Begegnungen10_Lotz
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:103–111.
KÁROLY LOTZ
Infrastruktur, Verkehr, Informatik
Vielleicht ist es nicht allzu gewagt, gleich zu Beginn den Geist des Gründers der Ungarischen Akademie der Wissenschaften heraufzubeschwören. Zu Recht wurde Graf István Széchenyi von Lajos Kossuth als der größte Ungar bezeichnet, denn seinen genialen Erkenntnissen und der dementsprechenden Organisierungsarbeit war zu verdanken, dass unser Land nicht aussichtslos hinter jenem Europa zurückblieb, dessen Wirtschaft sich aufgrund der ersten industriellen Revolution auf der Überholspur befand.
Der erste verantwortliche ungarische Verkehrsminister hat zunächst die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes in einen theoretischen Vorteil gewandelt. Er zählte zu den ersten, die in Kenntnis der Phasenverzögerung des Landes bei der Suche nach den Gründen hierfür erkannten, dass Zustand und Niveau der Infrastruktur die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes determinieren.
Auch heute noch ist die Gewährung des freien Verkehrs von Personen, Waren und Informationen dermaßen die eine Grundlage des Fortschritts, dass die eine stille, aber umso wirksamere Revolution unseres Jahrhunderts eben der Anwendung der die letzteren zwei organisierenden Logistik zu verdanken ist.
Über das Niveau der Organisiertheit hinaus aber ist es ausgerechnet die den technischen Möglichkeiten zu verdankende Schwerpunktverlagerung, derentwegen wir zu Recht von der 3. Industrierevolution sprechen können. Die Jahrtausendwende stellt nämlich nicht allein in Ungarn bzw. nicht nur im Leben von Mitteleuropa eine Periode des stürmischen Wandels dar. Die Expansion der Informatik, und dann infolge jener eine Beschleunigung der Datenübertragung, waren Anzeichen der ersten, eiligen Schritte. Die weltweite Vernetzung der Computer ermöglichte praktisch für Millionen von Konsumenten die sofortige Erfüllung solcher Gelegenheiten, die auf heute schon wohl überschaubare Weise das alltägliche, das wissenschaftliche sowie Geschäftsleben von Grund auf verändern.
Dieser Wandel ist auf dem Gebiet des Finanzwesens der spektakulärste. Vor der Revolution der Informatik zum Beispiel waren Wochen nötig, um einen Umsatz jenes Volumens abzuwickeln, der heute bereits alltäglich ist. Entscheidungen sind deshalb nicht mehr wegen unzulänglicher oder ungenauer Informationen unsichere, sondern genau im Gegenteil – aufgrund einer unübersichtlichen Masse von Informationen, die selbst Hochleistungscomputer nicht aufzuarbeiten vermögen. Infolge der praktisch restlosen Computerisierung ist der Banksektor jener, von welchem der umfassendste Durchbruch, eine explosionsartige Ausweitung des Verbraucherkreises zu erwarten ist.
Infolge dieser explosionsartigen Entwicklung sind die Leiter der Realprozesse zu gewissen Schritten gezwungen. Es ist nicht einfach eine riesige Möglichkeit, dass je ein Unternehmen – und dabei ist nicht allein von multinationalen die Rede – seine Entscheidungen im Besitz der neuesten Informationen von Börse und Markt treffen kann. Ich bin überzeugt davon, dass die Nutzung dieser Gelegenheit – oder auch genau das Gegenteil – zu einer bedeutenden Umgestaltung des Marktes führt.
Ich glaube nicht, dass diese Veränderungen mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen werden. Ein Anzeichen für die eindeutige Tendenz auf dem Markt ist, dass 70 % des Risikokapitals in den USA sich für die Informatiksphäre entscheiden. In England, dem unter den europäischen Ländern von diesem Gesichtspunkt her den besten Index aufweisenden Staat, liegt dieser Anteil bei 40 %.
Der Katalysatoreffekt versteht sich von selbst, welcher im Verlaufe der vergangenen Jahre das wissenschaftliche Leben revolutionierte und mit dessen Auswirkungen auch auf diesem Gebiet zu rechnen ist. Es bedeutet einen Verlust von Tagen oder gar Wochen, wenn jemand gezwungenermaßen Informationen in traditionell gedruckter Form abwarten muss, wo sie doch im Computernetz sofort zur Verfügung stehen.
Eine wahre Veränderung im alltäglichen Leben aber wird wohl voraussichtlich der Wandel bei den Dienstleistungen zum Ergebnis haben. Hier können wir vorläufig nur von Anstößen sprechen, auch wenn zum Beispiel die Auswahl und Reservierung von Hotels gegenwärtig bereits per Computer erfolgen kann und damit das Leben erleichtert.
Der Einkauf von zu Hause aus wird mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb von ein-zwei Jahrzehnten nicht allein die Kaufgewohnheiten revolutionieren, denn auch der Handel hat sich dementsprechend umzustellen. Ich muss an dieser Stelle sicherlich nicht detaillieren, welche Differenz zwischen dem traditionellen Einkauf und der Gelegenheit besteht, zu Hause im Computer surfend, eine Ikone anzuklicken und dann nach wenigen Stunden die gewünschte Ware ins Haus geliefert zu bekommen.
Ich bin überzeugt davon, dass in dieser Hinsicht weltweit eine ähnliche Situation auftreten wird, wie gegenwärtig in Ungarn auf dem Gebiet des Fernsprechwesens. Geschäftliche Auswirkungen bedeutender, auch durch Konzessionen abgesicherter Monopole können innerhalb von Augenblicken null und nichtig sein, wenn kein rechtzeitiger Wechsel vom traditionellen Fernsprechwesen auf die wertsteigernden Dienstleistungen erfolgt, d.h. wenn die strategische Entscheidungen Treffenden zu spät reagieren. Dieser Wandel wird komplettiert durch die Verbreitung von Fernunterricht und Fernarbeit.
Diese, sich kontinuierlich wandelnde und bereits gegenwärtige Epoche bezeichnen wir schon heute mit dem Sammelbegriff Informationsgesellschaft.
Niemand aber kann ernsthaft denken, dass diese Veränderungen im Ergebnis einer metaphysischen oder auch historischen Notwendigkeit realisiert werden und uns so gezwungenermaßen „in den Schoß fallen”. Gesellschaftliche Veränderungen treten infolge der technischen Entwicklung ein. Für eine traditionelle Denkweise ist dies manchmal nur als Mangel einer Zukunftsvision erfassbar. In Wirklichkeit aber bedeutet all dies, dass permanent und endgültig an die Stelle der unproduktiven Zukunftsträumerei ein Ergreifen der Gelegenheiten der Gegenwart und deren Realisierung zu treten hat. Insofern ist das, was wir in Europa als Informationsgesellschaft bezeichnen, in Wahrheit viel mehr als die Gesamtheit der noch so bedeutenden technischen Veränderungen.
Eindeutig ersichtlich ist ferner, dass infolge von Rhythmus und Bedeutung der Veränderungen innerhalb äußerst kurzer Zeiträume Differenzen zwischen den einzelnen Ländern auftreten, zu deren Herausbildung bisher Jahrhunderte vonnöten waren. Es ist also nicht allein Aufgabe unserer Heimat, jene Differenz zu verringern, die uns hinsichtlich des GDP von den am höchsten entwickelten Ländern der Welt trennt, was im Falle von Japan z. B. mehr als das Achtfache bedeutet. Jetzt müssen jene Positionen ausgebaut werden, die entlang der sich gegenwärtig herausbildenden, schärferen Bruchlinien als je zuvor das Fortbestehen unserer Heimat garantieren können.
In diesen Tagen werden – nicht allein auf Regierungsebene – dahingehend Entscheidungen getroffen, welche Positionen die einzelnen Länder in der sich jetzt herauskristallisierenden neuen Weltordnung zu beziehen haben. Es geht hierbei um ein neues, außerordentlich kapitalträchtiges Gebiet.
Selbst für ein Land, das viel reicher als unseres ist, wäre es unvorstellbar, im globalen Wettbewerb um die informative Neuaufteilung der Welt eine Umgruppierung der öffentlichen Gelder für das Weiterbestehen als ausreichend anzusehen. Die Verantwortung des Staates besteht vielmehr darin, für jene Großinvestoren ein markt- und kapitalfreundliches Umfeld zu schaffen, die – ihre wohlüberlegten Geschäftsinteressen verfolgend – Partner bei dem Katalysieren der Informatikrevolution sein können. Anstelle der Macht also tritt beim Staat die Dienstleistung in den Vordergrund.
Die von den USA ausgehende Lawine an Veränderungen hat dort in Form der Information Highway als neueste technologische Möglichkeit Gestalt angenommen. Europa ist jener Kontinent, auf dem die Experten den gesellschaftlichen Folgen dieser Veränderungen Rechnung zu tragen wünschen – siehe u.a. den Bangemann-Bericht.
Beide Methoden der Annäherung weisen gewisse Vorteile auf – oder bergen Gefahren in sich. In Nordamerika öffnet man dem Neuen mit der Unbekümmertheit der Pioniere die Pforten, wobei die Folgen in zahlreichen Fällen unerkannt und deshalb schwer zu prognostizieren sind. Gleichzeitig aber ist diese uneingeschränkte Freiheit eine der wichtigsten Quellen des in der Weltgeschichte praktisch als einzigartig zu bezeichnenden Dynamismus. Abwägung und Planung versprechen zwar eine größere Sicherheit – vor allem, wenn sie in Form staatlichen Eingreifens oder ebensolcher Einschränkung auftreten, doch ist dann der Preis dafür immer die Versuchung des Zurückbleibens. Was Europa betrifft, hat man gegenwärtig schon nicht allein einen Vorsprung der USA, sondern auch von Seiten der Kleinen Tiger Asiens zu verzeichnen.
Neben diesen schon an sich bedeutenden Problemen hat unsere Region darüber hinaus mit einer andersartigen Wirtschaft, deren weitgehend eingeschränkte Produktionsfähigkeit zu rechnen.
Es liegt klar auf der Hand, dass nur der freie Markt und der Wettbewerb eine Situation zu schaffen vermögen, dank welcher sich unser Land zu einem anziehenden Terrain für Großinvestoren gestaltet. Gleichzeitig kommt in erster Linie den Gebieten von Bildungs- und Gesundheitswesen eine nicht geringe Rolle zu. Eben aufgrund der differenzierten Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ist die Unterstützung des Zustandekommens von Wissenszentren von größter Bedeutung, bei der Anwendung höchstentwickelter Technologien wiederum ist dem Vermeiden einer Monopolisierung des Wissens Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Schlüsselrolle kommt der Förderung der Informatik zu, um sie als führenden Zweig der Volkswirtschaft zu gestalten. Unsere bisherigen Erfolge verdienen wohl Aufmerksamkeit, denn Ungarn hat sich in der Region eindeutig zum Zentrum der Informatik und Nachrichtenübermittlung entwickelt. Vorbild auf diesem Gebiet ist aber zweifelsohne in unseren Tagen die Überseeregion, da sich dort die Verschmelzung von Unterhaltungselektronik, Medien und Informatik zu einem einzigen führenden Zweig bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.
In Ungarn sind in dieser Hinsicht die ersten Schritte getan. Wir haben also noch keinen Grund zur Zufriedenheit. In dieser Beziehung darf nicht vergessen werden, dass vor allem finanzieller Gründe wegen die Privatsphäre über mehr Experten verfügt, als die der Administration. Von vornherein also ist jene Politik zum Scheitern verurteilt, die anstelle einer Kooperation der Betreffenden oder der Suche nach dem Konsens als Vertreter des als allmächtig erachteten Staates Maßnahmen zu treffen und Ordnung zu schaffen wünscht.
Wir sollten nicht von der Zukunft träumen, sondern die Möglichkeiten der Gegenwart nutzend verantwortungsbewusste Entscheidungen in Bezug auf die Zukunft treffen.
Wir müssen uns Europa anschließen – aber einem solchen Europa, das selbst einem Wandel unterzogen ist. Unsere Beteiligung an diesen Veränderungen kann unserem Lande über Jahrhunderte hinweg eine um weites vorteilhaftere wirtschaftliche und politische Position als derzeit ermöglichen.
Wir haben den Funktionswandel der Politsphäre zu beachten, welcher eine Folge der Umwertung der Rolle des Nationalstaates ist. Einem solchen Zweck dient u.a. das in Europa von uns zuerst verkündete Programm der intelligenten Region.
Wir haben uns aber nicht allein auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten, denn ebenso sind die Probleme und Spannungen der Gegenwart zu lösen. Unseren Beitritt zu Europa wird der Entwicklungsgrad der infrastrukturellen Netze Ungarns entscheidend beeinflussen. Eine gewisse Zurückgebliebenheit sollte nicht ein Hindernis der Integration sein. Und sie darf auch nicht das Tempo der Entwicklung unserer Wirtschaft behindern. Die Verantwortung dafür liegt bei uns. Die Multiplikationswirkung infrastruktureller Entwicklungen stellt für Ungarn nicht einfach eine theoretische (und damit anfechtbare) These sondern eine praktische Tatsache dar.
Eine unterentwickelte Infrastruktur ist nicht nur eine der Hauptursachen für das Zustandekommen der Differenzen zwischen den Regionen, sondern ebenso Hindernis einer Entfaltung in der Rolle des Transitlandes. Ohne die Sicherstellung der Passierbarkeit können wir nicht wirklich von einer Transitrolle unsererseits sprechen.
Gestalten wir nämlich unser Land nicht zu einem auch dem europäischen Maßstab standhaltenden Transitstaat, so werden uns früher oder später die für die Volkswirtschaft so lebenswichtigen Transportadern umgehen. Es ist somit kein Zufall, dass hinsichtlich der Konzeption der Regionalentwicklung des Landes der größte Akzent auf die Entwicklung der Infrastruktur gesetzt wird, denn auch Entwicklung von Wirtschaft und Kultur sind damit gepaart. Deshalb ist von größter Wichtigkeit, dass in der gegenwärtig zu formulierenden Konzeption der Regionalentwicklung die Informatik dahingehend als eines der wichtigsten Mittel aufgeführt wird.
Wie bekannt, handelt es sich bei der infrastrukturellen Entwicklung um eine äußerst kostspielige Angelegenheit, denn alles rentiert sich erst nach längerer Zeit. Aus diesem Grunde werden in der entwickelten Marktwirtschaft infrastrukturelle Investitionen zumeist aus zentralen Quellen finanziert. In Ungarn unterstützt man die Realisierung der einzelnen Programme unmittelbar aus dem Etat der Regierung oder in Form von Ziel- oder betitelten Subventionen.
Das Privatkapital ist bei uns gegenwärtig in erster Linie in sich schnell amortisierenden Bereichen vertreten – wie z. B. in der Telekommunikation. Ansonsten ist es nur schwer zu mobilisieren, nicht immer problemlos oder allein dann, wenn ernsthafte Regierungsgarantien gewährt werden. Betreffs Realisierbarkeit handelt es sich um eine äußerst komplexe und komplizierte wirtschaftspolitische Aufgabe.
Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Gesichtspunkt ist die Wechselwirkung, da ja die Entwicklung der Infrastruktur gleichzeitig auch eine wirtschaftliche Bedeutung für die betreffende Region hat. Weil die Europäische Union mit ihren Anforderungen die hochentwickelte Infrastruktur voraussetzt, wird schon jetzt, noch vor dem Beitritt erreicht, dass seitens der ungarischen Exekutive der Infrastruktur Priorität zusteht.
Bei einigen wichtigen Entscheidungen von Parlament und Regierung kommt all dem eine nicht zu verachtende Bedeutung zu. Als Beispiel sollten hier nur die Programme der Entwicklung von Trinkwasserversorgung, Kanalisation und Abwasseraufarbeitung erwähnt werden.
Als von noch größerer Wichtigkeit aber erachte ich, dass nach mehrjähriger Aufbauarbeit die Verkehrspolitik der Republik Ungarn vom Parlament verabschiedet wurde, ebenso wie das langfristige Entwicklungsprogramm des Straßenverkehrsnetzes. Die Ausarbeitung der Direktiven der Nachrichtenübermittlungspolitik steht vor dem Abschluss.
Am Beispiel Széchenyis kann nachgewiesen werden, dass selbst für strahlende Prinzipien allein die praktische Verwirklichung ein Maßstab sein kann.
Das Problem der Trinkwasserversorgung mittels Leitungswasser scheint gelöst, denn die 97 %-ige Versorgung entspricht dem westeuropäischen Durchschnitt. 89,1 % der Wohnungen sind an das Leitungsnetz angeschlossen. Die Aufgabe besteht für die Zukunft darin, Beibehaltung bzw. Verbesserung der Qualität des bereitgestellten Trinkwassers zu erreichen.
Von ähnlicher Bedeutung ist das Programm der Kanalisation-Abwasseraufarbeitung, denn ohne einen wirksamen Schutz der Trinkwasserbasis ist das gesamte Leitungsnetz gefährdet. Diese Aufgabe entfällt seit 1990 in den Zuständigkeitsbereich der Selbstverwaltungen.
Zur Verwirklichung der Programme tragen neben den eigenen Quellen auch die Unterstützungen internationaler Geldinstitute sowie verschiedene Fonds bei. Gut veranschaulicht wird die Effektivität der dadurch erweiterten Quellen durch jenen Fakt, dass in den vergangenen Jahren 2.380 km Kanalisation verlegt wurden (die Gesamtlänge beträgt 15.000 km)
Das täglich im ganzen Lande anfallende Abwasser von etwa 1,8 Millionen m3 wird in 366 Kläranlagen aufbereitet. Mittels der PHARE-Unterstützung läuft ein 15-jähriges Programm zwecks Modernisierung der Kläranlagen in gewissen Städten, im Verlaufe dessen bis 2010 eine Klärkapazität von 2,9 Millionen m3/ Tag erreicht wird. Das garantiert eine 67–68 %-ige Versorgung, was wiederum dem westeuropäischen Niveau entspricht.
Von derselben strategischen Bedeutung sind auf dem Gebiet des Straßenverkehrs die Transitfunktion des Landes und seine Erschließbarkeit auf europäischem Niveau.
Das zu erweiternde Autobahnsystem passt sich organisch in das europäische Straßennetz ein. Mit unseren Autobahnen werden die ungarischen Abschnitte der sogenannten „Kreta-Korridore” 4 und 5 geschaffen. Dies ist ebenfalls ein Beweis dafür, dass es sich bei der Integration nicht um eine einmalige politische Entscheidung handelt, sondern um ein sich vertiefendes, koordinierendes Wirtschaftssystem und eine ökonomische Zusammenarbeit. Ein weiteres Grundsatzproblem stellt Entwicklung, Modernisierung und niveauvolle Instandhaltung des sonstigen Straßennetzes dar. In dieser Hinsicht haben wir noch vieles nachzuholen. Es werden Jahrzehnte nötig sein, um nach dem Ausbau des Autobahn- und Autostraßennetzes auch auf diesem Gebiet Verkehrsbedingungen europäischen Niveaus sichern zu können. Unabkömmlich aber ist in diesem Zusammenhang die Klärung der Situation bezüglich des bis zur Kreditunfähigkeit verschuldeten Straßenfonds.
Was den Bahnverkehr angeht, wird die in Kürze zu beendende Modernisierung der Strecke Budapest-Hegyeshalom das erste Ergebnis des Erneuerungsprozesses der Eisenbahn sein, welches auch das Reisepublikum zu spüren bekommt.
Von ähnlich strategischer Bedeutung ist die Schaffung der ungarisch-slowenischen Bahnverbindung. Für eine entsprechende Ausnutzung der durch die europäischen Verkehrskorridore gebotenen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Bahnverbindungen wäre jedoch die Modernisierung der eingleisigen Transeuropalinie bis Kelebia von vorrangiger Bedeutung. Weitere 300 km Bahnlinie in Ungarn werden elektrifiziert.
Das größte Problem ist gegenwärtig, ob es gelingt, für die zweite Etappe der umfassenden Modernisierung des ungarischen Bahnverkehrs zwecks Rekonstruktionsarbeiten mittels Einbeziehung internationaler Geldinstitute die erforderlichen Quellen von etwa 50 Milliarden Forint zu sichern. Notwendig wäre dies auf jeden Fall, da ja selbst die Budapester Sitzung des Europäischen Forums der Verkehrsminister als einen der bedeutendsten Fakten konstatierte, dass innerhalb weniger Jahre die Straßen Europas verstopft sein werden, sollte man den gegenwärtigen Trend beibehalten. In der letzten Woche nun hat die Regierung zur Unterzeichnung der Vorsatzerklärung betreffs Bahnrekonstruktion ihre Vollmacht erteilt. Das 21. Jahrhundert hat auf dem Gebiet des Verkehrs jenes der Eisenbahn zu sein.
Als Meilenstein in der Entwicklung des Verkehrs ist die Erkenntnis der Notwendigkeit sowie die Realisierung der Verbindung der verschiedensten Transportmethoden miteinander zu betrachten. Neben der Förderung der Häfen und Wasserstraßen besteht eine unserer wichtigsten Aufgaben auf dem Gebiet des Wasserverkehrs darin, den kombinierten Transport zu unterstützen. Für die international konkurrenzfähige Gestaltung dieser umweltschonenden Transportart und ihre Erweiterung scheint uns die unbedingt erforderliche technische Erneuerung, die bereits in Angriff genommene und stufenweise erfolgende Privatisierung das geeignete Mittel zu sein.
Auf dem Gebiet des Luftfahrtwesens wird in diesem Jahr die Modernisierung des der Flugverkehrskontrolle dienenden Systems zum Abschluss gebracht und auf dem Flughafen Ferihegy ist der weitere Ausbau der Objekte des Passagierverkehrs in Angriff genommen worden. Damit hoffen wir, unserem nationalen Flughafen und der Landeshauptstadt eine neue Funktion zu übertragen. Dies sind unsere zu realisierenden Pläne, für deren Fundiertheit die Beteiligung ausländischen Kapitals ein guter Beweis ist.
Um die sich aufgrund der vielfältigeren Möglichkeiten bietenden Chancen zu nutzen und auf dem Markt bestehen zu können, ist die Weiterführung der begonnenen Modernisierung des Flugzeugparks unumgänglich.
In jedem der Verkehrssysteme erscheinen zwei neue Fachgebiete, die unlängst noch zum Wissenschaftszweig Informatik gehörten: Rauminformatik und Telematik. Beide treten nicht selbständig sondern ineinander übergreifend und sich gegenseitig verstärkend auf. Auf diesem Gebiet wird in der ganzen Welt an umfassenden Forschungsprogrammen gearbeitet, denen wir uns jetzt anschließen.
Einzelnen Forschungsergebnissen gemäß stellt die Einführung der Telematik in Bezug auf die Problemlösung eine um das Vier- bis Fünffache effektivere Investition dar als es die quantitative Ausweitung des Straßennetzes ist. Gültigkeit hat dies offensichtlich nach Erreichen der mit dem allgemeinen Entwicklungsniveau der Wirtschaft harmonisierenden, durchschnittlichen infrastrukturellen Versorgung. In den hochentwickelten Staaten der Union ist dies bereits der Fall.
Die hochentwickelte Rauminformatik und Telematik kann bei der Verhütung von Unfällen bzw. der Minderung von deren Folgen eine große Rolle spielen. Damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, da Grundbedingung für all dies das erhöhten Ansprüchen Genüge leistende Telefonwesen ist. Diesbezüglich können wir eindeutige Ergebnisse aufweisen.
Laut OECD-Bericht ist gegenwärtig in Ungarn der Markt des Fernmeldewesens der am umfassendsten liberalisierte. Ein Nachweis für die Richtigkeit dieser Strategie ist, dass unser Land in Bezug auf den Anteil von Mobiltelefonen pro Person in Europa zum Spitzenfeld zählt. Wir lassen zum Beispiel Länder wie Belgien oder auch Österreich hinter uns. Hinsichtlich des traditionellen Telefonwesens überschritten wir die magische 20er Grenze: 1990 betrug der Anteil der Direktanschlüsse nur 9,6 %, heute sind es 26 %. Das heißt, es gibt etwa 2,6 Millionen Direktverbindungen.
Im Ergebnis der in den Konzessionsverträgen vorgeschriebenen Förderungsverpflichtungen von jährlich 15,5 % wird sich bis zum Jahresende 1997 voraussichtlich im ganzen Land in dieser Hinsicht ein Angebotsmarkt herausbilden. Zum Ende des Jahrtausends werden der Bevölkerung voraussichtlich 30–31 Anschlüsse/100 Einwohner zur Verfügung stehen. Der Durchschnitt in den EU-Mitgliedsländern lag 1990 bei 39,1 %.
Dank der Privatisierung ist dies der sich am dynamischsten entwickelnde Zweig der Infrastruktur. Bis Ende 1993 war das digitale Basisnetz ausgebaut, dem die 54 sogenannten „Primärzonen”, die Mobilnetze, spezielle Datennetze und geschäftlichen Zwecken dienende Systeme angeschlossen werden können. Seine wahre Bedeutung liegt darin, dass es hierbei nicht um eine von vielen Angaben geht, sondern um eine der Voraussetzungen der sich bereits jetzt abzeichnenden Weltordnung im dritten Jahrtausend – der Expansion der Kultur einer Informationsgesellschaft. Und dies ist tatsächlich eine Schicksalsfrage.
Entscheidungen werden gegenwärtig nicht allein in bezug auf die Gegenwart sondern ebenso hinsichtlich des Schicksals der kommenden Jahrhunderte getroffen, während wir auch noch mit unserer, die Vergangenheit verkörpernden, Zurückgebliebenheit abzurechnen haben.
In dieser Beziehung scheint sich unsere Gegenwart in nichts von der ewigen Gegenwart bereits vergangener Epochen zu unterscheiden. Wir haben auf dem sich verengenden Grat zwischen Vergangenheit und Zukunft das Gleichgewicht herzustellen.
Es gibt aber keinen Grund zu klagen, die uns sowieso nicht helfen würden. Trotzdem ist unsere Aufgabe eine schwerere als bisher gewohnt. Die Zukunft ist nämlich bereits klar umrissen und stellt uns vor unaufschiebbare Entscheidungen. Ungelöste Probleme der Gegenwart brennen uns schon deshalb auf den Nägeln, da die klar ersichtliche Zukunft nicht die Probleme der Gegenwart beseitigen wird. Ganz im Gegenteil: Voraussetzung für den Beginn der gewünschten Zukunft ist eine Lösung all jener Konflikte, die wir vergeblich – wenn auch oftmals zu Recht – unseren in naher und ferner Vergangenheit lebenden Vorfahren zuschreiben. Es ist unsere Aufgabe, eine Lösung zu finden.
Begegnungen10_Lamfalussy
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:93–102.
ALEXANDRE LAMFALUSSY
Structural Changes in European Financial Markets*
There can be little doubt that the introduction of the euro has sharply accelerated the process of structural change in European financial markets. These changes, however, have been under way for a few years as a result of financial globalisation which continues to exert its own influence. It is not easy to assess the precise direction of these structural shifts, nor indeed to forecast their pace, and certainly not their final outcome. However, events are speeding up – look at the monumental banking battle involving three large French banks, which would have been unthinkable only a year ago – and we are beginning to see some of the major issues that are likely to arise for market participants, public authorities and, indeed, public interest. These are challenges for the European Union as a whole, for the euro area and, sooner or later, for Hungary, too. I should like to share some thoughts with you on these topics.
A reminder of some key facts
Let me start by drawing your attention to some of the main characteristics of European financial markets in general, and of banking in particular, as they appeared in the second half of the 1990s – and comparing them with the situation prevailing in the United States.
The most striking fact is the dominant influence of banks in the European (and even more fundamentally in the continental European) financial system. As with all statistics, a lot can be distorted by definitions (which institutions can be classified under the heading, «banks»?). However, in this particular case, there can be no doubt about the validity of this assertion. In the European Union, at the end of 1996 banks’ total assets amounted to close to 200% of GDP. The figure for the United States was around 80%. Or, to make another significant comparison, the share of bank assets in the total assets of all financial intermediaries fell, in most European countries, within the range of 70 to 80%. It was as low as 26% in the United States. This means, incidentally, that there was no highly significant difference between the two areas in terms of the total financial assets/GDP ratio.
Second, note the relative weakness of equity markets in Europe (with the notable exception of the United Kingdom and the Netherlands). Stock market capitalisation in relation to GDP barely reached 33% in continental Europe. It stood at more than 100% in the United States. This is, in fact, a mirror image of the previous characteristic: non-bank financial intermediaries (mutual funds, investment companies, pension funds) are substantial holders of equity investments in the United States. Their importance is more limited in Europe and, on top of this, they are more biased in favour of fixed income securities.
The third fact is that European households are big savers. In 1996 net lending from European household savings was 6% of GDP, while it was close to zero in the United States. Moreover, European households channelled most of their (gross) financial savings towards the banking system or purchases of debt – mostly government debt. By contrast, American households became major holders of equity portfolios – either directly, or via mutual and pension funds.
Finally, securitisation has had a major impact on US banking but, so far at least, a much smaller impact on the way European banks operate. For banks, securitisation means that securities holdings acquire a growing importance among their assets, that bank assets become more and more marketable, that such assets move from the balance sheet to off-balance sheet liabilities (thereby allowing a relative shrinking of the balance sheet without affecting total profits) and, more generally, that the lender – borrower relationship loses both its transparency and stability.
At the risk of oversimplifying matters, all these observations can be captured in one major proposition: namely, that the European financial structures have remained «bank-oriented», while the United States has moved towards a «market-oriented» system. For a few years, the importance of securities’ markets in relation to traditional banking intermediation has, of course, progressed in Europe – but that happened in the United States, too. The contrast has so far remained striking.
The euro and the single banking and financial markets in Europe
It is against this background that we have to consider the potential impact of the euro on Europe’s financial structures.
Where do we stand now – in the late summer of 1999 – with the euro?
European households will not experience the full reality of the single European currency until the early days of 2002. It is at that time that national currency units will have to be converted into euro and that all national administrations will start operating their accounting and payment systems in euro.
However, even today the euro is a reality both from a legal point of view and in terms of the practical life of financial market participants. Legally, the euro is the currency of the euro area member countries: on 1 January this year, national currency units became simply non-decimal components of the euro, in the same way as a pfennig is just one hundredth of a Deutsche Mark. (This does not prevent the national banknotes from remaining legal tender until their withdrawal at the beginning of 2002). The legally enforceable conversion ratios between the euro and the national currencies have been established by a monetary law and are therefore observed by courts all over the world.
With regard to banking and financial markets, the euro is also a very practical reality. The European System of Central Banks (ESCB) operates with banks through euro-denominated assets and liabilities. As a result – not by decree but for practical reasons – the interbank and foreign exchange markets operate in euro. New government bond issues are effected in euro and the outstanding stock of government debt has been converted into euros. Last but not least, trading on organised exchanges – such as stock markets – takes place in euro.
The widespread use of the euro in these operations represents a significant – I should probably say, decisive – step towards the implementation of the single financial and banking market in Europe, since it removes one of the major non-tariff barriers distorting the functioning of this market. All capital account transactions have now been unrestricted for some time and together with the possibility of setting up branches or subsidiaries in other countries. Admittedly, the lack of full harmonisation of regulatory practices and of taxation still represents a substantial impediment to free competition, but these impediments can and will be dismantled gradually. The replacement of the national currencies by the euro in financial transactions is not a matter of gradual change, rather there has been a sudden, radical shift. Let me give you two examples which show why this is going to give a decisive push to the implementation of a genuinely single banking and financial market.
The first relates to banking. The existence of foreign exchange risk, however small, does represent an impediment to cross-border banking competition. This risk can, of course, be eliminated or reduced by the use of appropriate hedging techniques. But hedging involves costs and therefore banks operating in their home market, with full access to funding in domestic currency, have a competitive edge over banks lending from abroad. Once the intra-euro area are foreign exchange risk is eliminated, this kind of competitive edge will disappear.
The second example concerns the government debt market. The redenomination of all outstanding government debt in euro opened up the possibility of developing a large, liquid and efficient secondary market in government securities. Trading costs are reduced for the benefit of issuers and purchasers of government debt, but this amounts to a sharp reduction in the profits of traders. This, however, is not a zero sum game. The disappearance of the foreign exchange risk enhances transparency. A yield differential between, say, 10-year Italian government bonds and their German counterparts no longer reflects a foreign exchange risk, but basically a credit risk or some other remaining market imperfections.
Both examples show that the introduction of the euro enhances competition, which is precisely what the single market in banking and financial services is expected to achieve. Competition is surely a good thing for the users of financial services, be they borrowers or investors, who will benefit from better service, a wider range of products and, last but not least, from innovation. But competition does not make life easier, to put it mildly, for financial intermediaries which have to cope with constant pressure on their profit margins. Even more importantly, when there is a sudden change in market conditions – and that is what the introduction of the euro amounts to – the pressure on profits will not be constant, gentle, or gradual, but potentially sudden and severe. It is the reality or the anticipation of this sudden impact which induces fast and deep structural changes. These changes are at the heart of the competitive process, which Schumpeter so eloquently described as the process of «creative destruction». I shall touch upon the implications of this for systemic stability towards the end of my presentation. The key issue is that «destruction» in banking or financial markets can have far wider systemic consequences than in, say, manufacturing industry. Banks, even in a «securitised» or «market-oriented» system, remain at the heart of credit distribution, liquidity creation and, perhaps most importantly, the payment and settlement system.
Financial globalisation
A very major difficulty encountered when trying to assess the direction and speed of the structural changes induced by the euro derives from the fact that our financial systems are also affected by the more general, worldwide process of financial globalisation.
«Globalisation» is one of those inventive catchphrases in American English which convey a lot to the reader without attempting to be very precise. For the purposes of this presentation I shall use it in a very wide sense.
First and foremost, I take it to mean financial integration in the geographical sense: to be part of the word-wide global financial «village». This means that capital is free to flow between countries belonging to the globalised part of the world, and that it does indeed flow. Controls on capital account transactions have on the whole been lifted; and current account transactions are naturally free.
But globalisation also means that these same countries have substantially liberalised or deregulated their domestic financial systems. This does not imply that a financial intermediary will buy or sell any financial product of its liking, but it does mean that there are few administrative restrictions in this respect. Deregulation also means that the authorities do not interfere with pricing decisions, nor do they set quantitative limits on specific lending, investment or funding decisions. Specialisation still exists, more by tradition and by free choice than as a result of regulation. But at the margin at least there is intense competition among institutions belonging to different groups of intermediaries.
The general trend towards lifting controls on capital account transactions (internationally) and deregulating financial markets (domestically) has coincided with revolutionary changes in communications and information systems technology. These changes are very much part and parcel of financial globalisation today. It is to a very large extent because of these changes, which have allowed the creation of highly complex new financial products and operating techniques as well as the instantaneous transmission of information that our global financial world today is so much different from the unrestricted banking and financial markets which existed before World War I.
To sum up in a couple of sentences the most striking outcome of these developments, one could say: (a) that they have resulted in an enhanced threefold financial interdependence – in the geographical sense (i. e. between countries of the globalised world), between markets (for instance between debt and equity markets) and between the various segments of the financial industry: and (b) that by the same token they have led to the creation of a highly competitive environment with competition across borders, between individual financial intermediaries and between groups of intermediaries.
The avenues of structural change
In what follows, I shall comment on (or, rather, think loud about) some of the main directions which structural changes in Europe’s financial system are likely to take as a result of the dual impact of the euro and globalisation.
1. In banking the first, most visible change is towards concentration through mergers and acquisitions. This is a world-wide trend in which globalisation is playing the major role, with the euro adding strong momentum to it. The striking fact is that until now mergers and acquisitions have tended to regroup banks within national borders. Cross-border mergers have been very rare; cross-border acquisitions (or minority participations) somewhat more frequent, but still insignificant in number and size. Several factors may have contributed to this outcome. National banking «cultures» or traditions are still strong: it is easier to merge with (or acquire control of) institutions which share such traditions. At the same time in a number of countries regulatory authorities have displayed a bias in favour of national rather than cross-border concentrations. Be that as it may, I am convinced that what we have seen so far is just the first stage of regrouping. Cross-border initiatives will be the next step. They are likely to involve both mergers between institutions of comparable size or acquisitions of smaller banks.
2. What about the nature of these regroupings? Will they be friendly or hostile? Until recent events in French banking, I was of the view that friendly initiatives would prevail. This is what has happened in the United States so far, and also in the United Kingdom. One reason is, I thought, that success in banking and, even more, the successful management of banking mergers crucially depend on people – not only on top management, but on a much wider group of people. A hostile takeover is likely to lead to a massive loss of talent: a targeted company is an ideal hunting ground for head-hunters. Another reason for friendly mergers may have been that regulatory authorities favoured them – partly because they kept a watchful eye on systemic risk, but often also because they feared that the acceptance of hostile bids at the domestic level would increase the chances of «foreign» invasion. It remains to be seen whether the French example will be followed by others, or will be regarded as an exception.
3. Assuming that cross-border regroupings become a reality, what sort of size configuration will European banking acquire? My guess is that the size structure will not be a simple one. A handful of Europe-wide megabanks are likely to emerge, some of which will aim to become «global» on a world-wide scale as well. But even not all of these banks will want to cover retail banking throughout Europe. At the other end of the spectrum, the number of small local banks will surely diminish, but I do not think that this species will become extinct. Customer proximity – either for households, or for small enterprises – will still count (I shall say more about this later, in connection with remote banking). The intriguing question concerns medium-sized «regional» banks. Many of these will be swallowed up by the megabanks, but some of them may well survive, especially if they add to their geographical franchise the advantage of being efficient «niche» players.
4. The most difficult configuration to foresee concerns specialisation. The megabanks will do everything to encompass the full range of financial services, including investment banking. Will they succeed? The US evidence is not conclusive in this respect, since, despite recent successful inroads into investment banking by a couple of large «traditional» banks, the scene is still dominated by a few «genuine» investment banks. European megabanks will have to compete, both in Europe and elsewhere, precisely with these «first league» US investment banks, which have on their side not only tradition and accumulated expertise, but also the support of their US equity market base. Finally, the most open issue, on which I hold no views, concerns the links between insurance and banking. There is no doubt that potential synergies exist between banking and insurance in the area of asset management and in retail sales of banking and (some) insurance products. What is questionable, however, is whether the exploitation of such synergies is best dealt with through mergers or could be handled by inter-company agreements.
5. Let me now consider the impact on banking of one of the key components of globalisation, namely IT (information technology) developments.
The traditional channel through which IT developments have been, and will continue to affect banks’ operations is through cost reductions which occur in the management of information – typically, in the collection, storage, processing and transmission of information. Automated processes replace highly labour-intensive work methods and a lot of paperwork. After a very long waiting period (IT was used as early as the late 1950s!) the cost reductions and improvements in efficiency achieved in this way are now becoming substantial. Note, however, that IT has improved the quality of management – for instance, in terms of management control – for a much longer time. The influence on banking structures of these «traditional» IT developments has not been unambiguous. There is evidence that major investments in this field are subject to the rule of economies of scale and that they substantially enhance the ability of management to control efficiently large-scale and diversified companies. But these investments do not pay off quickly; they are frontloaded in terms of costs while the benefits are associated with long time-lags. When banks with different IT systems (which have to be replaced or «harmonised» try to merge, the heavy initial cost implications and the prospect of delayed returns act as a deterrent to concentration.
The second, more recent channel through which IT developments may affect banking relates to the implementation of customers’ access to banking services through «remote banking». There is no doubt that this development has the potential to radically change the operation (and therefore the structure) of retail banking in Europe. Europe is dominated by branch banking, with signs of overbanking and excess capacities in the majority of the European Union member countries. Remote banking is going to lead to the radical reduction of the number of branches, a change in the employment pattern of banks (shift towards marketing and sophisticated value-added services), interbank agreements on common standards, and increased competition from non-banks such as supermarkets, and so on. But I would caution against believing that all this will happen everywhere and at a very fast pace. My guess is that the rate of change will vary between geographical areas according to differences in the age pyramid, wealth, education and social structures, all of which have a bearing on the willingness and ability of retail customers to adjust to new habits. The winners will be those banks which are able to detect the time-scale of these new developments. If a bank were to implement prematurely radical changes in its organisation with the intention of switching over to generalised remote banking, the mistake could be very costly; if it were to do so too late, its market share would suffer heavily.
6. Structural changes in markets are likely to be as profound as, and probably faster than, those in banking – perhaps because in this field the introduction of the euro and technological progress interact swiftly and very powerfully. Electronic trading will dominate, I am quite sure, in all major secondary markets within a couple of years. This forecast is based on observations of what has already been happening. On the first pan-European wholesale secondary market for euro-denominated government securities (which started operating in April this year), the daily turnover in benchmark German, Italian and French securities has been around 30 billion euro, i.e. about 15 to 20 % of total trading. The trading is now being extended to the benchmark securities of other euro area countries as well as to the very large market in repos. At the same time new, competitive initiatives have been announced. As for the European equity markets, they will see the surge of online (Internet) trading, in the same way as has happened in the United States, as investors gradually recognise the speed, convenience and relatively low costs of trading on the Internet.
Such developments will lead over time to the gradual withering away of national financial centres – or, to be more precise, to their reduction to the kind of core activities on which developments in information and communications technology have a limited impact. Advisory services for mergers and acquisitions are a prime example of activities where interpersonal contacts (and therefore location) count. Location will become far less important for market-related activities, especially as regards secondary markets.
7. Will these developments (together with many others, on which I have no time to comment) steer Europe towards increasingly «market-oriented» financial structures – along the lines of the US model? Very probably, yes. But the pace of this change remains largely unpredictable.
Challenges to European supervisory and regulatory authorities
The organisation of banking and financial services, supervision and regulation within the euro area is, at present, more or less as it was a few years ago. I view this situation with some concern, because I fear that the current pattern of organisation will have difficulties in responding to the challenges raised by the potentially revolutionary changes affecting European banking and financial structures. Let me spell out briefly the reasons for my concern.
The basic responsibility for supervision and regulation lies, at present, with national authorities. Some of these are part of (or closely tied to) the national central banks, while others are separate agencies – mostly, but not always, under some sort of government control. The heterogeneity is enhanced by the fact that while in some countries many segments of the financial industry are regulated by one authority, in others the responsibility is shared among different institutions. Admittedly, all these authorities are co-operating between themselves under the auspices of the European Commission, while the European Central Bank is expected to «contribute to the smooth conduct of policies pursued by the competent authorities relating to the prudential supervision of credit institutions and the stability of the financial system» (Article 105 (5) of the Maastricht Treaty). But will this be sufficient?
I do not rule out the possibility that this loose co-operative framework may enable such a large, heterogeneous group of participants to harmonise the national rules and practices so as to lift the remaining non-tariff barriers to the development of an efficient single banking and financial market. This is conceivable, although not very likely. I would make the same remark with regard to the chances of reaching a consensus view on what kind of financial structures will reconcile efficiency and stability. Given the pace at which market structures – for instance, the degree of concentration or the emergence of financial services giants – are likely to evolve, there is a genuine risk that regulators will be overtaken by events. This risk is even greater when is comes to the crisis handling ability of the authorities – especially in a truly «market-oriented» system. The LTCM experience in the United States is worth keeping in mind. Successful crisis-handling in our globalised world requires clout, speed and agreement on who is responsible for what initiative – precisely because the rules of crisis handling cannot, and should not be laid down in advance. It is not obvious, to put it mildly, that the current arrangements meet these requirements.
Concluding remarks on Hungary
What could, or will be the implications of all these developments for the Hungarian financial system? There is good news and bad news.
First, the good news. As regards financial markets and institutions in general, and banking in particular, Hungary has achieved an enviable position among the countries of Central and Eastern Europe. The road leading to this relatively satisfactory situation has been bumpy. The restructuring of banks has been costly, as successive governments have exhausted the full range of policy errors, while bank managements made their own contributions. But this happened in all other former communist countries as well, without their being able to achieve what Hungary has now achieved, namely a banking system that has real owners, efficient operational methods, and with an, on the whole, sound balance sheet structure. But banking is not alone in this respect. The stock exchange is by far the most liquid among the area’s stock exchanges; the reporting obligations and practices of the listed corporations ensure accurate information and a high degree of transparency; the reform of the pension system – a good thing in itself, even if allowance is made for its teething problems – contributes to the development of strong institutional investors; the payment, settlement and clearing system functions smoothly; and last but surely not least, the National Bank of Hungary has a sophisticated set of policy tools. I do not claim that this is perfect (it is just less imperfect than what you can see in some other countries), nor that (with the benefit of hindsight) it would not have been possible to achieve the same results at a lower cost to the Hungarian taxpayer, but the fact is that in the area of banking and finance, Hungary has successfully approached western standards. And that is no mean feat.
But what, then, is the trouble? Well, the bad news is that these «western standards», as I have tried to show you today, are a moving, indeed a very fast moving target. The Hungarian banking industry cannot avoid a wave of mergers of regroupings – if only because some of the key western shareholders in Hungarian banks will have merged among themselves. «Remote banking» raises a strategic question for many Hungarian banks: should they expand their branch network – in terms of branches, Hungary still has a shortage of banks, and banking services to the crucial small and medium-sized enterprises are still unsatisfactory – given that in the none-too-distant future branches may become redundant? How will the Hungarian securities industry respond to the challenge of online Internet trading of equities? More generally: which banking and financial services will continue to require customer proximity? I trust that their inventiveness and entrepreneurship will enable Hungarian financial market participants to respond to these challenges, for the greater benefit of Hungarian savers, investors and borrowers (as well as for their own benefit). But the road ahead will not be an easy one. This, indeed, it the general challenge facing the whole of the Hungarian economy: to integrate itself into European economy which has entered, in terms of all its components and in every aspect of its modus operandi, a period of radical structural change.
Selected bibliography
Publications of the European Central Bank:
«Possible effects of EMU on the EU banking system in the medium to long term», February 1999.
«Banking in the euro area: structural features and trend», April 1999.
«The effects of technology on the EU banking systems», July 1999.
While, William R., «The coming transformation of continental European banking?» Bank for International Settlements, Working Papers No. 54, June 1998.
Danthine, J. P. Giavazzi F., Vives X., von Thadden, E. L., «The Future of European Banking», Centre for Economic Policy Research (CEPR), London, 1999.
Bäckström, U., «The future of the European financial system», Bank for International Settlements, BIS Review, 23 June 1999.
* English version of an address by A. Lamfalussy to the Hungarian Academy of Sciences in Budapest, on 16 September 1999.
Begegnungen10_Krasz
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:217–232.
LILLA KRÁSZ
Zwischen Verbanntsein und Akzeptiertsein
Am Rande eines Hebammenprozesses aus dem 18. Jahrhundert
1. Zwei Gesichter eines Frauenberufes
Die gängigen Vorstellungen über ländliche Hebammen in der Frühen Neuzeit sind immer noch von der rücksichtslosen Kritik „aufgeklärter Menschenfreude” geprägt, die sie als ungebildet und ungeeignet für ihre verantwortungsvolle Arbeit disqualifizieren. Die Hebammen – seien sie die einfachsten, den überlieferten abergläubischen bzw. volksmedizinischen Traditionen gemäß tätigen Dorffrauen – können nicht als Vertreter eines „alltäglichen Berufes” betrachtet werden. Ihre Arbeit umfasste ein weites Spektrum der Aufgaben. Außer dem helfenden Beistand bei der Entbindung, hatte eine Hebamme kirchliche (Nottaufe der schwächlichen Neugeborenen, Anmeldung der Neugeborenen beim örtlichen Pfarrer), gemeinschaftliche (das Betreuen der Wöchnerin und des Neugeborenen, Vorbereitung der Tauffeier, Bereitmachen der Frau für das Initiationsfest) und amtliche (Gutachterin bei Gericht in den Prozessen gegen Kindsmörderinnen) Aufgaben. Sie war allerdings ebenfalls diejenige, die heimlich Abtreibungen vornahm1.
Die Hebamme, die etwas mehr als der Durchschnittsmensch über die Entstehung des Lebens wusste, geriet häufig – besonders auf dem Lande – in den Verdacht von Hexerei. Sie gehörten zu den Frauen, die durch ihren Arbeitsbereich widersprüchliche Gefühle auslösten. Ihre gesellschaftliche Stellung war dementsprechend von Ambivalenzen geprägt. Sie waren angesehen und geschätzt, gleichzeitig aber gefürchtet2.
Diese Zwiespältigkeit des Hebammenberufes ergriff die Phantasie der Künstler und Dichter. Die Hebammenfigur tritt aber auch in den Märchen und Sagenerzählungen auf, wobei zwei Topoi unterschieden werden können. Der eine ist die gute Hebamme. Diese wurde gerufen, wenn die Entbindung nahte, um der Schwangeren bei der „Geburtsarbeit” beizustehen und anschließend Mutter und Kind zu versorgen. Ihre Beziehung zur kreißenden Frau wird durch Hilfe und Solidarität charakterisiert. Der andere ist die böse Hebamme, die die schwangeren, kreißenden oder im Kindbett liegenden Frauen bedroht, Verderben über sie bringt und sie in Angst und Schrecken hält3.
Zu der Herausbildung dieser negativen Vorstellungen von den Hebammen trugen ihre allgemein verbreiteten, tradierten und stereotypisierten Charakterzüge bei. Frauen, die diesen Beruf wählten, galten oft als Außenstehende, Deviante oder sogar als Verbannte ihrer Gemeinde. Es gehörte zu ihren Aufgaben als verbindendes Glied zwischen der kirchlichen bzw. weltlichen Rechtsprechung und ihrer engeren Gemeinde zu stehen. Sie kannten die Geschichte jeder Familie in ihrem Umkreis, aber sie, die „Eingeweihten” galten vielleicht gerade wegen ihres Wissens als unerwünschte Personen innerhalb der Gemeinde4.
Allerdings wäre es unrecht die frühneuzeitlichen Hebammen in die Rolle der einsamen Frauen zu verbannen, die den Anschuldigungen frei ausgeliefert waren. Hinter dieser besonderen „janusköpfigen” Berufung liegen weitere Dimensionen verborgen, welche die ungarische Fachliteratur bis jetzt außer Acht gelassen hat.
Die Hebammenfrage in der internationalen und ungarischen Fachliteratur
In der westlichen Geschichtsschreibung ist heutzutage die intensive Beschäftigung mit der Geburt ein wichtiges Forschungsfeld. Die Wurzeln dieses Interesses an dem Thema sind scheinbar in der Fragestellung der gegenwärtigen Ordnung des Gebärens zu suchen. Die öffentlichen Debatten über Haus- und Klinikentbindungen zeigen den Wandel des Bewusstseins. Die Geburt wurde in unserem Jahrhundert – Dank der Entwicklung der Medizin – in die Dienste des Klinikums, des akademischen Wissens gestellt. In einer Situation, wo der bisherige Entwicklungstrend problematisch erscheint und Experten wie Betroffene um Weichenstellungen streiten, richtet sich der Blick verstärkt in die Vergangenheit. Freilich hat die Geschichte der Geburt und der Geburtshilfe schon seit geraumer Zeit dazu herhalten müssen, bestimmte Positionen im aktuellen Meinungsstreit zu legitimieren5.
Zuerst wurde in Frankreich, den angelsächsischen Ländern und Italien damit begonnen, die Geburt – und nicht nur die Geburtshilfe – als ein historisches Phänomen zu untersuchen. Dabei ist deutlich geworden, dass die Auffassung der Geburt als eines primär biologisch-medizinischen Vorgangs recht neu ist. In früheren Gesellschaften standen kulturelle und soziale Aspekte im Vordergrund. Entsprechend hat sich die Aufmerksamkeit auf die Rituale und Gebräuche gerichtet, von denen die Niederkunft umgeben war. An die Stelle einer einlinigen Fortschrittsgeschichte der Medikalisierung und Professionalisierung der Geburtshilfe6 oder aber einer Geschichte von der Entmachtung der Hebammen durch männliche Experten7 tritt mehr und mehr eine vielfältige, mannigfach gebrochene und widersprüchliche Geschichte der kulturellen Ordnungen und sozialen Praktiken der Geburt8. Unterschiedliche Ansätze und Disziplinen haben dazu beigetragen, frisches Licht auf dieses Forschungsfeld zu werfen9. Neue Perspektiven hat vor allem die Frauen- und Geschlechtergeschichte eröffnet10. Die Volkskunde richtet verstärkt den Blick auf die Praxis einfacher Leute und verortet diese in den jeweiligen historischen und sozialen Kontexten, statt sich mit der Beschreibung traditionellen Brauchtums zu begnügen11. Zugleich erweitert die Medizingeschichte ebenso wie die historische Demographie ihr Forschungsgebiet, beide öffnen sich hin zur Sozial- und Kulturgeschichte12.
Die sozial- sowie mikrohistorischen Aspekte des Hebammenwesens fanden bisher in der ungarischen Forschung kaum Interesse. Es gibt Beiträge entweder aus der traditionellen Medizingeschichte oder aus der älteren volkskundlichen Forschung. Es werden von den Medizinhistorikern – anhand von gewöhnlichen gedruckten Hebammenverordnungen und Lehrbüchern – die Entwicklung der geburtshilflichen Mittel und Techniken,13 oder das Leben der berühmt gewordenen Ärzte und Geburtshelfer,14 – schlechthin der Verdrängungsprozess des „weiblichen Wissens” durch eine „männliche Wissenschaft” – sowie die Institutionalisierung der Hebammenausbildung15 thematisiert. In allen drei Fällen besteht die starke Tendenz, die Hebammen abwertend und ausdrücklich negativ darzustellen. Die Volkskundler befassen sich mit den Hebammen vorwiegend im Rahmen der Brauchforschung, wobei ihre Rolle als Trägerinnen abergläubischen Vorstellungen, sogar als Hexen hervorgehoben wird. Diese einseitige Sichtweise von beiden Seiten resultiert vor allem daraus, dass die bezüglichen archivalischen Quellen – im Zeichen der bei uns neuen Wissenschaft, der Statistik angefertigten tabellarischen Auflistungen über das Sanitätspersonal, und der narrativen Sanitätsberichte der Komitatsphysiker – bis jetzt noch nicht aufgearbeitet wurden16.
Die Hebammen als „gesellschaftliches Thermometer”
Die komplexe Darstellung der Hebammentätigkeit gewährt uns Einblick in die gesellschaftlichen Vorgänge der Zeit, wobei die Hebamme auf dem Grunde der Gesellschaftspyramide ihren Platz einnimmt. Bei der Neuformulierung der sozial- und kulturhistorischen Rolle der Hebamme bieten die – oben skizzierten – neuesten ausländischen Bestrebungen dem ungarischen Historiker viele verfolgbare methodologische Richtlinien. Die neulich erforschten archivalischen Quellen beweisen aber, dass in unserer Region die ethnischen bzw. konfessionellen Konflikte viel mehr betont werden müssen.
Beim Betrachten des Wirkungskreises der Hebammen kann festgestellt werden, inwieweit der Staat des 18. Jahrhunderts fähig war ihre Rationalisierungsbestrebungen durchzusetzen. Mit welchem Erfolg konnte er ins Reich des geerbten Gewohnheitsrechts eingreifen. Eine neue Periode im ungarischen Hebammenwesen kann an ganz genauen Daten angeschlossen werden. 1766 war das Erscheinungsjahr des ersten ungarischen Hebammenlehrbuchs „Unterricht für Hebammen”. Es wurde von dem kalvinistischen Arzt István Weszprémi in Debrecen veröffentlicht. Dies war eine Übersetzung des Büchleins von Johann Heinrich Crantz, dem berühmten Professor an der Wiener Medizinischen Schule. Der Übersetzer bereicherte seinen Text mit einem Anhang von neun Holzschnitten. Die naturalistischen Abbildungen zeigen die Gebärmutter und die Ablaufvarianten der Geburt.17 Damit wurde das Studium für die einfachen Hebammen wesentlich erleichtert.18
Das andere Datum ist 1770, das Jahr der Erlassung der Sanitätsnormativ, die für das ganze Reich und so für Ungarn eine einheitliche Regelung im Bezug auf die Prüfungsverpflichtungen der Hebammen bedeutete.19
Noch im selben Jahre erfolgte die Gründung der ungarischen Medizinischen Fakultät an der erneuerten Tyrnauer Universität. Das ermöglichte die moderne, fachmäßige Hebammenausbildung in Form von 1–2 Semester langen Kursen. Was die Fächer, die Themen und die Professoren anbelangt, mangelte es an Synkronizität nicht. Der Wiener Joseph Plenck wurde als Direktor am Lehrstuhl für Geburtshilfe bestellt. Unter ihm beschäftigten sich zwei weitere Lehrer mit den Hebammen. Die Universität zog sich 1777 nach Ofen und dann 1784 nach Pest. Wegen sprachlichen Hindernissen wurden bis zum Ende des Jahrhunderts nur in einer Minderzahl diplomierte Hebammen erlassen. Die Lehrer konnten nämlich nur Deutsch.20
Auf die Veränderungen reagierten die Hebammen wie ein „Thermometer”. Das Aufeinanderprallen von Tradition und Modernität kann durch das nähere Betrachten der Geschehnisse um die Dorfhebammen herum in einer plastischen Form nachgebracht werden. Die Tätigkeit der approbierten bzw. diplomierten städtischen Hebammen ist archivalisch leichter zu verfolgen. Sie wurden als vereidigte Stadtangestellte mit festgelegtem Gehalt ab dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts automatisch in der Administration aufgelistet. Das Leben der Dorfhebammen dagegen – trotz ihrer großen Anzahl – kann weit schwerer, fragmentarischer verfolgt werden. Sie übten ihren Beruf nicht aufgrund ihrer Ausbildung aus, sondern im Zeichen der traditionellen gegenseitigen Hilfeleistung. Sie wurden von der Gemeinde beauftragt. Ihr Beruf beruhte auf Vertrauen, wofür die größte Bezahlung die Anerkennung der Gemeinde war.21
Die neueren archivalischen Forschungen bezeugen, dass die Religionszugehörigkeit und die sich gerade formenden Nationalitätsprobleme auch auf der Ebene der Hebammen erscheinen. Diese Gegensätze entwickeln sich in späteren Jahrzehnten in unserer Region zu schwerwiegenden Konflikte. Die Toleranz gegenüber dem Anderssein tritt nicht nur als ein sprachliches Problem auf, sondern wird zu einer Kette von Konfliktsituationen, die das Leben einiger kleinerer Gemeinde von Grund auf erschüttern.
Fallstudie über verbannte Hebammen
Die Prozessakte lag unberührt im Archiv des Pester Komitats. Sie erlaubt zu Beginn des modernen Zeitalters einen Einblick in den Alltag einer Dorfgemeinde und in das Leben der dort tätigen Hebammen. Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen Prozess. Unter den Akten lassen sich keine Testimonien, Klageschrift, Kläger, und Angeklagte finden und auch kein strenger Urteilspruch. Das Material, das vier Briefe, ein Protokoll, zwei Gutachten und eine Instruktion – bestehend aus einem Urteilspruch sowie einem Bericht – beinhaltet, ist unvollständig. Es fehlen einige verbindende Glieder, aber die Geschichte lässt sich wie ein Mosaik zusammenfügen. Das Geschehen fand 1786 im Pester Komitat in einer vorwiegend von Kalvinisten bewohnten Gemeinde namens Alsónémedi statt.22 Der Konflikt lässt sich scheinbar auf das Auswählen einer Hebamme zurückzuführen. Die katholische Hebamme – die im Prozess konsequent „slowakische Hebamme” genannt wird – und die kalvinistische Hebamme – die eine Ungarin ist – spielen die Hauptrolle bei diesem Geschehen. Beide erwecken auf verschiedene Weise das Interesse. Im verzwickten Verbindungssystem des Dorfes und des Komitats gelten sie in den Augen von verschiedenen Kreisen als Verbannte, Geächtete, Deviante, sowie unerwünschte Personen. Nur das Studium der letzten Schriften der Prozessakte zeichnet einen Grundriss über den wirklichen Ursprung des als Hebammenfede getarnten Konflikts, der das Leben des Dorfes von Grund auf erschüttert. Innerhalb von drei Monaten werden zwischen den kalvinistischen und katholischen Weibspersonen des Dorfes, dem Stuhlrichter des Dorfes, dem Vizejuridicus, dem katholischen Pfarrer, dem Komitatsphysicus, der Komitatshebamme und dem Consiliarius der Statthalterei Briefe gewechselt, die mit heftiger Leidenschaft formuliert wurden. Die offiziellen, sowie nicht offiziellen Personen versuchen die ohnehin dramatisch geprägten Ereignisse zu deuten und den Konflikt zu lösen, wobei die Personen beinahe mit obligatorischer „Parteilichkeit” handeln, die ihre Interessen verteidigt, oder die ihrer gesellschaftlichen Stellung entspricht.
Die lawinenhafte Entwicklung der Geschehnisse, wobei die Angelegenheit einer einfachen kleinen Dorfgemeinde ganz bis zum Grafen Festetics kommt, nimmt ihren Anfang von der kalvinistischen Seite. Ihre Beschwerden werden aus dem kummervollen Brief der kalvinistischen Frauen an den Vizegespan des Komitats ersichtlich. Das genaue Datum des Briefes ist zwar nicht bekannt, aber es gilt als sicher, dass das Schreiben der Komitatsversammlung während der Sitzung am 18. Juli 1786. vorgelegt wurde.23 Dies wird aus der Protokolle des Vizejuridicus des Komitats Ferencz Szemere über den Hebammenkonflikt in Alsónémedi ersichtlich, die für den 5. August 1786 datiert ist.24 Das mehrseitige Schreiben zeugt davon, dass es in dieser Sache wiederholt zum Streit gekommen ist. Der Brief berichtet über eine „Fede”, die „schon beinahe ein Jahr andauert”. In diesem einjährigen Zeitraum hätten die führenden Personen des Dorfes mehrmals den Versuch unternommen den Streit zwischen den gegnerischen Seiten zu schlichten, aber sie hätten scheinbar nur erreicht, dass die Unzufriedenheit nur noch anstieg. In den Augen der kalvinistischen Weibspersonen wurde der „slowakischen Hebamme” die Schuld an der Fede gegeben. Es stellt sich heraus, dass die katholische Hebamme ursprünglich vom Waitzer Bischof ernannt wurde, aber kurz darauf wegen ihrer magischen Praktiken ihr untersagt wurde. Nach diesen Ereignissen eine gewisse kalvinistische Frau Beteges betreute die gebärenden Frauen. Die Tätigkeit dieser kalvinistischen Frau war anscheinend nicht langfristig. Die katholische Hebamme wurde vom katholischen Pfarrer, András Sándor wieder angestellt und die kalvinistische abgesetzt. Die kalvinistischen Frauen boykottierten dagegen und beschuldigten die katholische Hebamme der schlechten Behandlung der Wöchnerinnen und der Neugeborenen, der Geldsucht und des Teufelpaktes. Zur gleichen Zeit äußern die Weibspersonen schwerwiegende Beschuldigungen über András Sándor, dem Pfarrer der katholischen Gemeinde in Alsónémedi, und István Lukácsy, dem Stuhlrichter des Dorfes. Der Pfarrer wird beschuldigt, dass er „unsere rechtmäßige Hebamme, Frau Beteges gegen unseren Willen abgesetzt hatte, diese slowakische Hebamme aufgenommen und vereidigt hatte. Die Weibspersonen sehen in dieser Sache die Rache des Pfarrers dafür, dass er von den „Reformierten verraten wurde”, da er für die Initiation der jungen Mütter fünf Groschen verlangte. Die aufgebrachten, vor Wut rasenden Weiber machen auch vor der Haushälterin des Pfarrers keinen Halt und bezichtigen sie des ehrlos schamlosen, anstößigen und ordinären Benehmens.
Die Klagen, die dem Stuhlrichter István Lukácsy vorgelegt worden waren, beziehen sich auf die öffentlich abgehaltene Hebammenwahl, die vor dem Gemeindehaus in Alsónémedi in Anwesenheit von 40 Frauen stattgefunden hatte. Der katholische Pfarrer folgte dem Vorschlag der Komitatshebamme, Anna Maria Kleinod, als er die Einwohner zusammenrief.25 Die Weibspersonen sagen in dem von ihnen geschriebenen Brief aus, dass sie sich bei der Wahl, die in Anwesenheit des katholischen Pfrarrers, des Dorfrichters und des Notars abgehalten worden war, einstimmig gegen die slowakische Hebamme und für Frau Beteges ausgesprochen hatten. Trotz allem war die slowakische Hebamme zur vereidigten Hebamme des Dorfes geworden. Die Weiber können dies nur damit erklären, dass nach offiziellen Hebammenwahl der Richter der slowakischen Hebamme einen Brief übergeben hatte „... darüber, dass sie von den Anwesenden gleichsam zur Hebamme gewählt worden war”. Die slowakische Hebamme erschien mit diesem Brief bei dem Komitatsphysicus, Doktor Glosius, der sie vereidigt hatte und ihr das Amt der Hebamme übertrug. Eine weitere Klage der Weibspersonen gegen den Richter war, dass „der Richter gedrohet hatte sechs oder sieben von den Weibern wegen dieser Sache das Ränkeschmieden gegen die slowakische Hebamme auspeitschen zu lassen ...”.
Die Weibspersonen nennen in ihrem Brief eine dritte Person, Ferencz Szemere, den Vizejuridicus, der sie „ während seines Aufenthaltes im Dorfe angehöret hatte und, der unserem Richter befohlen hatte, dass er ausrufen lassen sollte, dass keiner es wagen sollte die slowakische Frau zu rufen” und er dieser Frau ebenfalls befohlen hatte „dass sie es nicht wagen sollte zu jemandem zu gehen, aber der Richter befolgte den Befehl nicht”. Im Weiteren besagt der Brief, dass Szemere – dem die Sache nur von kalvinistischer Seite bekannt war – befahl, dass die Weiber ihre Klagen an die Komitatshebamme, Anna Maria Kleinod in Abony richten sollen. Frau Kleinod soll über das „Protege” der Weiber, Frau Beteges ein Gutachten ausstellen und bezeugen, dass sie wahrhaftig zum Ausüben der Hebammentätigkeit geeignet ist. Die vorliegenden Akten geben kein Zeugnis darüber, dass die Weiber der Anordnung von Szemere nachgekommen wären.
Szemere fertigte für die Komitatsversammlung am 18. Juli 1786. – wo diese Sache nach allem Anschein nach auf der Tagesordnung war – eine Protokolle an, in der eine kurze Zusammenfassung der ihm vorliegenden Informationen gibt.26 Er nimmt eindeutig – wahrscheinlich auf Grund seiner einseitigen Kenntnis – gegen die slowakische Hebamme Stellung: „... es ist in der Tat die slowakische Frau die der Grund für den Ausbruch des Streites ist, und die diesen weiteranspornt. Es wäre unangebracht eine andere in dieser Tätigkeit bewanderte, moralisch bewährtes Weib mit dem Einverständnis der Hebamme des Komitats ins Dorf zu bringen”. Das Protokoll besagt, dass auf der Komitatsversammlung entschieden wurde die Anhörung des katholischen Pfarrers in die Wege zu leiten.
Der Standpunkt der katholischen „Gegenpartei” wird aus dem Brief des Pfarrers, András Sándor ersichtlich, der für den 5. August 1786. datiert und an den Vizegespan des Komitats gerichtet ist.27 Im ersten Teil des Briefes wird detailliert beschrieben wie die slowakische Hebamme nach Alsónemédi kam und, wie ihr verboten wurde ihre Tätigkeit auszuüben. Es stellt sich heraus, dass die slowakische Hebamme vom Waitzer Bischof und mit Einverständnis der Komitatshebamme ernannt wurde, aber ein Jahr später vom Prefekt Samuel Burian wegen ihren „magicis et veneficis artibus” Praktiken ihr untersagt wurde im weiteren ihre Tätigkeit auszuüben. Ferencz Kép, der Vorgänger des Pfarrers András Sándor, und Samuel Burian trafen eine Vereinbarung, laut dem die Komitatshebamme über diese Prohibition nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Dieses Ereignis rief die Empörung der Dorfgemeinde hervor und Ferencz Kép ließ nicht ohne Grund seinem Nachfolger schriftlich „... alle Weiber wünschen sich eine ordentliche Hebamme. Bitte, verhindern Sie, dass jedes Weib eine andere Hebamme wählt”. András Sándor war seit 1785 Pfarrer in Alsónémedi, wie es aus dem Brief hervorgeht. Einen Monat nach dem er sein Amt im Dorf antrat, wandten sich die Weibspersonen des Dorfes mit der Bitte an ihn, dass er der slowakischen Hebamme die Genehmigung für die Ausübung ihrer Tätigkeit geben sollte. Laut dem Brief wurde bei der Neubesetzung große Umsicht angewandt und ein demokratischer Weg gewählt. Der Pfarrer gab dem Bitten der Weiber nach und sandte die slowakische Hebamme zur Komitatsgeburtshelferin Anna Maria Kleinod, die wiederum András Sándor schriftlich über die Fachkenntnisse der Frau versicherte. Der Pfarrer hatte dann eine Unterredung mit den Richtern des Dorfes in dieser Sache. Er rief anschließend die Weiber zusammen und las ihnen das Gutachten der Komitatshebamme vor. Er fragte die versammelten Weiber erneut, wen sie von den zwei Frauen als Hebamme behalten wollten, worauf die Weiber einstimmig zu Gunsten der slowakischen Hebamme entschieden. Ausgenommen von einer gewissen Frau Kriza, die allerdings ihre Bedenken folgendermaßen äußerte: „Mit tiefster Ehrerbietung wird diese Sache nicht das Mißgefallen des ehrwürdigen Predikators der kalvinistische Priester hervorrufen.” Darauf antwortete der Pfarrer: „Unseren ehrwürdigen Predikator betreffend werden wir uns auch eine Einigung bewirken.” Diese Worte beruhigten Frau Kriza und sie sagte: „Nun, wenn die Sache so steht, dann muss gesagt werden, dass die slowakische Frau besser geeignet ist.” Dieser Dialog lässt sich schon einiges ahnen! Aus der Beschreibung des Pfarrers geht aber auf jeden Fall deutlich hervor – im Gegensatz zu der Stellungnahme der kalvinistischen Weibspersonen, dass der katholische Pfarrer die slowakische Hebamme mit dem Einverständnis des gesamten Dorfes in ihr Amt zurückgesetzt hatte.
Der zweite Teil des Briefes, den der Pfarrer geschrieben hatte, bezieht sich auf die Beschuldigungen der kalvinistischen Frauen. Der Brief deutet vor allen Dingen darauf hin, dass die kalvinistischen Frauen schon wenige Wochen danach, dass die erste slowakische Hebamme in ihr Amt wiedereingesetzt wurde, die kalvinistischen Frauen sie belästigten. Der Pfarrer verfasste einen Brief in Gegenwart der Frauen, der ihr Jammern wiedergab, und ließ diesen der Komitatshebamme zukommen, damit sie ihre eigene Meinung formen konnte darüber, ob die Beschwerden ausreichen der slowakischen Hebamme die Ausübung ihrer Tätigkeit zu untersagen. Die Komitatshebamme eilte nach Erhaltung dieses Briefes sicherlich nach Alsónémedi um persönlich mit den aufgebrachten Frauen sprechen zu können. Der Pfarrer zitiert in seiner protokollbuchähnlichen Schrift den Verlauf des Gesprächs zwischen der Komitatshebamme und den Frauen. Daraus stellt sich heraus, dass die Dorffrauen von der Komitatshebamme befragt wurden, ob sie etwas gegen die slowakische Frau haben, worauf sie nein beantworteten. Im Weiteren gibt der Pfarrer dem Vizegespan eine Ausführung über seine Bedenken die kalvinistische Frau Beteges betreffend: „nach der Meinung der Komitatshebamme gibt es im ganzen Komitat keine andere Frau, die so dumm wäre, wie diese Frau Beteges. Sie geht ihren Pflichten nicht nach, sogar versäumte sie mir die Namen der nicht von mir getauften Neugeborenen zu melden und damit auch das Stolageld zu bezahlen”
Der letzte Teil des Briefes nimmt zwar eine unerwartete Wendung, aber man kann vorausahnen, welche Richtung die Ereignisse nehmen werden. Der Pfarrer entlarvt den kalvinistischen Priester des Dorfes mit schonungslos ehrlichen Worten. Von diesem Augenblick an rückt den Hebammenkonflikt in ein ganz anderes Licht. Der Pfarrer hatte wahrscheinlich seit Langem geahnt, wer hinter der Fede steht. Um die katholische bzw. kalvinistische Seite zu versöhnen, hatte er einen seiner Männer zum kalvinistischen Priester gesandt und ließ ihn fragen, ob er Einwände gegen die slowakische Hebamme hätte. Auf seine Anfrage hin bekam der Pfarrer die Antwort: „Ich habe wahrhaftig Apprehension gegen sie, aber werde das nicht zum Ausdruck bringen, sondern ad rem deveniemus. Allem zum Trotz gebe ich mein heiliges Versprechen auf mein Amt, dass die slowakische Frau in Alsónémedi niemals zur Hebamme wird und sollte sie von dem ehrwürdigen Herrn dazu ernannt werden, werde ich wissen, wie ich es verhindern soll.” Um die Situation dem Vizegespan nahe zu bringen, setzt der Pfarrer seinen Brief mit der Beschreibung eines dramatischen Ereignisses fort. Die Frau des kalvinistischen János Jorán wurde nach der Geburt ihres Kindes krank, und das Kind starb in Folge des Milchmangels. Das Leben der Frau war in großer Gefahr. Der Mann suchte weinend den kalvinistischen Priester auf und flehte ihn an, nach der slowakischen Hebamme zu senden um das Leben seiner Frau zu retten. Auf sein Flehen bekam er aber die Antwort, dass der kalvinistische Priester auch dann niemanden zur slowakischen Hebamme senden würde, wenn weitere 200 Frauen sterben sollten. Der tief getroffene Joran sah sich gezwungen den katholischen Pfarrer zu bitten bei der slowakischen Hebamme in seiner Sache vorzugehen. Die in ihrem Stolz verletzte Hebamme aber stand weder dem katholischen Pfarrer noch dem verzweifelten Mann zur Verfügung. Der Pfarrer stellt danach erschrocken die Frage, wer wohl in Zukunft bei der Geburt helfend zur Seite stehen wird. Aus dem Brief wird im weiteren ersichtlich, dass der kalvinistische Priester sich mit der Sache der slowakischen Hebamme an den Vizejuridicus Szemere gewandt hatte, da sein Standpunkt aber kein Verständnis stieß, sprach er sich von der Kanzel vor seinen Anhängern gegen die „führenden Personen” aus. Er deklarierte, dass er für sie nicht beten werde, da die adligen Katholiken nicht ihn unterstützten. Was genau die ausgebliebene Unterstützung seiner Sache bedeutet, und warum für den kalvinistischen Priester die Person der slowakischen Hebamme solche Bedeutung hatte, wird aus dem nächsten Absatz des Briefes klar, dass der kalvinistische Priester hinter dieser Fehde steht. Er hatte seit Jahren das sogenannte Stolageld der katholischen Pfarrer nicht bezahlt. Da er die führenden Personen des Dorfes für seine Sache nicht gewinnen konnte, benutzte er die kalvinistischen Frauen um seinen Willen durchzubringen. Bewusst hetzte er die Weiber gegen die katholische Hebamme auf, hielt er für die Frauen auch nächtliche Zusammenkünfte, wobei er sie durch sein „böse Predigten” zu überzeugen versuchte. Die Kalvinisten bekamen schließlich auf ihr in 1786 eingegebenes Ansuchen – auf das genaue Datum des Gesuches wird vom Pfarrer nicht hingewiesen – eine verneinende Antwort. Daraufhin bezahlten sie – wie das aus dem Brief ersichtlich wird – ab dem 30. März 1786 kein Stolageld an die katholische Kirche.
Der Brief von dem Stuhlrichter István Lukácsy vom 4. August 1786 an den Komitatsgespan steht im vollen Einklang mit dem, was der katholische Pfarrer niedergeschrieben hatte28. Allem Anschein nach zählte auch der Richter nicht zu denen, die den kalvinistischen Priester unterstützten. Als treuer Kalvinist kommt er zu den gleichen Schlussfolgerungen über die Ursachen der Fehde im Dorf, wie der katholische Pfarrer. Der Stuhlrichter weist in seinem Brief ebenfalls auf die Umstände der Wiedereinsetzung der slowakischen Hebamme, die positive Fachmeinung der Komitatshebamme, die „schuldhafte” Predigten des kalvinistischen Priesters, das Aufhetzen der Weiber und auf die nächtliche Zusammenkünfte hin.
Der offizielle Standpunkt, was ebenfalls auch der Richterspruch in dieser Sache ist, wird in einem Bericht erläutert, der am 9. August 1786 von dem Statthalter Consiliarius Antal Festetics geschrieben wurde. Er bringt den sich lang hinziehenden Hebammenkonflikt mit einem salomonischen Urteilspruch zum Anschluss. Er trägt dem Vizejuridicus Szemere auf das Einsetzen beider Hebammen in ihre Ämter zu bestärken, und im Namen des Gesetzes im Dorf ausrufen zu lassen, dass die gebärenden Frauen von den zwei Hebammen, die rufen sollen, in der sie größeres Vertrauen setzen. In der Sache des kalvinistischen Priesters verordnet Festetics, dass Szemere diesen vor dem ganzen Dorf strengstens ermahnen sollte. Festetics überlässt Szemere ebenfalls das Eintreiben des nicht eingezahlten Stolageldes. Sollte sich jemand der Zahlungspflicht widersetzen, sei es die Aufgabe des Vizejuridicus die Namen der Ungehorsamen mit der genauen Summe ihrer Schulden auf eine Liste zu setzen, und diese an das Komitat weiterzuleiten. Zum Schluss ordnet Festetics an, dass János Oláh als der Hauptanstifter dieser Fehde sechs Stockschläge bekommen sollte.
Szemere beschreibt in seinem Bericht vom 16. September 1786 an dem Consiliarius Festetics über die Umstände und Schwierigkeiten, die das Bewirken der Instruktion mit sich brachten.29 Der Vizejuridicus reiste am 31. August 1786 nach Alsónémedi um der Instruktion nachzukommen. Es geht aus dem Bericht hervor, dass die Sache der zwei Hebammen am leichtesten zu regeln war: gemäß der Instruktion rief er öffentlich vor dem ganzen Dorf aus, dass in Zukunft ein jeder frei zwischen den zwei Hebammen wählen kann. Die gesamte Dorfgemeinschaft nahm dies ohne ein Wort dagegen zu sagen an. Der kalvinistische Priester wurde öffentlich ermahnt, der auf die Anschuldigungen von Szemere erwiderte, dass er in Zukunft alles unternimmt, damit seine Unschuld in dieser Sache ans Tageslicht kommt. Sollte es anders nicht gehen, wird er nicht davor zurückschrecken sich eventuell an offizielle Stelle zu wenden. Der Bericht lässt erkennen, dass das Eintreiben des Stolageldes, das dem katholischen Pfarrer zusteht, viel schwieriger, wenn nicht völlig hoffnungslos erscheint. Die Kalvinisten meinen, dass Szemere die Verordnung über das nachträgliche Eintreiben des Geldes zugunsten des katholischen Pfarrers herausgegeben hatte. Nach der Sachdarstellung des katholischen Pfarrers verbreitet der kalvinistische Priester, dass diese Verordnung das Ergebnis einer Verschwörung zwischen Szemere und dem katholischen Pfarrer sei. Das Wichtigste sei aber, dass die das Geld schuldeten nicht bezahlen wollten. Der Vizejuridicus musste sich trotz seiner Bemühungen anstatt des Geldes mit einer Anstellung der draußen gebliebenen Schulden – die vom katholischen Pfarrer angefertigt wurde – zufrieden geben. Zum Schluss verschob der gutwillige Szemere die Austeilung der Stockschläge. Oláh bat ihn wegen seinen 68 Jahren darum. Nachdem der Vizejuridicus dem Flehen des Mannes nachgab, reichte Oláh sofort ein Ansuchen ein, in dem er bat seine Strafe auf eine andere Art von körperlicher Züchtigung zu ändern.
Sehen wir uns noch einmal die Methode an, die die Frauen während des Prozesses verfolgten, und fassen wir im Weiteren in Punkte zusammen, welche historische Lehre dieses Geschehen in sich birgt:
1. Aus diesem Fall ist einerseits die konfessionelle aber auch die ethnische Konfrontation unter Ungarn zu erkennen. Auffallend ist dabei, dass die katholische Hebamme als „slowakische Hebamme” apostrophiert wird, was einer Art von Beschimpfung gleichkommen kann. Diese pejorative, verbale Namengebung zeigt eine Variante von ethnischen Gegensätzen und birgt das Vorzeichen der viel rücksichtsloseren ethnischen Konflikte in den nächsten Jahrhunderten in sich.
2. Die Tätigkeit der Hebamme unterlag auf der einen Seite den Regelungen und der Kontrolle der weltlichen und kirchlichen Rechtsprechung, und auf der anderen Seite der örtlichen Gemeinde. Diese zwei Welten konnte die Hebamme nur selten in Einklang bringen. Sie versuchte den Anforderungen der zwei Seiten nachzukommen, wurde aber während dessen zu einer verbannten Person der Gemeinde und galt als Herd für Konflikte.
3. Anhand des oben behandelten Materials können wir ein genaues Bild zeichnen von der besonderen Gruppe der Frauen, die sich an der Hebammenwahl beteiligten und von der Art und Weise, wie die „Gemeinde-Autonomie” der Frauen in den Dörfern funktionierte. Die Hebammenwahl galt lange als einzig existierendes Wahlrecht der Frauen. Die Hebammenwahl erlaubte ihnen das Praktizieren einer besonderen Form der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Sie scheuten sich vor nichts zurück um ihr Willen und ihr einziges autonomes Recht gegen die kirchliche und weltliche Macht zu schützen. Sie traten gegen die Person der von ihnen unerwünschten Hebammen auf, in dem sie die Hebamme bannten, sie entschuldigten, sich ihr passiv entgegensetzten und boykottierten. Dieses Verhalten führte oft zu dramatischen Situationen. Der Boykott der kalvinistischen Frauen gegen die katholische Hebamme führte bei Geburten in mehreren Familien zu tragischen Todesfällen.
4. Der Prozess veranschaulicht, wie die aufgeklärte, neue Arbeitsmethoden vertretende Bürokratie, sowie die ihren alten Standpunkten treu bleibenden kirchlichen Personen, das interne Geteiltsein der Dorfgemeinde bekämpfte. Die diplomierte Hebamme deutscher Herkunft kooperiert mit der Obrigkeit, während der kalvinistische Priester erstaunlicher Weise – der vermutlich ein Josephinist ist – die Rolle des Gegners auf sich nimmt.
Betrachtet man die Akten aus zweihundert Jahren Entfernung kann man sich nicht des Gefühls verwehren, dass es sich hier um ein gut komponiertes Drama handelt, in dem eine große Anzahl von Personen erscheinen. Die Gefühle, die die Konfliktsituationen hervorrufen, sind uns heutzutage ebenfalls vertraut. Die Personen kommen in den Briefen und Protokollbüchern zu Worte. Ihre Aussagen und ihr Handeln werden durch Besprechung und Wohlgesinntheit, ein verkehrtes Unter- und Übergeordnetsein, Hass und menschliche Gesten, Empörung und geschickte Praktiken motiviert.
Anmerkungen
1
Vgl. Márta, Kapros: A születés és a kisgyermekkor szokásai. In: Mihály, Hoppál (Hrsg.): Magyar néprajz. Bd. VII. Budapest, 1990. 9–31. passim., Hans, Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. Berlin–New–York, 1987. 1587–1603. passim.
2
Über die ambivalente soziale Beurteilung der Hebammen und über die Hebammenhexen siehe: Tekla, Dömötör: Die Hebamme als Hexe. In: Lutz, Röhrich (Hrsg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg im Breisgau, 1973. 17–189. passim., Éva, Pócs: Malefícium-narratívok – konfliktusok – boszorkánytípusok (Sopron vármegye, 1529–1768). In: Népi kultúra – népi társadalom. 18. (1995) 9–63. passim., Eva, Labouvie: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main. 1991. 179. Diese Ambivalenz wird ebenfalls im Zusammenhang mit der Tradierung von empfängnisverhütendem Wissen gesehen siehe: Robert, Jütte: Die Presistenz des Verhütungswissens in der Volkskultur. In: Medizinhistorsches Journal 24 (1989) 214–231.
3
Mit diesem Aspekt setzte sich Ulrike Gleixner auseinander, die auf deutschsprachigem Gebiet Motivforschungen machte siehe: Ulrike, Gleixner: Die Gute und die Böse. Hebammen als Amtsfrauen auf dem Land (Altmark/Brandenburg, 18. Jahrhundert). In: Heide, Wunder-Christina, Vanja (Hrsg.): Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft. 1500–1800. Göttingen, 1996. 96–98. Eine ähnliche Motivforschung in den ungarischen Volksmärchen würde bestimmt interessante Beiträge zu diesem Aspekt liefern.
4
Tibor, Szenti: Paráznák III. A bábák. In: Orvostörténeti Közlemények 145–146 (1994) 81.
5
Barbara, Duden-Jacques, Gelis-Jürgen, Schlumbohm-Patrice, Veit (Hrsg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. München, 1998. 11.
6
Die Begriffe “Medikalisierung” und “Professionalisierung” hat George Rosen in seiner Studie über die Errichtung der fachgemäßen Ausbildungsmöglichkeiten der ungebildeten Heilkundigen und Hebammen eingeführt siehe: George, Rosen: Wirtschafts- und Gesundheitspolitik in der Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens. In: Erna, Lesky (Hrsg.):Sozialmedizin. Entwicklung und Selbstverständnis. Darmstadt, 1977. 26–42.
7
Zum Konkurrenzkampf zwischen den traditionell ungebildeten und ungeeignet dargestellten Hebammen und den wissenschaftskundigen männlichen Geburtshelfer siehe: Elseluise, Haberling: Beiträge zur Geschichte des Hebammenstandes. Bd. I.: Der Hebammenstand in Deutschland von seinen Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg. Berlin, 1940., Wolfgang, Gubalke: Die Hebammen im Wandel der Zeiten. Ein Beitrag zur Geschichte des Hebammenwesens. Hannover, 1985. Diese zwei Gesamtdarstellungen gehören zum Grundkanon der immer wieder rezipierten Literatur. Positiv hervorzuheben ist den – schon im Zeichen der Modernität verfassten – Beitrag von Ute Frevert, der einen Überblick über den aufklärerischen Diskurs zum Thema männliche und weibliche Medizin bietet. Die Geburtshilfe dient als Beispiel für die Ablösung von Erfahrungswissen der Hebammen durch gelehrtes Wissen der Ärzte. Ausgehend von der Situation der Gegenwart analysiert Frevert die Geistesströmungen, die es der akademischen Medizin möglich machten, sich eine Monopolstellung im Bereich der Krankenbehandlung zu schaffen siehe: Ute, Frevert: Frauen und Ärzte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert – zur Sozialgeschichte eines Gewaltverhältnisses. In: Anette, Khun, Jörn Rüsen (Hrsg.): Frauen in der Geschichte Bd. 2. Düsseldorf, 1982. 177–210.
8
Grundlegend war in diesem Sinne das Buch von Waltraud Pulz, die – bis zu den 90-er Jahren herrschende – starke und einseitige Tendenz, nämlich die Hebammen abwertend, negativ darstellen, zu Recht kritisiert. Neben dem historischen Wandel des Berufsbildes von Hebammen rückt sie biographische, ökonomische und mentale Hintergründe ins Blickfeld. Pulz versucht – durch illustrierte Darstellung der Laufbahn der berühmten deutschen Hebamme Justina Siegemund – die Vielfältigkeit des Hebammenberufes komplex zu behandeln. Die Autorin macht das mit neuartiger Quellenbasis, sie stützt sich – statt der gewöhnlichen Hebammentraktaten und -verordnungen – auf Archivalien, Hebammenautobiographien -lehrbücher und -zeitschriften siehe: Waltraud, Pulz: „Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben”. Das Hebammenanleitungsbuch von Justina Siegemund. Zur Rekonstruktion geburtshilflichen Überlieferungswissens frühneuzeitlicher Hebammen und seiner Bedeutung bei der Herausbildung der modernen Geburtshilfe. München, 1994.
9
Für die interdisziplinäre Themenbehandlung ist ausschlaggebend das – am Ende der 70er Jahren aufgestellte – Pariser „Atelier” geleitet von Jacques Gelis. Sozialhistoriker, Medizinhistoriker, Ethnographen, Demographen verwirklichten eine produktive Zusammenarbeit an der Geburtenthematik. Das Ergebnis ist die zahlreichen Veröffentlichungen, Bücher, Tagungsmappen siehe: Jacques, Gelis: Sages-femmes et accoucheurs. In: Annales E.S.C. 5 (1977) 927–957., Dies.: Die Geburt. Volksglaube, Rituale und Praktiken von 1500–1900. München, 1989., Mireille, Laget: Naissances: L’accouchement avant l’âge de la clinique. Paris, 1982., Franoise, Loux: Le jeune enfant et son corps dans le médicine traditionelle. Paris, 1978., Marie-France, Morel: La mre et l’enfant (18e–20e si?cles): Savoirs populaires, pouvoir medical. In: Politique aujourd’hui. 1976. 87–103. Im Jahre 1994 wurde eine Arbeitsgruppe von ForscherInnen verschiedener Disziplinen und Länder auf Initiative des Max-Planck-Instituts für Geschichte und der Mission Historique Française en Allemagne in Göttingen aufgestellt. Die Experten trafen jährlich einmal zu einem intensiven Werkstattgespräch. Zunächst ging es um den Austausch über ihre Forschungsvorhaben zur vielgestaltigen Geschichte der Geburt und der Geburtshilfe. Das erste Band der Arbeitsgruppe wurde 1998 veröffentlicht siehe: Barbara, Duden-Jacques, Gelis-Jürgen, Schlumbohm-Patrice, Veit (Hrsg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. München, 1998.
10
In den 70-er Jahren die ältere Frauengeschichte – vorwiegend von den Feministen vertreten – richtete ihr Hauptaugenmerk darauf, die Verdrängung des „weiblichen Heilwissens” durch eine „männliche Wissenschaft” zu erforschen. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass die Hebammen früherer Zeiten gleichzeitig überaus kompetente Heilerinnen „weise Frauen” oder „Hexen” gewesen seien, deren Fähigkeiten seit Beginn der Neuzeit ignoriert bzw. negiert wurden, um die neue, wissenschaftliche Medizin zu etablieren siehe: Barbara, Ehrenreich-Deirdre, English: Hexen, Hebammen, Krankenschwestern. München, 1984. Positiv hervorzuheben sind diejenige Studien, – aus dem Forschungsgebiet der neueren Frauengeschichte ohne feministischen Ansätze – die sich auf bestimmte Aspekte des Hebammenwesens konzentrieren und neues Material erschließen, wie Fischer-Homberger auf die gutachterliche Tätigkeit der Hebammen siehe: Esther, Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht. Zur Sozialgeschichte der Gerichtsmedizin. Bern, 1983. Wichtig sind die Forschungen zur Schwangerschaftswahrnehmungen und Geburtserfahrungen von Frauen, sowie zur weiblichen Körper-erfahrung siehe: Barbara, Duden: „Ein falsch Gewächs, ein unzeitig Wesen, gestocktes Blut”. Zur Geschichte von Wahrnehmung und Sichtweise der Leibesfrucht. In: Unter anderen Umständen. Zur Geschichte der Abtreibung. Katalog zur gleichlautenden Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, 1. Juli–31. Dezember 1993. Berlin, 1993. 27–35., Dies: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart, 1987., Richard van Dülmen (Hrsg.): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung. Bd. V. Frankfurt am Main, 1996., Arthur E. Imhof (Hrsg.): Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München, 1983. Hier ist es die intensive Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Diskurs um Kindsmord und dabei die Erforschung der Rolle der Hebammen als Gutachterinnen zu erwähnen. Bei diesem Schwerpunkt sind die deutschen historischen und anthropologischen Forschungsansätze von großer internationalen Wichtigkeit siehe: Otto, Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland. München, 1990. Rainer, Beck: Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 1671–1770. In: Richard van Dülmen (Hrsg.): Kultur der einfachen Leute, Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. München, 1983.
11
Die ältere volkskundliche Forschung befasste sich mit den Hebammen vorwiegend im Rahmen der Brauchforschung. Man interessierte sich für ihre Rolle als Brauchausübende und Trägerinnen abergläubischer Vorstellungen, sie wurden als Bewahrerinnen alter Praktiken gesehen siehe: Richard Beitl: Der Kinderbaum. Brauchtum und Glauben um Mutter und Kind. Berlin, 1942. 57–66. Erst im letzten Jahrzehnt wuchs innerhalb der Volkskunde das Interesse an der beruflichen Tätigkeit der Hebammen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass sich die Frauenforschung einen festen Platz im volkskundlichen Kanon erobern konnte siehe Ricarda, Scherzer: Hebammen. Weise Frauen oder Technikerinnen? Frankfurt am Main, 1988., Britta Schmitz: Hebammen in Münster. Historische Entwicklung – Lebens- und Arbeitsumfeld – berufliches Selbstverständnis. Münster–New York, 1994.
12
Die richtungsweisenden sozialhistorischen Beiträge zur Hebammenthematik befassen sich mit der Leben- und Arbeitssituation von Hebammen und stützen sich vor allem auf rechtliche archivalische Quellen, zum Teil auch auf Bildmaterial und Sachzeugnisse siehe: Ulrike, Gleixner: Die Gute und die Böse. Hebammen als Amtsfrauen auf dem Land (Altmark/Brandenburg, 18. Jahrhundert). In: Heide, Wunder–Christina, Vanja (Hrsg.): Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500–1800. Göttingen, 1996. 96–122., Henrike, Hampe: Zwischen Tradition und Instruktion. Hebammen im 18. und 19. Jahrhundert in der Universitätsstadt Göttingen. Göttingen, 1998. Eine Ausnahme bildet in dieser Reihe die Artbeit von Marland, die auf der Basis von privaten und dienstlichen Tagebuchaufzeichnungen einer Hebamme des frühen 18. Jahrhunderts entstanden ist siehe: Hilary, Marland: Mother and Child were safed. The memoirs (1693–1740) of the Frisian midwife Catharina Schrader. Amsterdam, 1987. Besonders bemerkenswert sind aus sozialhistorischen Gesichtspunkt die Werke von Eva Labouvie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Hebammen auf dem Lande, weibliche Autonomie bei den Hebammenwahlen, ländliche Rituale um Geburt. Sie arbeitet – aufgrund Saarländischer Quellenbasis – interdisziplinär, modern und mit ganz eigenartigen Fragestellungen siehe: Eva, Labouvie: Selbstverwaltete Geburt. Landhebammen zwischen Macht und Reglementierung (16.–19. Jahrhundert). In: Geschichte und Gesellschaft 18. Heft 4 (1992) 473–502., Dies.: Frauenberuf ohne Vorbildung? Hebammen in den Städten und auf dem Land. In: Elke, Kleinau–Claudia, Opitz (Hrsg.): Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung in Deutschland. Bd. 1. Frankfurt am Main, 1996. 218–236., Dies.: Unter Schmerzen gebären. Gedanken zur weiblichen Empfindungswelt um die Geburt. In: Medizin. Gesellschaft und Geschichte 15 (1997) 79–100., Dies.: Sofia Weinranck, Hebamme von St. Johann. Städtische Geburtshilfe und die Entrechtlichung der Bürgerinnen im 18. Jahrhundert. In: Annette, Kein-Horst–Petra, Messinger (Hrsg.): Die Saarbrückerinnen. Beiträge zur Stadgeschichte. Saarbrücken, 1998. 225–248. Ihre „handbuchartigen” zwei letzteren zusammenfassenden Werke sind: Dies.: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln–Weimar–Wien, 1998., Dies.: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land (1550–1910). Frankfurt am Main-New York, 1999.
13
Über die Entwicklung der geburtshilflichen Mittel und Techniken siehe: György, Korbuly: A magyar szülészet bölcsőkora. In: Orvosképzés 26 (1936) 164–270., Kálmán, Demkó: A magyar orvosi rend története, tekintettel a gyógyászati intézmények fejlődésére Magyarországon a XVIII. század végén. Lőcse, 1894.
14
Mihály, Sükösd: Tudós Weszprémi István: Arckép a magyar felvilágosodás történetébõl. Budapest, 1958., und siehe die umfangreiche Semmelweis-Bibliographie.
15
Über die fachmäßige Hebammenausbildung siehe: Tibor, Győry: Az orvostudományi kar története. 1770–1935. Budapest, 1936., József, Antall: Az orvosi kar fejlődése Budán és Pesten 1770–1806. In: Orvostudományi Közlemények 57–59 (1971) 119–139., Gabriella, Jantsits: Az első magyar bábatankönyv illusztrációi. In: Orvostörténeti Közlemények 18 (1986) 188–201., Ildikó, Friedrich: Az egészségügyi kultúra hiányának okai a 18. századi Magyarországon. In: Orvostörténeti Közlemények 82 (1977) 65–89. Über die Hebammenversorgung einzelner Komitate bzw. Districkte siehe: István, Donáth: A közegészségügyi viszonyok a Kiskunságban 1732-tõl 1830-ig. In: Orvostörténeti Közlemények 31 (1964) 85–115., Árpád, Fazekas: A bábaellátás története Szabolcs-Szatmár megyében. In: Orvostörténeti Közlemények 75–76 (1975) 137–146., István, Hõgye: „Bábai mesterség” a Hegyalján (1711–1849). In: Orvostörténeti Közlemények 97–99 (1982) 201–208.
16
Über Hebammenhexen siehe: Éva, Pócs: A népi gyógyászat és néphit kutatásának határterületei. In: Orvostörténeti Közlemények, Supplementum 11–12 (1979) 61–75., Dies.: Gondolatok a magyarországi boszorkányperek néprajzi vizsgálatához. In: Ethnographia 94 (1983/1) 134–146., Dies.: Malefícium-narratívok – konfliktusok – boszorkánytípusok (Sopron vármegye, 1526–1768). In: Népi kultúra – népi társadalom XVIII (1995) 9–63., Dies.: Miért nők a boszorkányok? In: Népi kultúra – népi társadalom 19 (1998) 135–151., Ágnes, R. Várkonyi: Közgyógyítás és boszorkányhit. In: Ethnographia 101 (1990/3–4) 384–437., Ildikó, Kristóf: „Ördögi mesterséget nem cselekedtem”. A boszorkányüldözés társadalmi és kulturális háttere a kora újkori Debrecenben és Bihar vármegyében. Debrecen, 1998., Gábor, Klaniczay: Boszorkányhit, boszorkányvád, boszorkányüldözés a XVI– XVIII. században. In: Ethnographia 97 (1986/2–4) 257–295. Im Ethnographischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde 1983 unter der Leitung von Éva Pócs eine Forschungsgruppe aufgestellt zur elektronischen Aufarbeitung der archivalischen Hexenprozesse des 16.–18. Jahrhunderts. Im Rahmen des Projektes werden Quellensammlungen sowie eine Monographie über die Geschichte der ungarischen Hexenverfolgung veröffentlicht. In dieser Reihe kann nicht vermieden werden, das neulich herausgegebene Buch von Zita Deáky zu erwähnen. Sie behandelt die Hebammenthematik – anhand von zeitgenössischen Traktaten und Lehrbücher sowie Verordnungen – als den ersten staatlich finanzierten Frauenberuf siehe: Zita, Deáky: A bába a magyarországi népi társadalomban (18. század vége–20. század közepe). Budapest, 1996.
17
Gabriella, Jantsits: Az első magyar bábakönyv illusztrációi. In: Orvostörténeti Közlemények 18 (1986) 188–201.
18
Soweit es ermessbar ist, in Ungarn des 18. Jahrhunderts war max. 10 Prozent der Hebammen schreib- und lesekundig. Es gibt aber auch solche Hebamme, die in ihrem Testament – unter anderen – über drei Bücher verfügte siehe: Stadtarchiv Mosonmagyaróvár (Ungarische Altenburg), Protocollum sessionale, V. A 1501a. 12. 22. folio.
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Im „Instructio Obstetricum” des Sanitätsnormativs wurden 9 Punkte den Hebammen gewidmet. Sie beinhalten 1. Nur examinierte und adjurierte Hebammen dürfen wirken, 2. Überall soll eine angemessene Anzahl von Hebammen bereit stehen. Auch wenn jedes Dorf keine eigene Hebamme haben kann, sollte wenigstens jedes 2–3 benachbarte Dorf eine haben, 3. Die Hebammen sollen ein ernsthaftes Leben führen, 4. Sie sollen Geheimnisse hüten und sich ihrer Berufung widmen, sie sollen nicht abergläubisch handeln, sie sollen einander unterstützen und zu den komplizierten Geburten einen Arzt rufen. Im 5. Abschnitt verpflichtete die tief religiöse Maria Theresia die Hebammen bei Neugeborenen, die in Lebensgefahr schwebten, die Nottaufe vorzunehmen. Der 6. Abschnitt schrieb die Pflege der Kindbetterin und des Neugeborenen vor, 7. Die Anwendung von Abortivmitteln war strikt verboten und zog schwere Strafen mit sich, 8. Die Hebammen durften nicht heilen, 9. Sie mussten die von Behörden vorgeschriebenen Untersuchungen parteilos in Wege leiten siehe: Franciscus, Xaverius, Linzbauer: Codex-Sanitario-Medicinalis Hungariae. Bd. I. Buda, 1852–1861. 833.
20
György, Korbuly: A magyar szülészet bölcsőkora. In: Orvosképzés 26 (1936) 209.
21
Hebammenauflistungen und die Sanitätsberichte über ihre Tätigkeit für die Periode 1738–1779 siehe: Ungarisches Landesarchiv (MOL) Acta Sanitatis. Für die Periode 1783–1848 die tabellarischen Conduitlisten der einzelnen Komitate (mit der Angabe der individuellen Eigenschaften (Conduiten) sowie der persönlichen Daten der Hebamme wie folgt: Name, Dienstort, Geburtsort, Religion, Alter, Familienstand, wo gelernt, von wem examiniert, mit Attestat oder mit Diplom versehen, seit wann in dem Ort als Hebamme dient, von wem angestellt, wo und in welcher Kondition früher gedient, Sprachkenntnisse und ihr Salarium) und die narrative Berichte der Komitatsphysiker siehe: Ungarisches Landesarchiv (MOL) Departamentum Sanitatis (C 66)
22
Die Einwohnerzahl in Alsónémedi nach der Konskription des Jahres 1828 beträgt 2380, von denen 850 Katholiken und 1530 Kalvinisten waren siehe: Elek, Fényes: Magyarország geográphiai szótára, Mellyben minden város, falu és puszta, betűrendben körülményesen leíratik. Buda, 1851. 157. Bis zum Jahre 1848 war der Gutsherr des Dorfes der Waitzer Bischof siehe: Samu Borovszky (Hrsg.): Magyarország vármegyéi és városai. Pest– Pilis–Solt-Kiskun vármegye. Bd. II. Budapest, 1910. 33.
23
Pester Komitatsarchiv, Sanitatis Germanica, Verwaltungsschriften des Joseph II, IV. 2. 1788. VII. Acta Sanitatis, Bd. 17. ohne Datum (Im weiteren PKA. SG.)
24
PKA. SG. 5. August 1786. Ferencz Szemere war der Gutsherr von Péczel. Er gehört zu einem der heutigen zwei Szemere-Zweige siehe: Iván, Nagy: Magyaroroszág családai czimerekkel és nemzedék-rendi táblákkal. Bd. X. Pest, 1863. 602.
25
Anna Maria Kleinod war in Oppidum Abony als Komitatshebamme tätig. Sie absolvierte ihr Studium an der Ofener Universität, wo sie am 16. März 1779. examiniert wurde siehe: Ungarisches Landesarchiv, C 66 Departamentum Sanitatis Bd. 22. Nr. 314/A. 1783/4.
26
Siehe Notiz 24.
27
PKA. SG. 5. August 1786.
28
PKA. SG. 4. August 1786.
29 PKA. SG. 16. September 1786.
Begegnungen10_Kovacs
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:209–216.
ATTILA KOVÁCS
Ungarn und die Europäische Union
Teil II: Die soziale Dimension
Im ersten Teil der Reihe „Ungarn und die Europäische Union” wurde kurz über das von der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung (Gütersloh) initiierte Kooperationsprojekt berichtet. Das Europa Institut Budapest beteiligte sich auch im Jahre 1999 aktiv an dieser Zusammenarbeit, in Verbindung mit Projektpartnern aus München, Posen, Prag und Preßburg. In den aktuellen Untersuchungen wird weiterhin die Integrationsbereitschaft der EU-Beitrittskandidaten aus vielerlei Aspekten thematisiert, u.a. im Hinblick auf die folgenden Bereiche: Rechtsangleichung, Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Regionale Zusammenarbeit, Verwaltungssystem etc.
Der nachstehende Bericht ist ein Beitrag zur sozialpolitischen Dimension der im Kooperationsprojekt erstellten vergleichenden Analysen.
Der Umbruch und seine sozialen Folgen: Ein zweischneidiges Schwert
I.
Der erste Teil des vorliegenden Berichtes basiert auf den Beobachtungen der ungarischen Soziologin Zsuzsa Ferge. Ihrer Analyse liegt eine Repräsentativerhebung zugrunde, die im Januar-Februar 1995 im Auftrag des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in fünf einstigen Ostblockstaaten durchgeführt wurde. Im Rahmen des Unterfangens wurden je Land 1000 zufällig ausgewählten Haushaltsvertreter befragt. Leiter des Forschungsprojektes war neben Ferge der Soziologe Endre Sik, die Untersuchungen erfolgten in den neuen deutschen Bundesländern, Polen, Ungarn, der Slowakischen und der Tschechischen Republik.
Ungarn war vermutlich eines der auf die politischen Änderungen bestens vorbereiteten Länder (Polen kann noch hier hervorgehoben werden). Allem Anschein nach sind für heute die anfangs vorhandenen Vorteile verschwunden, was mit mehreren und zusammengesetzten Gründen zu erklären ist und zugleich aussagekräftige Schlüsse zulässt. Anhand der folgenden Untersuchung erfährt man einiges davon, wie das Phänomen des Systemwechsels von den Bürgern wahrgenommen wurde. Obwohl die Angaben dem Vorjahresstand entsprechen, hätte man keinerlei Grund anzunehmen, meint Ferge, dass sich die festgestellten Tendenzen, angesichts des nur mäßigeren Wirtschaftswachstums, der relativ hohen Inflationsrate und der Vermehrung der Restriktionen, positiv geändert haben.
Eine Bewertung des Systemwechsels – also ob die neue politisch-wirtschaftliche Konstellation ihm Vergleich zu ihrem Vorgänger besser oder schlechter sei – erfolgte mittels einer Skala von 1 bis 5 (5 gilt als die beste Note). Aus den beiden Teilnoten wurde dann ein Mittelwert berechnet, welcher im Falle einer gleichartig neutralen Beurteilung bei 3 liegt. Der niedrigste Durchschnittswert ergab sich bei den Ungarn (2,7). Dementsprechend hielten unter den Ungarn die wenigsten Befragten (26 %) das neue System für besser, und die meisten (51 %) fanden es schlechter (zum Vergleich: die adäquaten Werte lagen bei den Repräsentanten der neuen deutschen Bundesländer bei 57 % bzw. 17 % [Tabelle 1]). In jedem der Visegrád-Länder nahm der Anteil derjenigen in den ersten Jahren der 90er zu, die das neue System besser fanden, und der Anteil derjenigen nahm ab, die es schlechter empfanden (bei den Ungarn fiel weiterhin eine zumeist negative Beurteilung aus). Die Analyse kommt zur Folgerung, dass in den letzten vier Jahren überall eine zunehmende Enttäuschung zu beobachten sei.
Die Befragten bewerteten auch die soziale Lage ihrer Familie in den jüngsten zeithistorischen Perioden. Aufgrund der Durchschnittswerte ergab sich so eine Epochenhierarchie, die bei den einzelnen Ländern augenfällige Ähnlichkeiten aufweist. Überall gilt als schlechtester Abschnitt entweder die Zwischenkriegszeit oder die Zeit der 50er Jahre, während die besten Noten in den vier Visegrád-Ländern die 80er Jahre erhielten (die Ostdeutschen gaben zumeist der ersten Hälfte der 90er Jahre den Vorzug).
Tabelle 1. IST DAS NEUE SYSTEM BESSER? |
|||||
Meinung |
Deutschland* |
Tschech. R. |
Polen |
Slowak. R. |
Ungarn |
Viel schlechter |
5 |
9 |
18 |
23 |
26 |
Etwas schlechter |
14 |
14 |
21 |
28 |
25 |
Genauso |
24 |
19 |
17 |
16 |
23 |
Etwas besser |
41 |
34 |
33 |
27 |
21 |
Viel besser |
16 |
23 |
11 |
5 |
5 |
Insgesamt |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
Davon |
|||||
schlechter ins. |
19 |
23 |
39 |
51 |
51 |
besser ins. |
57 |
57 |
44 |
32 |
26 |
* Die neuen Bundesländer |
Tabelle 2. ZUKUNFTSERWARTUNGEN |
||||
Pessimistisch |
Neutral |
Optimistisch |
Gesamt |
|
Verlierer |
56 |
27 |
17 |
64 |
Neutral |
41 |
42 |
17 |
20 |
Gewinner |
16 |
45 |
39 |
16 |
Gesamt |
47 |
33 |
20 |
100 |
Bei dem Vergleich des früheren – vor dem Umbruch eingenommenen – sozialen-wirtschaftlichen Status mit dem gegenwärtigen kann festgestellt werden, wer als Gewinner oder Verlierer des Umbruchs einzustufen ist (Tabelle 2). Das diesbezügliche Verhältnis bei den Ungarn fällt wieder negativer aus als in der Durchschnittswertung: Lediglich 15 % der Befragten betrachtet sich als subjektiver Gewinner, während fast zwei Drittel (65 %) sich für Verlierer hält.
Die Meinungen zum Systemwechsel seien natürlich sehr differenziert, unterstreicht Ferge, wobei auf diese zumeist Faktoren sozialpsychologischen oder politischen Charakters, ferner verschiedene Wertorientierungen Einfluss nehmen. Interessant ist die Beobachtung, dass in Ungarn die mit dem Wandel verbundene Enttäuschung bei Befragten verschiedenster politischer Einstellung zutage tritt, also nicht nur bei den von vornherein markant linksorientierten Personen.
Die Bewertungen hängen auch mit einer Reihe objektiver Faktoren zusammen. Dabei spielen der eigene Bildungsgrad, ein günstigerer Berufsstatus, sogar auch der Bildungsgrad des Vaters eine meinungsmodifizierende Rolle. In Ungarn halten das neue System für schlechter 66 % derjenigen, die nur über eine Grundschulausbildung verfügen, und nur 25 % der Hochschulabsolventen, während es von 18 % bzw. 53 % der beiden Befragtengruppen als besser eingestuft wird.
Tabelle 3. WAS HAT SICH IN UNGARN VERÄNDERT? |
||||||
Hilfsarbeiter |
Facharbeiter |
Büroangestellte |
Kleinunternehmer, |
Unternehmer, |
Gesamt |
|
Befragte nach Beruf (%) |
28 |
33 |
16 |
7 |
16 |
100 |
|
||||||
Schlechter |
65 |
62 |
43 |
51 |
29 |
54 |
Genauso |
18 |
18 |
21 |
24 |
19 |
19 |
Besser |
17 |
20 |
36 |
24 |
53 |
27 |
Gesamt |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
|
||||||
Verlierer |
69 |
72 |
48 |
60 |
56 |
65 |
Weder-noch |
23 |
16 |
27 |
24 |
17 |
20 |
Gewinner |
8 |
12 |
25 |
16 |
27 |
15 |
Gesamt |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
|
||||||
Pessimistisch |
53 |
53 |
47 |
28 |
32 |
46 |
Neutral |
32 |
28 |
31 |
46 |
35 |
32 |
Optimistisch |
15 |
19 |
22 |
36 |
33 |
22 |
Gesamt |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
Die äußerst ungünstige Systemwechsels-Beurteilung (siehe dazu auch Tabelle 3) beeinflussen der Meinung der Verfasserin nach auch die enormen Einkommensunterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsschichten, ferner die vehemente Wohnungsprivatisierung und die damit verbundene Angst, dass man eventuell die in Anspruch genommenen Kredite nicht zurückzahlen könnte (Tabelle 4).
Tabelle 4. ÄNDERUNGEN DER LEBENSBEDINGUNGEN IN UNGARN |
||
Bereich |
Antwort |
|
Ausgaben für die Gesundheit |
Nie genug Geld gehabt |
9 |
Jetzt mehr Schwierigkeit |
16 |
|
Keine Schwierigkeit |
75 |
|
Ernährung |
Schlechter |
36 |
Genauso |
58 |
|
Besser |
6 |
|
Kleidung |
Schlechter |
44 |
Genauso |
49 |
|
Besser |
7 |
|
Rückzahlung von Krediten |
Nicht möglich |
0 |
Ungewiß |
37 |
|
Sicher machbar |
63 |
|
Wohnungsunterhaltungskosten |
Mehr |
86 |
Unverändert |
9 |
|
Weniger |
5 |
Unter den Ungarn ist eine Distanzierung von der Politik zu beobachten; die Menschen verhalten sich gleichgültig der Möglichkeit der freien Parteibildung gegenüber, und die meisten halten die Politik für unberechenbar. Die Verhältnisse der Marktwirtschaft versprechen für viele nur geringe Ausbruchschancen. In der nahezu Hälfte der ungarischen Familien ist der Haushaltsvorstand Rentner oder Arbeitsloser. Wenn man auch die Behinderten und bedingt Arbeitsfähigen hinzunimmt, lässt sich feststellen, dass die staatliche Sozialpolitik hinsichtlich der zukünftigen Existenz von mehr als 50 % der ungarischen Familien einen äußerst hohen Stellenwert hat. Die Erwartungen dem Staat gegenüber (Tabelle 5) sind in Ungarn die größten, obwohl er die meisten bisher von ihm überwachten Sektoren möglichst schnell zu verlassen sucht. So herrscht Ungewissheit beispielsweise bei der Beurteilung der künftigen Einkommensverhältnisse oder der Zukunft der eigenen Kinder (Tabelle 6).
Tabelle 5. VERANTWORTUNG DES STAATES IN UNGARN |
|||
Bereich |
Bewertung |
||
Akzeptable Renten |
4,6 |
||
Lebensbedingungen der Behinderten |
4,3 |
||
Grundschulunterricht |
4,3 |
||
Ärztliche Versorgung |
4,4 |
||
Arbeitsmöglichkeit |
4,5 |
||
Mittelschulunterricht |
4,2 |
||
Erstwohnung von Jugendlichen |
4,2 |
||
Hochschulunterricht |
4,0 |
||
Pflege von Kindern unter 6 Jahren |
3,6 |
||
Kindererziehungskosten |
3,7 |
||
Durchschnitt |
4,2 |
Tabelle 6
RELEVANZ DER SICHERHEITEN IN UNGARN |
||
Sicherheiten |
Priorität |
Bewertung |
Zukunft der Kinder |
1 |
6,9 |
Wohnmöglichkeit |
2 |
6,9 |
Familienleben |
3 |
6,9 |
Ärztliche Versorgung |
4 |
6,8 |
Einkommen |
5 |
6,8 |
Allgemeine Sicherheit |
6 |
6,8 |
Arbeitssicherheit |
7 |
6,8 |
Berechenbarkeit der Politik |
8 |
5,8 |
Landesdurchschnitt |
6,7 |
Zum Schluss macht die Autorin darauf aufmerksam, dass nach Ansicht vieler Ökonomen die existentielle Unsicherheit auch die wirtschaftlichen Entscheidungen beeinträchtigen könne: Es könne mit zu großen Risiken gerechnet werden. Fraglich sei, ob eine Politik, die Gegenwart sowie das in die Zukunft gesetzte Vertrauen der Bürger puren Wirtschaftsinteressen unterordne, ihr Ziel erreichen könne.
II.
„Als Illusion erwies sich, 1989–90 an so etwas zu glauben, dass der Entwicklungsweg und -Kurs der europäischen oder auch nur der ostmitteleuropäischen Länder vorprogrammiert seien und in den nächsten Jahren in raschem Tempo großen Fortschritt in Richtung der modernen Markwirtschaft, Demokratie und Wohlfahrtsgesellschaft machen werden. Nicht nur eine erfolgreiche Modernisierung gilt als reale Alternative sondern auch der Zusammenbruch einer Modernisierung. Nicht nur eine Entwicklung ist für sie möglich sondern auch Stagnation, ja sogar Regression. Vor diesen Staaten stehen alternierende Entwicklungswege, es gibt keinerlei historische Vorbestimmtheit, die sie zwangsläufiger Weise zur Modernisierung oder zur Stagnation, zum wirtschaftlichen Rückgang und zurück zu einem autoritären politischen System führen würde.” – zitiert László Szamuely die Feststellung des Forschungsteams von Rudolf Andorka, in seiner Studie über die Sozialkosten des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa. Die Arbeit von Szamuely enthält einen internationalen soziologischen Vergleich, insbesondere zwischen Ungarn und der GUS. Im Folgenden werden lediglich einige interessante Angaben zum aktuellen Stand der Sozialentwicklungen in Ungarn herausgegriffen.
Das Pro-Kopf-Existenzminimum in Ungarn betrug 1994 – nach Angaben des Statistischen Zentralamtes (KSH), auf eine vierköpfige (2 Erwachsene + 2 Kinder) städtische Familie berechnet – 120 USD. Dieser Wert liegt auch der Behauptung der Experten zugrunde, dass nämlich im März 1994 lebte beinahe ein Drittel der Bevölkerung (3–3,5 Mil. Personen) unter der Armutsschwelle, wobei dieser Anteil in den 80er Jahren bloß ein Zehntel ausmachte.
Das Ungarische Haushaltspanel bedient sich in seiner Erhebung – die 1992– 1994 bereits dreimal (in drei Etappen) durchgeführt wurde – einer etwas vereinfachten Definition der Armut. Diese geht von dem KSH-Existenzminimum, also der sog. absoluten Armutsschwelle aus. In dem System, in dem die Bevölkerung nach ihren Einkommensverhältnissen in Fünftel eingeteilt wurde, stimmte diese Schwelle in den letzten drei Jahren meistens mit der Obergrenze des untersten Fünftels überein. Dementsprechend stufte das Ungarische Haushaltspanel alle Haushaltungen und Personen des niedrigsten Einkommensfünftels als arme ein, indem man auch den Termin einer relativen Armutsschwelle verwendete. Die Untersuchung führte zu aufschlussreichen Beobachtungen:
– Merkwürdigerweise kommt die Armut unter den höheren Altersklassen (über 60 Jahren) weniger häufig vor – sie sind im niedrigsten Einkommensfünftel mit einem Anteil von nur 8–10 % präsent – als unter Minderjährigen. Die Altersgruppe der 19järigen und noch jüngeren Personen wird in diesem Fünftel mit ca.30 % oder höheren Werten repräsentiert. Besonders auffällig ist, dass beinahe 40 % (!) der 2järigen und jüngeren Kinder in Armut lebt.
– Die Armut trifft in Ungarn die Dörfer am härtesten: Ein Viertel deren Bevölkerung gilt als arm. 71,4 % der Dorfbewohner gehören zu den unteren drei Einkommensfünfteln. Als Gegenpol sollte erwähnt werden, dass sich 40 % der Hauptstadtbewohner in dem obersten Bereich befinden.
– Auch bei der Verteilung der Einkommen – ähnlich wie bei der Beschäftigung – zeichnet sich die äußerst schwierige, desolate Lage der Roma aus: Nahezu drei Viertel (73 %) dieser Gruppe ist unter der Armutsschwelle, im untersten Fünftel platziert.
– Das oben Geschilderte bestätigt auch die Angabe, dass 38 % der Arbeitslosen und ein Viertel der nur über Grundschulabschluss verfügenden Personen in Armut leben.
– Zusammenfassend könnte bemerkt werden: In Ungarn können diejenigen die Armut mit großer Wahrscheinlichkeit vermeiden, die über einen höheren Bildungsgrad als den achtklassigen Grundschulabschluss der verfügen, keine Roma und keine Dorfbewohner sind, keine Kinder haben und natürlich keine Arbeitslosen sind.
Es lässt sich auch feststellen – was die Erfahrungen der letzten 4 Jahre angeht –, dass ein Drittel der Bevölkerung (33,4 %) schon irgendwann in Armut lebte, doch nur ein Viertel-Fünftel davon (7,1 %) kann als „dauerhaft arm” betrachtet werden, also die Mehrheit der Armen ist noch gesellschaftlich mobil, es bestehen noch für sie Aufstiegschancen.
Die Kennzahl der Einkommensungleichheit (die sog. Gini-Zahl) hat in Ungarn bereits 1992 das westeuropäische Niveau (0,27, ähnlich wie in Deutschland, Holland oder Belgien) erreicht.
Zum Schluss stellt Szamuely unter anderem fest, dass die „Schocktherapie” der Regierung 1990–1994 eindeutig negative Auswirkungen gehabt habe. Rund 1,4 Millionen Arbeitsplätze seien abgeschafft worden, und selbst wenn man das Problem außer Acht lasse, inwieweit die Verzögerung der Steuer- und Sozialversicherungseinzahlungen einerseits und die Auszahlung von Arbeitslosengeldern und Renten verschiedener Art andererseits für das Haushaltsdefizit mitverantwortlich seien, sei eindeutig, dass diese Tatsache an der Vertiefung des Verarmungsprozesses und an der Verschlechterung des psychischen Zustandes der Bevölkerung einen beträchtlichen Anteil gehabt habe.
Begegnungen10_Inotai
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:85–92.
ANDRÁS INOTAI
Kosten, Nutzen und globale Wettbewerbsfähigkeit
Überlegungen zur Osterweiterung der Europäischen Union
Die Osterweiterung ist die historische Aufgabe Europas und die wichtigste sowie ertragreichste Investition Europas in seine Zukunft. Sie erscheint auf der Tagesordnung der Europäischen Union (EU), der EU-Mitgliedstaaten und der Kandidatenstaaten zu einem Zeitpunkt, an dem der ganze Kontinent mit globalen Herausforderungen konfrontiert ist. Nicht nur die Transformationsländer, sondern alle Staaten Europas und die im letzten halben Jahrhundert aufgebauten europäischen Institutionen stehen unter einem beispiellosen Modernisierungszwang. Die daraus entstehenden Modernisierungskosten sind nicht der Osterweiterung zuzuschreiben. Sie würden sich auch ohne diesen Schritt stellen, ja sogar – aller Wahrscheinlichkeit nach – in einer noch mehr ausgeprägten Form.
Aus dieser Problematik folgt, dass die Osterweiterung nicht zu einer kleinkarierten europäischen „Nabelscheu” entarten darf. Sie ist von Anfang an im Rahmen globaler Prozesse zu sehen und durchzuführen. Der höchstmögliche Gewinn kann nur dann realisiert werden, wenn die EU ihre Integrationsstrategie aufgrund der bereits bestehenden und noch bevorstehenden globalen Herausforderungen (neu)formuliert. die Erweiterung wird die europäische Wirtschaftskraft erheblich steigern und einen offenen europäischen Regionalismus mit all seinen Vorteilen ermöglichen. Die zehn mittel- und osteuropäischen Kandidaten (MOE-Staaten)1 würden die Gesamtfläche der EU um 1,178 Millionen Quadratkilometer oder um ein Drittel vergrößern, die Bevölkerung um 106 Millionen Menschen (oder um fast 30 Prozent) erhöhen und die Wirtschaftsleistung um 637 Mrd. US-$ (etwa um neun Prozent, ausgedrückt in Kaufkraftparitäten) steigern. Auf den ersten Blick scheint dieses zusätzliche Wirtschaftspotential im internationalen Vergleich nicht besonders groß zu sein. Man sollte es aber in seiner qualitativen Dimension sehen: als Beitrag zur Stabilität des Kontinents; zum beschleunigten Wirtschaftswachstum eines Kontinents, der im internationalen Maßstab unterdurchschnittlich wächst; zum Strukturwandel, der für die erfolgreiche Behauptung Europas im globalen Wettbewerb unerlässlich ist; sowie zur Erhöhung des Reformzwanges in Westeuropa, um die überholte und immer kostspieligere Status-quo-Mentalität durch ein neues, innovatives Verhalten zu ersetzen.
Die wirtschaftliche Modernisierung der mittel- und osteuropäischen Staaten wird in Zukunft der entscheidende Faktor für die Sicherheit und Stabilität Europas sein. Sicherheit und wirtschaftliche Modernisierung lassen sich voneinander nicht einmal vorübergehend trennen. Eine erfolgreiche Modernisierung ist der wichtigste Stabilitätsgewinn für Europa, die Integration in die EU bildet ihren äußeren Anker.
Die erfolgreiche Modernisierung wird durch mehrere Faktoren behindert oder in Frage gestellt. Drei Faktoren sind im Zusammenhang mit der EU zu erwähnen: Erstens besitzt die EU keine umfassende und klare Strategie über die Erweiterung der Union und schafft damit Unsicherheiten. Zweitens machen die ausufernden Handelsbilanzdefizite der weiter fortgeschrittenen Transformationsländer auf einen der grundlegenden Konstruktionsfehler der Assoziierungsabkommen aufmerksam. Im Falle der früheren und weniger entwickelten südeuropäischen Beitrittskandidaten liberalisierte die Union den Außenhandel mit diesen Ländern in dem Maße, wie sie ihnen Zugang zu ihren Transferleistungen eröffnete. Dadurch konnten die im Verlauf der Marktöffnung normalerweise zunehmenden Handelsdefizite durch erheblichen Ressourcenzufluss kompensiert werden. Einen solchen Mechanismus gibt es für die assoziierten MOE-Staaten nicht. Drittens sollen die Beitrittskandidaten als Vorbedingung des Beitritts einen erheblich komplizierteren acquis communautaire übernehmen. Diese Aufgabe ist außerordentlich kostspielig, und der Löwenanteil der Kosten soll von kapitalarmen Transformationsländern getragen werden, bevor sie (potentiellen) Zugang zu den (potentiellen) Transfers erhalten. Die zeitliche Spaltung der entstehenden Kosten und der zu erwartenden Gewinne stellt einen immer noch nicht erkannten erheblichen Risikofaktor für Modernisierung und Stabilität in Europa dar.
Wirtschaftliche Modernisierung ist nicht nur eine Vorbedingung des Beitritts zur EU, sondern vor allem eine historisch mehrmals bewiesene Konsequenz der Mitgliedschaft. In dieser Hinsicht muss darauf hingewiesen werden, dass die früheren Erweiterungen um weniger entwickelte Länder zunächst eine makroökonomische Verflechtung (Integration) erreicht haben, auf deren Grundlage sich die mikroökonomische Verflechtung verstärkt und ausgedehnt hat. Im Falle der weiter fortgeschrittenen MOE-Staaten2 spielt sich dieser Prozess umgekehrt ab. Die mikroökonomische Verflechtung hat bereits die Integrationsreife erreicht, während die makroökonomische und institutionelle Verflechtung in Form der Vollmitgliedschaft noch auf sich warten lässt.
Die Erfahrungen der weniger entwickelten südeuropäischen Mitgliedstaaten haben bewiesen, dass die durch den Beitritt erzielte Dynamisierung des Integrationsprozesses Gewinne für alle Teilnehmer produziert hat. Darüber hinaus wurde ein Großteil der Transferleistungen an die Nettozahler zurückgeleitet. Die Importfinanzierung hat in den Nettozahler-Ländern Arbeitsplätze geschaffen, den Export und die Produktion erhöht, die Steuereinnahmen des Staates vergrößert und dadurch zur Erhöhung des Wohlstandes beigetragen. Hieraus folgt, dass einige der MOE-Staaten angesichts der Dynamik der Transformation und der Flexibilität der Gesellschaft ihren relativen Rückstand in einer relativ kurzen Periode beseitigen könnten. Die auf Wachstumsdifferenzen basierenden Kalkulationen über den Nachholbedarf (in Jahren) verfehlen einen grundlegenden Punkt: Ähnlich wie in den weniger entwickelten Ländern der EU (und anderswo in der Welt) lässt sich eine erfolgreiche nachholende Entwicklung vor allem der Realaufwertung der nationalen Währung und nur zu einem bescheidenen Maße der Wachstumsdifferenz zuschreiben (75 bis 90 Prozent gegenüber zehn bis 25 Prozent).3
Es besteht die Gefahr, dass die Kosten der Osterweiterung auch diejenigen Kostenelemente beinhalten, die durch den Umwandlungsprozess der EU sowieso entstehen und auch ohne Osterweiterung nicht zu vermeiden wären (sogar noch größer ausfallen würden). Ebenso wie die Transformationsländer zahlreiche Aufgaben auch ohne Vorbereitung auf die EU zu lösen haben, sollte die EU mit ihren (längst) fälligen Reformschritten nicht die Rechnung der Osterweiterung belasten. Weiterhin muss klar gesehen werden, dass durch die Kompensierung bestimmter Mitgliedstaaten im Falle einer Osterweiterung indirekte Kosten entstehen könnten. Diese Kosten könnten die direkten Kosten sogar übersteigen und ergäben dadurch eine völlig falsche Kostenrechnung.
Kosten und Nutzen der Osterweiterung sind nicht unabhängig von der Politik zu sehen. Sowohl in den Kandidatenstaaten, wie auch in Brüssel und in den gegenwärtigen Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Kosten zu senken und die Gewinne zu erhöhen. Die Beitrittskandidaten müssen zwar den Großteil der Anpassungskosten auf sich nehmen, doch ist dieser Anpassungsprozess keine Einbahnstraße. In ihrer Rolle als policy maker sollte auch die EU bestimmte (teilweise grundlegende) Reformen durchführen, um den Gewinn der Erweiterung zu vergrößern.
Die Befürchtungen der EU-Staaten und -Gesellschaften können in vier Gruppen gegliedert werden: Sicherheitsrisiken (einschließlich Migration), zunehmender Wettbewerb, Erhöhung und/oder Umverteilung des EU-Haushalts, Veränderung des Gleichgewichts innerhalb der EU. Die 15 Mitgliedstaaten sind von diesen Faktoren unterschiedlich betroffen. Dementsprechend gestalten sich ihre unterschiedlichen Interessenlagen und die Argumente für und gegen die Osterweiterung. Alle EU-Staaten sind am sicherheitspolitischen Faktor – wenn auch in unterschiedlichem Maße – interessiert. Alle sorgen sich um die künftige EU-Finanzierung, sowohl die bisherigen Nettozahler als auch die Nettoempfänger. Die größten Unterschiede zeigen sich bei der Beurteilung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit sowie hinsichtlich der Verschiebungen im Kräftegleichgewicht der Union. Verschiebungen werden in zwei Bereichen erwartet. In geographischer Hinsicht wird die Osterweiterung durch die Aufnahme weiterer Ostseestaaten die Rolle der nördlichen Regionen aufwerten. Darüber hinaus führt sie auch zu einer West-Ost-Verlagerung, von der Atlantikküste in Richtung auf das mitteleuropäische Festland des Kontinents. Die institutionellen Kräfteverhältnisse können durch die Aufnahme neuer, meist kleiner Staaten (Ausnahme Polen und Rumänien) beeinflusst werden.
In der graduellen Erweiterung der EU sehen einige Experten eine Gefahr für die Stabilität des Kontinents, denn sie befürchten in diesem Falle die Entstehung einer weiteren Bruchlinie an den neuen Außengrenzen der Union. Es muss jedoch betont werden, dass es in Europa als Folge der unterschiedlichen historischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung gegenwärtig schon mehrere Bruchlinien gibt. Sie waren nie ganz verschwunden, doch hat die strategische Zweiteilung und die im östlichen Europa über Jahrzehnte existierende Zwangsgemeinschaft mehrere ältere Bruchlinien überlagert und gleichzeitig die Ost-West-Bruchlinie als die einzige in das Bewusstsein der europäischen Völker eingeprägt. Nach der Wende reproduzierten sich die früheren Bruchlinien mit einer beispiellosen Geschwindigkeit. Sie zeigen sich heute unter anderem im Verlauf des wirtschaftlichen Transformationsprozesses, in der geographischen und strukturellen Neuorientierung des Außenhandels, in der Verteilung des ausländischen Kapitals und in der Tätigkeit der transnationalen Unternehmen.4
Alle Politikansätze, die die Bruchlinien innerhalb von Mittel- und Osteuropa durch eine Verzögerung der EU-Erweiterung um die weiter entwickelten MOE-Staaten beseitigen möchten, sind mit fatalen Folgen verbunden. Einerseits vertiefen sie nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die psychologische und politische Bruchlinie zwischen den angrenzenden EU-Staaten und den mitteleuropäischen Staaten. Dies würde die Instabilität des Kontinents nicht nur im Allgemeinen erhöhen, sondern sie direkt an die EU-Außengrenze verschieben. Die Folge wäre ein Ost-West-Transfer von Instabilität, der dem deklarierten Interesse, die Instabilitätsgrenze von der Mitte des Kontinents mehr und mehr in Richtung Osten zu verlagern, zuwiderliefe. Die bestehenden Bruchlinien können nur langfristig und nur im Rahmen einer klaren, von Anfang an einsetzenden Heranführungsstrategie der EU entschärft und beseitigt werden. Diese Erkenntnis liegt der Erweiterungsstrategie der Kommission, die im Juli 1997 veröffentlicht wurde, zugrunde. In die Bewältigung dieser historischen Aufgabe sollten auch die Beitrittskandidaten der ersten Gruppe vom Anfang an eingebunden werden.5
Das oben erwähnte gemeinsame europäische Ziel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter diesem gemeinsamen Ziel sowohl im Westen wie auch im Osten des Kontinents unterschiedliche Interessen, Nutzen- und Kostenkalküle stehen. Erstens beeinflusst die geographische Lage der einzelnen Länder die Interessenlagen. Zweitens haben die wichtigsten inhaltlichen Fragen, wie Sicherheit, Wirtschaft und Kultur in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Stellenwert. Drittens ändern sich die jeweiligen Interessenlagen mit der Zeit. Trotz dieser Veränderungen und Unterschiede darf das gemeinsame Ziel von keinem europäischen Land nicht einmal vorübergehend aus den Augen verloren werden.
Soweit die grundlegende Stabilität des Kontinents auch in der Zukunft gesichert werden kann, wird die Osterweiterung der EU schrittweise erfolgen. Dadurch werden sich die Kosten zeitlich auf eine längere Periode verteilen. Darüber hinaus können sie auch durch die bessere Anpassung auf beiden Seiten reduziert werden. Dieser Ansatz wird den Wettbewerbsdruck beiderseitig mildern, wobei man anmerken muss, dass ein großer Teil dieses Druckes dank der erfolgten Liberalisierung bereits wirksam geworden ist. Zu einem weiteren Teil leitet sich der Wettbewerbsdruck nicht aus der Osterweiterung ab, sondern aus dem globalen Wettbewerb, was bedeutet, dass man ihm unabhängig von der Osterweiterung entgegensehen muss.
Schließlich muss auf die Kosten einer Nicht-Erweiterung hingewiesen werden. Solche Kosten würden sich sowohl im entgangenen Nutzen als auch im zunehmenden Stabilitätsrisiko manifestieren. Diese Kosten sind nicht unabhängig vom zeitlichen Verlauf. Je mehr die Osterweiterung hinausgeschoben wird, umso mehr steigen die Kosten und sinkt der heute noch realisierbare Nutzen. Darüber hinaus kann auch die Entwicklung in den MOE-Staaten die Kosten-Nutzen-Rechnung maßgeblich beeinflussen. Trotz teilweise spektakulärer Transformationsergebnisse sind die Errungenschaften noch keineswegs soweit gesichert, dass negative Entwicklungen völlig ausgeschlossen werden können. Eine Verzögerung der Osterweiterung könnte deshalb auch den Anpassungsprozess in Mittel- und Osteuropa beeinträchtigen und auf die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa zurückwirken.
Die Osterweiterung verhilft der Europäischen Union und Gesamteuropa zu einer höheren globalen Wettbewerbsfähigkeit. Im letzten Jahrzehnt konnte die EU mit ihren wichtigsten ökonomischen Rivalen, den USA und Japan, in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen nicht Schritt halten. Zwar kann man einen generellen Marktverlust der EU durch statistische Angaben nicht belegen, da kräftige Marktgewinne gerade in Ost- und Mitteleuropa Verluste in anderen Regionen vorübergehend noch wettgemacht haben. Die strukturelle Analyse des Handels weist jedoch unzweideutig auf die Verdrängung der EU aus den dynamischsten Bereichen und zukunftsträchtigen Sektoren der Weltwirtschaft hin. Für diesen Verlust ist nicht zuletzt die mangelnde intraindustrielle Arbeitsteilung zwischen der EU und mittelmäßig entwickelten, aufstrebenden Volkswirtschaften verantwortlich. Im Zeichen einer europäischen „Nabelschau” wurde die Arbeitsteilung der EU immer mehr auf Hochkostenländer konzentriert, die – trotz der Gewinne früherer Erweiterungen – die Wettbewerbsposition der Union nicht nachhaltig verbessern konnten. Auf der anderen Seite konnten die assoziierten ehemaligen afrikanischen, karibischen und pazifischen Kolonien nicht den wirtschaftlichen (und kulturellen) Entwicklungsstand bieten, den die moderne intraindustrielle Arbeitsteilung erfordert.6
Die Osterweiterung stellt eine einmalige, wenn auch zum Teil schon verspätete Möglichkeit dar, den intraindustriellen Handel mit den MOE-Staaten zu intensivieren und durch eine länderumspannende Spezialisierung Kostenvorteile im globalen Wettbewerb zu erzielen. Es geht aber nicht nur um die verspätete Nachahmung der amerikanischen und japanischen Wirtschaftsentwicklung, die schon in den achtziger Jahren auf einem regionalen Netz in den benachbarten aufstrebenden Regionen (wie Mexiko, bzw. Ost- und Südostasien) basierte. Denn die MOE-Staaten bieten nicht nur billige, ungelernte Arbeitskräfte, sondern spezialisierte, teilweise auch im internationalen Maßstab hochqualifizierte Arbeitskräfte. Unter diesen Ausgangsbedingungen fand bisher keine nennenswerte internationale Zusammenarbeit zwischen unterschiedlich entwickelten Volkswirtschaften statt. Es ist völlig offen, inwieweit die EU diese potentiellen Vorteile ergreifen kann oder will, und wie lange die MOE-Staaten noch über diese Vorteile verfügen. Erste Ansätze für intraindustrielle Kooperation finden bereits im Rahmen der strategischen Planung multinationaler Konzerne statt (Verlagerung wissensintensiver Produktion in ausgewählte mitteleuropäische Kandidatenstaaten, die Errichtung regionaler oder europäischer Forschungs- und Entwicklungszentren, usw.), jedoch noch nicht in Form einer kohärenten EU-Erweiterungsstrategie.7 Die Osterweiterung wurde bisher nicht unter diesem strategischen Gesichtspunkt gesehen. Tagespolitische Ereignisse, EU-interne Reformaufgaben sowie zunehmende nationale Probleme (Arbeitslosigkeit) überlagerten bislang diese Anforderung.
Die verspätete Beachtung dieses großen Potentials ist besonders bedauerlich zu einer Zeit, in der die Weltwirtschaft und Weltgesellschaft in die Ära der Informationstechnologie einsteigen. Die globalen Rahmenbedingungen der Osterweiterung werden bereits von diesem Übergang bestimmt. Während frühere Erweiterungen noch überwiegend zu europäischen Spielregeln stattfinden konnten, steht die kommende Osterweiterung im Zeichen der Globalisierung, des beschleunigten technologischen Fortschritts und der Errichtung der Informationsgesellschaft. Wenigstens in zwei Bereichen können die MOE-Staaten zur Verbesserung der europäischen Startposition für das Informationszeitalter beitragen:
Erstens verfügen sie über eine starke Innovationsfähigkeit. Zweitens haben sie in den letzten Jahren ein überraschend großes Maß an sozialer und institutioneller Flexibilität bewiesen – Eigenschaften, die die Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert erheblich beeinflussen werden. Natürlich bleibt es fraglich, inwieweit die bisher bewiesene hohe (lauferzwungene) Flexibilität in Zukunft beibehalten wird. Da es sich dabei gleichzeitig um einen europäischen Wert im internationalen Wettbewerb und um ein europäisches Stabilitätsrisiko handelt, wäre es zweckmäßig, entsprechende europäische Politiken schon heute zu entwickeln, um den potentiellen positiven Beitrag zu sichern und den Risiken soweit wie möglich vorzubeugen.
Im globalen Wettbewerb braucht die EU neue und dynamische Märkte in ihrer Nachbarschaft. In den letzten Jahren wies die EU jährlich ein durchschnittliches Wachstum von weniger als zwei Prozent auf. Dagegen erzielten manche Transformationsländer ein jährliches Wachstum von vier bis sieben Prozent. Noch größer fielen die Unterschiede des Produktivitätszuwachses in der verarbeitenden Industrie aus. Ein höheres europäisches Durchschnittswachstum, das vorwiegend von den Beitrittskandidaten produziert werden kann, wäre notwendig um das relative Gewicht der europäischen Region im Vergleich zu den rasch wachsenden fernöstlichen und zum Teil lateinamerikanischen Märkten aufrechtzuerhalten.
Darüber hinaus sollen die qualitativen Aspekte des Wachstums unterstrichen werden, die sich vor allem im technologischen Fortschritt, in der Flexibilisierung des Arbeits- und Bildungsmarktes, in der zunehmenden Umweltverträglichkeit und in der Individualisierung der Nachfrage manifestieren. Es ist nicht zuletzt der dauerhafte Aufschwung der Beitrittskandidaten, der – unter Annahme einer konsistenten Strategie – die Bedingungen für dieses qualitative Wachstum in Europa schaffen kann.
In absehbarer Zeit scheint die gegenwärtige EU mit 15 Mitgliedern nicht in der Lage zu sein, die eigene Wirtschaftsentwicklung zu dynamisieren. Die immensen Anstrengungen zur Einführung des Euro werden auch weiterhin das Wirtschaftswachstum gering halten (in der Hoffnung auf die Schaffung eines mittelfristig höheren Wirtschaftspotentials). Gerade in diesen Schlüsseljahren um und gleich nach der Jahrtausendwende braucht die EU dynamische Nachbarregionen. Die MOE-Staaten haben dafür die besten Ausgangspositionen, falls sie stabil bleiben und die Osterweiterung zügig und nach einer kohärenten Strategie umgesetzt wird.
Ein höheres Wachstum ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Modellwechsel in (West-)Europa. Einerseits ist dieser recht schmerzhafte und konfliktreiche Wandel – wie die Erfahrungen der MOE-Staaten bereits zeigen – mit höherem Wachstum besser zu bewältigen. Andererseits kann sich das sogenannte „europäische Modell” im globalen „ideologischen” und wirtschaftlichen Wettbewerb nur dann halten, wenn der Beitrag der MOE-Staaten konstruktiv genutzt wird. Hier liegt jedoch eines der schwierigsten Dilemmata der jetzigen EU. Sie braucht (und nutzt bereits) die MOE-Region, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Andererseits betrachtet sie diese Region als eine Gefährdung der „sozialen Errungenschaften” des westeuropäischen Wohlfahrtsmodells.
Hinzuzufügen ist, dass bestimmte soziale Kosten nicht vermeidbar sind; die graduelle Erweiterung der EU kann diese Anpassung jedoch tragbarer machen, als wenn die EU ohne Osterweiterung mit der globalen Herausforderung konfrontiert wäre. In dieser Hinsicht kann die konsequente Osterweiterung als eine „Abschirmung” (aber nicht als Abriegelung!) gegen unerwünschte globale Einflüsse verstanden und auch genutzt werden.
Die Nicht-Erweiterung der EU würde dagegen einerseits die potentiellen Nutzeneffekte der global wettbewerbsfähigen Arbeitsteilung in Europa in Frage stellen. Überdies würden Instabilitäten entstehen, die eine Schadensbegrenzung unumgänglich machten. Diese würde wiederum Gelder beanspruchen, die sonst für wettbewerbsverstärkende Investitionen ausgegeben werden könnten. Hinzu kommt, dass die zunehmende gesamteuropäische Instabilität auch nichteuropäisches Kapital abschrecken würde, was die globale Stellung Europas weiter beeinträchtigen könnte.
Anmerkungen
1
Der Begriff MOE-Staaten umfasst die zehn Staaten, die Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen haben (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn.
2
Es ist nicht immer problemlos, diese Gruppe einwandfrei zu bestimmen, da der Transformationsprozess in keinem Land abgeschlossen ist und weder positive noch negative „Überraschungen” ausgeschlossen sind. Aufgrund der makroökonomischen Entwicklung und, noch wichtiger, auf der Grundlage der mikrowirtschaftlichen und politischen Entwicklungen kann man die mitteleuropäischen Transformationsländer (Polen, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn, teilweise auch die Slowakei) sowie Estland dieser Gruppe zuordnen.
3
Artner, A./ Inotai, András: Felzárkózási esélyek a statisztikai adatok alapján (Aufholchancen auf der Grundlage statistischer Daten), in: Statisztikai Szemle 1997 H. 4–5, S. 292–302.
4
Über 80 Prozent des Außenhandels der EU mit den zehn assoziierten Staaten entfällt auf die fünf ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften. Noch ausgeprägter ist diese Konzentration im bilateralen Außenhandel von technologieintensiven Gütern. Über 90 Prozent der Auslandsinvestitionen in Mittel- und Osteuropa flossen nach Ungarn, Polen und Tschechien (eigene Berechnungen auf Basis von Eurostat: External and intra-European Union Trade. Monthly Statistics 10/1997).
5
Die angekündigten Programme der Kommission, wie ein aufgestocktes PHARE-Programm, die Verstärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie ein politischer Rahmen für alle Kandidatenstaaten sind hilfreiche Instrumente, die jedoch immer wieder den neuen Erfordernissen angepasst werden müssen. Dabei sollte dem Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastruktur besondere Bedeutung beigemessen werden, da sie für die noch nicht beitretenden Länder den demonstrativen psychologischen Effekt hat, dass sie nicht von der Einigung Europas ausgeschlossen werden.
6
Vgl. z. B. United Nations: The State of the World Economy at the Beginning of 1997, New York: UN; Aspen Institute: The Future of the World Economy, Washington 1995; Peter Nunnenkamp: Winners and Losers in the Global Economy Kiel 1996; Werner Weidenfeld (Hg.): Reform der Europäischen Union, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1996.
7
In dieser Hinsicht verfügen die multinationalen Unternehmen über eine längerfristige Strategie als die maßgeblichen Politiker in Europa.