der äußerst geringen Mobilität der Deutschen in Ungarn teils nur an bestimmte zeitweilige Anlässe, teils an das Geschlecht gebunden. Gewisse, meistens zeitlich begrenzte Aktivitäten, wie die Militärzeit bei den Burschen, die Dienstzeit der jungen Mädchen in anderen Ortschaften oder auch die Begegnungen auf den Monatsmärkten, boten lediglich begrenzte Möglichkeiten zu einem sprachlichen Ausgleich. Die Kenntnis der Hochsprache, die auf der Kanzel und in der Schule sowohl in gesprochener als auch in geschriebener Form vertreten war, zeigte sich bei der Mehrheit der Deutschen in Ungarn eher auf rezeptiver als auf produktiver Ebene.

Die ungarische Sprache übt seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen immer stärkeren Einfluss auf die Kommunikation der Deutschen in Ungarn aus. Zu beobachten ist dies einerseits durch die in den hiesigen deutschen Dialekten immer häufiger auftretenden ungarischen Lehnwörter, andererseits an den – insbesondere seit dem zweiten Weltkrieg – immer umfassenderen und stabilen Ungarischkenntnissen bzw. am ungarischen Sprachgebrauch der Deutschen in Ungarn.2

Der Sprachgebrauch des Alltags, sowie die immer stärkere Verbreitung der ungarischen Sprache wird bei den Deutschen in Ungarn seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts weitgehend durch die lokalspezifischen wirtschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten bestimmt, sowie durch die allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse jener Zeit, so der Industrialisierung, der Urbanisation, durch den ständig wachsenden Ausbau des Verkehrsnetzes und damit verbunden durch die steigende Mobilität von Bevölkerungsschichten. Der soziale Aufstieg jeglicher Art war schon zu jener Zeit an die Kenntnis der ungarischen Sprache gebunden, wodurch sich auch die Vorherrschaft der ungarischen Sprache abzeichnete.

Wohlgemerkt, der Einfluss der ungarischen Sprache war bis 1945 in großem Maße von bestimmten territorialen, siedlungspolitischen und geographischen Gegebenheiten abhängig: in Streusiedlungen, in der Nähe von Großstädten und Industriezentren, sowie entlang der wichtigsten Verkehrsadern vollzog sich dieser Prozess viel schneller als in den überwiegend von Deutschen bewohnten, territorial zusammenhängenden, kompakten Regionen oder fernabliegenden Siedlungen.

Die Mundarten der Deutschen in Ungarn wurden in unserem Jahrhundert, aber besonders nach der Vertreibung, allmählich zurückgedrängt. Die eingeschränkte Reichweite des Dialekts bedeutete schon immer ein Problem in der Alltagskommunikation. Die bairischen, schwäbischen, fränkischen (rheinfränkischen und ostfränkischen) Dialekte gleichen sich in größeren Regionen aus, doch die Mundartsprecher kannten und gebrauchten die deutsche Hochsprache kaum. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine eigen- artige Sprachschichtung abzeichnen: während in den einzelnen Siedlungen der lokale Dialekt gesprochen wird, bildeten sich in den größeren Regionen (Westungarn/Nyugat-Magyarország, Ofner Bergland/Budai-hegyvidék, Plattensee-Oberland/Balaton-felvidék, Tolnau/Tolna, Branau/Baranya) regionale Dialekte heraus, die zahlreiche Elemente der hochdeutschen Verwaltungssprache übernahmen. Die Rolle der Hochsprache konnte von der deutschen Hochsprache – bis auf den Gebrauch in der Kirche – nicht übernommen werden; ähnlich zu anderen Minderheiten in Sprachinseln, wurde diese Rolle von der ungarischen Literatur- und Gemeinsprache übernommen. Das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache zeigte also ein eigenartiges Bild bei den Deutschen in Ungarn. Das jahrhundertelange Zusammenleben mit den Ungarn, das nicht ausgebaute deutschsprachige Schulwesen dieser Minderheit, die Abgeschiedenheit von der deutschen Gemeinsprache, beeinflussten die Entstehung dieser eigenartigen Situation weitgehend. Unser Jahrhundert ist für die Dialektsprecher das Jahrhundert des Sprachverlustes. Aus bekannten historischen Ursachen nach 1945 wurde der Dialekt in die kleinsten, privaten Sprachgemeinschaften zurückgedrängt und wurde Teil eines sog. inneren Identitätsbewusstseins. Der Dialekt war ein Kommunikationsmittel, der in Anwesenheit von Fremden äußerst selten oder gar nicht benutzt wurde. Auch der Sprachunterricht konnte diese Situation nicht bewältigen und baute in den 60er Jahren nicht auf evtl. dialektophone Kenntnisse der Schüler.3

Wie wichtig der Sprachgebrauch in der Identitätsprägung ist, wurde bereits im 19. Jahrhundert von bedeutenden Persönlichkeiten betont, bzw. es wurden Maßnahmen unternommen, um die ungarndeutschen Traditionen (mundartliche und hochsprachliche) aufzubewahren bzw. weiterzugeben. Fast unwillkürlich bedeutete dies zugleich die Anfänge der Erforschung der Volkskunde der Ungarndeutschen.

Der aus Pinkafeld (Westungarn) stammende und in Fünfkirchen wirkende Lyzeallehrer M. Haas (1810–1866) verfasste eine Monographie über einen Teil der Schwäbischen Türkei (Baranya ismertetése), und als er 1859 Szathmarer Bischof wird, da regt er die Pfarrer und Lehrer seiner engeren westungarischen Heimat zu volkskundlicher Sammelarbeit an, und lässt diesen auf eigene Kosten Fachzeitschriften volkskundlicher Art zuschicken. In kurzer Zeit hatte er umfangreiches Material von Liedern, Spielen, Sprüchen, Sitten und Bräuchen zusammengebracht. Herausgeben konnte er seine Sammlung wegen seines frühen Todes nicht. Um die Mitte der 60er Jahre gab des Bischofs Landsmann und Zeitgenosse, der Benediktinerpriester R. Sztachovics seine Brautsprüche und Brautlieder auf dem Heideboden in Ungern (Wien 1867) heraus. In seinem Vorwort schreibt er folgendes: „Bald werdet ihr auch Eure alten vollständigen geistlichen Gespiele in den Händen haben, als: das ganze Weihnachtspiel samt allen Euren Weihnachtsliedern, und den Sterngesang, mit Frag’ und Antworten, das letzte Gericht, den reichen Prasser, die vier letzten Dinge und wenn möglich auch das schöne Passionsspiel.“4

 

2. Sprachgebrauch und soziologische Stratifikation

Untersucht man den Sprachgebrauch der verschiedenen sozialen Schichten der Ungarndeutschen, so kann man feststellen, dass das mündliche und schriftliche Tradieren der Volkskultur verschiedenartig erfolgte. Da sind die regionalen Unterschiede auch ausschlaggebend. Wo neben dem Bauerntum eine starke Handwerkerschicht bzw. auch eine deutschsprachige Intelligenz existierte, ist die für die Identität wichtige sprachliche Tradition vielfältiger und bunter.

Die sprachlichen Erhebungen in den 60er/70er Jahren in Westungarn zeigten, dass diese Region, durch die Nähe des zusammenhängenden deutschen Sprachgebietes, durch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen bis in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts eine Tradition pflegte und aufbewahrte, die zur Bewahrung der Identität der einzelnen Schichten bedeutend beigetragen hatte. Sehen wir uns den Sprachzustand von Westungarn näher an: auf Grund des Dialektgebrauchs bzw. der Verwendung von Dialekt/Verkehrssprache/ Hochsprache wurden schichtenspezifische Kennzeichen (Entwicklungstendenzen) festgestellt, die auch in der Weiterführung der Tradition eine wichtige Funktion hatten: Die Bauernmundarten wurden unter der bäuerlichen Landbevölkerung im Verkehr untereinander gesprochen und zeigten eine weitere Stufung in Abhängigkeit davon, wie weit der Übergang zum Ungarischen in den einzelnen Ortschaften gekommen ist. Die primären Merkmale der deutschen Mundarten in Westungarn wurden in diesen Mundarten beibehalten. Dieser reinen Dorfmundart bediente sich die ältere Generation. Die mittlere Generation passte sich mehr der Stadtmundart an (zu dieser Schicht gehörten jene, die die bäuerliche Arbeit nur als Nebenbeschäftigung betrieben und meistens in den naheliegenden Städten als Industriearbeiter tätig waren). Es geht hier eigentlich um die Frage des sprachlichen Mehrwerts, der Gemeinschaftsnorm. Hier wirkten zwei Komponenten: Für den ganzen Sprachraum war die Wiener (ostdonaubairische) Verkehrssprache entscheidend, aber im unmittelbaren Strahlungsgürtel der westungarischen Städte deren Mundart.

Die Fach- und Berufssprachen waren nie bestrebt, sich aus den Banden der jeweiligen Ortsmundart in ihrer grammatischen Struktur zu entfernen. Die Sprache der Fischer, Kerzengießer, Lebzelter und Schlosser bzw. Sattler unterschied sich hauptsächlich in ihrem spezifischen Wortschatz und spielte in der allgemeinen Sprachentwicklung eine Rolle, insofern ihre Träger Lautstruktur und Grammatik ihrer angestammten Mundart in entfernte Gegenden mitnahmen und in dieser Weise den Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppen förderten. In Westungarn war für diese Schicht auf dem Lande charakteristisch, dass die Handwerker als gebürtige Dorfeinwohner kürzere oder längere Zeit – um das Handwerk zu erlernen – in den kleinen Städten verbrachten, dann aber – um ihre Kenntnisse zu erweitern – ins Ausland, besonders nach Österreich, nach Wien zogen und später in ihren Heimatort zurückkamen, sich dort niederließen. Ihre Sprache erhielt also ihr Gepräge von einer Stadtmundart – meistens von der Ungarisch-Altenburger/Magyaróvár, Wieselburger/Moson, Ödenburger/Sopron bzw. Günser/Kőszeg Stadtmundart – und übernahm die Vermittlerrolle zwischen der Ortsmundart und der Wiener Verkehrssprache. Elemente der Ortsmundart tauchten in diesen Gruppensprachen ständig auf. Es waren meistens sprachliche Formen, die zum Grundwortschatz der Ortsgemeinschaft gehörten und von dem Sprecher unbewusst gebraucht wurden.

Die Sprache der Städte in Westungarn musste gesondert behandelt werden. Ursprünglich wurden hier drei Schichten auseinandergehalten: die Bauern, die Handwerker und die Intelligenz. Eine Umgruppierung zeigte sich in den 60er Jahren: Durch die Industrialisierung und die Herausbildung der großen Staatsgüter nahm die Zahl der Handwerker und Bauern bedeutend ab, und es bildete sich eine neue Schicht, die der damaligen Genossenschaftsbauern und Industriearbeiter, die aber noch Reste der bäuerlichen Lebensform bewahrt haben. Ihre Sprache bewahrte zum Teil die Kennzeichen der Ortsmundarten, primäre Merkmale dieser Ortsdialekte wurden generationsbedingt gebraucht. Sie sagten für Mutter ‘muata’, aber für zwei ‘zwaa’ und nicht wie in den Ortsdialekten zwoa. (Die Verbreitung der a-Formen zeigt den großen Einfluss der ostdonaubairischen Verkehrssprache. Eigentlich bestimmte die Sprache der Handwerker den Charakter der Stadtmundart, denn diese Schicht bildete noch vor 60–80 Jahren die Hauptmasse der Einwohner.)

Die Sprache der Intelligenz (sowohl auf dem Lande als auch in den Städten) nahm auch eine spezifische sprachliche Situation ein. Sie charakterisierte eine vollständige Auslese echter Mundart und Aneignung der Wiener Verkehrssprache. Diese wurde von ihr als Norm angestrebt. Durch dieses Eindringen der ostdonaubairischen Verkehrssprache wurde die mundartliche Fläche „reihenschrittlich“ aufgelöst, was die allgemeine Tendenz der Sprachentwicklung in diesem Raum kennzeichnete. Es handelte sich dort um einen sprachlichen Vorgang, demzufolge die Mundarten die primären Merkmale aufgaben und einen Ausgleich anstrebten.

Elemente der Dorfmundart gehörten jedoch zum passiven Wortgut der Intelligenz, deren sie sich aber nur als Stilmittel bediente, wenn sie jemanden von der Bauernschicht charakterisieren wollte. Sie sagte also ‘Bedienerin (Dienstmädchen)’ für mundartliche Tian ‘Dirne (Dienstmädchen)’, ahmte aber die Sprechweise der Bauern nach, indem sie Koas ‘Geiß (Ziege)’ oder tuif ‘tief’ sagte. Bei dieser Schicht hatten die primären Merkmale der Mundart einen pejorativen Sinn erhalten. (In einigen Dorfmundarten galten die alten Formen auch unter den Bauern als pejorative Stilmittel. Wollte man etwa einen dummen Bauern charakterisieren, betonte man besonders die primären Merkmale. Es wurde damit das Tölpelhafte, Bäuerliche, das Derbe hervorgehoben. In Ragendorf/ Rajka wurde eine Ortsgeschichte über die Statue des heiligen Sebastian – erzählt. Die Grundform der Geschichte war in Westungarn weit verbreitet: es handelte sich um das Ersetzen der gestohlenen Sebastian-Statue durch eine lebendige Person. Die Geschichte wurde nicht in der typischen ostdonaubairischen ui-Mundart erzählt, sondern in der westungarischen deutschen Verkehrssprache. Aber die Dialoge oder der pejorative Teil der Geschichte [z.B. wie die lebendige Person – statt der Statue – darauf reagierte, dass gläubige Frauen zwischen ihre Zehen brennende Kerzen stellten, und die dann abgebrannt Schmerzen auslösten] wurden in der Ortsmundart zitiert.) Man unterscheidet im Erzählen zwischen Pui/Pua ,Bube’, fügt aber hinzu, dass Pua eine „bessere Form“ sei: „Wir bleiben bei pui, das ist unsere Muttersprache“. Hier bezeichnet der Gebrauch der primären Merkmale die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Im Gespräch eines Bauern mit einem Stadtbewohner geht es wieder um die ua-Form. Die Tendenz der inneren Sprachentwicklung wird hier durch die äußeren Triebkräfte vorangetrieben.

Es sei noch eine, aus sprachsoziologischer Sicht wichtige Erscheinung erwähnt. Im engeren Kreis der Dorfintelligenz ließ sich auch unter den die Bauernmundart Sprechenden eine Tendenz „besser zu sprechen“ beobachten, d. h. gemäß der lokalen Norm, in diesem Fall gemäß der Sprache der Intelligenz. (Als Beispiel könnte die im Ort geborene Frau eines Schulmeisters in Kaltenstein/Levél erwähnt werden. Als sie eine bäuerliche Arbeit erklärte, sprach sie eine Bauernmundart, sobald es sich um allgemeine Themen handelte, richtete sie sich nach der Sprache ihres Mannes, sowohl im Lautstand als auch im Wortschatz. Es entstand in ihrem Sprachgebrauch eine Symbiose verschiedener sprachlicher Elemente, die den Ausgleich zugunsten der ostdonaubairischen Verkehrssprache als Folge hatten.)5

 

3. Sprachgebrauch und schriftliche Überlieferung

Das reiche volkskundliche Material aus Westungarn zeigt die schichtenspezifische Aufbewahrung der folkloristischen bzw. schriftlichen Tradition. Wenn man den Sankt Johanner Kodex sprachlich untersucht, da kann man feststellen, dass es sich zwar um eine Abschrift handelt, aber durch das öftere Abschreiben änderten sich die Vorlagen und auch orts- bzw. verkehrssprachliche Traditionen auch erschienen.

Die Verse 10–12 berichten über die Erbsünde. Vers 11 enthält eine für die ostdonaubairischen Mundarten charakteristische Wendung für „schnell, hastig“ in Hui, was den Sprachgebrauch des Abschreibers widerspiegelt.

 

10. Ein Paradies erschuf Gott schen,

der Baum des Lebens in Mitten stehn,

Adam aß seine verbotene Frucht,

drum war er und wir all’ verflucht;

11. Ein einig’ Sünd’ hat Adam getan

in Hui der Tod kam über ihn,

du sündigst stets-begehrst darneben,

viel’ Jahre hie und dort ewig leben;

 

12. Eine Taube ließ Noah fliegen hin,

Wie ‘s Wasser viel zu werden schien,

am Abend spät sie wieder kam,

in ihrem Schnabel ein’ Ölzweig hat;

 

Der St. Johanner Kodex ist ein Sprachdenkmal des Deutschen in Ungarn. Für das Verstehen des Tradierens dieser Art ist es wichtig, die kurze Geschichte des Kodex zu umreißen: In Westungarn, zwischen der Donau und dem Neusiedlersee, auf dem sog. Heideboden/Mosoni síkság, war eine deutsche Minderheit zu Hause, die sich durch ihre Frömmigkeit, durch das Festhalten an dem Glauben besonders hervorgetan hatte. Es handelte sich um katholische und evangelische Deutsche, die zahlreiche geistliche Spiele bewahrt haben, und bei denen auch die Heilige Schrift in großer Ehre gehalten wurde. In 5-6 Dörfern dieser nordwestungarischen Ecke hat sich eine reiche, in Ungarn fast alleinstehende, Bauernkodex-Literatur entwickelt, mit der sich die Forschung in der Vergangenheit nur sporadisch befasst hatte. Im 19. Jahrhundert sammelte der Benediktiner Remigius Sztachovics in diesem Landstreifen viele handschriftliche Bücher, Hefte, die er dann in der Bibliothek seines berühmten ungarischen Benediktinerordens in Martinsberg/Pannonhalma aufbewahrt hatte. Eine erste Beschreibung der Bücher – nur inventarmäßig – verdanken wir ebenfalls einem Benediktiner, Severin Kögl, der 1941 Inhalt und äußere Form der Handschriften den Forschern zugänglich machte.

Wir können einen engen Zusammenhang zwischen der Entstehung und Aufbewahrung der Bücher, sowie der Wirtschaftsstruktur des Gebietes entdecken. Die Türkenherrschaft hat dieses Gebiet wegen der glücklichen geographischen Lage des ehemaligen Komitats Wieselburg/Moson nicht entvölkert, wodurch keine planmäßige Kolonisation notwendig wurde. In den 50er Jahren konnte man noch bei den zurückgebliebenen Deutschen Bauernhöfen mit sehr alter Tradition vorfinden. Auch die Verteilung des Bodens im Komitat war günstig für die Bauern. 65 % der Äcker und Wiesen waren im Besitz der Urbarialbevölkerung. Dies ist für Transdanubien eine eigenartige Erscheinung. Hinzu kommt noch die gute wirtschaftliche Verbindung nach Wien, die Belieferung des Wiener Marktes. Alles Zeichen eines verhältnismäßig konsolidierten, wohlhabenden Bauerntums.

Fast in jeder Bauernfamilie war ein handschriftliches Buch vorhanden, oft Abschriften eines Originals, versehen mit persönlichen Anmerkungen, ergänzt mit Liedern, Sprüchen, Rezepten etc. Auch Abschreiber und Verfasser der Bücher wurden angegeben, nicht selten gaben die Schreiber auch ihren Beruf an. Die Bauernbücher dienten vor allem der Unterhaltung und seelischen Erbauung der Familien, weniger kirchlichen Zwecken. Im 19. Jahrhundert war es auf dem Heideboden überall verbreitet, dass das Familienoberhaupt am Sonntagnachmittag das mit der Hausmarke versehene Buch hervornahm und daraus mit seiner Familie die alten Lieder sang, oder aus den Spielen Teile vorlas. Es gehörte zur guten Tradition einer Bauernfamilie, diese Bücher aufzubewahren und weiterzuführen. Zur Zeit der Geländearbeit in den Jahren 1968–70 fand man noch auf den Dachböden einige handschriftliche Bücher, in die sogar in den 50er Jahren noch etwas hineingeschrieben wurde. Aber die in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts noch im Familienbesitz vorgefundenen Bücher waren nicht mehr reichlich illustriert, sondern einfache Abschriften der schön gestalteten Handschriften. Wie sehr der Inhalt dieser Bücher lebendig war, beweist auch die Tatsache, dass 1970 ältere Frauen die Lieder (deren Noten nicht aufgezeichnet waren) aus den handschriftlichen Büchern auf Tonband singen konnten. Eigentlich sind die Texte der handschriftlichen Bücher von deutschen Originaltexten kopiert und mit Ergänzungen versehen.

Zwei grundlegende Werke wurden abgeschrieben, bzw. während des Abschreibens auch gewissermaßen neu gestaltet: Das eine Buch war 1560 in Wittenberg erschienen: Nikolaus Hermann „Evangelia auf alle Sonn- und Fest-Tag in gantzen Jar...”, das andere stammt von Jakob Bohr „Geistlicher Glückshafen”. Hermann war Protestant, Bohr Katholik. Eigenartig ist, dass diese katholisch-protestantischen Schriften sowohl in den katholischen Gemeinden (St. Peter, St. Johann – heute ung. Jánossomorja –, Zanegg/Mosonszolnok) als auch in den protestantischen Dörfern (Kaltenstein/Levél, Straßsommerein/ Hegyeshalom, Ragendorf/Rajka) bekannt und gelesen wurden. Die protestantischen Vorlagen sind sicher während der Glaubensverfolgung, durch schwäbische Exulanten in diese Dörfer gelangt. Es ist ja bekannt, dass oft Gruppen mit ihren Lehrern und Priestern die Flucht ergriffen, und sicher auch ihre religiösen Bücher mitgenommen haben. Außer den oben erwähnten Werken kommt noch die Nürnberger Bibel als Vorlage hinzu.

Alle Forscher, die dieses westungarische Gebiet gut kennen, stellen die berechtigte Frage, wie kam es dazu, dass in einem Landstreifen, durch den die wichtigsten Verkehrswege führten, in dem reger wirtschaftlicher Verkehr und Handel herrschte, eine Gemeinschaft lebte, die eine Handschriften-Tradition des 16–17. Jahrhunderts bis ins 19–20. Jahrhundert hinein aufbewahrt und sogar pflegend aufbewahrt hatte. Die Aufzeichnungen über das Wirtschaftsleben beweisen eine äußerste Beweglichkeit der Heidebauern. („...mache ihnen zu wiessen, wie viel for früheren Jahren nach Steiermark gefahren sind...”) Trotz dieser Beweglichkeit ist der Heideboden ethnographisch gesehen ein relativ geschlossenes, einheitliches Gebiet, er bildet eine kulturelle, wirtschaftliche Einheit. Besonders was die geistige Kultur der hiesigen Deutschen betrifft, kann eine Absonderung vom Westen beobachtet werden. Durch diese Abgeschlossenheit der geistigen Kultur lässt sich erklären, dass Sagen, Lieder, Spiele hier viel länger erhalten blieben als im Westen oder im Osten vom Heideboden. Es lässt sich eine Art Konservativismus bei der Bevölkerung beobachten (auch z. B. in der Volksnahrung). Sie bereisten zwar viele Länder, brachten aber selten etwas Neues mit. S. Kögl schreibt : „Seit Jahrzehnten pilgern sie nach Mariazell, es kam aber noch nie vor, dass sie ein neues Lied mit sich gebracht hätten.”

Von den mehreren handschriftlichen Büchern ist der sog. Sankt Johanner Kodex aus 1808, geschrieben von Johann Anton Lang, bedeutend.

Die Sankt Johanner Handschrift ist ein in Leder und Holztäfelchen gebundenes Buch mit Querformat, es umfasst 569 Seiten, 51 hochrangige Illustrationen, viele schöne Initialen und die Kapitel abschließende Schlussbilder. Ursprünglich war es mit zwei Kupferschlüsseln versehen, wovon leider nur der eine übrigblieb. Der Verfasser verewigte sich sowohl auf der Titelseite als auch in jeder Illustration mit seinem Namen. Auf den Seiten 220 und 292 steht folgendes: „Geschrieben Andony Johannes Lang in Zanegg in der Kayserlich, König Alten Salliterey No. 1. Anno 1808.” Salliterey bezieht sich auf den Salpeterabbau, der im 19. Jahrhundert fast in jedem Dorf des Heidebodens betrieben wurde. Der Staat ließ durch ausgebildete Arbeiter Salpeter für die Schießpulverindustrie abbauen. Man begegnet oft der Eintragung „Salither Meister”. Heute weisen noch alte Ortsnamen auf die einstige Tätigkeit hin. Der Sankt Johanner Kodex enthält folgende Texte:

 

1. „Der Geistliche Glückshafen” von Bohr, ergänzt mit anderen Liedern.

2. „Ein Anders Lieth.” Singen will ich aus Hertzens Grund.

3. „Ein schene Comedia, von Adam und Eva.”

4. Zwei Lieder von der Hl. Barbara und Katharina, Fragmente aus den Legenden über die Hl. Katharina.

5. „Nützliche Büblische sprich, da ein Jeter Christ, So offt die Uhr schlegt, Etwas Merk würtiges daraus Vernehmen kann.”

6. „Zwey Gultene Kalber”

7. „Das Christi-Geburtspiel”

8. „Das Kribel gespiel”

9. „Das Schuster und Schneider gespiell”

10. „Das Stern Gesang”

11. 16 Lieder (biblische Erzählungen)

12. Rezepten gegen Tierkrankheiten

13. 14 religiöse Lieder6

 

Diese Handschrift wurde und wird auch heute von den Ungarndeutschen dieser Region als Bestandteil der sprachlichen und materiellen Kultur der Bauern- und Handwerkehrschicht betrachtet, und trug bis zur Jahrhundertwende bedeutend zur Identitätsstärkung bei.

 

4. Sprachgebrauch, Sprachpflege und Volkskultur

Verkehrssprache/Dialekt spielten auch beim Tradieren der Volkslieder eine wichtige Rolle. Das Dorfleben in den ungarndeutschen Gemeinden war durch die Einheit von Arbeit, Kirche und Freizeit geprägt, deren Rahmen die Dorfmundart sowie die gemeinsame Kultur (Wirtschaft, Religion, Brauchtum, Familienleben, Unterhaltung) bildeten. Das Singen, Musizieren und Tanzen waren bei allen sozialen Schichten organische Bestandteile des Alltags. Die im Kalenderjahr mit festen Bräuchen verbundenen Feiertage (Weihnachten, Heilige Drei Könige, Erntedankfest usw.) wären ohne Sprüche, Lieder, instrumentale Musikbegleitung unvorstellbar gewesen. Bei Familienereignissen (Hochzeit, Beerdigung), gemeinsam verrichteten Arbeiten (Maisausschälen, Schweineschlachten, „Federschleißen”), kirchlichen Anlässen (Fronleichnam, Kirchweih, Ostern, Pfingsten, König-Stephans-Tag) bzw. Unterhaltungen (Fasching, Bälle) wurde die entsprechende Atmosphäre, der erwünschte Seelenzustand, die allgemeine Stimmung der Anwesenden durch Lieder, Musik eventuell durch Tanz geschaffen.

Von den Ungarndeutschen wird spaßhaft behauptet, dass sie schon singend, tanzend, musizierend zur Welt kommen. Es ist eindeutig festzustellen, dass die ehemaligen Kolonisten eine entwickelte Musiktradition mit sich gebracht haben. Im Ungarn des 18. Jahrhunderts gab es auf dem Lande kaum musikalische Ereignisse. In den Städten existierten Schulkapellen, bei festlichen Anlässen gab es vereinzelt Turmmusik. Erst in den 80er Jahren fingen die Großgrundbesitzer an, Zigeunerkapellen zu engagieren, während jede deutsche Gemeinschaft bereits eine kleine „Vorkapelle” oder ein „Vororchester” hatte. Blasmusik war in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren schon damals verbreitet. In Ungarn haben erst die Kolonisten diese Art von Musizieren eingeführt. (Östlich von Ungarn sind dörfliche Blaskapellen ebenfalls unbekannt.)

Bei den deutschen Bauern war es Tradition, die Texte (und eventuell die Melodie) der Lieder in sog. Liederhandschriften in der Familie von einer Generation an die andere weiterzugeben. In den Liedertafeln sang man regelmäßig gemeinsam und zweistimmig. Auch die Kirchenlieder wurden oft mehrstimmig vorgetragen.

Die Zunftvereine in den größeren Ortschaften (z.B. Ödenburg/Sopron) hatten alle ihre eigenen Zunftliedersammlungen, während auf ungarischsprachigen Gebieten kaum Berufslieder zu finden sind.

Die Entfaltung der musikalischen Bildung war bei den Ungarndeutschen traditionsmäßig gesichert. Die Kinder und Jugendlichen konnten sich diese Kultur in allen Lebensbereichen aneignen. In der Familie wuchsen sie mit Wiegenliedern, Reimen, Kinderliedern, Volksliedern, Erzählliedern auf. Auch in der Schule wurde bis 1900 deutsch gesungen. In der Kirche, bei Prozessionen, bei Beerdigungen sang und musizierte man ebenfalls. Burschen und Mädchen zogen sonntags singend durch die Straßen.

Ob Hochzeiten oder Bälle – überall lernten sie neue Lieder, neue Melodien kennen. In den Gesangvereinen beschäftigten sich die Lehrer, die Kapläne, manchmal sogar die Ärzte oder Tierärzte mit der musikalischen Erziehung der Heranwachsenden.

Im 19. Jahrhundert entstanden in Ungarn sog. „deutsche Handwerker” (Maurer, Steinmetze, Dachdecker, Glasbläser, Metallgießer, Erzgießer, Dreher, Klempner u.a.). Die ungarndeutschen Handwerkergesellen gingen in der Monarchie und in Deutschland auf die Walz. Durch die deutsche Sprache lernten sie dort eine hohe technische Kultur kennen und wandten diese ebenso wie die handwerklichen Kenntnisse in Ungarn an. Sie brachten aber auch neue Lieder mit sich, die sie der Dorfjugend weitergaben. Aus den kinderreichen Familien verpflichteten sich viele Mädchen in die Städte als Dienstmädchen. Auch sie erweiterten den Liederschatz der Dorfgemeinschaft mit vielen dort erlernten Liedern.

Instrumentale Musik wurde durch unmittelbare Überlieferung von Generation zu Generation weiter gegeben und gepflegt.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Ortschaften mehrere größere oder kleinere Blaskapellen, die bei den kirchlichen festlichen Ereignissen, bei Beerdigungen oder bei Bällen musizierten. Zu den Hochzeiten wurden oft kleine Musikkapellen, die eine sog. Schrammelmusik spielten, von den Nachbargemeinden geholt.

Jede soziale Schicht, jede Gasse im Dorf hatte ihre eigenen Wirtshäuser, in denen sich die Gleichgesinnten unterhielten. Das Gemeindewirtshaus, mit dem größten Tanzsaal der Ortschaft konnte für 2–3 Jahre gepachtet werden. In diesem Saal wurde seit Anfang dieses Jahrhunderts das Lesefest nach ungarischem Muster in madjarisierender Tracht mit Zigeunermusikbegleitung veranstaltet.

In den Wirtshäusern, die von den Handwerkern besucht wurden, spielte oft schon eine Zigeunerkapelle und hier wurden auch ungarische Lieder (nóta) gesungen.

Da auch der Schulunterricht für die Kinder nach 1900 ausschließlich in ungarischer Sprache ablief (die Ungarndeutschen durften ihre Muttersprache in bloß wöchentlich 2 Stunden erlernen), lernten die Schulkinder dort ungarische Lieder. Im ersten Weltkrieg waren die Soldaten gezwungen, die Lieder des anderen zu erlernen. Kamen Deutsche in ungarische Divisionen, mussten sie ungarische, gerieten Ungarn in deutsche Divisionen, mussten sie deutsche Soldatenlieder mitsingen. Später bei den Übungen der paramilitärischen Organisation „Levente” durfte auch nur ungarisch gesprochen und gesungen werden.

Wie auch schon Béla Bartók und später Ingeborg Weber-Kellermann darauf hingewiesen haben, übernahmen die Volksgruppen vieles voneinander bzw. beeinflussten einander auch unbewusst. Gezielte diesbezügliche Untersuchungen wurden zwar nicht durchgeführt, aber im Repertoire der meisten Gewährspersonen, die oft 30–40–60 deutsche Lieder auf Tonband singen konnten, hätte man sicher eine Menge ungarische Lieder finden können. Oft kam es vor, dass das gleiche Lied sowohl mit einem deutschen als auch mit einem ungarischen Text gesungen wurde. („Einst ging ich vors Fensterlein” = „Jártam ablakid alatt egy holdvilágos éjjelen”, oder „Still ruht der See...” = „Csendes a tó...”).

Es gab auch Beispiele dafür, dass in den beiden Sprachen dieselbe Melodie mit einem Text völlig anderen Inhalts gesungen wurde.

In der Vorkriegszeit gehörte Pflege des ungarndeutschen Liedes zum Gemeinschafts- und Privatleben der Volksgruppe. Die Nachkriegszeit brachte bedeutende Verluste in diesem Prozess mit sich. Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, die Auflösung der Dorfgemeinschaften, die Umsiedlungen und nicht zuletzt die Zugehörigkeit zur zurückgebliebenen deutschen Minderheit, die Angst hatte, ihre angestammte Sprache zu sprechen, veränderten das Schicksal des deutschen Liedes. Im familiären Bereich oder in den ganz wenigen Gemeinschaften, in denen Ungarndeutsche in relativ großer Zahl lebten, wurde das ungarndeutsche Lied zu einem Identitätsmerkmal der Nationalität. Man konnte die Jahresbräuche nicht immer vor der Öffentlichkeit als Teil des Gemeindelebens ausführen. Vieles pflegte man im engeren Kreis, nur für sich, für die Familie, für die engere Umgebung gedacht. Dies führte auch dazu, dass trotz bedeutender Bevölkerungsverluste bei den Zurückgebliebenen Pflegen und Tradieren der Muttersprache, der deutschen Volkskultur eine erstrangige Aufgabe wurde. Bis Ende der 50er Jahre können wir über keine organisierte, bewusste Pflege der Folklore sprechen. Erst nach 1958–59 änderte sich die Situation. In dem damaligen sozialistischen System erkannte die Staatsmacht, dass auch für die in Ungarn lebenden Minderheiten eine Art – von oben gelenkte – Interessenvertretung notwendig ist. Es entstand ein Verband der Ungarndeutschen, der seine Aufgabe vor allem darin sah, die noch vorhandene deutsche Volkskultur, vor allem das Lied, den Volkstanz, die Volkstracht durch eine organisierte Verbandsarbeit im ganzen Land wieder lebendig zu machen. Volkstanzgruppen und Chöre etablierten sich, Rundreisen in ungarndeutsche Regionen wurden organisiert, Sammelaktionen wurden staatlich unterstützt. Sogar die damalige DDR dachte in ihrer Kulturpolitik an die Ungarndeutschen. Ethnographen, Volksliedforscher arbeiteten in Ungarn, unterstützt durch bilaterale Kulturabkommen, um an der Rettung ungarndeutschen Kulturgutes teilzunehmen. Es entstand unter der Litung von Kurt Petermann die größte Filmarchivierung ungarndeutscher Tänze und Festbräuche (dokumentiert im Musik- wissenschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften), Axel Hesse führte seine großangelegte Volksliedsammlung unter dem Motto „Auf den Spuren von Herder... ” durch. In den 60er Jahren kannte man das Ungarndeutschtum vor allem als tanzende und singende Minderheit. Schwabenbälle in der Ballsaison in Budapest und auf dem Lande, Kulturrundreisen, Wettbewerbe „Reicht brüderlich die Hand” in Komitaten und auf Landesebene dienten der Pflege und Aufbewahrung der Folklore.

Die ehemalige Intention von Remigius Sztachovics und dem Bischof Michael Haas, die deutschsprachige Folklore-Tradition bewusst zu machen, hatte in dieser Zeit Priorität. Es entstanden die ersten Liedersammlungen der Nachkriegszeit: Karl Vargha leitete die Sammlung und Bearbeitung von Fünfkirchen/Pécs aus. Unter dem Titel „Schönster Schatz” (Julius Gottfried Schweighofer) wurden die ersten ungarndeutschen Liedsammlungen veröffentlicht. Texte von Kinderliedern, Reimen und Sprüchen sollten im Deutschunterricht für Nationalitaten verwendet werden. An den Universitäten wurden immer öfters volkskundliche Themen als Diplomarbeit- oder Dissertationsthema vergeben. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Liedgut der ungarndeutschen Handwerker gelenkt. Bergmannslieder wurden gesammelt und bearbeitet. Ortsmonographien, Heimatbücher entstanden, und enthalten reichlich Liedmaterial im Dienste der Identitätsstärkung. Paradoxerweise scheint in diesen Jahren der Gebrauch der Muttersprache, d.h. des Dialektes in der Kommunikation zurück zu gehen, aber deutsch wird gesungen, „erzählt“ und „getanzt“.7

 

5. Sprachverlust und Identität

Die schriftlich und mündlich überlieferte Tradition spielte eine wichtige Rolle in der Identitätsprägung der Ungarndeutschen. Natürlich sind bei der Ausbildung der Identität außer Gebrauch der Sprache auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe/ Gemeinschaft und die kognitive Organisation der Umgebung ausschlaggebend. Man kann seine Identität nur auf Merkmale stützen, die als Identifikation von der Umgebung und von den anderen anerkannt werden. Daher ist die Bewahrung der Identität für eine inmitten der fremdsprachigen Umgebung lebende Minderheit, die sich in dieser fremdsprachigen Umgebung ständig behaupten muss, eine komplizierte, schwierige Aufgabe.

Unser Ziel war die Zusammenhänge des Sprachgebrauchs und der Volkskultur aufzuzeigen, und nicht zu verschweigen, dass die Ungarndeutschen sich heute im Stadium des Sprachwechsels, des Sprachverlustes, oder wie C. J. Hutterer es treffend formulierte in der Entdeutschungsphase befinden. Der Dialekt wird zum großen Teil aufgegeben, ist nur mehr alterssprachlich oder erinnerungssprachlich vorhanden, die deutsche Standardsprache wird erlernt, das Ungarische hat bereits früh die Rolle der „Hochsprache“ übernommen.

Durch die bekannten historischen Prozesse8 ist es zu erklären, dass sich der Deutsche in Ungarn als Mitglied der ungarischen Gesellschaft, aber auch zugleich als Zugehöriger seiner deutschen Minderheit fühlte. Dadurch entstand die charakteristische Doppelidentität der Ungarndeutschen. Ähnliches lässt sich auch unter den anderen historischen Minderheiten in Ungarn beobachten. Die Bewahrung dieser Doppelidentität der ungarländischen Minderheiten kann sowohl für Ungarn als auch für Europa ein echter Gewinn werden.

Was für eine Rolle in diesem Prozess den sprachlich noch vorhandenen Traditionen zukommt, werden in den nächsten Jahren die sprachpolitischen Ambitionen der Minderheit aufzeigen. Die Dialektologie und Volkskundeforschung hat weiterhin die Aufgabe, das sprachlich Tradierte zu untersuchen, zu beschreiben und der jeweiligen Minderheit (Gemeinschaft) zur Stärkung ihrer Identität zur Verfügung zu stellen.

 

Anmerkungen

1

Vgl. Hutterer, C. J.: Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologische Arbeitsprinzipien. S. 100ff. In: Hutterer, C. J.: Aufsätze zur deutschen Dialektologie. Tankönyvkiadó, Budapest S. 100ff. — Kuhn, W.: Deutsche Sprachinselforschung. Geschichte, Aufgaben, Verfahren. Plauen 1934. S. 13.

2

Vgl. Erb, M.: Ungarische Lehnwörter in den neueren deutschen Sprachinseln Ungarns bis 1945. Hs. Dissertation. ELTE Germanisztikai Intézet/Germanistisches Institut, Budapest 1997.

3

Vgl. Manherz, K.: Die Ungarndeutschen. Útmutató Verlag. Budapest 1999, S. 65.

4

Vgl. Manherz, K.: a.a.O., S. 65.

5

Vgl. Manherz, K.: Sprachgeographie und Sprachsoziologie der deutschen Mundarten in Westungarn. Akadémiai Kiadó. Budapest 1977.

6

Vgl. Manherz, K.–Boross, M.: Der Sankt Johanner Kodex. Pytheas Verlag, Budapest 1989.

7

Vgl. Manherz, K.: Das ungarndeutsche Lied in Tradition und Pflege. In: Festschrift für Vilmos Voigt. Budapest 2000.

8

Vgl. Mirk, M.: Sprachgebrauch in Pilisszentiván/Sanktiwan bei Ofen. In: Ungarndeutsches Archiv 1. S. 99ff. Budapest 1997. — Sewann, G., Ungarndeutsche und Ethnopolitik. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von der Landesselbstverwaltung der Ungarn-deutschen. S. 129ff. Osiris/MTA Kisebbségkutató Mûhely/LdU Budapest 2000.

  

Károly Manherz ist einer der Gründungsprofessoren des Wissenschaftlichen Beirates und des Stiftungsrates des Europa Institutes. Die Präsentation seines Buches „Volkstrachten der Ungarndeutschen” veranstaltete das Europa Institut in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften am 8. Juni 2000. Vorliegender Wortlaut ist literarischer Ausdruck der während der Präsentation geäußerten Gedanken.

 

Begegnungen11_Langanke

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:267–281.

ULRICH LANGANKE

Defizite im einsprachigen Lernerwörterbuch

Hypermediale Lösungsansätze

 

1. Das Print-Lernerwörterbuch, Stiefkind der deutschen Lexikographie

Die deutsche Lernerlexikographie kann mit Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (LGDaF), 19921/19942 und Pons Basiswörterbuch Deutsch als Fremdsprache (PWBDaF) von 1999 nur auf zwei, im internationalen Vergleich noch dazu stark verspätete Werke verweisen. Zumindest was LGDaF betrifft zwangen ausführliche Analysen schon bald zu der Einsicht, dass diesem Wörterbuch der große und heterogene Markt der Deutschlerner nicht alleine überlassen werden darf (Langanke 1996/Wiegand 1998). Hinzu kommt, dass die Fachliteratur auch für Englisch und Französisch mit ihrem sehr viel mannigfaltigeren Angebot an Lernerwörterbüchern eigentlich nur an dem mittlerweile rund 20 Jahre alten Konzept der beiden Printwörterbücher Dictionnaire Du Français Langue Étrangère Niveau 1/2 (DFLE 1/2) keine nennenswerte Kritik übt und ihnen noch immer eine Leitfunktion einräumt (Zöfgen 1994). Es besteht Handlungsbedarf.

Dabei kommt einer Wesensart des einsprachigen Wörterbuches besondere Bedeutung für den Wortschatzerwerb im Fremdsprachenlernprozess zu: Die Fähigkeit, außersprachliches Wissen abhängig vom System einer neuen Sprache zu vermitteln, ist eine der wesentlichen Existenzberechtigungen und vielleicht der einzige, aber entscheidende und unanfechtbare Vorteil gegenüber dem zweisprachigen Wörterbuch. Die Überlegungen dieser Arbeit gehen dahin, dass die Stärke des Lernerwörterbuches genau darin liegen könnte, den Fremdsprachenlerner zur Klärung von Bedeutungsfragen auf bereits erworbenes Wissen in dieser Fremdsprache zurückgreifen zu lassen und so, unter kognitivem Gesichtspunkt, einen entscheidenden Beitrag zu leisten zu einer Festigung und Erweiterung der fremdsprachlich aktivierten Assoziationsausbreitung (Anderson 1976/19962). Um diese Funktion übernehmen zu können, muss die Monopolstellung des Printmediums für die Umsetzung metalexikographischer Paradigmen angesichts neuer, hypermedialer Darbietungsoptionen ebenfalls diskutiert werden.

Die folgenden Abschnitte stellen den Versuch dar, die Benutzerpsychologie der wesentlichen, bisher im Deutscherwerb im Ausland bekannten und ein- gesetzten einsprachigen Print-Wörterbücher kurz darzustellen. Diese Vorgehensweise bietet zwei Vorteile: Indem man sich, erstens, an bereits vorhandenem Material orientiert, lassen sich mögliche Vorteile eines medialen Wechsels für den Bereich Lernerwörterbuch anhand der bisherigen Wörterbuchbenutzungspraxis und Wörterbuchkultur aufzeigen und müssen sich nicht ausschließlich auf Aussagen über vermutete oder nachgewiesene Leistungen von Multimedia selbst stützen. Zweitens: In Kenntnis der Eigenschaften bisher verwendeter einsprachiger Wörterbücher werden empirisch ermittelte Erwartungen der Lerner hinsichtlich eines lernerfreundlichen Wörterbuches verständlicher und nachvollziehbarer und erlauben somit den gezielten Einsatz moderner Medientechnologie.

 

2. Der Lerner und das einsprachige Gesamtwörterbuch

Gerade die großen und bekannten Namen in der aktuellen monolingualen Wörterbuchlandschaft nimmt Kempcke (1992) aufs Korn, wenn er ihnen „diffuse Adressatenspezifik ... und die damit verbundene unscharfe Differenzierung nutzerspezifischer Nachschlagebedürfnisse und Nachschlagesituationen“ (Kempcke 1992: 166) vorwirft. Schon durch ihre Typologisierung als „Gesamtwörterbücher“ scheinen Werke wie WDG (1964–1977) oder DUDEN GWB (1976–1981) bereits rein begrifflich etwas anderes darzustellen, als man für ein Lernerwörterbuch erwarten möchte. Beide, WDG und GWB, verstehen sich als „grundlegendes Nachschlagewerk“ und möchten „breiten Kreisen der an der deutschen Sprache Interessierten“ oder der „Allgemeinheit“ dienen – und beziehen aber trotzdem nicht-muttersprachliche Benutzer immer ausdrücklich mit ein (Kempcke 1992: 166ff). Als „Gebrauchswörterbuch“ weist sich DUDEN UW aus und lässt sich somit typologisch ebenfalls eindeutig in die Gruppe der Gesamtwörterbücher einordnen. Auch DUDEN UW möchte „den Bedürfnissen breiter Benutzerkreise, vor allem auch der ausländischen Benutzer, entsprechen“ Mit 120.000 verzeichneten Stichwörtern geht es über den nach eigener Definition 70.000 Einheiten umfassenden zentralen Wortschatz (Grundwortschatz1) der deutschen Sprache deutlich hinaus. Ähnlich verhält es sich mit WAHRIG DW. Für alle vier Standardwerke der einsprachigen Lexikographie des Deutschen gilt gleichermaßen, dass die Herausgeber gesteigerten Wert auf „Ausführlichkeit“, „vollständige Erfassung“, die Funktion als „umfassendes Nachschlagewerk“ oder die Darstellung der „ganzen Vielschichtigkeit der Sprache“ legen. Es ist mir ein Ziel dieser Arbeit nachzuweisen, dass es gerade diese Totalität, quantitativ wie qualitativ, ist, die dem Deutschlerner das Leben mit dem einsprachigen Wörterbuch bisher so schwer macht – und damit dem Konzept für ein Lernerwörterbuch zu widersprechen scheint. Ein für alle Mal sollten denn auch „solche Angaben ... als Benutzertopoi angesehen werden: sie fungieren entweder als Berufungsinstanzen oder als Verkaufsanreiz, denn die Wörterbuchschreiber nehmen ... keine erkennbare Rücksicht auf die Bedürfnisse, Kenntnisse oder Wünsche der verschiedenen Benutzer.“ (Kühn 1989a: 114)

 

3. Der Lerner und das Schulwörterbuch

Auf der Suche nach möglichen Klassifizierungsmerkmalen einsprachiger (Lerner)Wörterbücher findet sich bei Kühn (1978) unter dem Oberbegriff „Grundwortschatzwörterbücher“ eine Liste mit 23 „muttersprachlichen Grundwortschatzwörterbüchern“, von denen allerdings nicht eines sich an ausländische Deutschlerner wendet – das einsprachige Lernerwörterbuch als Schulwörterbuch also für den Muttersprachler? Zumindest scheinen sich für das Lernerwörterbuch hiermit zwei Kriterien bereits abzuzeichnen: die Selektion nach Inhalt (Grundwortschatz2) und Zielgruppe (Schüler/Lerner). Ein Lerner-/ Schulwörterbuch wendet sich also bewusst an einen eingeschränkten Benutzerkreis, der, und das ist die wesentliche Gemeinsamkeit, eine reduzierte Sprachkompetenz aufweist. Doch schon in der soziologischen Zusammensetzung wie auch in der Art der Kompetenzschwächen dieser potentiellen Benutzer zeigen sich dann die Differenzen. Dass eine begriffliche Trennung von Wörterbüchern für muttersprachliche und ausländische Lerner nötig wurde, hat die Wissenschaft längst erkannt und realisiert (Hausmann 1974: 97–129). Es sollte also nicht verwundern, wenn der begrifflichen Unterscheidung auch eine inhaltliche zugrunde läge.

Die Erkenntnis, dass sich Schulwörterbücher an Schüler wenden, dürfte nicht überraschen. Auch Lernerwörterbücher für den Ausländer sind prinzipiell für den Fremdsprachenschüler gemacht. Doch was ein Schüler ist, schon rein altersmäßig, wird für beide Wörterbuchtypen unterschiedlich definiert. Meist wird der Begriff Schulwörterbuch gleich zu „Grundschulwörterbuch“ (Kühn 1989b: 113ff) kondensiert. Demnach gilt das Kind von fünf bis elf Jahren, im klassischen Grundschulalter, als potentieller Benutzer, der noch Probleme mit der Orthographie, dem Alphabet und dem Lesen/Schreiben ganz allgemein hat. Ganz anders der Fremdsprachenlerner: Er muss mit der Fremdsprache nicht auch das Alphabet lernen und begreifen, wobei es hier um das Alphabet als System und nicht um das Dazulernen einiger neuer Grapheme geht. Ähnliches gilt für das Lesen, denn es ist wiederum nicht das Lesen als eine Fertigkeit, die dem Fremdsprachenlerner Schwierigkeiten bereitet, sondern das synchrone Zuordnen von Inhalten aus der außersprachlichen Wirklichkeit zu bekannten oder unbekannten Graphemfolgen.

Ein wesentlicher Einwand gegen die Gleichbehandlung und -bewertung von Schul- und Lernerwörterbuch ergibt sich aus der Spracherwerbsmotivation. Es bedarf keiner Motivation, seine Muttersprache zu erlernen, von „Bonussternchen“ für Schönschreibübungen und ähnlichen Sanktionierungen im Unterricht einmal abgesehen. Die Entscheidungsfindungsprozesse und Rahmenbedingungen aber, warum ein Mensch Deutsch und nicht eine andere Fremdsprache erlernt, bilden einen Faktorenkomplex, der im Endeffekt nahezu ebenso einmalig ist wie die Persönlichkeit des Lerners selbst. Er stellt dabei in der Regel eine Kombination aus Eigen- und Fremdentscheidungen dar. Oft muss das persönliche Interesse des Lerners an der Fremdsprache überhaupt erst einmal geweckt werden, denn für den erfolgreichen Spracherwerb reicht es nicht aus, dass Instanzen diese oder jene Sprachen allgemein als wichtig, sinnvoll, ökonomisch nützlich etc. einstufen oder empfehlen: man muss es als Lerner persönlich so empfinden und nachvollziehen können (vgl. den gescheiterten Versuch, Russisch in den Ländern Osteuropas als eingewurzelte Erstfremdsprache zu etablieren). In Abhängigkeit von der Spracherwerbsmotivation sieht es dabei um die Motivation zur Benutzung eines Wörterbuches noch schlechter aus. Der Griff zum Wörterbuch – und hier spielen typologische Unterschiede so gut wie keine Rolle mehr – ist noch immer verbunden mit dem Gefühl, etwas (noch) nicht zu können. Die Psychologie des Wörterbuches ist die des Eingeständnisses einer Schwäche, einer Wissenslücke. Für die angestrebte freiwillige Benutzung eines Lernerwörterbuches lässt sich kaum eine ungünstigere Motivationsgrundlage denken. Hinzu kommt, dass das einsprachige Wörterbuch ständig mit zweisprachigen Lexika, welche noch dazu als die vermeintlich schnelleren und effektiveren Hilfen angesehen werden, um die Gunst des Lerners konkurriert. Sieht man allerdings in der Einsprachigkeit des Lernerwörterbuches nicht nur eine Gegebenheit, sondern sein „Wesen“, wird schnell klar, was dem Lerner entgeht, wenn er die Fremdsprache lediglich als irgendwie herzustellende Entsprechung zu seiner Erstsprache begreifen würde. Kühn bringt es auf den Punkt, warum der ausländische Lerner ein Recht auf „sein“ Wörterbuch hat und nicht länger mit konventionell konzipierten monolingualen Werken abgespeist werden darf: „Bisherige Grundwortschatzbücher oder Mindestwortschätze sind zu Lernzwecken ebensowenig geeignet wie die existierenden muttersprachlichen Schulwörterbücher, denn diese werden in erster Linie als Kontrollbücher für Rechtschreibfragen und nicht zur gleichsam geforderten Erweiterung und Vertiefung des Sprachgebrauchs und der Sprachreflexion benutzt.“ (Kühn 1989a: 120)

 

4. Das lexikographische Ideal und die Lernerintentionen

4.1 Wer ist der Lerner und was will er?

Ist nicht der Anreiz entscheidend und notwendig, mit dem Erlernen einer Fremdsprache als System auch neue Erlebniswelten, zusätzliches Wissen und ein erweitertes Weltbild erwerben zu können? Was sonst könnten Wissenschaftler wie Lehrer dem passiven Widerstand vieler Lerner gegen die Fremdsprache entgegensetzen, der sich eben auf das Argument gründet, dass es Zeitverschwendung sei, eine neue Fremdsprache zu lernen – ausgenommen vielleicht Englisch als Welthilfssprache – wo doch die eigene Muttersprache das gleiche auszudrücken und zu beschreiben vermag, und das natürlich logischer, einfacher und präziser?

Die Frage nach den Kriterien eines gelungenen Lernerwörterbuches steht und fällt mit der Definition „des Lerners“ und der seiner Grundbedürfnisse seitens der Wörterbuchmacher. An dieser Stelle scheinen einige Bemerkungen zur empirischen Wörterbuchbenutzungsforschung und deren Ergebnisse angebracht (Ripfel/Wiegand 1988: 491–520), die ein bezeichnendes Licht auf die Vorstellungen der Metalexikographen hierzu werfen. Denn die Auswahl der Informanten, anhand deren Urteil Lexikographen die Bedürfnisse und Ansprüche des potentiellen Käufer-Lerners feststellen oder überprüfen wollen, gibt eindeutiger als alles andere Auskunft darüber, was bisher unter einem Wörterbuch für „den“ Lerner verstanden wurde. Zwei der bedeutendsten Lernerbefragungen, Béjoint (1981: 207–222), dezidiert auf die Benutzung einsprachiger Wörterbücher und ihres Wertes für „Lerner“ gerichtet, und Greenbaum/ Meyer/Taylor (1984: 31–52) wandten sich jedenfalls an diejenige Gruppe von Lernern, die die lexikographische Forschung schon immer schwerpunktmäßig interessierte: Studenten. Dabei ist interessant, dass selbst solche Befragungen, die sich an Gewährspersonen mit unterstellbaren, umfragetechnisch noch dazu leicht herauszukristallisierenden, möglichen Kompetenzunterschieden wandten (Greenbaum/Meyer/Taylor), in der Auswertung gerade auf diese Ausdifferenzierung verzichteten. Zwar gibt es Umfragen, die versuchen, unterschiedliche Anforderungen von Fremdsprachenlernern mit verschiedenen Muttersprachen aufzudecken, doch auf Interlanguagestadien wird auch hier nicht näher eingegangen. Schon mit der Wahl der Gewährspersonen ist oftmals bereits eine Vorauswahl zugunsten des qualitativen Begriffs vom Lerner getroffen. Dass die ausschließliche Beschränkung auf fortgeschrittene Gewährspersonen mit überdurchschnittlichem Interesse an der Sprache (Teilnehmer an Sprachkursen, Studenten etc.) für die Konzipierung eines Lernerwörterbuches – schon erst recht nicht mit dem Anspruch auf Allgemeinverwendbarkeit für alle Lerner – nicht ausreicht und auch den realen Spracherwerbsumständen in keinster Weise gerecht wird, dürfte eigentlich verständlich erscheinen.

Im Mittelpunkt des Interesses muss der ausländische Deutschlerner unter den Spracherwerbsbedingungen im Ausland stehen. Er soll als Hauptadressat eines Lernerwörterbuches angesehen werden. Wo aber liegen die Grenzen, bis zu denen man als Lerner eingestuft wird, und kann man sie überhaupt festlegen? Daran schließt sich eine zweite, nicht minder entscheidende Überlegung an: Gibt es überhaupt „den“ Lerner oder ist eine derart starke Diversifizierung feststellbar, dass man gar nicht mehr von einer einheitlichen Zielgruppe „Lerner“ sprechen dürfte – mit der weitreichenden Konsequenz, dass es auch kein allgemeines Lernerwörterbuch geben könnte.

Vorweg gilt: Natürlicher Spracherwerb orientiert sich an Bewährungsproben des täglichen Lebens. Der Lerner sichert seine Sprachkenntnisse gewissermaßen autodidaktisch am Erfolgswert der sprachlichen Äußerung in der Kommunikation ab. Konkret: Führt die getane Äußerung zum beabsichtigten, meist außersprachlichen Ergebnis oder nicht? Diese entscheidende Kontrollmöglichkeit fehlt dem FSU im Ausland oft völlig. Der gesteuerte Spracherwerb ist jedoch der normale Einsatzort für ein Lernerwörterbuch. Demnach entspräche der ausländische Deutschlerner, der in seinem Heimatland lebt und dort am Sprachunterricht teilnimmt, dem prototypischen Benutzer eines einsprachigen Lernerwörterbuches.

Bereits erwähnt wurde, dass Deutschlerner hierbei jedes Alter zwischen fünf und fünfzig einnehmen können. Das entscheidende Kriterium ist jedoch nicht das Alter selbst, sondern die soziokulturelle, psychologische Uneinheitlichkeit der Spracherwerbsumstände und die damit verbundenen, gravierenden Unterschiede im Lernerfolg. Natürlich gibt es Anfänger, Fortschreitende und Fortgeschrittene, doch darf gerade für die Konzipierung eines Lernerwörterbuches nicht der Fehler gemacht werden, hier eine automatische Entwicklung gewissermaßen vom „Schlechten zum Guten“ zu implizieren. Auch muss berücksichtigt werden, dass – wie übrigens in Deutschland auch – obige Einstufung der Lernerkompetenz systemimmanent bzgl. des FSU zu sehen ist: Ein fortgeschrittener Hauptschüler wird selbst bei kompletter Ausschöpfung des Lernangebotes, ohne wesentliche außerschulische Sprachvertiefung, die Fremdsprache nicht in der gleichen Intensität beherrschen, wie ein fortgeschrittener Gymnasiast das im Rahmen seines Unterrichtsangebotes könnte. Bereits an dieser Stelle deutet sich an: „Den Lerner“ gibt es nicht, zu heterogen erweisen sich die Kontaktsituationen mit der Fremdsprache im Einzelnen.

4.2 Qualitative und quantitative Lerner

Die Heterogenität des Benutzerpotentials wie der Benutzungssituationen erfordert detaillierte Lösungen. Im Interesse einer selektiven Adressatenpolitik wird in dieser Arbeit ein, zugegeben grobmaschiges, Raster vorgeschlagen, das es dennoch ermöglicht, lernerspezifisch unterschiedliche Erwartungen an die Fremdsprache zu bündeln, den unterrichtsgesteuerten Spracherwerb nicht mehr als einheitliches System zu betrachten und damit unter den potentiellen Adressaten eines Lernerwörterbuches hinsichtlich des Spracherwerbsumfeldes zu differenzieren. Zu diesem Zweck schlage ich eine Trennung in ein qualitatives und ein quantitatives Lernerpotential vor.

Dieser Ansatz, das Lernerpotential nicht mehr ausschließlich linear in Anfänger/Fortschreitende/Fortgeschrittene, sondern hinsichtlich gewisser spracherwerbsbegleitender Prädeterminationen zu klassifizieren, ermöglicht Korrekturen an den bislang nicht hinreichend konkretisierten Vorstellungen über Lernerbedürfnisse. Mit der Zugrundelegung des Begriffspaares qualitatives/quantitatives Lernerpotential wird es den Herausgebern eines Lernerwörterbuches in Zukunft nicht mehr möglich sein, ihr Werk pauschal als für sämtliche Lerner geeignet zu präsentieren.

Ausgangspunkt bleibt die Differenzierung hinsichtlich des Niveaus der Lernerinterlanguage. Dabei bezeichnet „qualitativ“ jenes Lernerpotential, das unter gegebenen sozialen, psychologischen und individuellen Faktoren (Studium, Schultyp, Lehrplan, Erziehung, Elternhaus, Allgemeinbildung, individueller Ehrgeiz, Motivation, Berufsziel, etc.) von vornherein auf eine vertiefte Kenntnis der Fremdsprache ausgerichtet ist/wird. Der kurze Überblick über Umfragen und Erhebungen zu Lernerwörterbüchern hat gezeigt, dass Lexikographen klassischerweise ihr Betätigungsfeld in der Befriedigung der Ansprüche dieser Klientel sehen. Doch: Wie selbstverständlich unterscheiden sich beispielsweise an bayerischen Gymnasien sogar schulintern die verwendeten Sprachlehrwerke für Schüler des sprachintensiven neusprachlichen Zweiges und des eher sprachbegleiteten mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweiges. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Einsicht dann beim Wörterbuch enden soll, warum ausgerechnet bei der Wortschatzvertiefung durch ein einsprachiges Wörterbuch ein Standardexemplar für alle Lerner einer Fremdsprache genügen soll? Auf diese Diskrepanz muss hingewiesen werden, am Status quo gerüttelt werden. Ein einsprachiges Wörterbuch für dieses „quantitative“ Potential tut Not.

Bisher, mit Ausnahme der beiden DFLE, ging man unter Rückgriff auf das Paradigma Anfänger/Fortschreitender/Fortgeschrittener zu selbstverständlich davon aus, dass der Einbau aller oder zumindest zahlreicher für den anspruchsvollen Benutzer notwendigen Informationen in den Stichwortartikel kein Hindernis darstellen würde für die Verwendung desselben auch durch weniger kompetente Lerner – nach dem Motto: Selektiere, was du noch nicht verstehst und du bekommst die gewünschte Information. Diese Arbeit stellt ein Plädoyer dar, den Realitäten der Mehrheit der Fremdsprachenlerner gesondert Rechnung zu tragen, auch um den Preis, dass das so entstandene Lernerwörterbuch nicht allzu viel neue Kenntnisse für Fortgeschrittene enthält. Wenn wir das Lernerwörterbuch in den Gesamtkontext des gesteuerten Spracherwerbs stellen, so muss der spezifische Aspekt der Quantität des Lernerpotentials in eben dem Maße Geltung besitzen wie der der Qualität. Es bedarf keines empirischen Nachweises, dass die Mehrzahl der Fremdsprachenlerner in Deutschland wie im Ausland Grund-, Haupt- oder Mittelschulen besucht. Die Fremdsprache ist meist fakultativ verpflichtend und wird gemeinhin nicht Grundlage oder auch nur unwesentlicher Faktor des späteren Berufslebens sein. Dementsprechend wenige Unterrichtsstunden sind im Lehrplan dann für das Erlernen der Fremdsprache reserviert. Auch kann nicht von jedem Lerner erwartet werden, dass er von vornherein die notwendige, positive Einstellung zur Fremdsprache mitbringt. Es gilt, Berührungsängste und Vorurteile abzubauen. Gerade dieser Lernertyp bedarf aber der besonderen Unterstützung. Nicht dass das einsprachige Lernerwörterbuch den Motivationsersatz für schlechte Unterrichtsbedingungen abgeben sollte und könnte, aber die Konsequenzen, die sich aus der relativen Bedeutungslosigkeit der Fremdsprachen in vielen Schultypen ergeben, machen es diesen Lernern besonders schwer, die vermeintlich mühevollere Arbeit mit dem einsprachigen Wörterbuch den plakativen, weil oftmals glossarhaften, zweisprachigen Alternativen3 vorzuziehen. Will das einsprachige Lernerwörterbuch wirklich „die ideale Ergänzung zum zweisprachigen Wörterbuch“ (LGDaF 19942: VII) sein und nicht gänzlich in dessen Windschatten verkümmern, so muss es diese Klientel der weniger ambitionierten Lerner für sich gewinnen und deren spezifischen Bedürfnissen Rechnung tragen.

Impliziert „Fremdsprache“ nicht auch gleichzeitig Neugier (oder Angst!), jedenfalls eine Emotion, einen Reiz auf etwas Anderes, Unbekanntes, Fremdes eben? Dabei hieße es aber, einen Großteil der Lerner gehörig zu überfordern und falsch einzuschätzen, wenn die Wissenschaft ihm automatisch auch ein gleichartiges Interesse an der Fremdsprache als neuem sprachlichen Regelsystem unterstellte. Reichen schon die Rahmenbedingungen des FSU – Lehrer, Lehrmaterial, Intensität der Beschäftigung in und mit der Fremdsprache etc. – in Deutschland wie im Ausland meist sowieso nicht aus, Sprache lebendig darzustellen, um wieviel größer ist diese Gefahr erst für ein Wörterbuch. Konkret: Zu viel Dativ, zu viel Plural, Konjugieren und Deklinieren, Regeln und Ausnahmen von den Regeln etc. töten das Interesse an der Sprache als etwas Lebendigem. Das Schlagwort Kühns vom Schulwörterbuch als „lexikographischem Langweil- Bestseller“ (1989b: 113ff) sollte jedem Lexikographen eine Warnung sein, denn die Gefahren, vor denen er warnt, gelten trotz aller typologischen Unterschiede auch für das einsprachige Lernerwörterbuch. Wenn es nicht gelingt, die zweifelsohne notwendige grammato-syntaktische Information unterschwellig und semantisch anregend verpackt zu vermitteln, bleibt auch ein neukonzipiertes Lernerwörterbuch für den Normallerner das, was das konventionelle einsprachige Wörterbuch im Deutschunterricht des Auslandes schon immer war: Laden- und Schrankhüter.

Und gerade in der Einsprachigkeit liegt der Ansatz, dieses latent stärkere Interesse an Land und Leuten als Zugang vielleicht zu einer erweiterten Weltsicht auszunutzen, wachzuhalten und für den Erwerb der Sprache zu aktivieren. Halten wir uns einfach an das, was Humboldt als primäre Leistung der Sprache überhaupt begriffen hat, nämlich das Umschaffen der Welt in das Eigentum des Geistes. An ein Lernerwörterbuch muss der Anspruch gestellt werden dürfen, auch hierzu einen Beitrag zu leisten. Wenn es sich beim einsprachigen Lernerwörterbuch tatsächlich um ein Nachschlagewerk handeln soll, um „bestimmte Informationen über die Sprache oder die nichtsprachliche Welt zu gewinnen“ (Wiegand 1987: 200), dann impliziert das die Forderung, dass das einsprachige Lernerwörterbuch auch ein textuelles Erlebnis sein muss. Hier liegt seine besondere Chance.

Dabei macht aber die einsprachige Bedeutungsvermittlung und Grammatikbeschreibung allein aus einem Wörterbuch noch lange kein Lernerwörterbuch! Überspitzt formuliert: Auch wenn, wie beispielsweise in LGDaF, Stichwörter wie Molkereibutter zu finden sind und der Artikel zu einem Stichwort selbst die allerletzte grammatische Finesse enthält, der „quantitative“ Lerner wird auch weiterhin auf die Bereicherung durch das einsprachige Lernerwörterbuch verzichten, wenn er den Eindruck hat, dass schon die Lektüre eines ausländischen Telefonbuches ein authentischeres Spracherlebnis darstellt, weil in seinem Wörterbuch alle Information einfach nur noch erdrückt, zu stark komprimiert ist und abstrahiert durch entsprechende Abkürzungen und Zeichen. Eine recht bildhafte Feststellung zu den Konsequenzen einer Unterschätzung der Bedeutung von Fremdsprache als einer Einheit von erweitertem Weltwissen und sprachlich-deklarativem Wissen findet sich bei Butzkamm (19932: 282): „Wenn man sich nicht ausreichend mit Fremdsprache beschäftigt, kann sie nicht einwurzeln. Der Unterricht treibt dann nur öde Sandbänke vor sich her, auf denen nichts wächst, weil sie immer wieder von den Wellen der Muttersprache überspült werden.“

Um wieviel größer noch ist die Gefahr der „öden Sandbänke“ in einem Wörterbuch? Diese Erkenntnis ist noch in anderer Hinsicht für die Lexikographie hilfreich, liegt doch hierin eine mögliche Lösung für die oft geforderte Verständlichkeit eines Wortartikels. Verständlichkeit heißt demnach, dass der Lerner-Leser der Beschreibung des gesuchten Wortes Informationen über seinen kreativen Gebrauch in der Zielsprache entnehmen kann, schon damit dieses Wort und seine Bedeutung(en) nicht zu sehr nur als Pflichtvokabular zu einer bestimmten Lehrbuchlektion und ihren Themen gespeichert werden.

 

5. DMM – ein hypermediales Lernerwörterbuch

Auf der Basis der auto-didaktischer Hypermediakonstruktionen (Hasebrook 1995) möchte ich einen Ausblick geben auf die Möglichkeiten, wie sich für die Konzeption eines Lernerwörterbuches schon durch den Medienwechsel entscheidende Vorteile erzielen lassen., auf welchen Gebieten ein Hypermedia-Lernerwörterbuch für den quantitativen Lerner entscheidende Verbesserungen gegenüber herkömmlichen Konzepten erzielen könnte. Die nachfolgenden Punkte verstehen sich als Ergänzung des lexikographischen Zwölf-Punkte- Katalogs von Zöfgen (1994: 327–333) um diejenigen Komponenten, die sich durch die Einbeziehung empirisch ermittelter, adressatenspezifischer Bedürfnisse sowie kognitionspsychologischer Lerngrundlagen neu ergaben. Diejenigen meta-lexikographischen Kriterien, die davon unberührt bleiben, sollen hier nicht mehr wiederholt werden.

1) sichere Beherrschung von Aussprache und Rechtschreibung mit Möglichkeiten des Selbst-Übens und Überprüfens, d.h. Verzicht auf eine nur selten ausreichend beherrschte phonetische Umschrift, stattdessen zwei bis drei verschiedene Stimmbeispiele (Kind – Erwachsener/Mann – Frau, etc.).

2) Vermittlung einer klaren Vorstellung von der bei vielen L2-Lernern noch nicht internalisierten Trennung zwischen Wort als Formativ und Bedeutung(en) im Sinne von Homonymie und Polysemie. Dabei spielen linguistisch-theoretische Absicherung und unbedingte Konsequenz eine untergeordnete Rolle, wenn diese nicht zu durchsichtigen Entscheidungskriterien für den quantitativen Lerner führen. Vielmehr geht es darum, ein generelles Gefühl für Mehrdeutigkeit in der (Fremd)sprache zu entwickeln.

3) Bereitstellung von Möglichkeiten, das Verstehen über das Abrufen audio- visuellen Materials zu sichern/zu intensivieren/zu kontrollieren. Dabei sollte allerdings v.a. das Bildmaterial prinzipiell erst im Anschluss an die Versuche des Benutzers angeboten werden, das gesuchte Wort über die sprachliche Beschreibung zu verstehen und zu verarbeiten. Die zu rasche, optisch-akustische Verstehenserleichterung würde die Verbindung der Inhalte mit fremdsprachlichen Formativen und Kontexten behindern. Der Bedeutung der syntagmatischen und textlinguistischen Einbettung des Stichwortes für die richtige, fremdsprachlich geprägte assoziative Verarbeitung entsprechend, kann der Lerner solche kontextuellen Komponenten (Beispielsätze, Kurztexte etc.) über Buttonklick auch anhören.

4) Klare und saubere Trennung zwischen impliziter = virtuell-echter = „kognitiv-plausibler“ Informationsvermittlung und explizit-formaler Darbietung. Das beinhaltet auch die eindeutige, einheitliche und wiedererkennbare Markierung von metasprachlichen Informationen in virtuell-echten und damit objektsprachlichen Teilen des Stichwortartikels. Wörterbuchtechnisch heißt das, dass das Komplettparadigma grammatischer (morphosyntaktischer) Informationen (die eigentliche Wörterbuchgrammatik) zu einem Lemma zwar jederzeit und von jeder Benutzeroberfläche des hypermedialen Wortartikels als lemmaspezifisch abrufbar sein sollte (das ist ein Lernerwunsch!), als explizit metasprachliches Informationsangebot jedoch verdeckt (anklickbarer Button), so dass der durch implizite Information gewährleistete, virtuell-echte Verstehensprozess nicht unterbrochen wird.

5) Abwechslungsreiche, lebendige Darstellung mit ausreichend Raum für die Entfaltung eigener assoziativer Phantasie, der muttersprachlich geprägten Assoziationreserve also, über die dann durch die Präsentation von Sprach-, Ton- und Bildmaterial zu fremdsprachlich-typischen Kontexten eine bewusste Trennung/Steuerung des Assoziationsverhaltens in muttersprachlich bzw. fremdsprachlich geprägt erfolgen kann.

6) Anreicherung des hypermedialen Stichwortartikels mit textuellen, komplett-syntaktischen Elementen zur Verstehensintensivierung. Dabei sollte weitgehend auf Abkürzungen u.ä. verzichtet werden. Syntaktische, textuelle Elemente sollten zu jedem Bauteil des Stichwortartikels geliefert werden, also bspw. syntaktische Einkleidung von Kollokationen, Synonymen/Antonymen oder Komposita. Dabei können zu den einzelnen Kurztexten zusätzlich multimediale Verstehenshilfen angeboten werden bzw. soll über eine hypertextuelle Verweisstruktur zum geleiteten, zielgerichteten „Surfen“ in anderen Wortartikeln angeregt werden.

7) Sowohl im Zusammenhang mit Auswahlkriterien für die Bedeutungsdifferenzierung als auch mit der Vermittlung und Darstellung ihrer syntaktischen Kombinierbarkeit muss gelten: Entscheidend für den quantitativen Lerner ist, dass er zuerst einige wenige Basisbedeutungen (Valenzrealisierung, korpusgestütztes Bedeutungsranking) und deren korrekte Verwendung im Satzkontext sicher und souverän beherrscht. Dieser Aspekt, unter ausdrücklicher Miteinbeziehung der Interlanguage-Merkmale des potentiellen Adressatenkreises, muss Vorrang haben vor der Darstellung sprachlicher „Komplettheit“.

8) Wünschenswert, auch in obigem Sinn, sind Redundanzen jedweder Art, sprachlich und audiovisuell, um so die Verbindung zwischen lexikalischem Material und relevanten außersprachlichen Zusammenhängen zu intensivieren und um eigene Interlanguage-Fehler (auch assoziative) eventuell selbst bemerken und korrigieren zu können. Dies ist ein wesentlicher konzeptioneller Unterschied zu den unter starkem Zwang zur Platzökonomie stehenden Print-Wörterbuchartikeln. Zur Verarbeitungsintensivierung über Redundanz zählen auch Abbildungen und Bilder, die den vermuteten Interessen und der Neugierde des Benutzers entgegenkommen, ohne dass sie immer den entscheidenden Beitrag zur Verständnissicherung liefern müssten (Bild eines Autos zum Lemma Auto). Dies wäre auch ein entscheidender Beitrag, dem Wörterbuch jene unsympathische Ernsthaftigkeit und kategoriale Strenge zu nehmen, würde so die Lernsituation vergessen machen.

9) Möglichkeiten des passiven wie aktiven Übens von gelernten Informationseinheiten in Textaufgaben, Quizaufgaben (mit Antwortparadigma) oder Aufgaben zur kreativen Bearbeitung (mit autodidaktischer Lernkontrolle oder Lösungsparadigma). Bei Rückmeldungen durch das Programm sollten stets einfache Erklärungen oder Begründungen gegeben werden (z.B. zur Erklärung einer falschen Antwort in Multiple-Choice-Aufgaben). Dieses Element stellt gleichzeitig den internen Übergang vom rezeptiven zum produktiven Wörterbuch dar, eine Option, die so bisher nicht zu realisieren war.

10) Intensive Darstellung von fremdsprachlich-typischen sprachlichen wie außersprachlichen Zusammenhängen, die über das konkret bearbeitete Lemma hinausweisen, mittels einer aktiven Verweisstruktur, einer „link-Semantik“, die weit umfangreicher als die im klassischen Print-Wortartikel realisierbare Verweistechnik sein müsste (onomasiologische Strukturen, Wortfeld, Wortfamilie, vielfältige, doch geleitete Übergänge von Stichwortartikel zu Stichwortartikel).

11) Das Wörterbuch als Buch der Wörter! Die Chance, durch die Umstellung vom Buch auf das Computerprogramm im wesentlichen von dem Zwang zu absoluter Ökonomie bei der Gestaltung und Strukturierung des Stichwortartikels wie der anderen Bauteile befreit zu sein, sollte reichlich genutzt werden. Der hypermediale Stichwortartikel (betrifft in erster Linie Autosemantika) soll den Charakter einer eigenen, abgeschlossenen, Realität formulierenden, erzählerischen Einheit bekommen, soll Einleitung, Höhepunkt(e) und Schluss haben, soll nicht nur intern um zahlreiche textuelle Elemente erweitert sein, sondern als Ganzes ein kleines Gesamterlebnis bieten. Das Informationspaket zum gesuchten Lemma wird demnach wie ein Buch im Buch präsentiert, mit gravierenden Unterschieden zu bisher gewohntem Material:

– die Unterschiede zum klassischen Print-Artikel sind evident, dieser stellt kein Leseerlebnis dar (dennoch lobenswerte Versuche in der französischen Lerner-Lexikographie!), die Informationen werden auf einen Blick angeboten, was didaktischen Aufbau und assoziative Steuerung des Verstehensprozesses verhindert,

– auch viele marktfähige Wörterbuchprogramme weisen unnötigerweise Parallelen mit dem Print-Stichwortartikel auf, indem sie oftmals nur eine zentrale Bedieneroberfläche haben, die vollkommen überfrachtet ist mit unterschiedlichen Symbolen, Optionen, Feldern und Buttons. Problem auch hier: Der Lerner-Benutzer hat wieder das gesamte Informationsparadigma auf einen Blick vor sich, kann also beliebig unter den verschiedenen Angeboten selektieren, eine didaktisch begründete, empfohlene Reihenfolge fehlt meistens. Im Gegensatz dazu soll der für DMM konzipierte hypermediale Stichwortartikel bereits optisch an ein Buch erinnern, eine didaktisch motivierte – und hoffentlich auch motivierende – Sequenz von rund zehn Seiten (= Bedieneroberflächen), die zwar überflogen werden, jedoch nicht gänzlich unbeachtet bleiben können, wenn man zu einem erfolgreichen Abschluss kommen will (autodidaktische Verstehensüberprüfung, Quiz, Grammatiktests etc.).

12) Mediendidaktische Rücksichtnahme auf ermittelte Lernerbedürfnisse, als da sind: weitgehender Verzicht auf verschlüsselte Angaben (Abkürzungen, Siglen etc.), Möglichkeiten zur einfachen, schnellen Bedeutungsabklärung zu Anfang des Bearbeitungsprozesses (Synonyme/Antonyme), einfache, dem Adressatenkreis angemessene Beschreibungssprache unter Berücksichtigung der in Anfangsstadien des Spracherwerbs immer vorhandenen und – ganz besonders beim quantitativen Lerner – vergröberten Bedeutungsdifferenzierung der Interlanguage.

13) Ansprechendes Design, das wegführt vom typischen Windows-Einheitsgrau vieler käuflicher Sprachlernprogramme, die, oftmals funktionell überfrachtet und unübersichtlich, bereits ähnlich ernsthaft und unattraktiv wirken wie der klassische Print-Stichwortartikel. Das Design soll dabei funktionalelegant sein, ohne allzu viel Speicherkapazität zu beanspruchen. Wichtig für die Akzeptanz ist dabei, dass für die im allgemeinen etwas jüngeren quantitativen Lerner (10 – 20 Jahre) ein nicht zu verspieltes und nicht zu altmodisches Design gewählt wird, da gerade diese Altersgruppe bereits mit professionellen Anwendungen (Computerspiele, CAD, Autorenprogramme, Photosoftware, Homepages) bestens vertraut ist und nur solche auch ernst zu nehmen bereit ist.

 

Anmerkungen

1

Der Begriff Grundwortschatz zählt zu den umstrittenen Termini technici der Lexikographie. Sowohl was die quantitative Festlegung angeht (bspw. ab 8000 Einheiten (Kosaras 1980)) als auch was die qualitative Bestimmung angeht – ein Blick in die zugrunde gelegten Korpora genügt – herrscht weiterhin Uneinigkeit. Die Definition eines Grundwortschatzes erfuhr zudem über den Terninus Kernwortschatz eine Erweiterung (ca. 50.000 Einheiten) und Präzisierung (Kalverkämper 1990: 88–133). Der für LGDaF angelegte Rahmen von über 60.000 Einheiten wird allerdings für ein Lernerwörterbuch als prinzipiell zu groß erachtet (Kempcke 1992: 169). Der Begriff „Grundwortschatz“, wie er in dieser Arbeit verstanden werden soll, ist jedoch keine Konstante, vor allem nicht hinsichtlich des Umfanges, sondern ist ganz in Abhängigkeit vom jeweils anvisierten Benutzerkreis zu sehen. Eine Bewertung des aufgenommenen Wortschatzes erfolgt nicht aus metalexikographischen Perspektiven heraus, sondern ganz pragmatisch anhand der Frage, ob es gelingt, die aufgenommenen Lemmata für alle Anwender des Adressatenkreises gleichermaßen verständlich zu erklären. Gelingt es dem Print-Wörterbuch, die in dieser Arbeit als wesentlich für ein einsprachiges Lernerwörterbuch erachteten Funktionen zu erfüllen und die nötigen Informationen unterzubringen, so geht die Konzipierung eines zentralen Wortschatzes von rund 60.000 Einheiten in Ordnung. Zu theoretischen Ansätzen vgl. Kühn 1979, ebenso: Kühn 1990: 1353–1364

2

Unter Berücksichtigung der Spezifikationen aus Anmerkung 1, die allesamt nicht ausdrücklich nur das Lernerwörterbuch betreffen, sollen die nun folgenden Überlegungen als Rahmen für einen zentralen Wortschatz/Grundwortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch gelten und erste klare Unterschiede herausstellen: 15.000 passiv beherrschte Wörter ermöglichen „ein annähernd muttersprachliches Verständnis authentischer Texte. [...] Mit etwa 6.000 aktiv beherrschten Wörtern [...] ist man den meisten Kommunikationssituationen des täglichen Lebens in produktiver Weise, schriftlich wie mündlich, recht gut gewachsen.“ (Zöfgen 1994: 78). Auch über den Erwartungshorizont für das Ende der realen Fremdsprachenausbildung, beispielsweise für die im internationalen Vergleich sehr lange dauernden Magisterstudiengänge einer Fremdsprache an einer deutschen Universität, gibt es Orientierungswerte. So wird vom Sprachenzentrum der Universität Augsburg zum Ablegen der sprachpraktischen Prüfung für Französisch die Beherrschung der 17.000 Lemmata des DHj (1988) erwartet. In diesen Lemmarahmen fallen in vorbildlicher Weise die beiden DFLE, Niveau 1 mit ca. 7.700 (inkl. Sublemmata) und Niveau 2 mit ca. 10.000 Einheiten, Sublemmata ebenfalls eingerechnet. Konkret lemmatisiert sind jeweils aber nur rund 2600 bzw. 5000 Einheiten.

3

vgl. HALÁSZ, das in der ungarischen Wörterbuchlandschaft meistverbreitete zweisprachige Wörterbuch Deutsch-Ungarisch/Ungarisch-Deutsch.

Wörterbücher

(DFLE 1), Dictionnaire du français langue étrangère. Niveau 1, 1978, Paris, dt. Ausgabe mit einem Vorwort von Hausmann, F.J., Frankfurt/M., 1983

(DFLE 2), Dictionnaire du français langue étrangère. Niveau 2, 1979, Paris, dt. Ausgabe mit einem Vorwort von Hausmann, F.J., Frankfurt/M., 1983

(DHj), Dictionnaire Hachette juniors, 1988, hrsg. von Bonnvie, P./Amiel, P., Paris

(DUDEN GWB), Duden Großes Wörterbuch der deutschen Sprache, 1976–1981, hrsg. von Drosdowski, G., Mannheim/Wien/Zürich

(DUDEN UW), Duden Universalwörterbuch, 1989(2), hrsg. von Dodrowski, G., Mannheim, Wien, Zürich

(HALÁSZ), Halász, E., 1985/92, Német–Magyar Szótár, Budapest 1988/92, Magyar–Német Szótár, Budapest

Kosaras, I., 1980, Grundwortschatz der deutschen Sprache. Einsprachiges Wörterbuch, Budapest/Berlin

(LGDaF), Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, 1994(2), hrsg. von Götz, D./Haensch, G./Wellmann, H., Berlin/München

(PBWDaF), Pons Basiswörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Das einsprachige Wörterbuch, 1999, hrsg. von Hecht, D./Schmollinger, A., Stuttgart

(WAHRIG DW), Wahrig, G., 1986/89, Deutsches Wörterbuch, hrsg. in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern und anderen Fachleuten, München

(WDG), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 1964–1977, hrsg. von Klappenbach, R./Steinitz, W., Berlin

Sekundärliteratur

Anderson, J. R., 1976, Language, memory and thought, Hillsdale/NJ

Anderson, J. R., 1996(2), Kognitive Psychologie, Heidelberg/Berlin/Oxford

Béjoint, H., 1981, The foreign student’s use of monolingual English dictionaries. A study of language needs and reference skills, in: Applied Lingustics 2/3, S. 207–222

Butzkamm, W., 1993(2), Psycholinguistik des Fremdsprachenerwerbs, Tübingen/Basel

Greenbaum, S./Meyer, Ch./Taylor, J., 1984, The image of the Dictionary for American College Students, in: Dictionaries 6, S. 31–52

Hasebrook, J., 1995, Multimedia-Psychologie. Eine neue Perspektive menschlicher Kommunikation, Heidelberg/Berlin/Oxford

(HSK 5.1), Wörterbücher: ein internationales Handbuch zur Lexikographie, 1989, hrsg. von Hausmann, F.J., (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), Bd. 5, Teilbd. 1, Berlin/New York

(HSK 5.2), Wörterbücher: ein internationales Handbuch zur Lexikographie, 1990, hrsg. von Hausmann, F.J., (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), Bd. 5, Teilbd. 2, Berlin/New York

Hausmann, F. J., 1974, Trois paysages dictionnairiques: la Grand-Bretagne, la France et l’Allemagne. Comparaisons et connexions, in: Lexicographica 1, S. 24–50

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Begegnungen11_Kulcsar

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:161–172.

KÁLMÁN KULCSÁR

State, Politics, Society

 

Historically developed conditions, culture and political system of a society, shaped during a long period of time, would not completely disappear even after the most revolutionary changes, but would definitely continue to influence the life of a given society. Such a binding force of the more distant and recent historical past cannot be neutralised even by radical changes of a ‘revolutionary’ nature. The former institutions, forms, and processes, etc., which may have existed for centuries, exercise a particularly specific influence on the new in the area of politics.

 

I. Changes of the political system

Before World War II Hungary had reached a level of development which demanded fundamental economic-structural and political changes. The way, however, was opened for changes only by the lost war (an unfavorable condition by itself). In addition, the emergent historical and political situation (Soviet occupation) drove political and social developments into a direction, which, after a couple of years, allowed for the distortion of the historically mature changes. In other words, change was directed to a path by the politics of the occupation authority, which was far from the demands and opportunities of Hungarian history. These distortions were clearly indicated by the revolution of 1956, even if neither the time, nor an opportunity were accorded to the elaboration of social, economic and political solutions, let alone their implementation. Yet, after some years of reprisals, politics had to take to a road leading toward a new development under pressures appearing in the complex components of society and the economy.

Compared to other ‘socialist’ countries, Hungarian society reached systemic change, (the building of a new political structure) better prepared. This process led to economic transformations linked, to changes in ownership (which had begun earlier), and to the elaboration and realisation of the new economic, domestic and foreign political direction of the country. In keeping with the latter, Hungarian politics (at least with partial success so far) has been continuously striving to adjust the country to the European political, economic and military systems, and to achieve membership status in the European Union.

The transformation of the country has been influenced by favourable as well as adverse conditions. In the following I would primarily mention the adverse phenomena, as it is those which require possible intervention.

 

The current situation of the political system

Democratic transformation in countries which had lived under autocratic rule, or under the absolutist political rule of one party, was generally characterised by the appearance of a multitude of political parties and by their struggles. The emergence of the Hungarian democratic political system was accompanied by such phenomena already after World War II, and even more so when the current political system was unfolding. Therefore the introduction of the so-called 5 per cent threshold at the assessment of parliamentary elections was highly justified. The governance of the country would have been far more difficult without it. Thus the reduction of the number of actually functioning political parties was due primarily to an administrative measure. (The parliamentary elections of the year 1998 already clearly indicated the declining number of those parties, which could reach the 5 per cent threshold.)

The elections in the democratic states of the world are generally and practically based on political parties. Consequently the participation of citizens is an indirect one, which means that the elections in most cases are formal ones, and may reach the real decision-making processes only to a lesser extent. Nevertheless, elements have already appeared which, in the matter of political decisions, (though in some forms only and mostly in principle for the time being) begin to dissolve the existing system of representation. This ‘dissolution’, has led to a conspicuous phenomenon in the elections after the systemic change in Hungary, though it will be seen, how far it can be regarded as the beginning of a real process of transformation. In fact political groups, not belonging to political parties, and representing a different spirit, interest relations, or even historical traditions, have been successful at local and regional elections. These successes, which mostly have been linked to the so-called ‘civil organisations’, were also associated with another phenomenon. That is the growing role of the so-called corporations in politics, the organisation of professional and economic interest groups into a political force. In other words, these interest groups strive to participate in politics directly, at least during the time of elections.

The recognition of the newly emerging significance of civil organisations is also indicated by efforts of political parties trying to involve the civil organisations (more exactly their leaders) in the ‘parties’, primarily at the local, and to some extent at the regional elections. A goal of this effort is to help trade union leaders get into parliament in the colors of a party (or at least with party support). Thus ‘offering a hand’ by the political organisations (there may be a parliamentary mandate in that outstretched hand) is just as much a gesture in quest of support, as the efforts of civil organisations are to get close to parliament. But it may easily happen that this is such a political phenomenon that can further modify the usual role of parliaments.

In current Hungarian political life there are parties which have acceded to power by the elections. They have tried, and what is more important, continue trying to set up certain limitations to ‘unlimited’ democracy. An attempt to restrict the formalised competence of the local authorities can be sensed. The measures aiming at restricting the finances available to local governments, show a partly hidden, but partly a perfectly clear tendency. This may be even more significant. (See for instance the drastic cut of the share of local governments in the personal income tax.) Obviously, if a sizeable reduction of the share of local governments in the personal income tax (which already represents only a modest sum) could be achieved, and counter-balanced by government allocation from the central budget, then a pattern, already ‘successfully’ tested in Hungarian history, could hardly be avoided. According to that ‘pattern’ towns and villages under a leadership belonging to the governing party could obtain by far larger resources than those formed by the opposition.

 

MODELS BASED ON MAJORITY OR ON CONSENSUS

Specification

Based on Majority

Based on Consensus

Constitution

Unwritten constitution, parliamentary sovereignty

Written constitution,
minority veto

Executive authority
(government)

Unitarian (single-party majority government)

Divided (grand coalition)

Legislation,
implementation

Fusion

Separation

Structure of legislation

Single chamber
(or asymmetric two-chamber)

Two-chamber (and minority representation)

Structure of the state

Unitarian, or centralised

Federal, or decentralised

Nature of representation

Exclusively representative
democracy

Elements of direct
democracy

System of elections

Majority

Proportionate

Party system

Two-party system

Multiparty system

Political culture

One dimensional

Multidimensional

Source: Parlamenti választások 1998. (Parliamentary Elections 1998.) Budapest 2000, Institute of Political Sciences, HAS, 367.

 

I only mention two means for the strengthening of the democratisation process and also protection against manipulation (which would, at the same time, enhance the modernity and effectiveness of the state organisation). The population of the country strongly, and the experts of constitutional law almost unanimously support two significant amendments of the Constitution. One would be the introduction of a two-chamber parliament, and the other to directly elect the president of the republic by the population. If the Hungarian state does not wish to progress toward a narrow (and increasingly narrower) state organisation, gradually breaking away from the citizens, these changes would be indispensable.

 

THE HUNGARIAN POLITICAL SYSTEM
IN THE MODEL OF MAJORITY, OR OF CONSENSUS

Specification

Majority

In between

Consensus

Constitution

 

 

++

Executive, government

 

++

 

Legislation, implementation

 

++

++

Structure of legislation

++

 

 

Structure of the state

 

++

 

Direct democracy

 

++

++

System of elections

 

++

 

Party system

 

 

++

Political culture

 

 

++

Note: The + signs show where the institutional elements of the Hungarian political system are located in the model.

Source: Parlamenti választások 1998. (Parliamentary Elections 1998.) Budapest 2000, Institute of Political Sciences, HAS, 370.

 

Changes in the relationship between economy and politics

In economic life the role of the Hungarian state should be separated from any aspect of public law, as it is essentially only the obligation to pay taxes which establishes such a contact. (Naturally nowadays this pure model operates only with certain restrictions, as it is the case all over the world.)

One of the politically most sensitive issues of the researches done (though not the only one) is the changes in the party preferences of the economic elite. Researches have come to three fundamental conclusions as follows:

a) As a consequence of privatisation the economic elite has become more independent of the political elite;

b) The organisation of the economic elite into a class has begun though unevenly;

c) There are two alternatives for the economic elite taking up political roles. During the course of its organisation into a class the economic elite is becoming increasingly independent of the political elite. As it was apparent at the 1998 elections (and particularly at the elections of local governments) it is attempting to obtain political authority or, it strives to influence political authority with optimal success.

The consequences of these phenomena are complex. At present, the political divisions of economic authority are still of particular importance. Such a division was primarily to the benefit of the MSZP (Hungarian Socialist Party) and of the SZDSZ (Alliance of Free Democrats) in 1990, while in 1997 almost half of those questioned were uncertain. Such a support of MSZP, SZDSZ and of FIDESZ (Alliance of Young Democrats), with a slight margin for the MSZP, has become balanced. Differences within numerical balance were, however, caused by specificities of age and the type of the enterprise (for instance, the socialists were supported by middle-aged managers, and heads of state and local government-owned companies), and by education (to the benefit of FIDESZ and to those of a conservative outlook in a more general sense).

Further studies have revealed significant differences in preferences for parties and between the various political parties in the tendencies appearing in the local and regional political space and nationally. The proportion of village, town and county representatives, elected as non-party members, has grown in comparison to the local or county representatives who belonged to a party. The effect of the differences, that almost ‘inevitably’ develop between the declared electoral aims and the activities in practice, would not only have a negative influence on the next parliamentary elections, but would strengthen the special nature of local elections, becoming increasingly independent of parties. The blurring of the boundaries between economy and politics can be observed in general, together with the inflow of formerly exclusively economic actors into politics, though in some places it is more vigorous, than elsewhere. There is little probability of the phenomenon characterising only the Hungarian systemic change, it is much more of a global phenomenon, manifesting itself in some form. The question is to what extent and in what form does economic authority integrate itself into politics. At present it cannot be identified with certainty.

So far only the most conspicuous traits of the ‘Europeanisation’ of regional and country developments in Hungary could be identified, but significant statements can still be made.

The most important finding can be summarised: the network of the participants of Hungarian regional and country development fundamentally differs from the network of the EU member-countries.

The basic problems of the Hungarian system are the following:

a) The aims of country development and the strategy of their accomplishment are not clarified (on the level of political decision making),

b) country development is subordinated to the system of regional development,

c) the network of the ‘actors’ of the system of regional and country development.

Researches systematically studying the relationships between economy and politics have led to the inference that the national economic elite could acquire partial control over political decision-making as early as 1989. This phenomenon appeared at first in local politics. One may infer from new researches to the process of the economic elite becoming members of the upper middle class. Recent researches suggest that local big capital has begun the creation of a special kind of autonomy in the political as well as cultural sphere through exercising control over local political decision-making, and by developing and cultivating a special, regional and local sense of identity.

 

Phenomena of local and regional politics

Researches were focused on the exploration of the activities of the central and local governments, and also of the local and regional institutions. The following can be stated on the basis of research experience:

– The system of local governments has adjusted to public administration quite well and relatively smoothly, the replacement of the system of councils was clearly a positive one.

– Towns and villages experienced the possibility of forming local governments as if they regained their autonomy and the opportunity to organise it. (For instance, since the passing of the Act on Local Governments there has been no case of combining villages. Only separation of formerly united jurisdictions occurred.)

– The modifications of the law have refined many of the stipulations of the original Act LXV of 1990. For instance, a more exact delineation of the various levels of local government was quite significant, and granting the opportunity for setting up minority self-governments can be regarded as an important achievement. It has offered a significant opportunity for development of the national minorities, even if with spasms and problems. The researches have also justified the good operation of the organisation of local elections in one round.

Local society had experienced the changes as a gain and, as a result, its local identity has been strengthened during the past ten years.

Beside the positive results there are also negative factors, which endanger the operation of the institutions of local governments.

First of all it is highly significant that the government (and it holds true for all three governmental cycles) attempts to extend its influence and the weight of its authority with increasing strength over the local governments. It argues that there are too many local governments, their operation is not rational, they do not know how to deal with economic issues and they fragment the resources for development, etc.

Parallel to the growing governmental ‘guidance’ influencing local governments, party politics has also become stronger. It is mostly expressed by the unequal and unfair distribution of developmental resources (which can be traced back to party politics).

Local governments are often threatened by the danger of getting into a financially and hence organisationally impossible situation, because they often do not receive state support necessary for the performance of their multiplying tasks. (This danger can be particularly well identified in the area of health care and education.)

Based on ten years of operation, the problems cannot be clearly seen in a number of areas of the activities of local governments nor can functional disorders be precisely discovered. Therefore further research is needed in the following areas:

1. The development of the institutions of the intermediate level(s) between the central government and the local governments continue to be in a fluid state. The present and future of counties and regions are uncertain; the authorities of the day are trying to rearrange the structure of regional administration in keeping with their own ideas, mostly at random. In addition to falling efficiency, this enhances general uncertainty.

2. The governmental assessment of the spontaneous, often ‘small area’ unions and co-operations of local governments is uncertain, particularly if they do not meet the ideas of the government.

3. The development of EU and domestic regions is often full of contradictions. They appear in such issues as the inclusion of certain counties in certain regions. But thinking in terms of regions does not go beyond this issue.

4. The economic opportunities and chances of local governments should be reconsidered and the current practice of state redistribution should also be settled.

The further reform of the electoral process for local governments is particularly significant. For instance: the issue of national minorities is not solved in this context. In the case of minority self-governments the range of eligible voters should be more precisely defined, and the issue of the separation of parliamentary and local government elections by a larger period of time should be reconsidered. In this context the rules pertaining to the competency and other issues of minority self-governments should be further refined, including their conditions of operation, their functions and roles, etc.

 

II. Expected Phenomena of the Hungarian Political System

The researches study the changes and operational consequences of two fundamental components of the political system. Attempts were primarily made to identify ‘regularities’ and their consequences in the subsequent parliamentary elections, and to summarise certain characteristics of the functioning of the currently existing governmental organisations.

 

Elections

As a result of the analysis of the elections there is, for instance, the finding, that there is a basic consensus in respect to the position of parties in political life, and of the main alternatives facing the electorate in Hungary. Though there is a difference of opinion in some basic issues between the citizens and the groups of the political elite (such as, for instance, in the assessment of privatisation, or the role of foreign capital), the different electoral groups have been able to find the parties standing at the same side in respect of the main conflicts, even if they do not exactly have the same way of thinking. During the course of the elections, the voters saw actually precisely the basic difference between the two main groups of parties, that is between FIDESZ and FKGP (Independent Smallholders’ Party) on the one hand, and MSZP and SZDSZ on the other, despite the variations and often spectacular debates. To some extent, the interdependence of the two parties in each group has become doubtful.

 

Functioning of governmental organisations

The changes of the volume and function of governance can be identified on the basis of the analysis of the extent of the linkage between global and domestic trends in government and possible alternatives. The question is how the traditions of governance effect this process, and how far traditions are forced to change, whether the appearance of new elements can be observed and what is their influence on the governmental system.

The continuity of traditions depends on the worldview of the competing interest groups, on their value orientations, experience in government; on the historical opportunities of their ‘capital of connections,’ and on the recognition of opportunities. A specific ‘style’ unfolds in governmental action. The assessment of the situation, economic and political goals are hidden in that style. In Hungary, for instance, as contrasted to the technocratic and pragmatic orientation of the socialist government of the years between 1995 and 1998, the present government is characterised by a demand for order, and by efforts towards strong governance. However, what is most characteristic and important is that the amendment of the Constitution, implemented at the beginning of József Antall’s period in office, initiated the creation of a chancellor’s government in the interest of enhancing the weight of the government. However, no time was left to Antall to fully unfold the system, and it was not followed up by the government of the Socialists and Free Democrats (just because of that duality).

A full-fledged chancellor’s government emerged and started to operate under the leadership of FIDESZ. However, attention should be paid to the danger, always present, that the chancery should not take over even part of the task of the various ministries, and that it should not acquire entitlement for organisational decision-making. In fact, the danger of ‘subverting’ the ministries by the chancery may even endanger the democratic political system itself. The chancellor’s governance may be particularly dangerous in the case of the exclusive and less controllable political rule of a single party. This is why the reduction of the number of parliamentary sessions and hence the lack of meaningful discussions is dangerous.

 

Globalisation – European responses

The management of the economy based on an economic philosophy and policy, accepted during the recent period of more than a decade, namely globalisation, with production and the movement of capital becoming international, and with a continuously expanding world economy, is a process that cannot be halted. No single country can act independently in respect of this process, and not even the organised multitude of the nation-states can do so. Such action is only possible in the form of supra-national regional integration. (However, even such integration is unable to stop the process itself, only regulation of some sort may be achieved.)

So far only the vision of a social Europe has been imagined in the face of the monetary Europe. That vision, however, has been recently shaped, or may still be moulded, as economic policy in some countries. Actually it should not be forgotten that the neo-liberal economic foundations are also undergoing changes. Moreover, a European alternative is unfolding, and that, too at a time when the left has not yet found its stable answer. Such an answer could be opposed to the former, and may ultimately lead even to endangering European unity. Solidly elaborated and generally accepted European responses have not yet emerged.

It can hardly be doubted that globalisation has already developed in its essentials. The system of its economic context can hardly be changed, at least in the foreseeable future. All attempts to discover the possibility of acquiring economic and political ‘autonomy’ by ‘nation states’ (that have become recently independent but in fact, remain economically dependent), are doomed to failure right from the outset. Some theorists fancy to see the emergence of a new system of states based on idealised, but not practical ‘mutual economic advantages’ either in the historically older or the newly independent countries, though in most of the cases even their political independence is illusory. That model is historically outdated, hence grossly idealised. The economic ‘independence’ of individual states, which would be based on ‘free’ contracts, may be unrealistic.

It is not always easy to see when armed conflicts of such countries, ‘enjoying’ a rather (though formally not) limited variant of ‘independence’, can be regarded as ‘wars of mercenaries’, unleashed in the interest of bigger powers, or when they are rooted in ethnic, religious, or perhaps in ‘national’ and even economic confrontations. Nevertheless, it can be hardly disputed that these conflicts are present in our ‘globalising’ world, even though their components are difficult to discern.

 

III. Euro-Atlantic Integration

The Euro-Atlantic integration is a process that cannot be formally defined, as it is a concept that is geographically broader than the European Union. Organisationally NATO stands the nearest to it, but NATO does not comprise countries, potentially linked to one another due to their geographic location, economic contacts, historical past, and some interrelated interests, despite some religious and cultural differences.

 

The dilemmas of the expansion of the EU

It is a fact beyond dispute that no decision has been made in respect to the fundamental issue of the concept based on ‘organisational sovereignty’. It was presented to the EU member-states for the first time in 1996, after long debates and adjustments at forums below governmental level. In fact, the creation of a structure and possibilities of action, which would reduce the independence (or freedom of action?) of the member-countries has not been successful, whereas the further development of the European Union is hardly possible without it.

It depends on the decision of the EU and its member-countries (and states wishing to become members) whether this ‘formation’, shaped as a new unity (politically, economically, as well as organisationally) would develop into a new, qualitatively different direction. If so, then the face, perspectives of development, and even world political significance of Europe would change.

Naturally, changes of a different kind can be expected in case the member-countries of the EU would be unable to overcome the present limitations of the organisation. It would then mean the reduction of the political and economic, or so to say, ‘global’ significance of Europe. It cannot be excluded though, that a more solidly established military alliance of Europe (even under retrograde political conditions) by itself would be able to preserve the stability of the system. Particularly, if considering the political weight and military significance of the member-countries outside Europe, mostly the United States. Taken together, they undoubtedly strengthen the position of the EU, especially if the common military interests, currently appearing to be stronger, are also kept in mind. However, narrowing European integration only to the area of military interests would definitely mean a step back and the weakening of the Western world.

It remains doubtful whether the political and military organisations that have evolved in Europe represent the future direction of historical development, or, they are transitory consequences of the military and political situation following World War II.

Therefore, the conclusion of current research, according to which there is no unambiguous scenario of the possible direction of European integration, is correct. During the past one or two decades competition between major regions has become global and it has accelerated European integration. It happened at the time of the major historical change of the late 1980s and afterward. However, the changes related to them, have not yet been sufficient to force a corresponding change in outlook, approach and, finally, in organisation within the European Union. Probably the analysis of these and other phenomena of similar content justifies the statement that regionalism, for the time being, cannot be considered as one of the organisational principles of the EU. It would become a momentous principle within a foreseeable period of time. Consequently at present the policy of regions of the Union is more supplementary than a comprehensive element of decisive influence.

Hence a change of outlook is also needed in research. Obtaining information about the EU with the purpose of orientation and related researches should be replaced by operational research, by the study of phenomena of behaviour, procedures of regulation, groups of political norms, etc., related directly or indirectly to integration. Such a shift should be accompanied by a conscious and concentrated preparation of researchers, politicians and experts.

Preparations for accession also require the study of the most recent aspects of the process of integration. Studies of the topics related to the EU devoted a separate chapter to this area, which is indispensable, particularly if Europe ‘does not suffer the decline of the nation-states’, but actively faces the ‘challenges’ caused by change, and takes the political and organisational initiative.

In the case of joining a major political unit, particularly if that unit presumably moves towards growing integration, (despite the uncertainties mentioned above) it is worth studying factors which work against integration, and others which, being ‘realised’ in rather significant aspects, function in the interest of integration.

However, the existence of identical or similar arguments does not mean that the historical processes and phenomena behind them are really the same, thus the arguments and disputes, or political action may not be the same in each case.

The special situation of the countries in the East Central European region derives from the fact that they live in such an ‘intermediate region’. The social and political structure and relations differ from those of the countries that joined the Union. These differences make the situation of the countries of this region also specific during the course of their negotiations with the Union. But the member-countries of the Union became acquainted with these specificities only during the past ten years. The time that has passed since, has not proved sufficient to offer adequate knowledge as a solid base for decisions, hence the EU must possess much more knowledge and a thorough analysis of the process. In addition, the ‘self-image’ and ‘self-reflections’ of the countries of the region have so far scarcely promoted the understanding of their internal conditions. The West wishes to possess more of information of the definition of real national interests, without any distortion. In addition to economic and political conditions, the space of accession is also influenced by how far the countries of the region are able to follow the set of political values evolved in the European Union, the requirements of tolerance and consensus.

The author of this paper, produced during the course of researches, and indicating practical considerations on the basis of complex analysis, has drawn the final conclusion as follows: the changes of the global situation of the EU, the national interests of member-countries, and the formal and informal networks actually operating during the integration process should be simultaneously considered. This complex task, requiring a variety of approaches and multidisciplinary assessment, can only be understood and realised by a well conceived, expediently co-ordinated, organised policy, based on ‘the science of integration’.

Begegnungen11_Krasz

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:245–265.

LILLA KRÁSZ

Gesellschaftliche Konventionen und die Modernisierung

Am Beispiel des Hebammenwesens im Ungarn des 18. Jahrhunderts

 

Disziplinierung, Hierarchisierung, Vereinheitlichung, spezialisierte Professionalisierung, Diskriminierung, Bürokratisierung – diese Begriffe sind allen Aufklärungsforschern vertraut. Mit ihnen kann auch der problematische Modernisierungsprozess auf dem Gebiet des Hebammenwesens im Ungarn des ausgehenden 18. Jahrhunderts charakterisiert werden. Traditionelle weibliche Selbstbestimmung auf der einen, obrigkeitliche Reglementierung auf der anderen Seite bildeten die gegensätzlichen Pole. Beide stellen zugleich jene Antriebskräfte dar, die den Wandel des Hebammenwesens in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts forcierten. Diese gespannte Situation stellte den Hintergrund dar, vor dem sich Konflikte abspielten. Das Verhalten der beiden entgegengesetzten Pole, der Hebammen auf der einen und der Obrigkeit auf der anderen Seite, stieß auf gegenseitiges Unbehagen und löste fast zwangsläufig faktische und persönliche Widerstände aus. Hinzu kam die sehr spezifische Situation in Ungarn, einem Land, in dem konfessionelle, ethnische und sprachliche Barrieren die sozialwirtschaftlichen Niveaudifferenzen verstärkten.

Im Ungarischen Landesarchiv – in der Abteilung des 1724 errichteten, der in Wien fungierenden Kanzlei untergeordneten Statthalterei-Archivs – befindet sich der außerordentlich umfassende Bestand Departamentum Sanitatis. Dieser gewährt einen landesweiten Einblick – in Form von narrativen Sanitätsberichten und tabellarischen Darstellungen – in das ungarländische Hebammenwesen. Die Schriften wurden bis zur Erlassung des Sprachedikts von Joseph II. im Jahre 1784 lateinisch verfasst, danach obligatorisch deutsch. Auf den ersten Blick erscheinen die in Tabellen geordneten Eintragungen als graue Datenmasse. Diese im Zeichen der – in Ungarn – neuen Wissenschaft, der Statistik angefertigten verschiedenen Auflistungen vermittelten der Obrigkeit in ihren Augen unentbehrliche Informationen über das Sanitätspersonal. Anhand dieses wertvollen Materials ist es möglich, die Sanitätshierarchie, die Verwaltungspraxis, den problematischen Ausbildungsprozess der Hebammen, den sich bildenden Konkurrenzkampf zwischen der akademischen Ärzteschaft und den als „unwissend” apostrophierten Hebammen, das Zusammenleben der alten Praktiken und der neuen Methoden, sowie die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der josephinischen Aufklärungsreformen zu rekonstruieren.

 

1. Die ersten Schritte zur Hebammenreform

Das neue Zeitalter im Hebammenwesen kann in der ungarländischen Region ganz genau datiert werden:

1766 wurde von István Weszprémi, einem kalvinistischen Arzt und Anhänger von Gerard van Swieten, das erste ungarische Hebammenlehrbuch „Unterricht für Hebammen” in Debrecen, in Ostungarn veröffentlicht.1 Das Lehrbuch war eigentlich nichts anderes als eine Übersetzung des Werks von Johann Heinrich Nepomuk Crantz, Professor der Wiener Medizinischen Schule der ersten Generation. Der Übersetzer bereicherte den ursprünglichen Text mit einem Anhang von neun Holzschnitten. Die naturalistischen Abbildungen zeigen die Gebärmutter und die Verlaufsvarianten der Geburt.2 Diese Holzschnitte sollten ungebildeten, leseunkundigen Frauen die Hebammenausbildung wesentlich erleichtern.3 Dem Lehrbuch von Weszprémi folgten bald weitere Lehrbücher und Katechismen.

1770 wurde das Sanitätsnormativ erlassen, das für das ganze Habsburgerreich eine einheitliche Regelung in Bezug auf die Prüfungsverpflichtungen der Hebammen verfügte. Die neun Paragraphen, die das Hebammenwesen betrafen, kriminalisierten die Anstellung nicht examinierter oder nicht unterrichteter Hebammen und diskriminierten zugleich die traditionellen Wehemütter als illegale „Kurpfuscherinnen”.4

Noch im selben Jahr wurde die von einem Jesuiten, Péter Pazmány in Tyrnau gegründete Universität durch eine medizinische Fakultät ergänzt. Die Gründung ermöglichte die moderne, fachgemäße Hebammenausbildung in Form von ein bis zwei Semester dauernden Kursen. Die Universität zog 1777 in die Hauptstadt, nach Buda (Ofen), und 7 Jahre später nach Pest. Von Anfang an wurden Wiener Professoren an den Lehrstuhl für Geburtshilfe berufen, was bedeutete, dass die Unterrichtssprache deutsch war. Aufgrund der daraus entstehenden sprachlichen Hindernisse wurden jahrzehntelang nur wenige Hebammen diplomiert.

 

Tabelle 1

1770–1786 an der Tyrnauer (von 1777 Budaer und von 1784 Pester)
Universität diplomierte Hebammen

                                   1770    0          1778    11

                                   1771    1          1779    10

                                   1772    2          1780    11

                                   1773    3          1781    10

                                   1774    0          1782    8

                                   1775    3          1783    12

                                   1776    9          1784    13

                                   1777    5          1785    22

                                               1786    29

            Quelle: ULA C66 Nr. 6. pos. 140/1878

 

2. Die Bürokratisierung des Sanitätswesens

Für die Arbeit der Statthalterei brachten die 1783 und in den darauf folgenden Jahren eingeführten Reformen entscheidende Veränderungen. Diese Reformen ersteckten sich auf die Organisation, den Wirkungsbereich und die Verwaltung der Statthalterei. Sie bezweckten die Administration in der Statthalterei schneller, einfacher und präziser zu gestalten. Ausdruck der bürokratischen sowie fachlichen Spezialisierung war ein neues Departamentum für Sanitätswesen. In diesem sogenannten Departamentum Sanitatis, das die Aufgaben der ehemaligen Sanitätskommission übernahm, waren hochqualifizierte Experten beschäftigt. Da die Statthalterei die Ausführung der Regelungen des Sanitätsnormativs nicht ausreichend kontrollieren konnte, bestand die Aufgabe des Departamentum Sanitatis darin, diese Mängel abzuschaffen.

1780, gleich nach seiner Thronbesteigung, verordnete Joseph II. die Anfertigung von Conduitlisten, die jedes Komitat jährlich einzureichen hatte.5 Damit sollte erstens jede Behörde die ihr untergeordneten staatlich bezahlten Angestellten kennenlernen, um im Falle einer neu zu besetzenden Stelle, die „wahrhaftigen Verdienste und Tauglichkeit in Betracht ziehen zu können (...)” und zweitens sollte die Arbeit der Angestellten unter Kontrolle gebracht werden. Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens geschah praktisch bis zur Umgestaltung der Statthalterei, bis 1783 nichts. 1783 erschienen wohl die ersten Sanitätsberichte, die von Komitatsphysikern angefertigt wurden, aber von fachmäßig ausgefüllten Conduitlisten kann – außer in einigen oberungarischen Komitaten – nicht die Rede sein.

Das Quellenmaterial über die Hebammen ist für diese Periode 1783–1786 sehr vielfältig. Neben den Berichten der Physiker gibt es aus den meisten Komitaten einfache Hebammenauflistungen (Tabelle 2) mit der Angabe ihrer Namen, ihres Dienstortes, manchmal auch ihrer Religionszugehörigkeit, von wem sie adjuriert wurden, ihres Alters und der nach den einzelnen Geburten ausgehändigten Geldsumme. Diese Auflistungen ergänzen die Klassifikationslisten: (Tabelle 3) Die Hebamme mit der Universitätsprüfung gehörte zur 1. Klasse, jene, die beim Physikus eine Prüfung ablegte, zur 2., und die meisten, die nur höchstens vom Ortspfarrer adjurierten Frauen, machten die 3. Klasse aus. In den Hebammenauflistungen und Klassifikationstabellen können auch die ungebildeten Dorfhebammen leicht verfolgt werden. Als Beilage zu diesen Listen schickten die Komitate auch die Kopien vom Diplom oder vom Attestat der geprüften Hebamme mit. Dies war die Lage bis zum Jahre 1785.

Am 31. Oktober 1785 verordnete Joseph II. für jede Behörde wiederum die Anfertigungspflicht der jährlichen Conduitlisten.6 Dies geschah gleich nach der Errichtung des sogenannten Distriktualsystems, wobei 54 Komitate (auf dem Gebiet von Ungarn, Slawonien und Kroatien) zehn administrativen Distrikten zugeordnet wurden. Die Leitung der einzelnen Distrikte wurde von den vom König ernannten Obergespanen, alias Kommissaren übernommen. Das bedeutet, dass die bisher gewählte Selbstverwaltung der Komitate, der königlichen Freistädte und der zwei privilegierten Distrikte entmachtet wurde. Die Kommissare mussten die von ihnen ernannten Vizegespane antreiben, die wiederum die Oberstuhlrichter und die Geschworenen unterrichteten, wobei der neue bürokratische Apparat bis zu den Dorfrichtern vordrang.7

 

Tabelle 2.

HEBAMMENAUFLISTUNG
(Konskriptio) – Neutraer Komitat/1783

 

Nomina
Locorum

Nomina & Cognomina obstetricum

Religio

Aetas
Annorum

Per quem approbata

Fungitur munio
ab annis

Solutionem habet
a singula puerpera

 

 

 

 

 

cr.

Ersek Ujvár

Julianna Nyerges

Cathol

46

Per Paroch.

7

16

Ibidem

Susanna Pilez

Cathol

51

Per Paroch.

13

16

Ibidem

Maria Taruz

Cathol

41

Per Paroch.

6

16

Ibidem

Elisabetha Eőztővér

Cathol

44

Per Paroch.

3

16

Taroskedgy

Anna Tóth

Cathol

52

Per Paroch.

9

17

Ibidem

Elisabetha Takács

Cathol

40

Per Paroch.

3

17

Sook

Maria Fekete

Cathol

43

Per Paroch.

5

17

Ibidem

Maria Mihlik

Cathol

50

Per Paroch.

6

17

Megyer

Maria Provodierky

Cathol

51

Per Paroch.

7

17

Ibidem

Catharina Kormtesky

Cathol

49

Per Paroch.

4

17

Negyed

Catharina Molnár

Cathol

57

Per Paroch.

8

17

Ibidem

Theresia Totth

Calvin

49

Per Paroch.

5

17

Farkasd

Catharina Siposs

Calvin

42

Per Paroch.

4

17

Andod

Anna Mészáros

Cathol

39

Per Paroch.

3

17

Komjath

Catharina Pcsenas

Cathol

54

Per Paroch.

7

20

Ibidem

Anna Hlavaty

Cathol

45

Per Paroch.

6

20

Surány

Anna Narosdgyan

Cathol

47

Per Paroch.

10

20

Bankeszy

Maria Smetana

Cathol

48

Per Paroch.

8

18

Varad

Catharina Bezuba

Cathol

38

Per Paroch.

3

18

Nagyszegh

Catharina Halaz

Cathol

58

Per Paroch

17

30

Csornok

Eva Csaky

Cathol

47

Per Paroch.

7

18

Andács

Catharina Pagacska

Cathol

39

Per Paroch.

4

18

Elecske

Maria Hugyik

Cathol

45

Per Paroch.

12

12

Alsó Récsény

Anna Hranka

Cathol

60

Per Paroch.

14

12

Kelecsény

Eva Hrcsár

Cathol

61

Per Paroch.

19

18

Saagh

Anna Regik

Luther

48

Per Paroch.

8

18

Udvarnok

Catharina Kacserka

Cathol

58

Per Paroch.

9

18

Bajmocska

Maria Sagocsky

Cathol

59

Per Paroch.

11

18

Salgocska

Anna Hruskova

Cathol

64

Per Paroch.

13

18

Nemeskürth

Anna Borik

Cathol

50

Per Paroch.

10

18

Pusztakürth

Catharina Gnoska

Cathol

45

Per Paroch.

7

18

Romanfalva

Eva Kucha

Cathol

52

Per Paroch.

8

18

Posztka

Maria Brnka

Cathol

59

Per Paroch.

11

18

Gerencsir

Maria Bernath

Cathol

66

Per Paroch.

4

18

Csitar

Dorothea Magha

Cathol

62

Per Paroch.

17

18

Ghimes

Catharina Sinko

Cathol

41

Per Paroch.

9

18

Kolon

Anna Sipos

Cathol

37

Per Paroch.

6

15

Kiss Hind

Catharina Duvacs

Cathol

49

Per Paroch.

9

15

Nagy Hind

Catharina Mika

Cathol

50

Per Paroch.

10

18

Nagy Czétény

Catharina Chudoba

Cathol

66

Per Paroch.

21

18

Csalad

Susanna Juhasz

Cathol

62

Per Paroch.

20

15

Babindal

Elisabetha Kosztolany

Cathol

55

Per Paroch.

14

15

Geszthe

Rosa Brath

Cathol

66

Per Paroch.

9

15

Kalaz

Elisabetha Barrak

Cathol

47

Per Paroch.

10

15

Dicske

Catharina Sipkova

Cathol

50

Per Paroch.

11

15

Vajk

Catharina Kovacs

Cathol

56

Per Paroch.

12

15

Martonyfalva

Catharina Faricska

Cathol

63

Per Paroch.

15

15

Szt. Mihály Úr

Anna Vlcskova

Cathol

49

Per Paroch.

7

18

Gyarak

Helena Belova

Cathol

60

Per Paroch.

15

18

Kiss Manya

Catharina Kocsis

Cathol

44

Per Paroch.

7

15

Födimes

Susanna Porocsna

Cathol

48

Per Paroch.

9

12

Eördeghe

Anna Kosztolanyicska

Cathol

51

Per Paroch.

14

15

Also Szöllös

Juditha Bekecs

Cathol

53

Per Paroch.

16

12

Felsö Szöllös

Dorothea Lubora

Cathol

60

Per Paroch.

5

12

Pann

Catharina Haluza

Cathol

43

Per Paroch.

7

17

Lapas Gyarmath

Catharina Mechinya

Cathol

47

Par Paroch.

9

15

Nagy Lapas

Anna Balass

Cathol

61

Per Paroch.

19

15

Kiss Lapas

Barbara Palkova

Cathol

39

Per Paroch.

4

18

Molnos

Helena Bary

Cathol

42

Per Paroch.

6

18

Sartuska

Anna Duchony

Cathol

54

Per Paroch.

10

15,

Üzbégh

Elisabetha Madanka

Cathol

49

Per Paroch.

7

15

Nagy Kér

Susanna Zsongor

Cathol

46

Per Paroch.

9

18

Berencs

Catharina Konya

Cathol

53

Per Paroch.

11

18

Nagyfalu

Maria Major

Cathol

62

Per Paroch.

17

15

Ivanka

Elisabetha Skrabak

Cathol

39

Per Paroch.

3

15

Also Kőrőskény

Elisabetha Martanka

Cathol

65

Per Paroch.

22

18

Felső Kőrőskény

Anna Szadecskova

Cathol

70

Per Paroch.

23

15

Tormos

Anna Janfulka

Cathol

51

Per Paroch.

15

15

Emöke

Catharina Vass

Cathol

47

Per Paroch.

10

18

Urmeny

Anna Horak

Cathol

34

Per Paroch.

2

18

Salgho

Catharina Strihula

Cathol

55

Per Paroch.

16

16

Czabay

Elisabetha Lakatos

Cathol

54

Per Paroch.

3

17

Mocsonok

Dorothea Banyar

Cathol

55

Per Paroch.

2

18

Kiraly

Anna Hambalko

Cathol

44

Per Paroch.

5

17

Ujlak

Ranata Halenar

Cathol

48

Per Paroch.

12

16

Üregh

Anna Bédi

Cathol

54

Per Paroch.

3

18

Csapor

Maria Csutak

Cathol

55

Per Paroch.

7

18

Civitas Nittra

Rosalia Sipek

Cathol

38

Per Paroch.

8

18

Ibidem

Maria Vagricsko

Cathol

40

Per Paroch.

9

17

Ibidem

Rosalia Kelemen

Cathol

39

Per Paroch.

5

17

Ibidem

Dorothea Klasovszka

Cathol

42

Per Paroch.

6

17

Lehotta

Anna Bubin

Cathol

48

Per Paroch.

9

18

Szalakusz

Catharina Czehirova

Cathol

33

Per Paroch.

2

15

Béd

Catharina Kunyergowa

Cathol

51

Per Paroch.

10

15

Sempthe

Elisabetha Baby

Cathol

38

Per Paroch.

2

12

Fornocz

Maria Tamas

Cathol

50

Per Paroch.

8

10

Ibidem

Elisabetha Csulik

Cazhol

54

Per Paroch.

16

10

Királyfalu

Maria Galan

Cathol

66

Per Paroch.

21

14

Hoszufalu

Juditha Kovacs

Cathol

49

Per Paroch.

9

12,

Séllye

Anna Boledovics

Cathol

61

Per Paroch.

16

20

Vecse

Maria Olla

Cathol

62

Per Paroch.

17

16

Soporny

Catharina Lochanka

Cathol

66

Per Paroch.

20

16

Ibidem

Maria Ehuda

Cathol

54

Per Paroch.

14

16

Patta

Eva Ehudacsek

Cathol

44

Per Paroch.

5

14

Kiss Bább

Catharina Bordovas

Cathol

64

Per Paroch.

17

10

Nagy Bább

Eva Chovancsek

Cathol

47

Per Paroch.

6

10

Köpösd

Juditha Valchar

Cathol

60

Per Paroch.

10

12

Quelle: ULA C 66 Nr. 22. pos. 3/1783–84. (Neutraer Prozess)

 

Tabelle 3.

KLASSIFIKATIONSLISTE DER DEUTSCHEN HEBAMMEN
AUS DEM ZIPSER KOMITAT (1789)

 

Nr

Namen derselben

Wohn Ort

Ihr Alter

Wie lange Sie die Geburts Hülfe ausübt

Ihre Fähigkeit

1.

Eva Polsch

Kesmark

reifen Alter

seit zwey Jahren

Erster Classe

2.

Susanna Kraußin

Kesmark

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

3.

Catharina Kißlerin

Kesmark

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

4.

Anna Pavliczkin

Kesmark

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

5.

Sophia Langin

Kesmark

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

6.

Clara Benno

Laibicz

Jung

eine Anfängerin

Erster Classe

7.

Catharina Hussin

Laibicz

reifen Alter

seit 5 Jahren

2ter Classe

8.

Maria Knotin

Ruszquinocz

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

9.

Susanna Fischer

Durand

reifen Alter

seit 16 Jahren

2ter Classe

10.

Catharina Klugin

Durand

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

11.

Maria Behlerin

Menhard

Mitteljährig

seit 7 Jahren

2ter Classe

12.

Susanna Veberin

Menhard

Mitteljährig

seit 12 Jahren

ist davon gelaufen

13.

Susanna Hollumczerin

Matthaeoc

Mitteljährig

seit 3 Jahren

Erster Classe

14.

Sophia Jaczkin

Georgenberg

Jung

eine Anfängerin

Erster Classe

 

N. Schlofferin

Georgenberg

Mitteljährig

seit einigen Jahren

ist ausgeblie-
ben

15.

Maria Mauriczin

Poprad

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

 

N. Topscherin

Poprad

Mitteljährig

seit einigen Jahren

ist ausgeblie-
ben

16.

Maria Schwarzin

Strása

reifen Alter

seit 15 Jahren

3ter Classe

17.

Sophia Kerkin

Strása

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

18.

Susanna Schwarcz

Felka

Mitteljährig

seit 8 Jahren

2ter Classe

19.

Maria Strompfin

Felka

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

20.

Catharina Demütherin

Bela

Mitteljährig

seit 6 Jahren

2ter Classe,

 

N. Knießnerin

Bela

Mitteljährig

seit einigen Jahren

hat sich Befehl widersezt, und ist vorszlich ausgeblieben

21.

Catharina Pavolnin

Podolin

reifen Alter

seit 4 Jahren

Erster Calsse

22.

Anna Chlebakin

Podolin

reifen Alter

seit 12 Jahren

ist davon gelaufen

23.

Agnethe Marczlin

Gnezda

Jung

eine Anfängerin

3ter Classe

24.

Cuneg. Cajezkin

Gnezda

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

25.

Juliana Kosakovski

Lublo

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

26.

Sophia Demkin

Iglo

Mitteljährig

seit 14 Jahren

3ter Classe

27.

Margaretha Grabin

Iglo

reifen Alter

seit mehreren Jahren

2ter Classe

28.

Alexandra Zuranin

Varalya

Mitteljährig

seit einem Jahre

Erster Classe

29.

Susanna Hermann

Wallendorf

reifen Alter

seit 6 Jahren

Erster Classe

30.

Anna Maria Hermann

Wallendorf

Jung

eine Anfängerin

Erster Classe

31.

Maria Illnerin

Dobravola

Jung

eine Anfängerin

2ter Classe

32.

Maria Bendlin

Zsegre

reifen Alter

seit einigen Jahren

3ter Classe

33.

Agnetha Raczenberger

Krompach

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

34.

Susanna Klosin

Burgerhoff

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

35.

Catharina Faixin

Eißdorf

Mitteljährig

seit 9 Jahren

3ter Classe

36.

Catharina Kalixin

Eißdorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

 

Susanna Barcsin

Eißdorf

Mitteljährig

seit einigen Jahren

ein sonst
ge schiktes Weib ist dermahl ausgeblieben

37.

Anna Schvarczin

Hundsdorf

Alt

seit 3 Jahren

3ter Classe

38.

Eva Barcsin

Hundsdorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

39.

Rifke Jüdin

Hundsdorf

Mitteljährig

seit mehreren Jahren

2ter Classe

40.

Jac. Reiszin Jüdin

Hundsdorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

41.

Maria Glaczin

Kakas Lomnicz

Jung

seit zwey Jahren

Erster Calsse

42.

Susanna Philippin

Mülenbach

Mitteljährig

seit einigen Jahren

2ter Classe

43.

Sophia Greyszin

Großschlag-
dorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

44.

Sophia Scherffeln

Großschlag-
dorf

Mitteljährig

seit 9 Jahren

2ter Classe

45.

Maria Knießnerin

Altvaltdorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

46.

Maria Horvai

Neuvaltdorf

Alt

seit 14 Jahren

3ter Classe

47.

Eva Kurßkin

Neuvaltdorf

Mitteljährig

eine Anfängerin

davon gelaufen

48.

Susanna Jurnerin

Forberg

Alt

seit 3 Jahren

3ter Classe

49.

Anna Pudleinerin

Bussocz

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

50.

Maria Oszvaldin

Viborna

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

51.

Anna Bobakin

Topporcz

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

52.

Susanna Jaczkin

Hollomnicz

Jung

eine Anfängerin

2ter Classe

53.

Susanna Blosin

Hollomnicz

Jung

eine Anfängerin

2ter Classe

54.

Sophia Adamkovicz

Hopfgart

Jung

eine Anfängerin

gute

55.

Elisabetha Repaßki

Zavada

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

56.

Anna Motika

Uloza

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

57.

Catharina Subova

Pongracz-falva

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

58.

Elisabetha Matiska

Biaczovecz

Mitteljährig

seit einem Jahre

Erster Classe

59.

Maria Tomkus

Ordzovian

Mitteljährig

seit 3 Jahren

2ter Classe

60.

Maria Voitkova

Lengvard

Alt

seit 20 Jahren

3ter Classe

61.

Anna Koperdan

Kolbach

Alt

seit 8 Jahren

Erster Classe

62.

Theresia Karhutnyak

Ober Repas

Mitteljährig

seit 5 Jahren

Erster Classe

63.

Anna Kostan

Toriska

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

64.

Sophia Kosztelnik

Pavlan

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Classe

65.

Maria Utlak

Unter Repas

Mitteljährig

eine Anfängerin

Erster Calsse

66.

Maria Klacsicha

Olsavicza

Alt

seit 7 Jahren

Erster Classe

67.

Anna Scharnik

Brutocz

Mitteljährig

seit 9 Jahren

3ter Classe

68.

Maria Berko

Kolcsova

Alt

seit 6 Jahren

3ter Classe

69.

Anna Missaga

Almas

Alt

seit 9 Jahren

3ter Classe

70.

Catharina Dreiko

Lucska

Alt

seit 9 Jahren

2ter Classe

71.

Catharina Schavkova

Görgö

Alt

seit 4 Jahren

2ter Classe

72.

Helena Mazurka

Görgö

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

73.

Anna Bednarova

Dolian

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

74.

Eva Marschalko

Varalya

Mitteljährig

eine Anfängerin

3ter Classe

75.

Theresia Zoltiz

Neu Bela

Mitteljährig

eine Anfängerin

2ter Classe

Ouelle: ULA C66 Nr. 125. pos. 1/1789

 

Da der Abgabetermin der einzureichenden Conduitlisten für den 1. Februar 1786 zu knapp war, konnten nur wenige Komitate dieser Aufgabe gerecht werden. Das war kein Wunder! In den rein ungarischen Komitaten erregte die Erlassung des deutschen Sprachedikts einen großen Widerstand: Entweder konnte man nicht Deutsch oder die Amtssprache wurde aus Patriotismus verweigert.

Bis ein Bericht mit beigelegter Tabelle bei der Statthalterei ankam, musste er einen langen Weg zurücklegen. Dem Oberstuhlrichter, oder den Geschworenen wurden die Tabellen von Seiten der Komitatsphysiker übergeben. Der Komitatsphysiker sammelte die nötigen Daten von den ihm untergeordneten Physikern oder Chirurgen ein. Es kam auch vor, dass die Arbeit der wirklichen Datensammlung vom Ortsrichter, dem örtlichen Pfarrer oder sogar von der schreibkundigen diplomierten Hebamme geleistet wurde. Die Zusammenführung der Daten war die Aufgabe des Komitatsphysikers, da aber manchmal mehrere Monate zwischen dem Eintreffen der Teildaten der einzelnen Kreise vergingen, wurden oft nur halb ausgefüllte, mangelhafte Tabellen dem Oberstuhlrichter zugeschickt. Dies ist wirklich nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass einige Chirurgen oder Hebammen neben ihren sonstigen Aufgaben oft einen Kreis von 50 bis 60 km zu Fuß bereisen mussten, um die nötigen Informationen einzusammeln. Die Absicht war wohlgemeint, nur die Ausführung – z.B. in einem dicht bewohnten Komitat – erschien als beinahe unmöglich. Mehrere Komitate versuchten deshalb dieser Aufgabe leichter gerecht zu werden, wobei sie im ersten Jahr 1785 mehr oder weniger wirklichkeitstreue Daten in die Tabellen einführten, und in den folgenden Jahren nur diese variierten.

In Form von gedruckten Rundschreiben wurden sogenannte Circularia Impressa Instruktionen für die Anfertigungsmethode der Tabellen ausgegeben, was für die Physiker als eine Richtschnur galt. Um die Ausführung der Aufgabe zu erleichtern, – von 1788 an – bekamen die Hebammen und Chirurgen Amtsunterricht. Weiter führte der Weg der Tabellen vom Oberstuhlrichter zum Vizegespan und letzten Endes zum Obergespan alias Kommissar, der diese meistens in unveränderter Form dem Departamentum Sanitatis zuschickte. Die Aufgabe des Departamentums war: Anhand von Berichten und Tabellen Schlüsse zu ziehen und Vorschläge auszuarbeiten. In der Praxis wurde aber nur eine kurze Zusammenfassung der Berichte verfasst. Die Arbeit der Physiker, Chirurgen, Hebammen wurde nicht richtig ausgewertet, worauf die an die Statthalterei adressierten Klagebriefe der Komitate hinweisen. Es gab weder eine positive noch eine negative Reflexion. Allerdings hatte die Statthalterei dazu auch kein Mittel in der Hand. In den problematischen Fällen konnte sie höchstens die Akten der Medizinischen Fakultät der Pester Universität zur weiteren Untersuchung zuschicken.

 

3. Die Angaben in den Conduitlisten

Der erste Teil der Conduitlisten enthält persönliche Daten: Name der Hebamme, Dienstort, Geburtsort, Religion, Alter, Familienstand, wo gelernt, von wem examiniert, mit Attestat oder mit Diplom versehen, seit wann in dem Ort als Hebamme dient, von wem angestellt, wo und in welcher Kondition früher gedient, Sprachkenntnisse, und ihr Salarium. (Tabelle 4)

Die Angabe des Geburtsorts lässt uns Schlussfolgerungen über die Mobilität einer Hebamme ziehen.

Die Rubriken wo gelernt, von wem examiniert und mit „Attestat” oder „Diplom” versehen weist auf den Weg hin, wie sich die Hebamme ihr Wissen angeeignet hatte. Ein Diplom bekam die Frau, die einen ein oder zwei Semester langen öffentlichen Hebammenkurs absolvierte, und schließlich vor einer Kommission an der Universität über ihr theoretisches und praktisches Wissen Rechenschaft ablegte. Nur ein Attestat wurde jener Frau ausgehändigt, die einige Monate bei einer – in der Tabelle ebenfalls aufgelisteten – diplomierten Hebamme, oder einem Physiker, Chirurgen lernte und dann vor einer Kommission geprüft wurde. Die Kommission bestand in der Regel aus dem Physiker, dem Chirurg, und dem Oberstuhlrichter oder den Geschworenen. Diese ausgehändigten Zeugnisse und Attestate der Komitats- bzw. Stadtsphysiker hatten eine formale Bedeutung – eine neue Maßnahme zur Disziplinierung und Uniformisierung, sowie Etablierung ärztlicher und wundärztlicher Autorität, Demonstration obrigkeitlicher Kontrolle, und Bürokratisierung. Diese erste Phase der Professionalisierung trug zur Ausbildung eines neuen Berufsethos der „wahren” Hebamme bei. Was die Hebammen dadurch gelernt haben war: Der Umgang mit Behörden und Institutionen. Die ausgehändigten Zeugnisse und Attestate symbolisierten nicht mehr eine praktische, sondern eine abstrakte, erlernte und verbriefte Angelegenheit. Die Verschulung des Hebammenamtes schuf neue Orientierungen, machte die Hebammen zu einem aktiven oder passiven Teil obrigkeitlicher Kontrollmechanismen.

Die Rubriken Alter und Familienstand ermöglichen es, den „Prototyp" der ausgebildeten Hebamme zu rekonstruieren: Im Allgemeinen galt die diplomierte Hebamme als eine verheiratete verhältnismäßig junge, 20–40 Jahre alte Frau. Unter den attestierten Hebammen dominierten die etwas älteren, um die 40–60 Jahre alten verwitweten Frauen.

Die Rubriken Salarium und von wem angestellt zeigen, welche Hebamme als Angestellte der Stadt oder der Pfarrei mit einem festgelegten Gehalt ihrer Arbeit nachkommt, und welche ein besonders geringes Honorar oder eine Besoldung in Natura nach ihrer gelegentlich geleisteten geburtshelferischen Arbeit bekommt. Gerade die Letzteren waren wegen ihrer Armut eher Bestechungen und Parteilichkeiten ausgesetzt.8

Von der Statthalterei 1786 ausgestellter Ausweis verdeutlicht in einer landesweiten Übersicht, wie gering die Anzahl der geprüften mit festem Gehalt ausgestatteten und staatlich angestellten Hebammen war. (Tabelle 5) Was die Summe der Verdienste anbelangt: Die Hebamme bekam 13–150 Forint/Jahr und meistens eine Dienstwohnung, etwas Holz und/oder Getreide dazu. (Als Vergleich: Ein ebenfalls geprüfter Chirurg im staatlichen Dienste verdiente 50–500 Forint/Jahr und ein Komitatsphysiker 150–800 Forint/Jahr.)

 

Tabelle 5.

ANZAHL DER GEPRÜFTEN STAATLICH BEZAHLTEN HEBAMMEN

NACH DEN EINZELNEN DISTRIKTEN, 1786

Distrikt

Geschpannschaft

Anzahl der ordentlich Geprüften bezahlten Hebammen

Neutraer

Preßburger

15

 

Neutraer

6

 

Trentschiner

0

 

Berscher

3

Raaber

Raaber und Wieselburger

5

 

Ödenburger

7

 

Komorner und Graner

9

 

Eisenburger

8

 

Wesprimer

4

Neusohler

Thurotzer

9

 

Honter

5

 

Lyptau und Arwaer

3

 

Gömörer

1

Kaschauer

Zipser

1

 

Scharoscher

2

 

Abaujwarer

5

 

Sempliner

2

Munkatscher

Unghwarer

1

 

Beregher und Ugotscher

 

Szathmarer

4

 

Maramaroscher

4

Großwardeiner

Szaboltscher

 

Biharer

1

 

Bikescher Tschongrader und Tschanader

19

 

Arader

5

 

Hajducker Städte

Pester

Pester

18

 

Hewescher

5

 

Neograder

4

 

Borsoder

2

 

Weißenburger

16

 

Jazigien und Kumanien

3

Fünfkirchner

Tolnauer

4

 

Baranyer

6

 

Syrmier

 

Werowititzer

 

Schimegher

4

Temescher

Temescher

5

 

Kraschower

5

 

Torontaler

4

 

Batscher

2

Agramer

Salader

6

 

Waraschdiner

18

 

Agramer und Seweriner

3

 

Kreutzer

 

Poscheganer

Quelle: ULA c66 Nr. 43. pos. 401/1875–86.

 

Die Rubriken seit wann in dem Orte als Hebamme dient und wo und in welcher Kondition waren für die Fachadministration von Bedeutung. Es galt als grundlegend, über die Amtsvergangenheit einer Hebamme Bescheid zu wissen, d.h. wo sie ihre Erfahrungen gesammelt hatte und welche Positionen sie bekleidete. Dies war wichtig, wenn eine Hebamme verstarb oder versetzt wurde und somit ihre Stelle neu besetzt werden musste. Diese Rubriken weisen auch auf die „Karrieremöglichkeiten" des Hebammenberufes hin.

Die Sprachkenntnisse waren wegen der Verrichtung der Aufgabe von Bedeutung. Es wurde verlangt, dass jede staatlich bezahlte Angestellte die Sprache der Bewohner/Innen im jeweiligen Dienstort kennt. Man muss hier bemerken, dass die Anzahl der Hebammen deutscher Muttersprache landesweit hoch war. Ein großer Teil dieser Hebammen hatte ein Studium in Wien absolviert. Da die Unterrichtssprache der Medizinischen Fakultät der Pester Universität ebenfalls deutsch war, waren die hier gelernten Hebammen schwäbischer, sächsischer oder österreichischer Herkunft. Nach der abgelegten Prüfung standen die meisten vor einer schwierigen Aufgabe: Als ortsfremde oder/und diplomierte Hebammen mussten sie sich die Anerkennung der Gemeinde erkämpfen.

Im zweiten Teil der Conduitliste werden die individuellen Eigenschaften bewertet: geschickt, emsig, nüchtern, sehr fleißig, durchschnittlich, schwach, ehrlich, bescheiden, geldsüchtig, frech, neidisch, eifersüchtig auf andere Hebammen, unmoralisch, Klatsch verbreitend, gereizt, ungeduldig mit ihren Patienten/Innen, alkoholsüchtig, neigt zu Übergriffen. Solche und ähnliche Eintragungen findet man hier. Wenn man diese im Zeitraum 1786–1790 verfolgt, zeichnen sich wahre Porträts über die einzelnen Hebammen heraus. In manchen Fällen kann es bei den vermerkten Charakterzügen derselben Hebamme mit der Zeit zu wesentlichen Abweichungen kommen, wenn ihr eine andere Position zugeteilt wurde z.B. aus einer Stadthebamme wird eine Komitatshebamme, oder wenn eine Hebamme – die nur gelegentlich zur Hilfe gezogen, und nur in Natura oder mit einer geringen Geldsumme bezahlt wurde – eine Angestellte mit festgelegtem Gehalt wird, oder wenn eine Hebamme in eine andere Ortschaft oder sogar in ein anderes Komitat verlegt wurde. Aus den Conduitlisten lässt sich erahnen, welche Spannungen zwischen einer Hebamme mit besonders nachteilig beurteilten Charakterzügen und ihren Patienten aufkamen. Es gibt viele Hinweise auf Missbrauch von finanziellen Mitteln, Korruption oder Parteilichkeit, die aus familiären, oft ethnischen oder religiösen Voreingenommenheit entstanden. Andererseits geben diese Conduiten plastisch wieder, welche Wertvorstellungen zu der Zeit verbreitet waren, welche menschlichen, moralischen Fehler die Vorgesetzten bei den Hebammen fanden, oder welche Züge überhaupt als nicht akzeptabel angesehen wurden.9

 

4. Konflikte zwischen Obrigkeit und Gemeinden anhand einzelner Fallstudien

Vieles, was die Conduitlisten nur ahnen lassen, findet man in den Beschreibungen sehr definitiv. Das Niveau und die Detailliertheit der Berichte hingen vom Gewissen und fachlichen Engagement des Physikers ab, und dementsprechend gestalteten sich die Berichte in den einzelnen Komitaten bzw. Distrikten sehr verschieden. Wir können uns ein genaues Bild darüber machen, ob die josephinischen Reformen in Folge der Prinzipien oder der wirklichen Lage nach initiiert wurden. Anhand der Analyse mehrerer hunderter Berichte ist festzustellen, dass die Komitate mit der Ausführung der Ausbildung und Examinierung der Dorfhebammen am schwierigsten zurechtkamen. Es schien eine Unmöglichkeit zu sein, dass diese Frauen, die die Geburtshilfe aufgrund ihrer Erfahrungen ausübten, plötzlich zum Unterricht und zur Ablegung einer Prüfung gezwungen wurden. Die einzelnen Dorfgemeinden fanden die Art und Weise, wie sie die obrigkeitlichen Regelungen umgehen und rationalisieren konnten, zwangsläufig entwickelten sich verschiedene Verweigerungsstrategien heraus. In diesem Kampf war die Dorfelite – der Ortsrichter, der Pfarrer, der Notar – sogar die Obrigkeit des Komitats – der Physiker, der Chirurg, der Oberstuhlrichter – ihr Partner. Sie kooperierten. In diesen Konfliktsituationen kommen die Schwachstellen des Systems zum Vorschein: wohlgemeinte, rationale, aber nicht durchgedachte obrigkeitliche Maßnahmen, die zugleich versuchten, in die Privatsphäre einzugreifen.

Welche Konflikte hierbei entstanden und wie schwierig es war, die von der Obrigkeit für „unwissend" gehaltenen Hebammen in die institutionalisierte Ausbildung einzugliedern, zeigt das Beispiel der Stadt Iglo im Zipser Komitat. Iglo, 1786 ein Ort, der aus der Sicht der Verwaltungszugehörigkeit kompliziert war, gehörte zu den 16 privilegierten Städten im Zipser Komitat. Die vom König Sigismund 1412 an Polen verpfändeten Städte wurden 1772 wieder in Ungarn reinkorporiert. Das Verwaltungssystem der Städte wurde in einem von Maria Theresia 1778 erlassenen Privileg geregelt und der Distrikt der 16 Zipser Städte aufgestellt. Dies bedeutete, dass sie gleich den königlichen Freistädten unmittelbar dem Herrscher unterstellt waren. Da aber der Hof den 16 reinkorporierten Städten nicht traute, wurde ein Kameral-Administrator mit der Aufsicht der örtlichen Ausführung der obrigkeitlichen Regelungen beauftragt. Vielfältig war die gesellschaftliche, sprachliche, religiöse Zusammenstellung der Stadt: ungarische Gutsherren, sächsisches Bürgertum, slowakische Bauernschaft katholischer oder lutherischer Religion. Probleme, die in einem einheitlichen Verwaltungsbereich sonst nur mittelbar präsent waren, provozierten hier wirkliche Konflikte.

Die Hauptfiguren sind: Die Igloer Stadthebamme Elisabetha Niklausin, die vorher in Preßburg gedient hatte. Sie kam 1784 nach Iglo, als eine Hebammenstelle frei wurde. Sie galt als Angestellte der Stadt mit festem Gehalt von 80 Forint/Jahr und dazu kamen noch 40 Forint/Jahr Reisegeld. Weitere Figuren sind: Anton Klobusiczky der Großwardiner Kameral-Administrator, Jacob Engel der Zipser Komitatsphysiker und der Ortsrichter Szentmiklósy.

Der Konflikt nimmt seinen Anfang mit dem an Klobusiczky adressierten leidenschaftlichen Brief von Elisabetha Niklausin. Sie berichtet dem Kameral-Administrator davon, dass die Stadt die obrigkeitlichen Regelungen verweigert, und der Prüfungsverpflichtung der Hebammen nicht nachkommt. In Iglo können fünf ungeprüfte, ignorante Frauen die Hebammenschaft frei und unbehindert ausüben. Frau Niklausin fühlte, dass sich die Bürger der Stadt gegen sie verschwört hatten: Die meisten Bürger verboten nämlich ihren Weibern bei der Geburt, sie zu rufen und bestanden eher auf die Hilfe der ignoranten Hebammen. Klobusiczky schickte den Brief mit seinen Bemerkungen sofort der Statthalterei zu, in dem er den Orstrichter Szentmiklósy beschuldigte: Er wäre verantwortlich dafür, dass die Stadt – entgegen den königlichen Regelungen – weiterhin den fünf ungeprüften Hebammen erlaubte, die Hebammenschaft auszuüben. Darauf beauftragte die Statthalterei den Komitatsphysiker Jacob Engel mit der näheren Untersuchung dieses Konflikts. Der Physiker reiste sogleich nach Iglo und einige Wochen später gab er dem Komitat einen detaillierten Bericht. Aus diesem Bericht werden die Gründe ersichtlich, warum die Bürger der Frau Niklausin ein so großes Misstrauen entgegenbrachten:

1.) Sie ist geldsüchtig und kümmert sich nur um die Reichen. Die Armen behandelt sie nicht fachgerecht.

2.) Sie tritt arrogant gegenüber den fünf ungeprüften Frauen auf. Sie nimmt sie als Helferinnen bei Geburten und erwartet von ihnen, dass diese Frauen für sie eine bestimmte Geldsumme von den Klienten verlangen. Falls die ungeprüften Hebammen dies nicht getan haben, wurden sie von Frau Niklausin grob vertrieben.

3.) Frau Niklausin war einen ganzen Monat abwesend und überließ die gebärenden Frauen ihrem Schicksal.

Engel stellte fest, dass die bisherige Arbeit der fünf Hebammen mit keinerlei Problemen verbunden war. Er mahnte die Frau Niklausin, sich in der Zukunft gewissenhafter ihrer Arbeit zu widmen, um das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen. Mit dem Einverständnis des Physikers schickte die Obrigkeit des Komitats einen Bericht der Statthalterei, in dem sie sich von Klobusiczky abgrenzte, der „sich mit den unruhigen Mutmaßungen der unruhigen Menschen” identifizierte und so mit seiner Arbeit dem Komitat nur Schaden verursachte. Die Lösung des Konflikts fand schließlich der weise Physiker. Er sah das ruhebringende Mittel in der Erteilung des Unterrichts der fünf Frauen, damit sie danach von einer Kommission geprüft werden konnten. Der fleißige Engel entschied, die Ausbildung der Frauen in den Monaten Juli-August – als die Krankheiten am wenigsten grassierten – selber zu übernehmen. Als Ort der öffentlichen Vorlesungen gab er Leutschau an, wohin außer den fünf Igloer Weibern jede Stadt im Zipser Komitat zwei oder drei kluge Frauen schicken musste, die dann den nötigen Unterricht den anderen Ortsweibern erteilen konnten. Den Anzeichen nach kam es zu einer friedlichen Lösung des Konflikts. Die letzte Schrift des Physikers berichtet nämlich davon, dass von den fünf ungeprüften Igloer Hebammen letztendlich nach dem Abschluss des Unterrichtes zwei die benötigte Prüfung mit Erfolg ablegten, und nun als Helferinnen neben der Frau Niklausin öffentlichen Dienst leisteten. Auf solche Art und Weise wurde eine Jahrhunderte lang ausgeübte Praxis der „weisen Frauen" legalisiert, wobei diese Weiber durch die Bürokratisierung des Gewohnheitsrechtes mit einem Attestat versehen wurden.10

Eine ähnliche Lösung fand für das gleiche Übergangsproblem das Salader Komitat. In einem Kreis des Komitats gab es zwölf ungeprüfte „weise Frauen", von denen nur drei überzeugt werden konnte, zum Erlernen der Hebammenschaft nach Warasdin – in das benachbarte Komitat – zu fahren. Scheinbar wurden die Erwartungen des Komitats mit diesen drei Frauen erfüllt, die nach dem Unterricht und der Ablegung der Prüfung anderen Ortsweiber das nötige theoretische Wissen beibringen konnten – so argumentierte der Kommissar.11

Der Sanitätsbericht des Saboltscher Komitatsphysikus Georg Jánossy aus dem Jahre 1786 beweist, was für Schwierigkeiten der Komitatschirurg hatte, als er von Herrn Jánossy die Aufgabe bekam, alle Hebammen auf Bathorys Gut aufzulisten. In ihrer Angst vor einer abzulegenden Prüfung, verleugneten die Frauen lieber ihre geburtshelferische Tätigkeit. Der Chirurg musste sich endlich an den Orstrichter wenden, um die Namen zu erfahren, worauf die Weiber kollektiv auftraten. Sie äußerten ihre Absicht wie folgt: „ (...) Wir sind bereit, die gebährenden Frauen lieber ohne Hilfe zu lassen, aber wir wollen keine Prüfung machen." Sie erreichten ihr Ziel: Der arme Chirurg musste ihnen versprechen, dass sie in der Zukunft ihre Arbeit auch ohne Prüfung weiter ausüben können. 12

Aus den an die Statthalterei adressierten Klagebriefen der Jaszapather und Jaszladanyer Ortsrichter aus dem Jahre 1784 stellt sich heraus, warum die Hebammenschaft ausübenden Ortsweiber nicht nach Ofen fahren wollten, um sich dort an der Universität examinieren zu lassen. Sie bezogen sich auf ihr hohes Lebensalter, auf ihre physische Schwäche, Krankheiten, oder auf ihre Armut. Sie reagierten, wie die Saboltscher Weiber: Falls sie aber doch zur Prüfung gezwungen würden, verzichteten sie auf ihren Beruf. Der Ortsrichter schien dabei Partner zu sein, er formulierte nämlich selbst den Brief. Es soll hinzugefügt werden, dass ein Physiker oder ein Chirurg – die „wahren Kenner der wirklichen Situation„ – mit den prüfungsunwilligen Hebammen auch kooperiert hätten.13

 

Fazit

Die Gesellschaft lehnte die Reformen von oben nicht explizit ab, sondern versuchte, bewährtes Erfahrungsgut mit fachlichem Wissen zu vereinigen. Ob diese Synthese erfolgreich vonstattenging oder nicht, hing von den Stadt- bzw. Komitatsärzten ab, die dabei eine zentrale Rolle spielten. Sie waren Vermittler, die der Obrigkeit Kenntnisse über die damals wirkenden Hebammen zuspielten. Insofern lagen die Lebensfähigkeit des neuen Systems, die unmittelbare Kontrolle und die Unterstützung der obrigkeitlichen Maßnahmen, in ihrer Hand. Die Kooperation zwischen Ärzten und Hebammen bildete den Schlüssel zur erfolgreichen Verwirklichung der aufgeklärten Reformen.

 

Anmerkungen

1

István Weszprémi (1723–1799) studierte in England, 1767 wurde er zum Komitatsphysiker der Stadt Debrecen erwählt, unter dem Titel „Succincta medicorum Hungariae et Transylvaniae biographia"(1774–1787) schrieb er in vier Bänden die Biographie der ungarischen Ärzte.

 2

Jantsits, Gabriella: Az első magyar bábatankönyv illusztrációi. In: Orvostörténeti Közlemények 18 (1986) 188–201.

 3

Soweit es ermessbar ist, in Ungarn des 18. Jahrhunderts war max. zehn Prozent der Hebammen schreib- und lesekundig. Es gab aber auch solche Hebamme, die in ihrem Testament – unter anderen – über drei Bücher verfügte siehe: Stadtarchiv Mosonmagyaróvár, Protocollum sessionale, V. A 1501a. 12. 22. folio.

 4

Die neun Paragraphen wurden unter dem Titel „Instructio Obstetricum" in das Sanitätsnormativ eingefügt. Sie beinhalten: 1. Nur examinierte und adjurierte Hebammen können wirken. 2. Überall soll eine angemessene Anzahl von Hebammen bereit stehen. Auch wenn jedes Dorf keine eigene Hebamme haben kann, sollten wenigstens jedes zwei bis drei benachbarte Dörfer eine haben. 3. Die Hebammen sollen ein ehrhaftes Leben führen. 4. Sie sollen Geheimnisse hüten und sich ihrer Berufung widmen, sie sollen nicht abergläubisch handeln, sie sollen einander unterstützen und zu den komplizierten Geburten einen Arzt rufen. Im 5. Abschnitt verpflichtete die tief religiöse Maria Theresia, die Hebammen bei Neugeborenen, die in Lebensgefahr schwebten, die Nottaufe vorzunehmen. Der 6. Abschnitt schrieb die Pflege der Kindbetterin und des Neugeborenen vor. 7. Die Anwendung von Abortivmitteln war strikt verboten und zog schwere Strafen mit sich. 8. Die Hebammen durften nicht heilen. 9. Sie mussten die von den Behörden vorgeschriebenen Untersuchungen parteilos in die Wege leiten. Siehe: Linzbauer, Fraciscus, Xaverius: Codex-Sanitario-Medicinalis Hungariae. Bd. 1. Buda, 1852–1861. 833.

 5

Ungarisches Landesarchiv (im weiteren ULA) A 39 [Archiv der Ungarischen Kanzlei, Acta Generalia im weiteren A 39] 6549/1780.

 6

ULA A 39 13759/1785.

 7

Der Vizegespan, der Oberstuhlrichter und die Geschworenen als ungarische Standesinstitutionen verwalteten eigentlich das neugeordnete Gebiet der einzelnen Komitate.

 8

Die Hebammen – seien sie die einfachsten, den überlieferten abergläubischen bzw. volksmedizinischen Traditionen gemäß tätigen Dorffrauen – können nicht als Vertreter eines „alltäglichen Berufes” betrachtet werden. Ihre Arbeit umfasste ein weites Spektrum von Aufgaben. Außer dem helfenden Beistand bei der Entbindung, hatte eine Hebamme kirchliche (Nottaufe der schwächlichen Neugeborenen, Anmeldung der Neugeborenen beim örtlichen Pfarrer), gemeinschaftliche (das Betreuen der Wöchnerin und des Neugeborenen, Vorbereitung der Tauffeier, Bereitmachen der Frau für das Initiationsfest) und amtliche (Gutachterin bei Gericht in den Prozessen gegen Kindsmörderinnen) Aufgaben. Sie war allerdings ebenfalls diejenige, die heimlich Abtreibungen vornahm. Vgl. Kapros, Márta: A születés és a kisgyermekkor szokásai. In: Hoppál Mihály (Hrsg.): Magyar néprajz. Bd. VII. Budapest, 1990. 9–31. passim., Hans, Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. Berlin–New York, 1987. 1587–1603. passim. – Die Hebamme, die etwas mehr als der Durchschnittsmensch über die Entstehung des Lebens wusste, geriet häufig – besonders auf dem Lande – in den Verdacht von Hexerei. Die Hebammen gehörten zu den Frauen, die durch ihren Arbeitsbereich widersprüchliche Gefühle auslösten. Ihre gesellschaftliche Stellung war dementsprechend von Ambivalenzen geprägt. Die Hebammen waren angesehen und geschätzt, gleichzeitig aber gefürchtet. Vgl. Über die ambivalente soziale Beurteilung der Hebammen und über die Hebammenhexen siehe: Dömötör, Tekla: Die Hebamme als Hexe. In: Lutz, Röhrich (Hrsg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg im Breisgau, 1973. 17–189. passim., Pócs, Éva: Malefícium-narratívok – konfliktusok – boszorkánytípusok (Sopron vármegye, 1529–1768). In: Népi kultúra – népi társadalom. 18. (1995) 9–63. passim., Eva, Labouvie: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main. 1991. 179. Diese Ambivalenz wird ebenfalls im Zusammenhang mit der Tradierung von empfängnisverhütendem Wissen gesehen siehe: Robert, Jütte: Die Präsistenz des Verhütungswissens in der Volkskultur. In: Medizinhistorsches Journal 24 (1989) 214–231.

 9

Dieser Teil über die Conduitlisten wurde nach den 1783–1790 von den Komitatsphysikern an die Statthalterei eingereichten jährlichen Sanitätsberichten angefertigt. Siehe: ULA C 66 [Archiv der Ungarischen Statthalterei, Departamentum Sanitatis im weiteren C 66] Nr. 22 positio (im Weiteren pos.) 1–451/1783–84, C 66 Nr. 1. pos. 1–309/1785, C 66 Nr. 56. pos. 1–392/1785–86, C 66 Nr. 1. pos. 1–759/1787, C 66 Nr. 1–10/1788, C 66 Nr. 1. pos. 1–144/1789, C 66 Nr. 2. pos. 1–83/1790.

10

ULA C 66 Nr.53. pos. 1–17/1785–86.

11

ULA C 66 Nr. 17. pos. 1–7/1785–86.

12

ULA C 66 Nr. 56. pos. 216/1785–86.

13

ULA C 66 Nr. 22. pos. 386/1783–84.

Bibliographie

Bächtold-Stäubli, Hans (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. Berlin/ New York, 1987. 1587–1603.

Dömötör Tekla: Die Hebammen als Hexe. In: Röhrich, Lutz (Hg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg im Breisgau, 1973. 117–189.

Jantsits Gabriella: Az első magyar bábatankönyv illusztrációi. In: Orvostörténeti Közlemények 18 (1986) 188–201.

Jütte, Rober: Die Präsistenz des Verhütungswissens in der Volkskunde. In: Medizinhistorisches Journal 24 (1989) 214–231.

Kapros Márta: A születés és a kisgyermekkor szokásai. In: Hoppál Mihály (Hg.): Magyar néprajz. Bd. VII. Budapest, 1990. 9–31.

Labouvie, Eva: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main, 1991.

Linzbauer, Franciscus Xaverius: Codex-Sanitario-Medicinalis Hungariae. Bd. I. Buda, 1852–1861.

Pócs Éva: Malefícium-narratívok – konfliktusok – boszorkánytípusok (Sopron vármegye, 1529–1768). In: Népi kultúra – népi társadalom 18 (1995) 9–63.