1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.

Begegnungen14_Haunschmid

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:89–98.

JOSEF MICHAEL HAUNSCHMID

DaF-Unterricht mit Computer und Internet

Praktische Unterrichtsbeispiele aus der Arbeit am Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten

 

Einleitung

Bevor ich Ihnen einige meiner computergestützten Unterrichtsaktivitäten beschreibe, möchte ich auf die Unterrichtsbedingungen an meinem Arbeitsplatz (Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten) eingehen – auch um Ihnen Mut zu machen, da Sie sehen werden, dass für computergestützte Aktivitäten und Online-Unterricht keineswegs technisch hochklassige Ausstattung nötig ist.

Das Alter meiner KursteilnehmerInnen liegt zwischen 18 und 30 Jahren, nur wenige sind älter. Die wöchentliche Stundenanzahl umfasst 24 Einheiten. Für den Unterricht steht ein kleiner Computerraum mit acht Rechnern älteren Datums (Pentium 200) zur Verfügung. Die geringe Anzahl der Computer sehe ich inzwischen aber als Chance: meine TeilnehmerInnen sitzen nie alleine am Rechner, ein Umstand, der das Entwickeln und Entstehen von authentischen Sprechanlässen in hohem Maße fördert (dass üblicherweise 2 TeilnehmerInnen an einem Arbeitsplatz sitzen, ist für mich ein didaktisches Grundprinzip, von dem ich auch bei zahlenmäßig besserer technischer Ausstattung inzwischen nicht mehr abgehen würde!).

Als unbedingte Voraussetzung sehe ich allerdings das Vorhandensein eines Beamers (Projektors) an, da nur auf diesem Weg anschauliche Erklärungen und Demonstrationen möglich sind.

Der tägliche Unterrichtsbetrieb in meinen Kursen ist am besten als „universitätsähnlich” zu beschreiben. D. h. – und in besonderem Maße gilt das für Fortgeschrittenen-Kurse – die tägliche Kursanwesenheit unterliegt einer gewissen Fluktuation (und liegt dann zwischen 12 und 20). Das ist u. a. ein Grund dafür, dass ich bisher keine Projekte, die relativ konstante Anwesenheit erfordern (wie z. B. Sprachentandems oder E-Mail-Partnerschaften), mittels Internet realisiert habe.

Das sprachliche Niveau meiner TeilnehmerInnen liegt zwischen leicht fortgeschritten und fortgeschritten, und am Ende des Semesters steht als Ziel die EPD (Einstufungsprüfung Deutsch), deren Bestehen zum Beginn eines ordentlichen (regulären) Studiums berechtigt.

Die Basis meines Sprachunterrichts sind Lehrbuch (Stufen International), oder Skript, offene Lernstrategien und der Einsatz der neuen Unterrichtstechnologien.

Um anfängliche Unterschiede im technischen Vorwissen auszugleichen, bilde ich sofort zu Beginn des Semesters in meinen Kursen „Techno-Tandems”, in denen jeweils ein computertechnisch erfahrener Student einem „Anfänger” zur Seite steht. Für die weitere Unterrichtspraxis ist es außerdem nötig, in diesen Partnerschaften möglichst TeilnehmerInnen mit verschiedener Muttersprache zusammenarbeiten zu lassen – um Deutsch als gemeinsame Unterrichts- und Arbeitssprache zu ermöglichen (oder sollte man besser sagen, zu erzwingen?).

In der praktischen Unterrichtsarbeit setze ich den Computer dann in zwei Hauptbereichen ein: Mehr oder weniger interaktive Übungsaktivitäten, die aus dem Intranet aufgerufen werden (diese sind zu einem Großteil inzwischen auf www.deutsch-online.com zu finden), und die Arbeit mit dem „echten” (undidaktisierten) Internet (Netzaufgaben, Chats, Foren, Quizaktivitäten, ...).

 

1. Übungsaktivitäten

Eine Reihe von Übungen habe ich zu einem Materialienpool zusammengefasst, der (neben dem internen Einsatz im VWU-Intranet) meinen StudentInnen (permanent!) per Internet zur Verfügung steht.

1.1 Grammatik

Der Schwerpunkt liegt dabei u. a. auf folgenden Aufgabentypen: Multiple-Choice-Tests, Zuordnungsübungen (zusammenpassende Elemente – Satzteile, Wortsilben, ... – müssen richtig kombiniert werden), Einsetzübungen (Abb. 1), Tempusbox (Abb. 2 entspricht dem traditionellen „Karteikasten”, zum Wiederholen der Präteritum- und Perfektformen).

1.2 Wortschatz

Hier finden Sie ebenfalls Zuordnungsübungen (beispielweise müssen Bilder und Wortbedeutungen in Übereinstimmung gebracht werden, Abb. 3), Multiple-Choice-Tests, Wortpuzzles (Abb. 4, durch Anklicken der Buchstaben in der richtigen Reihenfolge werden Wörter gebildet) und spielerische Aktivitäten wie Hangman oder Wortsuchrätsel (Abb. 5, in Buchstabenraster versteckte Wörter müssen gesucht und gefunden werden).

1.3 Lesen

Neben „virtuellen Schnipseltexten” (Abb. 6, diese müssen entweder Zeile für Zeile oder absatzweise zusammengesetzt werden) befinden sich hier u. a. „klassische” Leseverstehenaufgaben (allerdings mit Zeitlimit versehen, zum Aktivieren globaler Lesestrategien) und Lückentexte.

1.4 Hören

Als Hörverstehen Übungen gibt es hier neben Textrekonstruktionen (Abb. 7, ähnlich der Übungsform „Storyboard”) Aufgaben mit „klassischen” Hörverstehenfragen.

Möglicherweise werden Sie sich jetzt fragen, wozu man Hörverstehen am Computer üben soll? Soll man ja auch nicht unbedingt, einige Vorteile zeichnen sich dennoch ab: Wie viele Kassettenrekorder stehen Ihnen im Kursraum zur Verfügung? Nur einer? Sehen Sie, wenn Sie Computer verwenden, verfügt jeder der TeilnehmerInnen über eine eigene Audioquelle und kann somit (eine ausreichende Zahl an Kopfhörern natürlich vorausgesetzt) die Anzahl der Hörwiederholungen individuell selbst festlegen; ein Umstand, der (wie auch bei anderen Übungsformen am Computer) ein hohes Maß an innerer Differenzierung ermöglicht.

1.5 Videos

Der Einsatz von Videos über Internet und Computer ist aufgrund mangelnder Übertragungsbandbreiten und damit verbundener Qualitätseinschränkungen leider immer noch problematisch. Am besten ist es generell, Sie benutzen keine „Streaming”-Techniken (bei denen der Film bereits gesehen werden kann, während die Datenübertragung noch läuft), sondern Sie speichern den Film auf Ihrem Rechner ab und beginnen dann erst damit zu arbeiten. Das ist bei den üblichen Video-Formaten *.mpg bzw. *.mpeg kein Problem. Aber auch Dateien der Kategorie *.mov, *.asf und *.rm, die schon während der Übertragung mittels Apple-Quicktime-Player bzw. Real-Media-Player gesehen werden können, befinden sich anschließend im Cache Ihres Browsers. Von dort aus können Sie auch diese Dateien problemlos abspeichern. Mein Vorschlag: Machen Sie sich einmal im Internet auf die Suche nach Dateien der vorhin erwähnten Endungen (benützen Sie dafür z. B. die „Multimedia-Suche” von www.altavista.com), oder geben Sie in irgendeine Suchmaschine den Begriff „Werbespot” ein. Sie werden sehen, auf diesem Weg lässt sich eine Menge an authentischen Sprech- und Schreibanlässen finden.

1.6 Schreiben

Die Schreibanlässe auf www.deutsch-online.com reichen von Endlos- (bzw. Fortsetzungs)geschichten verschiedener Gattungen (Krimi, Heimatroman, Gruselgeschichte, Märchen, ...) über Impulstexte (zu Bildern und Kurzvideos) bis hin zum „Wortgenerator”. Dieser liefert den TeilnehmerInnen nach Zufallsprinzip Materialien (Nomen, Verben, Objekte, ...), die dann als Ausgangsbasis einer Fantasiegeschichte dienen.

 

2. Unterrichtsarbeit mit dem Internet

Meine Unterrichtsarbeit mit dem Internet lässt sich in zwei Bereiche gliedern: Einerseits vorstrukturierte und relativ geschlossene Netzaufgaben und andererseits Rechercheaufgaben, Arbeit mit Online-Tests (und Quiz-Aufgaben), Schreibaktivitäten in öffentlichen Foren und „Sprechen” in Chat-Rooms.

2.1 Netzaufgaben

Hier möchte ich zwei Beispiele näher erläutern.

a) Einkaufen bei Billa (Einigungsaktivität)

Mit einem virtuellen Budget von ÖS 200,- (je geringer diese Summe ist, desto spannender und kommunikativer entwickelt sich diese Aktivität) ausgestattet, erhalten die TeilnehmerInnen den Auftrag, jeweils zu zweit im Billa-Online-Shop (billa.at) die Zutaten für ein gemeinsames Frühstück zusammenzustellen. Dabei kommt eine Menge Wortschatz zum Thema Essen & Trinken zum Einsatz, Quantitätsangaben werden wiederholt (oft steht am Anfang der gemeinsamen Frühstücksplanung das große 250g-Glas Nutella, im Laufe der anschließenden Kostenerwägungen relativieren sich Wünsche dieser Art, man überprüft gemeinsam, ob es nicht eine billigere Lösung gäbe, usw.), und am Ende ist jede Kleingruppe mit einer Einkaufsliste ausgestattet (die Bestellung wird natürlich nicht wirklich an Billa abgeschickt!). Den Abschluss bildet dann eine Gruppenaktivität: die Einkaufslisten werden ausgedruckt und im Kursraum aufgehängt. Die Aufgabe ist nun herauszufinden, von welcher Gruppe welche Einkaufsliste stammen könnte.

Der Unterrichtseffekt des „Mehrwertes” bei der Arbeit mit dem Internet, der Gewinn in Form „sprachlicher Mitnahmeartikel”, ein Umstand, den Eva Breindl beschreibt, wird bei Aktivitäten dieser Art besonders wirksam.1

b) Erfinderfamilie (Einigungsaktivität mit grammatischem Schwerpunkt)

In den Beschreibungen von Erfindungen tauchen sehr oft gehäuft Relativsätze auf (z. B. Eine Maschine, die ..., oder Ein Apparat, der ...). Was liegt also näher, als nach Internet-Seiten zu suchen, die sich mit diesem Thema näher befassen. Ein Beispiel dafür ist die private Homepage www.erfinderfamilie.de. Hier treffen Sie auf eine vierköpfige Familie, die sich der Entwicklung mehr oder weniger sinnvoller Patente verschrieben hat. Nach einer grammatischen Suchaufgabe („Lesen Sie die Beschreibungen einiger Erfindungen und suchen bzw. markieren Sie die Relativsätze.”) bekommen die TeilnehmerInnen die Aufgabe, ausgewählte Erfindungen – wie z. B. die Bumelade, eine Mischung aus Butter und Marmelade, das Honigmesser, eine Kreuzung aus Messer und Löffel zum tropffreien Honig-Transport vom Glas bis zum Brot, oder den BSE-Klopfer – gemeinsam zu bewerten. Zu diesem Zweck bietet www.erfinderfamilie.de ein fertiges Formular, in welchem Bewertungen von „schlecht” bis „genial” anzukreuzen und abzuschicken sind. Aber ganz so leicht mache ich es meinen TeilnehmerInnen nicht. Es gibt nämlich außerdem noch ein Formular zur schriftlichen (verbalisierten) Bewertung. Hier erhalten meine TeilnehmerInnen beispielsweise den Arbeitsauftrag, mittels Kausalsätzen (Ich finde die Bumelade hervorragend, weil ...) eigene Kurzbewertungen zu formulieren und abzuschicken. Ob diese tatsächlich bei der „Erfinderfamilie” ankommen? Ich weiß es nicht – man erhält keine Antwort. Für das Lösen der Aufgabe ist dieser Umstand allerdings unerheblich, solange nur meine TN davon ausgehen… Seiten wie diese eignen sich so hervorragend für den DaF-Unterricht, dass man sie – wenn es sie nicht schon geben würde – zu diesem Zweck erfinden müsste!

2.2.1 Rechercheaufgaben

Internet-Recherchen sind eine gute Möglichkeit, meine TeilnehmerInnen auf das Bewältigen großer Textmengen in ihrem zukünftigen Studium vorzubereiten. Die Aufgaben reichen hier vom Beantworten der „Presse-W-Fragen” (Wer?, Wo?, ...) bis zum Notieren wichtiger Inhalte und anschließenden schriftlichen Zusammenfassen oder mündlichen Berichten über das Gelesene.

Mit Schrecken erinnere ich mich zurück an meine „alten” Zeiten als Englischlehrer, in denen ich gezwungen war, englischsprachiges Unterrichtsumfeld entweder in Form von Prospekten mit hohem organisatorischem Aufwand zu besorgen oder in Form von Zeitungen, Magazinen und Büchern (in der Regel auf eigene Kosten!) zu erstehen. Hier wird der Einsatz des Internets sogar zu einem Faktor, der uns hilft, nicht nur Zeit, sondern auch Geld zu sparen.

Eine Seite, die ich immer wieder im Unterricht verwende, ist jene von Greenpeace (www.greenpeace.at). Auch Verwaltungsseiten, wie z. B. jene des Magistrats Wien (www.magwien.gv.at) eignen sich für diese Art der Aufgabenstellung hervorragend. Weitere Favoriten für meinen Sprachunterricht sind das „Geldmuseum” (Thema „Geld”, www.moneymuseum.com), Wetterseiten (www.wetterfest.de) oder elektronische Fahrpläne (www.oebb.at, www.vor.at).

Auch die Anzahl der Online-Enzyklopädien ist stark im Steigen begriffen, es lohnt sich, eine Kursgruppe auch einmal (ausgestattet mit Recherche-Aufgaben) auf Seiten wie www.wissen.de zu schicken.

2.2.2 Online-Tests und Quiz-Aktivitäten

Unter „Online-Tests” verstehe ich hier keine Grammatik-Einsetzübungen, sondern jene für Muttersprachler konzipierten Test- und Quiz-Aktivitäten, die inzwischen auf vielen Internetseiten zu finden sind.

Anfänglich verwendete ich diese Aufgaben zum inhaltlichen „Abrunden” (bzw. Abschließen) von Unterrichtsthemen, inzwischen bin ich aber sicher, dass diese Aktivitäten auch Aufgabenbereiche wie z. B. die Schulung von Detailverstehen in hohem Maße unterstützen. Ich stelle immer wieder fest, dass besonders bei diesem Aufgabentyp (oder sollte man besser sagen: bei dieser Textsorte?) einsprachige Wörterbücher bzw. Online-Glossare besonders intensiv genützt werden. Das scheint damit zusammenzuhängen, dass ganz besonders großes Interesse daran besteht, die Bedeutung von Quizfragen zu verstehen, ebensolches Interesse besteht am Verstehen der häufig angeschlossenen Auswertungen (nicht nur bei Tests zum Thema Gesundheit und bei Psychotests jeder Art).

So gehören beispielsweise beim Unterrichtsthema Gesundheit/Sucht/Drogen folgende Tests zum „ständigen” Materialieninventar: der „Lebenserwartungstest” (www.test.gesundheit.ch), der „Test zur Internet-Sucht” (www.firstsurf.com/piuform.htm) und der „Schokoladensucht-Test” (http://www.quarks. de/schokolade/0102.htm).

Aus meiner eigenen daraus resultierenden „Test-und-Quiz-Sammelsucht” ist inzwischen eine eigene Internetseite geworden: www.1000tests.com.

Werfen Sie ruhig einmal einen Blick darauf, es könnte sich lohnen (nicht nur zu Unterrichtszwecken!).2

2.2.3 Schreibaktivitäten in öffentlichen Foren

Diskussionsforen eignen sich besonders als authentische Schreibanlässe. Ihre TeilnehmerInnen haben dort die Möglichkeit, in „echten” schriftlichen Meinungsaustausch mit muttersprachlichen Partnern zu treten. Wie findet man passende Foren? Entweder Sie nützen einen der zahlreichen darauf spezialisierten Server im Internet (z. B. www.parsimony.net) oder Sie besuchen gemeinsam mit Ihren Studenten Homepages, die ebenfalls solche „Schwarze Bretter” bieten (z. B. www.orf.at).

2.2.4 „Sprechen” in Chat-Rooms

Eines der Hauptprobleme meiner TeilnehmerInnen beim Spracherwerb ist der fehlende Kontakt mit deutsch-muttersprachlichen Partnern. Eine Möglichkeit, diesen Mangel auszugleichen, ist der Besuch von Chat-Rooms, die Sie ebenfalls auf darauf spezialisierten Servern bzw. auf vielen Homepages finden. Der einzige Nachteil dieser Aktivität ist, dass sie nur dann gut funktioniert (und auch nur dann Spaß macht!), wenn Ihre TeilnehmerInnen über ausreichende Computer-Schreibkenntnisse verfügen (wobei hier Schnelligkeit wesentlich wichtiger ist als korrekte Orthographie!).

Besser funktioniert diese Art der Interaktion in Voice-Chat-Rooms, in denen es möglich ist, zu sprechen (diese relativ neuartige Kommunikationsform setzt allerdings voraus, dass Sie über die dazu nötige technische Ausstattung, wie relativ schnelle Computer, Kopfhörer und Mikrophone verfügen).

 

3. Ausblick

Der klassische Lernbegriff ist derzeit großer Veränderung unterworfen, (besonders aktuelle) Wissensinhalte werden in immer höherem Ausmaß Netzwerken entnommen, das Anhäufen von Faktenwissen gehört in immer höherem Ausmaß der Vergangenheit an, Computer und moderne Kommunikationstechnologien bestimmen in immer höherem Umfang unsere Realität. Dass dies auch Spuren im Bereich moderner Lernstrategien hinterlässt, ist eine logische Konsequenz (im angloamerikanischen Raum gilt der Umgang mit dem Computer – dort als computer literacy bezeichnet – bereits als die vierte Kulturfertigkeit, gleichberechtigt mit Rechnen, Lesen und Schreiben). In welchem Umfang der Sprachunterricht tatsächlich davon beeinflusst wird, bleibt abzuwarten – in einigen Bereichen bestimmen technische Unzulänglichkeiten noch sehr das Ausmaß dessen, was möglich und sinnvoll ist. Eines steht allerdings jetzt bereits fest: die neuen Unterrichtstechnologien funktionieren sehr oft als sinnvolle Ergänzung und Bereicherung zu den „herkömmlichen” Unterrichtsmitteln und -strategien und sollten dort, wo sie sich als überlegen erweisen oder Neues bieten, auch eingesetzt werden.

 

Literatur

1 Breindl, Eva (1997): DaF goes Internet! Neue Entwicklungen in Deutsch als Fremdsprache. In: Deutsche Sprache 4, 289–342.

2 Mag. Josef Michael Haunschmid (Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten): www.deutsch-online.com;
www.seminarworkshop.net;
www.1000tests.com;
www.wu.at

Begegnungen14_Glatz

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:9–20.

FERENC GLATZ

Die Europäische Union und die Sprachen*

Weltsprachen, regionale Linguae francae, Muttersprachen und die deutsche Sprache

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Gestatten Sie mir, die Konferenzteilnehmer, die anwesenden Mitglieder des diplomatischen Korps im Namen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie in meiner Eigenschaft als Gastgeber und Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften herzlich zu begrüßen. Das tue ich auch als ein Mensch, der die Kultur und Europa gern hat und die deutsche Kultur schätzt.

In meinem Vortrag möchte ich einige diskussionswerte Gedanken thesenhaft, jedoch z.T. als Frage formuliert vorführen, die die Europäische Union, die europäische bzw. deutsche Kultur und die deutsche Sprache betreffen.

 

These 1: Warum hat die Europäische Union keine humane Strategie?

Die EU ist – wie bekannt – aus der Europäischen Gemeinschaft für Eisen und Stahl (der Montanunion) hervorgegangen. Nach einer Vorgeschichte von 40 Jahren verfügt die EU heute schon über eine politische Organisation und über einen Verwaltungsapparat (die Kommission, die Administration, das Parlament, das Wahlsystem usw.), ihre Grundlagen sind niedergelegt (denken wir nur an Maastricht 1992), sie hat ihre Organisationen für Verteidigung und strategische Aufgaben (denken wir an die Erweiterung der NATO), auch die wirtschaftspolitische Struktur ist fertig (Normen für die industrielle und landwirtschaftliche Produktion, die Europäische Zentralbank, die Einführung des Euro 1999). Die EU hat bereits klare Vorstellungen über Umweltpolitik und auch ihre Wissenschaftspolitik ist im Entstehen begriffen, die sich jedoch in erster Linie auf die Forschungsdisziplinen richtet, die vor allem der Produktion zugutekommen. Bis heute fehlt jedoch in der EU eine humanpolitische Konzeption, eine humanpolitische Vision.

Wir vergessen häufig, dass in der EU auch Menschen leben werden, die nicht nur Verteidigungs-, Produktions-, Verwaltungs- und Ordnungsprobleme haben werden, dass diese Menschen nicht nur Individuen sind, die Industrieprodukte und Nahrungsgüter produzieren, nicht nur Militärdienst leisten oder bei den Wahlen ihre Stimmen abgeben. Sie sind auch Individuen, die fühlen, denken und das Leben auch intellektuell genießen wollen, die auch eine kulturelle und emotionale Welt haben. Es sind Menschen, die sich auf dem Kontinent bewegen, die sich an neue Gemeinschaften anpassen und sich in sie einleben müssen: Türken, Polen und Ungarn in Westeuropa, Deutsche, Engländer und Franzosen in Osteuropa. All das löst Konflikte zwischen den Ankömmlingen und den traditionell etablierten Systemen von Gewohnheiten und Bräuchen aus.

Gleichzeitig und parallel damit erfolgt die Globalisierung der Produktion und Kultur, eine Revolution in der Informationstechnologie; die materiellen Träger der kulturellen Kommunikation (Computer, Fernsehen, fernmeldetechnische Mittel) entwickeln sich in einem rasanten Tempo und dadurch entstehen neue Formen der Umgangskultur.

Deshalb muss sich die EU auch damit befassen, welche Sprachen diese Menschen sprechen werden, wie die Harmonisierung der Aus- und Fortbildungssysteme auf dem Kontinent verwirklicht wird. Und auch auf die Frage muss sie eine Antwort geben, ob es möglich ist, Bildungs- und Kulturpolitik im Grunde genommen nur auf der Ebene der Nationalstaaten zu betreiben. Weshalb verfügt die EU über keine Kulturpolitik? Selbst ein Einblick in den Haushalt der EU zeigt, dass in ihrem Budget die Humanpolitik nicht vorgesehen ist: verblüffend geringe (nur einige Prozente) Aufwendungen sind für das Unterrichtswesen, für Sprachprogramme eingeplant, ganz zu schweigen davon, dass eine Kulturpolitik im modernen Sinne auch im System der EU aufgespalten ist, nämlich in einen kleinen Bereich Unterrichtswesen, in Jugendpolitik bzw. Medienpolitik. Die EU entfernt sich vollkommen von der überlieferten europäischen politischen Struktur, in der die Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert eine sehr wichtige Position eingenommen hatte. Wir könnten auch sagen, dass ein Geheimnis für den Aufstieg Europas im 19. und 20. Jahrhundert gerade der Ausbau einer Bildungs- und Kulturpolitik auf hohem Niveau war. Mit dem Geld der Steuerzahler muss man nicht nur für die materiellen sondern auch für die geistigen und emotionalen Komponenten der Lebensqualität sorgen. (In Klammern möchte ich hinzufügen: Ich bin mir nicht sicher, ob wir auf diesem Gebiet unbedingt die amerikanische Politik nachahmen müssen, die die Kultur im Grunde genommen für eine Angelegenheit des Individuums hält.) Eben deshalb ist es zu begrüßen, dass die Sprachen von der EU auf die Tagesordnung gesetzt werden, dass sie Konferenzen initiiert, als deren Ergebnis sich eine Sprachstrategie der EU herausbilden kann.

 

These 2: Was ist eigentlich das Ziel der EU?

Das Ziel Nummer eins der Europäischen Union als Verwaltungseinheit kann unserer Meinung nach nichts anderes sein, als dass sie mit den Mitteln der Verwaltung und der Fachverwaltung die Wettbewerbsfähigkeit der Bürger auf ihrem Gebiet fördert.

Das 21. Jahrhundert wird unvermeidlich das Jahrhundert der Globalisierung sein. Das bedeutet, dass jedes Dorf, jedes Klassenzimmer und sogar jedes Arbeitszimmer Bestandteil des Wettbewerbs im Weltmaßstab sein wird. Der Umbruch in der Informationstechnologie scheint einstweilen nur eine industriell-technische Revolution zu sein, doch wird es sich bald abzeichnen, dass hier von einer weltweiten kulturellen Revolution die Rede sein wird. Einerseits geht es um die Modernisierung des Bildungsstoffes, andererseits um die Umgestaltung der gesamten Umgangskultur. Wer sich die Errungenschaften der modernen Informationstechnologie nicht aneignet, der wird der grundlegenden Elemente der neuen Umgangskultur auch nicht mächtig und wird in diesem Wettbewerb von Weltformat untergehen.

 

These 3: Sprachkenntnisse sind heute keine soziale Frage mehr

Was hat Wettbewerbsfähigkeit mit Sprachen zu tun? Damit wir Zugang zum globalen Wissensstoff haben, ist es unumgänglich, eine Weltsprache oder mehrere Sprachen zu beherrschen. Gegenwärtig scheint das Englische die einzige Weltsprache zu sein, obwohl auch Esperanto immer mehr verwendet wird. Ein Argument für das Letztere ist: Das Esperanto ist leichter zu erlernen, man kann sich darin präzis ausdrücken und es ist weniger arbeitsaufwendig, im Esperanto ein hohes Niveau zu erreichen als im Englischen. Hinter dem Englischen steht jedoch gerade die dynamischste wirtschaftliche und militärische Großmacht der Welt und das materielle Interesse entscheidet die theoretischen Diskussionen, es sichert den Engländern und vor allem den Amerikanern, deren Muttersprache es ist, einen uneinholbaren Vorsprung. Handel, Diplomatie, Wissenschaft und Informatik sind heutzutage ohne das Englische unvorstellbar. Das sind Fakten und keine Gefühlsfragen.

Neben der Beherrschung der Weltsprache ist jedoch zugleich auch die Kenntnis der regionalen Linguae francae – des Französichen, Spanischen, Russischen, Arabischen, Chinesischen und Deutschen – erforderlich. (Darauf komme ich noch zurück.)

Von dieser Tatsache spricht heute schon jeder, dies ist in der Politik – sogar in den Medien selbst – zu einer Art Gemeinplatz, common place geworden. Leider wird aber auf EU-Ebene sehr wenig dafür getan, den Gebrauch der Linguae francae im Unterricht zu festigen. Die Frage ist, ob wir die Einsicht, dass Fremdsprachen gelernt werden müssen, den einzelnen Individuen überlassen dürfen. Müsste im Schulsystem der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der Unterricht der obligatorischen Fremdsprachen nicht genauso festgelegt werden wie z.B. die Einhaltung der Form und Größe von Tomaten?

Die Notwendigkeit von fremdsprachlichen Kenntnissen ist ein Gemeinplatz. Leider wird über die Wichtigkeit der Muttersprache weniger gesprochen.

Eine Lingua franca ist eine Vermittlungssprache, ein Mittel der Kommunikation in der Verwaltung, im Handel und Tourismus, in der Wissenschaft und in der Arbeitswelt. Eine Zeit lang dachten viele, dass die Muttersprachen von der Weltsprache verdrängt werden. Wir glaubten seinerzeit, dass im Jahre 2000 in der Großen Ungarischen Tiefebene jedes Kind das Abitur schon in englischer Sprache ablegen wird. Das ist jedoch nicht der Fall und das trifft sowohl für Deutschland als auch für China zu. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Mensch die moderne Technik und die komplizierten gesellschaftlichen und weltanschaulichen Konflikte der neuen Welt nur in seiner Muttersprache richtig verstehen kann. Seine Gefühlswelt wird er auch in der Zukunft nur in seiner Muttersprache ausdrücken können. Deshalb müssen auch die kleinen Sprachen modernisiert werden. Wenn es im Ungarischen, Slowakischen oder im Rumänischen usw. keinen modernen Physik-, Chemie- und Biologieunterricht gibt oder wenn keine Belletristik oder Dichtung existiert, dann werden die kleinen Kinder aus der Ungarischen Tiefebene oder dem rumänischen Regat bzw. aus der Karpatenukraine im Wettbewerb der Welt von Morgen bereits im Alter von 6 Jahren benachteiligt sein im Vergleich zu den Kindern aus dem mittleren Westen oder aus anderen großen Kulturen. Heute droht nicht mehr die Gefahr des Untergangs der kleinen Sprachen, sondern die Gefahr ihrer Konservierung. Eine weitere Gefahr besteht in der Diskriminierung auf sprachlicher Basis. Es entsteht eine obere Mittelklassenschicht, die eine oder mehrere Weltsprachen mit moderner Terminologie spricht und schreibt bzw. darin denkt und es wird eine ungebildete Masse geben, die nur ihre unmoderne, in die Subkultur abgesunkene Muttersprache spricht. Um diesem entgegenzuwirken ist einerseits die Modernisierung dieser kleinen Muttersprachen, andererseits die Förderung des Unterrichts der Weltsprache bzw. der lokalen Lingua franca aus Staatshaushaltsmitteln notwendig.

Und damit sind wir wieder bei den Zielen der EU, bei der Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften auf unserem Kontinent angelangt. Ein Geheimnis des Aufstiegs Europas im 16.–20. Jahrhundert war immer, dass sich die Elitekultur und die Massenkultur nie voneinander getrennt hatten. (Im Gegensatz zu der chinesischen, arabischen, der heutigen amerikanischen Kultur und zu anderen Kulturen.) Und dabei half uns die Befolgung der jüdisch-christlichen Lebensprinzipien sowie die griechisch-lateinische demokratisierende Schreib- und Lesekultur. Das 21. Jahrhundert wird sich gerade infolge der neuen Kommunikationsformen zum Jahrhundert der Menschenqualität gestalten. Heute hat man in den USA und China erkannt, dass die Anforderungen der Chip-Epoche eine Niveau-Erhöhung der Massenbildung verlangen. Ihr eigenes Unterrichtssystem kritisieren sie eben deshalb, weil die Elite- und die Massenkultur voneinander getrennt ist. Europa wird erst jetzt durch die Amerikanisierung bedroht: Nicht die Verbreitung der englischen Sprache ist die Gefahr und weniger das Eindringen der amerikanischen Elitekultur (dies halten wir sogar für zu wenig!), die Gefahr besteht in dem Vormarsch der amerikanischen primitiven, kommerziellen Kultur – unter deren Einfluss die europäischen Gesellschaften – nach amerikanischem Vorbild – soziokulturell auseinandergerissen werden.

Es gilt, die Tradition der ausgewogenen europäischen Massenkultur wieder zu festigen. Eine Voraussetzung dafür ist die Festlegung des Niveaus der sprachlichen Umgangsformen. Der obligatorische Unterricht einer Weltsprache, einer Lingua franca, die Schaffung entsprechender Bedingungen ist zum Teil Aufgabe der EU, zum Teil die der Nationalstaaten. Das Aufzeigen der Wichtigkeit der Kultur der kleinen Sprachen ist jedoch Aufgabe der EU. Dies erfolgt einstweilen auch insofern, dass die EU die Gleichberechtigung der Sprachen der Mitgliedstaaten deklariert.

 

These 4: Kulturelle Diversität

In den Naturwissenschaften wird oft von biologischer Diversität gesprochen, d.h. dass es dem Interesse der Menschheit dient, die Vielfalt des Globus, unserer natürlichen Umwelt – also die Biodiversität – zu erhalten. Ich halte die kulturelle Diversität für zumindest genauso wichtig, womit ich auch meine, dass die Vielfalt, die sich in der Geschichte der Menschheit im Laufe von mehreren hunderttausend Jahren entwickelte, ebenfalls erhalten bleiben muss. Europa hat im Laufe seiner Geschichte eine einzigartige kulturelle Diversität hervorgebracht. Auf seinem relativ kleinen Gebiet leben mehr als 20 gleichrangig herausgebildete, entwickelte Kulturen, deren Angehörige sich Kenntnisse in ihrer Muttersprache auf Weltniveau erwerben können.

Diese kulturelle Diversität ist nicht nur vom ethischen, sondern auch vom materiellen Gesichtspunkt aus wichtig. Die kulturelle Diversität ist sogar nützlich. Das Nebeneinanderleben unterschiedlicher Kulturen und ihre Begegnung haben zwar auch zu Konflikten geführt (wie z.B. zu den ständigen Kriegen in Europa), gleichzeitig jedoch auch zu einem gesunden Wettbewerb. Die Konfrontation von durch Brauchtum und Traditionen bedingten Besonderheiten stellte oft Herausforderungen dar; diese Herausforderungen schufen gleichzeitig aber auch Wettbewerbssituationen. (Den heutigen USA ähnlich, wo Kulturen mit afrikanischen, spanischen, asiatischen, europäischen Wurzeln mit der Yankee-Kultur zusammenleben, worüber nur selten gesprochen wird, sondern das Ganze wird unter dem Begriff der sog. amerikanischen Kultur zusammengefasst. Hinzufügen möchte ich noch, dass wir diese Aufnahmebereitschaft ehrlich bewundern.) Das 21. Jahrhundert wird unseren Vorstellungen nach das Jahrhundert der kulturellen Diversität sein. Diese europäische Tradition kann also sehr modern sein. Wie kann diese kulturelle Diversität aber bewahrt, ja sogar weiterentwickelt werden?

Diese menschliche Vielfalt wird in den Bräuchen, in der Lebensform und in den Sprachen manifestiert. Unter diesen Erscheinungsformen ist heute schon zweifelsohne das stärkste Mittel die Sprache. Durch die Bewahrung der Muttersprache wird auch die kulturelle Diversität bewahrt, wobei – nach meiner Sicht – nicht die Konservierung der Muttersprachen das anzustrebende Ziel ist sondern ihre Modernisierung. Und ich halte es für selbstverständlich, dass die verschiedenen Muttersprachen gerade durch eine Lingua franca miteinander in ständigem Kontakt sind. Zwischen den einzelnen Muttersprachen und den lokalen Vermittlungssprachen sowie der Weltsprache besteht eine kontinuierliche Interferenz. Zumindest diese Dreistufigkeit halte ich für die folgenden Jahrzehnte für ideal.

Die Weltsprache (oder die Weltsprachen), die lokalen Linguae francae und die modernisierten Muttersprachen können als Grundlage für die europäische Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert dienen. Ich wiederhole: der Ausbau und die Förderung dieses dreistufigen Sprachgebrauchs ist nicht nur eine humanethologische Grundfrage, sondern es ist äußerst wichtig für unsere Zukunft.

 

These 5: Die Emanzipation Europas

Die Schaffung der Grundlagen der Europäischen Union und der größte Teil ihrer Entstehungsgeschichte entfiel auf die Zeit des Kalten Krieges. In dieser zweigeteilten Welt stand Westeuropa auf der Seite seines „natürlichen“ Verbündeten, der Vereinigten Staaten, Osteuropa aber lebte unter der Besatzung des Gegners, der Sowjetunion. Jetzt, da die Sowjetmacht zusammengebrochen ist und Russland sich in seine historischen Grenzen zurückgezogen hat, sind die spezifischen kontinentalen Interessen Europas deutlich zu sehen. Nach wie vor lebt es im natürlichen Bündnis mit der gesamten atlantischen Welt, doch sind heute die Wettbewerbsfaktoren innerhalb dieses Bündnisses sehr stark. Heute sind die Produktionsschwerpunkte auf dem europäischen Kontinent überhaupt nicht mehr nach ideologisch-politischen Linien gegliedert, sondern nach geschäftlichen bzw. lokalen Interessen. Und die europäische Produktions- und Kulturgemeinschaft ist nicht selten der stärkste Konkurrent der Vereinigten Staaten oder Japans, d.h. der Staaten der früheren sog. freien Welt. Europa muss also auch seine eigenen kontinentalen wirtschaftlichen und kulturellen Zielsetzungen formulieren können. In ihrer neueren Entwicklungsphase setzt sich die Europäische Union für die Förderung der Emanzipation von Europa ein.

Die erste Bedingung für die Emanzipation Europas ist eine Überprüfung der historischen Rolle der europäischen Kultur. Meine amerikanischen, aber auch meine chinesischen Freunde fragen mich häufig, warum es keine stolzen Europäer gibt, während die Amerikaner, ja sogar die Südamerikaner, die Afrikaner und die Chinesen demgegenüber außerordentlich stolz auf ihre Vergangenheit und Gegenwart seien. Meine Antwort auf diese Frage lautet immer: Es gibt keinen kritischer eingestellten Menschentyp als den Europäer. Darauf folgt dann die nächste Frage: Weshalb ist es so, dass die Weltauffassung anderer Kontinente im Grunde genommen zukunftsorientiert ist, während die europäische Weltauffassung vor allem vergangenheitsorientiert ist und die Europäer neben berechtigten Selbstkritiken nicht imstande seien eine Zukunft aufzubauen, welche die Vergangenheit zwar integriert, jedoch eher zukunftsorientiert ist.

Die Fragen und Antworten führen hiernach zur Kultur der einzelnen europäischen Nationen, unter ihnen in erster Linie zu jener der deutschen bzw. zur Bewertung dieser Kulturen sowie zu der Tatsache, dass die Geschichte Europas im 19–20. Jahrhundert in Lehrbüchern und selbst in Filmen in erster Linie negativ eingestellt erscheint.

Europa tritt im 19. Jahrhundert in den Büchern der Weltgeschichte als Kolonialmacht auf, die damals die Völker in Afrika, Asien oder eben Südamerika ausbeutete. Doch wird wenig über die unaufhörliche Neugier des jüdisch-christlichen, d.h. europäischen Kulturkreises geschrieben, darüber, dass die Mittel der modernen Technik, die Achtung der Menschenrechte und die politische Kultur von Europa auf diese Erdteile übertragen wurden. In der Geschichte der Menschheit war also die Rolle Europas im 19.–20. Jahrhundert sehr positiv. Selbst dann, wenn die europäische Anwesenheit in den verschiedenen Teilen der Welt mit der Festigung der Vorherrschaftspositionen der Europäer einherging. (Genauso wie sich auch die japanische, chinesische und die arabische kulturell-militärische Okkupation später in der Folgezeit den rückständigen Gebieten gegenüber verhalten hatte.) Das bedeutet: Wir Europäer, Engländer, Franzosen, Deutsche, Niederländer, Portugiesen, Belgier und Ungarn sollten auch weiterhin selbstkritisch über die kolonialisierenden Momente des Zeitalters der Industrierevolutionen schreiben, doch seien wir stolz auf jene Technik und auf jene literarische, sprachliche Gemeinschaft stiftende Kultur, die wir auf dem Kontinent entwickelt haben und die wir – wenn auch nicht mit den besten Mitteln – in den verschiedenen Gebieten der Welt verbreitet haben. Und seien wir auch heute ehrlich, neugierig und aufnahmebereit gegenüber den asiatischen, afrikanischen, südamerikanischen und arabischen Kulturen.

Der größte Vorwurf uns Europäern gegenüber ist jedoch, dass der Kontinent zwei Weltkriege vom Zaune gebrochen hatte. Und dies trifft völlig zu. Einige sind geneigt, die Verantwortung für diese kriegerischen Konflikte einer oder zwei Nationen (im Allgemeinen der deutschen Nation) oder dem europäischen Kapital (auch hier in erster Linie dem deutschen und nur zum geringeren Teil den englischen und französischen Kapitalbeteiligungen) aufzubürden, andere jedoch ideologischen Strömungen, dem Auftreten des Kommunismus und des Faschismus. Egal wer Recht haben sollte, diese Weltbrände bewegen die heutigen Repräsentanten der europäischen Kultur mit Recht zur Selbstkritik, so auch uns. Die Praxis der staatlichen Kriege, die Diktaturen, welche Menschenrechte verachten und die massenhafte Vernichtung von unschuldigen Menschen kann nie eine „Erlassungssünde“ sein. Deshalb ist also das europäische selbstkritische Verhalten berechtigt. Und doch bin ich der Meinung, dass der Zweite Weltkrieg endlich abgeschlossen werden muss. Man kann nicht hundert Millionen für die Verbrechen von politischen Regimes oder Regierungen oder politischen Parteien verantwortlich machen. Und vor allem kann man die Enkel nicht verantwortlich machen für die Sünden oder Irrtümer ihrer Großväter. Und es kann nicht weiter zugehen, dass im wirtschaftlichen Weltwettbewerb die Konkurrenten der europäischen Firmen die Taten der europäischen Staaten im Weltkrieg vor sechzig Jahren Tag für Tag hervornehmen und dadurch versuchen, ihren europäischen Wettbewerbern moralisch, mit Hilfe der Medien, das Wasser abzugraben. (In diesem Zusammenhang fällt mir eine Erinnerung aus meiner Jugend ein, als die Propaganda der proletarischen Diktatur das Ansehen, das Image der amerikanischen Autos und das der technischen Produkte verringern wollte mit der Aussage: Ja, aber die Amerikaner haben die Indianer ausgerottet, um diese Errungenschaften erreichen zu können.)

Und diese Europafeindlichkeit im wirtschaftlichen Bereich zeigt sich auch im geistigen Leben. Der Leidtragende ist vor allem die deutsche Kultur.

 

These 6: Die Emanzipation der deutschen Kultur und der deutschen Sprache

Die Tragödie des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus sowie des Holocaust wurde und wird von der Menschheit nur schwer aufgearbeitet. Dies ist verständlich. Und verständlich ist auch, dass die damaligen faschistischen Bewegungen – den Tatsachen häufig völlig widersprechend – in erster Linie vom deutschen Faschismus und von der deutschen Geschichte abgeleitet wurden. Damit wollte sich die französische, englische, skandinavische, italienische, die osteuropäische – so auch die ungarische – nationale Geschichte von ihrem eigenen nationalen Faschismus befreien. Wenn das auch weder richtig noch wahr ist, verständlich ist es doch. Und es ist noch zu verstehen, dass in der Filmkultur und in der Belletristik nach 1945 das Verhalten der negativen Helden überall auf der Welt sozusagen deutsche Züge aufwies, was ebenfalls eine Fälschung ist. Das Thema einer Seminararbeit war z.B., durch welche Eigenschaften sich die Deutschen in Filmen über den Weltkrieg auszeichneten: durch Unmenschlichkeit, Zynismus, hohen technischen Bildungsgrad, Arroganz, Verachtung anderer Menschen, ja sogar Grobheit und Ungebildetheit. Diese sog. kollektiven Eigenschaften gingen dann auch auf die Filme über zivile Themen über; wenn dann in diesen Filmen irgendwo ein Deutscher auftrat, war er meistens mit einer dieser Eigenschaften versehen. Analysen zeugen jedoch auch davon, dass mit diesen Eigenschaften des „Fritz“ in der Filmkunst sich immer die negativen Helden auszeichneten.

Aus den Gegenstücken Faschismus – Humanismus, Lebensgefühl in der Diktatur – Lebensgefühl in der Demokratie bildete sich ein weiteres Gegenstück: Kultur kontra Deutsche heraus. (Vor einigen Jahren begann man mit einer Untersuchung zur Frage, wie in den negativen Figuren der modernen Kinderfilme – sogar in den berühmten Harrison Ford-Filmen bei der Darstellung des „Krieges der Sterne“ – die Grundeigenschaften der Faschisten bzw. der Deutschen aus früheren Jahrzehnten in der Beschreibung des Reiches der Bösen noch erscheinen.) Ganz zu schweigen davon, dass all die Elemente der deutschen Geschichte, die vom Hitlerschen politischen Regime ideologisch genutzt wurden – von den germanischen Überlieferungen über die lutherische Tradition bis hin zur Musik Wagners – in der deutschen Kulturgeschichte in den Hintergrund gedrängt wurden. Die deutsche Geschichte trat in erster Linie als die Vorgeschichte des deutschen Faschismus auf.

Was hiernach überhaupt nicht mehr verständlich ist, das ist das diskriminative Verhalten nach 1945 der deutschen Sprache gegenüber. Es ist allgemein bekannt, dass der Deutschunterricht in sehr vielen staatlichen Unterrichtssystemen mit Gewalt zurückgedrängt wurde. Die deutsche Sprache konnte nicht einmal in die Reihe der von der UNESCO bestimmten Weltsprachen aufgenommen werden und sie wurde auch von den Sprachen ausgeschlossen, die bei wissenschaftlichen Konferenzen auf UNESCO-Initiative verwendet wurden. Dies bewirkte eine Deformierung in der Praxis mehrerer Wissenschaftsdisziplinen und Berufe, in denen die deutschsprachige Tradition und Fachliteratur bis dahin als grundlegend galt.

Die berechtigte Entfaltung des späteren Antifaschismus verursachte in einem Teil der deutschen Intelligenz eine Deformität. Deutsche Intellektuelle betrachten und untersuchen die Geschichte ihrer Nation mit einer außerordentlich strengen Selbstkritik, was ich für vorbildhaft halte und somit auch meine, dass die Deutschen am kritischsten gegen ihre negativen Überlieferungen aufgetreten sind. Ich wiederhole, dass dies ein zu befolgendes Beispiel sowohl für Europäer als auch für Amerikaner oder Japaner, Chinesen und für die Araber ist. Dennoch kann ich nicht verschweigen, dass die Verbindung dieses selbstkritischen Verhaltens mit einer Kompensierung mich auf Schritt und Tritt stört. Es war zwar verständlich, manchmal doch eigenartig, wenn man deutsche Kollegen darauf aufmerksam machen musste, dass zumindest sie nicht dagegen protestieren sollen, wenn wir die Unberechtigtheit der deutschen Vertreibungen kritisieren oder die Frage nach der kollektiven Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnen.

Von anderen ebenfalls eigenartigen Ereignissen der vergangenen 15 Jahre möchte ich vielleicht noch eines erwähnen. 1999 veranstalteten wir in Budapest den I. Weltkongress der Wissenschaften. Als Vorsitzender des Organisationskomitees ersuchte ich die UNESCO, neben den sechs Weltsprachen auch das Deutsche zur offiziellen Sprache zu erklären. Und dazu mussten zuerst die Kollegen des deutschen diplomatischen Korps überzeugt werden, dass die Diskriminierung der deutschen Sprache doch nicht in Ordnung ist. Ich glaube, dass eine Grundbedingung für die Emanzipation Europas die Emanzipation der deutschen Kultur ist. Die germanische Eisenschmiedekunst und die vorwärtsweisende Rolle der germanischen Dorfgemeinschaften gehören genauso zum allgemeinen europäischen Kulturschatz wie die Territorialverwaltungsorganisation des mittelalterlichen Deutschland, wie die Religionserneuerung, die Traditionen des Dramas, der Musik, der Natur- und Sozialwissenschaften und die deutsche Sprache.

Meinerseits ist es zu begrüßen, dass auch diese Tagung dazu beitragen wird, dass in den nächsten Jahrzehnten für die Wiederherstellung des Prestiges der deutschen Kultur und der deutschen Sprache sicherlich vieles unternommen wird und diese Anstrengungen von Erfolg gekrönt werden. Es freut mich weiterhin, dass wir auf dieser internationalen Tagung bereits von der Rolle sprechen können, welche die deutsche Sprache in der künftigen europäischen Koexistenz spielen wird.

 

These 7: Die Rolle der deutschen Sprache und Literatur in Ostmitteleuropa und Ungarn

Die Deutschen besiedelten die östlichen Grenzen des Okzidents und dadurch hatten sie an diesen seit 1500 Jahren ständig Kontakte zu den Awaren, Slawen, später zu den Ungarn bzw. zu den Türken, die diese Region unterwarfen und sich lange Zeit hier aufhielten. Zwischen dem 10. und 19. Jahrhundert waren deutsche Siedler im Dreieck zwischen der Nordsee, der Adria und dem Schwarzen Meer immer wieder vorzufinden, da es in diesen Gebieten Arbeitsmöglichkeiten gab, die ausgebildete Arbeitskräfte, Bauern und Handwerker oder eben Soldaten verlangten. Es ist bekannt, wie die verschiedenen Siedlergruppen vom Baltikum bis in die südliche Ecke des Karpatenbeckens, ins heutige Rumänien und Jugoslawien entstanden. Ebenfalls bekannt ist, dass die städtische Kultur dieses Raumes beinahe bis zum 20. Jahrhundert stark von der deutschen Kultur geprägt war. Die Siedler brachten nicht nur ihre Werkzeuge, ihre Gerätschaften mit sich, sondern auch die Formen ihrer Gemeinschaftsorganisation und ihre Sprache. (Sogar in der Hauptstadt Ungarns, in dem heutigen Budapest sprachen 70 Prozent der Bevölkerung bis in die 70er Jahre Deutsch und ein großer Teil bekannte sich zum Deutschtum.) Die deutsche Sprache war in diesem Raum fast bis 1945 die Weltsprache Nummer eins, in einzelnen Berufen war sie als Weltsprache vorherrschend. Es erübrigt sich vielleicht zu betonen, dass es den Weinbauern, Drehern oder Bierbrauern, die in diesen Raum eingewandert waren, nicht einmal im Traume eingefallen wäre, der deutschen Nationalidee zum Sieg zu verhelfen, wie das von der deutschen nationalistischen und faschistischen Ideologie, der Ideologie des Dranges nach Osten zwischen 1930 und 1945 mit dem Bestreben verkündet wurde, eine historische Begründung für die Ausbreitung des Dritten Reiches nach Osten aufzubringen. Aber auch die Behauptungen der antifaschistischen Ideologie nach dem Krieg stimmen nicht, nach denen diese Menschen die Vorkämpfer des deutschen Imperialismus und der Germanisierung gewesen wären. Auch das war von 1945 bis zur Gegenwart eine Ideologie, deren eine Quelle die Leiden waren, die von der Zerstörung durch den deutschen Faschismus in Osteuropa verursacht waren, die Leiden, die durch den Überfall auf die kleinen Völker in Osteuropa und durch den Genozid hier ausgelöst worden waren. Diese Ideologie hatte jedoch auch eine andere legitimierende Quelle, sie stand auch im Dienste der Interessen der russischen Großmacht, die in diesen Raum vorstieß.

Erwartungsgemäß begann nach 1990 in der Geschichte der Beziehungen zwischen den Völkern in diesem Raum und dem Deutschtum ein neues Kapitel. Nach dem Untergang der sowjetischen Macht, nach dem Ende der Besatzung wurde eine engere Beziehung zum Okzident, die so genannte Angliederung an Europa, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Westeuropa und die Vereinigten Staaten versprachen viel und unternehmen auf politischer Ebene sowie auf jener der Verteidigungspolitik (der NATO) auch vieles. (Vor allem die Vereinigten Staaten waren auf diesem Gebiet aktiv.) Was die Alltagswelt anbelangt, so waren es hier allein die deutsche Intelligenz und die deutsche Mittelklasse, welche die inneren gesellschaftlichen Probleme des osteuropäischen Raumes beharrlich mit Aufmerksamkeit verfolgten.

Während der Aktionsradius der multinationalen Firmen global ist – unter ihnen befinden sich zahlreiche Informatikfirmen aus den USA und Japan –, sind an mehr als 80 Prozent der Gemeinschaftsunternehmen in diesem Raum Miteigentümer aus den benachbarten westlichen Gebieten, aus Deutschland und Österreich beteiligt, was auch zeigt, dass die jahrhundertealten Mechanismen wieder aktiv geworden sind. Hier ist nicht vom deutschen Imperialismus, vom Drang nach Osten, sondern ganz einfach von menschlichen, wirtschaftlichen Interessen und von der damit engstens und stets zusammenhängenden kulturellen Interferenz die Rede. (Ich könnte noch hinzufügen, dass dies auch selbstverständlich ist, da der geographische Radius dieser kleinen Unternehmen beschränkt ist.)

Für die Völker Osteuropas ist also die deutsche Sprache die lokale Lingua franca des 21. Jahrhunderts und die deutsche Kultur eine natürliche und verwandte Vermittlungskultur. Die (nicht ausgesiedelten und vertriebenen) Deutschen, die in unserem Raum leben und auch die Gemeinschaft der Germanisten mit ihrem Interesse für die deutsche Kultur, können ein Pfeiler für eine sich erneuernde, mitteleuropäische deutsche Kultur sein. Dies setzt jedoch voraus, dass die Intelligenz und die politische Mittelschicht dieses Raumes ihre antideutschen Vorurteile ablegt und sie die Kultur, die Goethe und Schiller repräsentieren, von den Nachfolgern von Mein Kampf unterscheiden kann.

In diesem Geist wünsche ich der Konferenz eine erfolgreiche Arbeit und lebhafte Diskussionen. Vergessen Sie nicht: Die traditionelle deutsche Kultur beruht – dies wurde im Wesentlichen von der Reformation formuliert – auf einem wunderbaren, stets diskussionsoffenen Verhalten.

 

* Wortlaut des Plenarvortrags

Begegnungen14_Erb

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:143–160.

MARIA ERB

Zugewinn oder Abbau?

Ungarische Lehnwörter in den neueren deutschen Sprachinselmundarten Ungarns bis 1945

 

0. Sprachinsel als Kontaktinsel

Geht man davon aus, dass Lehnbeziehungen zwischen zwei Sprachen qualitativ und quantitativ unterschiedlich gelagerte und geartete Kontakte voraussetzen, dann beinhaltet der Terminus Sprachinsel – „eine Wortschöpfung von außerordentlich starker Bildkraft und Lebensnähe” (Kuhn 1934: 13) – schon an und für sich die Möglichkeit, aber darüber hinaus sogar die Unumgänglichkeit von Kontakten unterschiedlicher, so auch sprachlicher Natur, denn die geographische Nähe von Völkern, Sprachen und Kulturen ist – dies beweisen diverse Forschungen – einer der wirksamsten und tragendsten Stimulierungs- und Steuerungsfaktoren in Kontaktprozessen. Bei Sprachinseln ist sogar eine unmittelbare geographische Nähe und damit ein sehr hohes Kontaktpotential, das allerdings außerdem auch noch auf andere Faktoren zurückzuführen ist, von vornherein gegeben, denn sie stellen „Sprach- und Siedlungsgemeinschaften in einem anderssprachigen, relativ grösseren Gebiet” (Wiesinger 1980: 491) [...] dar, oder um mit Hutterer zu sprechen: sie sind „[...] räumlich abgrenzbare [...] Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer anderssprachigen Mehrheit” (Hutterer 1982: 178). Auch die verschiedenen Definitionen von Sprachinsel – ohne detaillierter auf die durchaus lehrreiche, aufgefächerte, zeitweise auch durch- und überpolitisierte Begriffsgeschichte des Wortes an dieser Stelle eingehen zu wollen –, reflektieren direkter oder indirekter Weise auf diese Tatsache. Am eklatantesten formuliert diesbezüglich Walter Kuhn, der diesen Aspekt sogar ins Zentrum seiner Definition stellt: er spricht nämlich von „Marschengebieten [...], die den Angriffen des Meeres ausgesetzt sind”, von „Halligen im Völkermeer”, die „vom Meere des fremden Volkstums umbrandet und bedroht” sind, denn „Stück für Stück nagt die gierige Flut sie los, spaltet einzelne Inseln und verschlingt sie ganz” (Kuhn 1934: 13). Auch in der – allerdings wesentlich späteren und mehr soziolingusitisch ausgerichteten – Definition von Klaus Jochen Mattheier kommt dieser Aspekt zum Tragen, denn er definiert Sprachinsel unter anderem. als „[...] eine durch verhinderte oder verzögerte sprachkulturelle Assimilation entstandene Sprachgemeinschaft [...]” (Mattheier 1994: 334).

Die Tatsache, dass Sprachinseln für die Erforschung von Kontakten jeglicher Art sehr üppige und vielschichtige, wenn auch spezifische Untersuchungsobjekte darstellen, wird seit einiger Zeit allgemein akzeptiert und von verschiedenen Wissenschaften auch genutzt. Hervorzuheben wären diesbezüglich bestimmte Bereiche der Linguistik und die der Volkskunde; die Vertreter der letzteren Disziplin haben sich im Rahmen der Sprachinselvolkskunde bzw. der interethnischen und Akkulturationsforschungen ziemlich früh des Themas angenommen – ich verweise nur auf die Arbeiten von Karasek, Weber-Kellermann und Schenk –, und haben sowohl in der Theorie als auch in der Praxis zur objektiven Beschreibung der tatsächlichen Lebenswirklichkeiten und der vielschichtigen Beziehungssysteme solcher Bevölkerungsgruppen beigetragen. Vor allem für frühere Arbeiten sind aber eher kritische Töne charakteristisch, besonders was die Bewertung der Kontakte anbelangt: Man hat diese zwar signalisiert, wenn des öfteren auch nur stillschweigend hingenommen und auch beschrieben – schon 1930 spricht Jungbauer, einer der ersten und maßgebendsten Theoretikern des Themas von Altgut, Neugut und Lehngut –, man hat in ihnen aber, ohne die einzelnen Kontaktphänomene auf Entstehungsgründe und Funktion zu prüfen, oft generell den Beginn des Untergangs der Volksgruppe gesehen.1

In den nun folgenden Ausführungen widmen wir uns auf Grund eines sprachlichen Korpus eben diesem Bewertungs-, Funktions- und Wirkungsaspekt der Problematik der usualisierten ungarischen Lehnwörter in den nachtürkischen deutschen Sprachinselmundarten von Ungarn bis 1945. Unsere Ausgangsbasis und primäre Untersuchungsebene ist zwar eine sprachliche, die Methoden und die Hinterfragungen der konkreten Analyse sind jedoch interdisziplinär. Abbau vs. Zugewinn, Verlust vs. Bereicherung, Notwendigkeit vs. ‘Leichtsinn’, Tradition vs. Innovation sind Gegensatzpaare, die nicht nur in kontaktlinguistischen Untersuchungen sehr oft diskutiert werden, sondern sehr häufig und mit Vorliebe – und dies hat besonders im Falle der deutschen Sprache eine lange und bewegte Tradition – auch von Sprachpflegern, Sprachpolitikern und Sprachplanern aufgegriffen werden. Dass eine adäquate Antwort auf diese Fragen immer nur eine exemplarische, auf die einzelnen konkreten Lehnphänomene bezogene und nie eine pauschale sein darf, muss nicht weiter erörtert werden. Darüber hinaus ist es aber sehr wichtig, dass man dabei über eine ausschließlich genetisch-sytemlinguistisch ausgerichtete buchhalterische Zuordnung und Inventarisierung hinausgeht und im Sinne einer komplexen Vorgehensweise auch jedwede Steuerungs- und Bedingungsfaktoren in die Untersuchung miteinbezieht, die letztendlich zur Entlehnung führten.

 

1. Zeitlicher Rahmen und Korpus

Bevor wir uns aber dem konkreten Thema zuwenden, sollen hier – in Kenntnis der Problembeladenheit und Vielschichtigkeit des Materials – einige wichtige Ausführungen über die Grundproblematik bzw. über den zeitlichen Ansatz und das Korpus stehen.

Die nachtürkischen oder neueren deutschen Sprachinseln von Ungarn entstanden aufgrund staatlich und privatherrschaftlich iniziierter und durchgeführter Ansiedlungsarbeit im Verlaufe des 18. Jahrhunderts und bilden somit im Prinzip seit dreihundert Jahren sowohl in areal-geographischer als auch in sozial-interaktionärer Hinsicht potentielle Kontaktflächen.2 Als primäre und wichtigste Kontaktsprache fungierte seit jeher die Sprache des staatsbildenden Volkes, das Ungarische, erwähnt werden muss jedoch, dass im Vielvölkerstaat Ungarn – in Abhängigkeit von der bevölkerungsmäßigen Zusammensetzung der einzelnen, auch von Deutschen bewohnten Siedlungsgebiete – auch andere Sprachen, so vor allem das Rumänische, das Slowakische und das Serbische, wenn auch in bedeutend geringerem Maße, aber als Kontaktsprachen nachzuweisen sind.3 Die Art und die Intensität der Beziehungen der deutschen Sprachinselmundarten zu ihrer sprachlich-kulturell anders gearteten Umwelt wurden neben verschiedenen endogenen und exogenen Dominanten maßgebend auch vom Faktor Zeit gesteuert. Solange für die ersten(n) Phase(n) der Kontakte im allgemeinen der/den Repliksprache(n)4 höchstgradig angepassten Bezeichnungsentlehnungen (assimilierte und usualisierte Lehnwörter) typisch sind, zeichnen sich mit der Zeit die festen Konturen eines immer intensiveren, mehrfach zusammengesetzten, dynamisch-kumulativen Prozesses ab: Mit der wachsenden Kenntnis der Modellsprache Ungarisch erscheinen neben den in die Nehmersprache(n) nunmehr nicht vollständig oder gar nicht integrierten lexikalischen Entlehnungen immer mehr, oft nur okkasionelle Bedeutungsentlehnungen (vor allem Lehnübersetzungen, seltener -übertragungen) bzw. Lehnphänomene aus anderen sprachlichen Rängen (Morphologie, Syntax) und es kommt allmählich und z. T. auch generationsgebunden zu verschiedenen Formen der Zwei- bzw. Gemischtsprachigkeit und/oder – bei einigen Ortschaften oder Gebieten – eventuell sogar zur Unilingualisierung, d. h. zur vollständigen Auflösung der Sprachinselgemeinschaft mindestens in sprachlichem Sinne. Diesen, aus zeitgründen nur stichwortartig geschilderten Prozess durchlaufen im Grunde genommen alle nachtürkischen deutschen Sprachinselgemeinschaften und -mundarten von Ungarn, bemerkt werden muss allerdings, dass für das Nacheinander dieser einzelnen Intensitäts- und Qualitätsetappen einerseits fließende Übergänge und zeitweilige Überlappungen typisch sind, andererseits, dass in Abhängigkeit von siedlungsgeschichtlichen und -typischen bzw. wirtschaftlich-infrastrukturellen Begebenheiten gebietsmäßig fassbare zeitliche Verschiebungen zu konstatieren sind.5

Der zeitliche Rahmen unserer Ausführungen umfasst – von der Ansiedlung bis 1945 – im Prinzip ungefähr zweihundertfünfzig Jahre, diese Zeitspanne kann jedoch in Abhängigkeit von der genaueren Ansiedlungszeit der einzelnen Ortschaften in konkreten Fällen auch um einige Jahrzehnte kürzer ausfallen. Dieses viertel Jahrtausend mutet – zumal als Untersuchungsperiode angesetzt – als Einheit an, und in gewisser Hinsicht, und zwar von einer höheren Warte aus betrachtet, stellt es auch eine dar. Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist nämlich als die einschneidenste und wichtigste Jahreszahl in der bisherigen Geschichte der Kontakte der Ungarndeutschen zum Ungarischen, ja, sogar in der Geschichte der ungarndeutschen Mundarten zu werten, denn nach 1945 zeigen sich nicht nur in der Anzahl der Kontaktphänomene (rapide Vermehrung), sondern auch in ihrer Art gravierende Veränderungen im Vergleich zur vorangehenden Epoche. Mit einer feineren Untergliederung, einer hierarchischen Periodisierung lässt sich aber diese erste große Epoche in kleinere Abschnitte zerlegen, wobei historisch prägende Ereignisse – so der Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahre 1867 und das Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918 – jeweils als zeitliche Grenzen fungieren.

1945 ist also als Qualitäts- und Quantitätsgrenze in der Geschichte der Kontakte anzusehen, es gibt aber noch einen anderen Grund, und zwar forschungs- und überlieferungsgeschichtlicher Provenienz, der den Forscher geradezu zwingt, trotz beobachtbarer Binnengliederung die drei Zeitabschnitte seit der Ansiedlung zu einer Periode zusammenzulegen und als solche zu behandeln und damit sind wir bei unserem Korpus angelangt. Angaben zu den Kontakten und konkrete sprachliche Beispiele fließen in unserem Fall nämlich erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und da auch nur spärlich, vom Erwartungshorizont des Linguisten her gesehen sehr oft ungenau und bei weitem nicht flächendeckend in arealer Hinsicht. Gerade für die von uns untersuchte(n) Periode(n) ist der Quellenmangel sehr typisch, wir können auf Grund der technisch-mediengeschichtlichen Entwicklung nur auf schriftliche Quellen zurückgreifen und da auch nur – um das Prinzip der zeitlichen Synchronizität nicht zu verletzen – auf jene Belege, die bis zum Ende des untersuchten Zeitraumes dokumentiert worden sind, was eine ergänzende Relativierung durch die Einbeziehung späterer, auch gesprochener Quellen nicht ausschließt. Dadurch kann aber zumindest eine relative, wenngleich auch weiterhin problematische und keineswegs absolute Chronologie der einzelnen Lehnphänomene erreicht werden.

Aus verschiedenen Quellen – nicht selten mit einer gänzlich anderen Grundausrichtung – konnten letztendlich an die vierhundert usualisierte ungarische Lehnwörter für die untersuchte Epoche isoliert werden.6 Dies ist allerdings eine Gesamtmenge, die neben solchen Lehnwörtern, die eine gebietsübergreifende entlehnerische Resonanz erfahren haben, auch solche enthält, die nur für einige oder sogar nur für eine einzige Ortsmundart dokumentiert wurden. Als Belegorte für unser Quellenmaterial können 34 Einzelortschaften und darüber hinaus vier größere Siedlungsgebiete angeführt werden, das Sathmargebiet, das Banat, das Ofner Bergland und die Stadt Apatin mit Umgebung. Trotz dieser qualitativen und areal-geographischen Einschränkungen weist das auf uns gebliebene Belegmaterial eine innere Kohärenz auf und ermöglicht in vielfacher Hinsicht wichtige Einblicke sowohl in sprachliche als auch in wirtschaftlich-kulturelle Etablierungsstrategien der Ungarndeutschen. Betont werden muss außerdem noch, dass es nicht nur für verschiedene Teilbereiche der Linguistik, sondern auch für diverse andere Wissenschaften, so u. a. auch für die Geschichtswissenschaft, für die Volkskunde, für die Soziologie und für die Psychologie als sehr reichhaltiges und vielschichtiges Korpus zu werten ist.

 

2. Die ungarischen Lehnwörter und ihre Einteilung in Sachgruppen

Kommen wir jetzt nach diesen, wenn auch längeren, aber zum richtigen Verständis der eigentlichen Problematik wichigen einleitenden Gedanken zu unserem Korpus. Wie bereits schon erwähnt, weisen die vierhundert Lehnwörter auch in ihrer arealen und zahlenmäßigen Unvollständigkeit mehrfach eine innere Kohärenz und Systematik auf, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass ihre überwiegende Mehrheit bestimmten Sachbereichen, thematischen Reihen, bzw. Lekten zugeordnet werden kann. Dies wiederum legt – bei allen, zweifelsohne bestehenden differenten ortstypischen Begebenheiten und Verschiedenheiten – das Vorhandensein gemeinsamer Bedürfnisse, Steuerungsfaktoren, Möglichkeiten und Strategien beim Entlehnungsprozess nahe. Gewisse Übereinstimmungen sowohl im konkreten Lehnwortmaterial als auch in den eruierbaren Steuerungsfaktoren lassen sich einerseits bei den einzelnen nachtürkischen deutschen Ortsmundarten – trotz mundartlicher, siedlungsgeschichtlicher und arealer Unterschiede – feststellen, interessant ist jedoch, dass es darüber hinaus in bestimmten Bereichen des Lehnguts auch zwischen den älteren7 und jüngeren deutschen Sprachinselmundarten und sogar auch zwischen diesen beiden und den anderen Minderheitensprachen von Ungarn gewisse Ähnlichkeiten gibt, worauf wir im Verlaufe unserer Ausführungen noch kurz zu sprechen kommen.

Vertreten sind in unserem Belegmaterial – hier aus umfänglichen Gründen allerdings nur durch einige Beispiele repräsentiert – folgende Bereiche:

1. Kleidung, Tracht: ung. bakancs ‘schwere Schnürschuhe, die bis oberhalb des Knöchels reichen’; ung. bekecs ‘kurzer, taillierter, gefutterter Wintermantel mit Pelz’; ung. bunda 1. ‘aus Schafspelz verfertigtes, ärmelloses, mantelartiges Kleidungsstück’ (Hirtentracht) – 2. ‘Wintermantel mit Pelz gefüttert’; ung. bocskor ‘einfaches, schlichtes Schuhwerk aus Leder mit Riemen’; ung. csizma ‘Stiefel’; ung. gatya 1. ‘weites Männerkleidungsstück (Hose) aus Leinen, das bis unter die Knie reicht und unmittelbar am Körper getragen wird’ – 2. ‘Unterhose’; ung. szûr ‘weites, mantelartiges Oberbekleidungsstück der Männer mit Ärmeln, das man über die Schultern geworfen trägt’ (Volkstracht);

2. Esskultur, Speisen: ung. csusza ‘dünn aufgerollte, in kleinere Stücke zerschnittene, gekochte Mehlspeise: Flecken’; ung. gulyás ‘Gericht aus gedünstetem Rindfleisch mit Kartoffeln, Paprika und Zwiebeln: Gulasch’; ung. kalács (slaw.) ‘aus feinem Mehl mit Milch, Butter und Eier (im Backblech) gebackener Hefeteig’; ung. palacsinta (rum.) ‘dünne Mehlspeise aus Milch, Mehl, Eier und Zucker, die in der Pfanne gebacken, mit unterschiedlichen Füllungen bestrichen und danach zusammengerollt wird: Palatschinke’; ung. paprikás ‘Gericht aus kleinen Fleischwürfeln, gebraten und gegart in Paprikaschmalz mit Zwiebeln’; ung. pogácsa (südslaw.) ‘rundes, salziges Gebäck aus fettigem Teig (oft auch mit Grammeln zubereitet)’; ung. szárma (serbokroat., rum.) ‘gefülltes Kraut, Krautwickel’;

3. Umgangs- und Anredeformen, Verhaltensmuster: ung. éljen! ‘Vivat, Hoch!’; ung. hogy volt? ‘Publikumsaufforderung zur Wiederholung bei öffentlichen Tanz- und Musikveranstaltungen’;

4. Flüche, Schimpfausdrücke: ung. a teremtésit; ung. az anyád, ung. az apád; ung. az árgyélusát; ung. basztikuli;8

5. Kinderspiele: ung. csigázik ‘Kegelförmiges Spielzeug mit Peitsche antreiben’; ung. kampó ‘Name eines Ballspiels’; ung. patkó ‘rundes Eisenstück mit einem Loch in der Mitte, das die Kinder bei einem bestimmten Kinderspiel zum Zerschneiden von Knöpfen benutzen’; ung. ujróta ‘beliebtes Ballspiel der Stadtkinder’;

6. Landwirtschaft, Tierzucht:

a) Tierbezeichnungen: ung. bika ‘das männliche Zuchttier bei Rindern’; ung. csikó ‘Fohlen’; ung. kacsa ‘Ente’; ung. kakas ‘Hahn’; ung. ménes ‘Gestüt’;

b) Herationen für Haustiere bzw. Zurufe zum Antreiben und Lenken des Zugviehs: ung. gyí ‘Interjektion, zum Antreiben von Pferden gebräuchlich’; ung. hess ‘Heration zum Verscheuchen von Geflügel, etwa: Husch!‘;

c) Rufnamen für Tiere: Kuh-, Ochsen-, Pferde- und Hundenamen;

d) Pflanzennamen: ung. kukorica ‘Mais, Kukuruz’; ung. kadarka (serbokroat.) ‘Name einer roten Weintraubensorte’; ung. csicsóka ‘Topinambur’ (Helianthus tuberosus); ung. pipacs ‘Klatschmohn’ (Papaver rhoeas);

e) Sonstige Ausdrücke: ung. béres ‘Knecht, landwirtschaftlicher Lohnarbeiter’; ung. gulyás ‘Pferdehirt’; ung. akol (südslaw.) 1. ‘Schafstall’ – 2. ‘umzäuntes Weidegebiet der Schafe’; ung. sallang ‘aus schmalen Riemen geflochtener, fransenartiger Schmuck des Pferdes bzw. des Pferdegeschirrs’; ung. petrence ‘kleiner Haufen Halmfutter, den man mit zwei Stangen oder einer Gabel tragen kann’; ung. puszta 1. ‘großes, unbebautes und unbewohntes Gebiet’ – 2. ‘kleinere landwirtschaftliche Einheit oder Siedlung, die entfernt von der Ortschaft liegt’;

7. Sachmodernismen: ung. mozi ‘Kino’; ung. villamos ‘Straßenbahn’; ung. vonat ‘Zug’;

8. Offizialsprache: alispán ‘bis 1950: gewähltes Oberhaupt der Komitatsverwaltung’; ung. hajdú 1. ‘Scherge im Dienste des Adels oder der Obrigkeit’ – 2. ‘Unteroffizier oder Gerichtsdiener im Dienste des Komitates oder der Stadt’; ung. korbács ‘kurze, dicke Peitsche aus Riemen geflochten’; ung. kortes 1. ‘Person (eig. Werber), die bemüht ist, seinen Auftraggeber zum Abgeordneten wählen zu lassen’ – 2. ‘Person, die die Werbetrommel für jmdn. rührt’; ung. pengõ ‘Bezeichnung der ungarischen Währung und Geldeinheit zwischen dem 1. Januar 1927 und dem 1. August 1946’; ung. tüzér ‘Artillerist’.

Zu den ausgewählten Besipielen sei noch bemerkt, dass sie – um auch unter diesen Umständen ein annähernd symptomatisches Bild zu vermitteln – gezielt ausgesucht wurden: D.h., dass neben solchen Lehnwörtern, die von mehreren oder vielen deutschen Ortsmundarten integriert wurden, auch solche hier stehen, die nur für eine einzige Ortsmundart dokumentiert wurden. Die etymologischen Verweise bei einigen Lehnwörtern deuten auf die buntscheckige und weitverzweigte aber reale Sprachwirklichkeit im ostmitteleuropäischen Raum hin, mit typischen Kultur- und Wanderwörtern, bei denen sich die Modellsprache im Falle der deutschen Mundarten nicht immer eindeutig bestimmen lässt, sogar von Siedlungsgebiet zu Siedlungsgebiet variieren kann, und wo wir es oft mit der Zwischenschaltung von mehreren Vermittlersprachen zu tun haben.

 

3. Zugewinn oder Abbau?

Und nun kommen wir zur unserer absichtlich vereinfachend und pauschalprovokativ formulierten Frage „Zugewinn oder Abbau?”, d. h., inwieweit bzw. auf welcher Weise die ungarischen Lehnwörter die nachtürkischen deutschen Ortsdialekte beeinflusst oder verändert haben? Es sei allerdings bemerkt, dass die umfänglichen Beschränkungen in diesem Beitrag keine detaillierte, umfassende Analyse ermöglichen, wir waren jedoch bestrebt, die Wesenszüge der Problematik zu erfassen.

3.1. Zugewinn

Ein bedeutender Teil der ungarischen Lehnwörter kann zweifelsohne der Kategorie Zugewinn oder Bereicherung zugeordnet werden, wobei sich diese Bereicherung doch auf verschiedene Weise manifestiert.

In die erste Gruppe gehören jene ungarischen lexikalischen Integrate, für die in den deutschen Mundarten kein konkurentes, bedeutungsäquvivalentes indigenes Element vorhanden war; somit schließt man mit diesen lexikalischen Transfers – die als Ergebnisse eines vielschichtigen Akkulturationsprozesses zu betrachten sind –, solche Nominationslücken, die sich nachweislich vor allem durch die Konfrontation mit einer anderen (fremden?) Kultur, mit anderen Sozial- und Beziehungssystemen, Wirtschaftsstrukturen und mit einem anderen Staatsaufbau aufgetan haben. Bei diesen Lehnwörtern kann man nicht nur von einem Zugewinn, sondern sogar von einer Notwendigkeit sprechen, denn sie tragen wesentlich zur Aufrechterhaltung der kommunikativen Leistungsfähigkeit der deutschen Dialekte auch unter den veränderten Umständen bei. Der Unterschied zwischen zwei Gemeinschaften mit unterschiedlicher Muttersprache manifestiert sich nämlich nicht allein im Sprachlichen, nur die Sprache als unterscheidendes Charakteristikum der einen von den anderen zu betrachten, ist zu einseitig und deshalb oft irreführend, denn das ganze außersprachliche, d. h. soziokulturelle, Umfeld von solchen Gemeinschaften ist voll von unübersehbaren Zeichen dieser Verschiedenheit. Verschiedenheit kann man nicht nur hören, sondern auch sehen, riechen, schmecken und anfassen, dazu gehören nicht nur die einzelnen Bereiche der Sachkultur – Siedlungsstruktur, Hausbau, Tracht, Esskultur usw. –, sondern auch alle, verbalen wie nonverbalen Strategien und Formen der Daseinsbewältigung und die Reaktionen auf die Herausforderungen der jeweiligen Umwelt. „’Sprachinsel’ wird generell nicht nur linguistisch verstanden, sondern als Sammelbegriff sämtlicher Lebensäußerungen der in einer Sprachinsel zusammengefassten Gemeischaft” – formuliert Hutterer (Hutterer 1991: 101); und so ist es bis zu einem gewissen Grade selbsverständlich, dass das Aufeinandertreffen eines Mehrheitsvolkes und einer sowohl spraclich als auch kulturell differenten Minderheit die zwingende Notwendigkeit der auch in Lehnwörtern fassbaren Anpassung und zum Teil Integration letzterer mit sich bringt. Im ungarischen Lehngut der ungarländischen deutschen Dialekte sind eine ganze Reihe solcher, zum Teil schon in frühesten Zeiten usualisierten Lexeme zu finden, die gerade diesen mehrschichtigen, anders gearteten usuellen Bereich teilweise abzudecken versuchen. Es handelt sich dabei um einen sog. ‘sachlichen Kulturimport’ und innerhalb dessen um ungarische Typika oder Exotika, wobei Inhalts- und Ausdrucksseite zusammen und zur gleichen Zeit entlehnt werden. Auf diesen Umstand weisen auch die zeitgenössischen Quellen hin: in der einen heißt es: „zum Teil übernahmen sie zusammen mit dem Gegenstand oder Begriff auch das Wort”9 (Eszterle 1929: 67), in der anderen formuliert der Autor folgendermaßen:

Die Wirkung der neuen Umgebung, in der sich die Ansiedler niedergelassen haben, macht sich auch im Wortschatz des deutschen Dialektes bemerkbar. Sie lernen eine Menge neuer Institutionen und Begriffe kennen, für die sie die Bezeichnungen aus der Sprache jener übernehmen, die sie damit bekannt gemacht haben (Kräuter 1907: 40).

Typisch ist auch, dass viele der zeitgenössischen Dokumentationen bei der Aufzählung der Lehnwörter mit zusammenfassenden Kategorien, wie „Lehnwörter, die sich auf spezifisch ungarische Verhältnisse beziehen” oder „Typisch ungarische Wörter” operieren. Die Wichtigkeit dieser Gruppe der Lehnwörter weist allerdings über das konkret Sprachliche hinaus, denn diese Integrate sind beredte Zeugen dafür, dass die Deutschen die auffallendsten und bedeutendsten Segmente einer typisch ungarischen Wirklichkeit – Sachverhalte und Verhaltensmuster – sich zu eigen machten und somit auch in die eigene Sachkultur und in das eigene Identitätsmuster eingliederten. Dies trifft nicht nur für die neueren, sondern – wie bereits erwähnt –, auch für die älteren deutschen Sprachinselmundarten zu: Ebenspanger behauptet in seinem Artikel über die ungarischen Lehnwörter der Hianzen: „Die Kleidung der Hianzenbauern wurde mit der Zeit ungarisch, genauso, wie ihre Denkweise” (Ebenspanger 1882: 6). Gesagt werden muss allerdings auch, dass die Übernahme eines Wortes nicht in jedem Falle automatisch mit der Übernahme der Sache einher ging. Zwei Beispiele aus dem Banat sollen dies veranschaulichen: ung. suba ist ein „langer Mantel aus grobem Tuchfilz, den die Rumänen tragen”, ung. szûr dagegen ist ein „langer Mantel aus groben Tuchfilz, den die Ungarn tragen” (Horger 1899: 712). Beide fanden als Lehnwörter Eingang in die deutschen Dialekte des Banats, durch die Kursivsetzung und damit Hervorhebung des ethnischen Bezuges der Benutzer wird in der Quelle jedoch verdeutlicht, dass es hier nicht um einen sachlichen Kulturimport, sondern lediglich um eine sprachlich-kommunikative Bezeichnungsnotwendigkeit im sprachlich-kulturellen Miteinander geht.

Hierher gehören vor allem viele Lehnwörter aus den Bereichen ‘Kleidung/ Tracht’, ‘Esskultur/Speisen’, ‘Verhaltensmuster’ bzw. aus dem Bereich ‘Kinderspiele’, denn die deutschen Kinder haben in ihrer neuen Heimat viele solche Spiele, Spielzeuge kennengelernt, die es in der alten Heimat nicht gegeben hat.10 Auch der Bereich ‘Pflanzen’ ist in diesem Zusammenhang mit typisch ungarischen Pflanzennamen, so z. B. mit den Weintraubensorten kadarka und bakator, vertreten. Dass auch der größte Teil der Lehnwörter im Bereich der ‘Offizial- bzw. Amtssprache’ hierher gehört, ist weiter nicht verwunderlich, denn Offizial- und Amtssprachen sind höchstgradig terminologisierte Funktiolekte und als solche lassen sie im Allgemeinen keine Synonymität zu. Zu ihren lexikalischen Spezifika zählen u. a. die Bezeichnungen aller institutionaliserten, vergegenständlichten und personifizierten Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens und der Staatsgewalt. Das Ungarische, als Sprache des staatsbildenden Volkes, deckte diesen Bereich vollständig ab, und so ist es selbstverständlich, dass die deutschen Mundarten diese Termini technici aus dem Ungarischen übernommen haben. Einen interessanten Einblick in die mentale Anpassung bzw. in die unterschiedliche ‘Volkscharakteriologie’ der Deutschen und der Ungarn gewährt allerdings die recht gut vertretene Kategorie ‘Flüche, Schimpfausdrücke’.11 „Das Fluchen ist erst recht eine speziell ungarische Ware bei unseren Deutschen frommen Gemüts” – stellt Schäfer bereits 1896 fest (Schäfer 1896: 579), gesagt werden muss allerdings, dass diese Flüche mit einer Ausnahme während ihrer Integration in die deutschen Dialekte ihren derb-flätigen Charakter eingebüßt und eine deutliche Bedeutungsabschwächung erfahren haben.12

Diese erste Gruppe der Lehnwörter schließt Nominationslücken und dient damit im Grunde genommen – im Zeichen einer ‘therapierenden Strategie’ –, zur Aufrechterhaltung der kommunikativen Leistungsfähigkeit der deutschen Dialekte in der neuen Heimat. Im Quellenmaterial befinden sich aber auch Belege, die keine konkreten Bezeichnungslücken schließen, sondern sich in bestimmte mundartliche Wortfelder eingliedern, diese auf verschiedener Weise umstrukturieren bzw. die semantische Differenzierung und Präzisierung der Feldmitglieder bzw. Feldnachbarn ermöglichen oder nach sich ziehen und somit ebenfalls eine Art Bereicherung darstellen. So lässt sich in bestimmten Fällen die Herausbildung von Doubletten auf deutsch-ungarischer Basis dokumentieren, d.h., dass es in den deutschen Mundarten vor der Entlehnung semantisch annähernd äquivalente Wörter gab, die neben dem jeweiligen Lehnwort weiterbenutzt wurden. Wortpaare sind in vielen Fällen keine totalen Synonyme, denn sie zeigen in ihrer Verwendung feine semantische bzw. soziopragmatische Unterschiede. Das ung. vizel ‘das Wasser lassen, urinieren’ wird z. B. im Banat – „weil es als diskreter und vornehmer empfunden wird” –, nur im Umgang mit Kindern gebraucht (Horger 1899: 713). Ebenso das ung. sapka ‘eine bestimmte Kopfbedeckung der Männer’, das neben dem mundartlichen khapl gebraucht wird, allerdings mit scherzhaft-witziger Intention. Einige Beispiele zeigen auch eine gewisse ungarisch–deutsch-mundartliche ‘Arbeitsteilung’ im dennotativen und konnotativen Bedeutungsbereich semantisch äquivalenter Wörter der beiden Sprachen, wobei das deutsche Formativ den denotativen, das ungarische den konnotativen Bereich abdeckt. Z. B.: ung. macska ‘Katze’ wird nur in der Bedeutung ‘faule Frauenperson’ verwendet, das Tier wird weiterhin mit dem indigenen Wort bezeichnet; ung. csacsi ‘Esel’: „das Tier wird nie so genannt, das Wort wird nur in Bezug auf Menschen, ganz besonders in Bezug auf Kinder gebraucht und wird als feiner empfunden als das deutsche ézl” (Horger 1899: 706). Mit der Entlehnung des ung. bika ‘Stier, Zuchttier bei Rindern’ – das Wort ist fast ausnahmslos in allen deutschen Dialekten von Ungarn zu finden –, wird die im Deutschen ungenügende Differenzierung zwischen dem Zuchtstier und dem junden Tier bzw. Ochsen ermöglicht. Noch ein weiteres Beispiel aus dem Bereich Tierzucht: ung. csikó ‘Fohlen’ wird zu einer altersspezifischen semantischen Differenzierung genutzt, denn mit dem ungarischen Lehnwort wird nur ‘ein ganz junges Fohlen, unter einem Jahr’ bezeichnet (Hajnal 1906: 53 und 58; Eszterle 1929: 66; Riedl 1933: 37).

Bevor wir uns dem Abbau des deutsch-mundartlichen Wortschatzes durch ungarische Lehnwörter zuwenden, muss kurz noch eine interessante Zwischenstufe erwähnt werden, und zwar die Kategorie der hybriden Komposita. Bei Minderheiten fällt ihre Zahl im allgemeinen sehr hoch aus,13 unsere 34 Belege weisen darauf hin, dass diese Möglichkeit auch von den Deutschen in Ungarn zu einem sehr hohen Prozentsatz genutzt wurde. Den größeren Teil der hybriden Komposita machen Determinativkomposita aus, bei denen als das semantisch spezifizierende Glied fast immer das ungarische Wort an das deutsche herantritt (z.B.: mákkuchen ‘Mohnkuchen’ aus ung. mák ‘Mohn’ und dt. Kuchen; pipacsrot ‘klatschmohnrot/rot wie ein Klatschmohn’ aus ung. pipacs ‘Klatschmohn’ (Papaver rhoeas) und dt. rot; cirokbesen ‘Besen aus Mohrenhirse’ aus ung. cirok ‘Mohrenshirse’ und dt. Besen); den anderen, kleineren bilden sog. tautologische Zusammensetzungen, die durch eine einfache Verbindung von bedeutungsäquivalenten Lexemen der beiden Sprachen entstanden sind (z.B.: kakashahn ‘Hahn’ aus ung. kakas ‘Hahn’ und dt. Hahn; gulyaherde ‘Rinderherde’ aus ung. gulya ‘Herde’ und dt. Herde; kocsiwagen ‘aus Weidenruten angefertigter kleiner Wagen, Kinderspielzeug’ aus ung. kocsi ‘Kutsche, Wagen’ und dt. Wagen). Die Kategorie der Determinativkomposita deutet darauf hin – dies bekräftigen übrigens auch die Ergebnisse der Untersuchung der semantischen Integration des Gesamtmaterials –, dass die Deutschen einen beträchtlichen Teil der ungarischen Lehnwörter aus einem spezifischen Kontext heraus entlehnt haben. Bei den unechten, tautologischen Zusammensetzungen können wir davon ausgehen, dass das ungarische Wort in den Wortbestand der deutschen Dialekte zwar eingegangen ist, das bedeutungsäquivalente indigene Lexem jedoch nicht verdrängen konnte, was von der starken und stabilen Position des Dialektes zeugt.14

3.2 Abbau des mundartlichen Wortschatzes

Sprachliche Lehnprozesse können sich nicht nur in Form von Zugewinn – wie das bei der vorhin behandelten Gruppe von Lehnwörtern der Fall ist –, sondern auch in Form von Abbau äußern. Unsere Quellen dokumentieren in hoher Anzahl auch solche ungarische Lehnwörter, die bereits zur Zeit der Datenerfassung ein indigenes Mundartwort verdrängt haben oder als zeitweilige Konkurenzformen neben einem solchen auf dem besten Wege dazu waren.

Die Bewohner der ungarischen und rumänischen Nachbardörfer stehen bis heute im kontinuierlichen, lebendigen Kontakt zu den Deutschen in Niczkydorf, deshalb sind viele ungarische und rumänische Wörter so allgemein gebräuchlich, dass sie das ursprüngliche deutsche Wort aus dem Sprachgebrauch völlig verdräng haben

– berichtet Ferenc Kräuter 1907 aus einer Ortschaft im Banat (Kräuter 1907: 41). Dass dieser Prozess der Verdrängung des indigenen Mundartwortes ein komplizierter und vor allem längerer Prozess gewesen sein muss, zeigen jene Belege, die ein zeitweiliges Nebeneinender des deutschen und des ungarischen Wortes dokumentieren, wobei das ungarische Wort in den meisten Fällen bereits zur Zeit der Datenerfassung eine weitaus größere Gebrauchsfrequenz besaß, als das deutsche. Es sollen hier nur einige Beispiele dafür stehen, allerdings mit zeitgenössischen Kommentaren: das ung. Lehnwort éljen! ‘Vivat/ Hoch!’ ist „weit verbreitet, in Städten bekommt man, wenn auch selten, auch das deutsche ‘hoch’ noch zu hören (Horger 1899: 708); ung. kuvik/csuvik ‘Steinkauz, Totenvogel’: „Das Volk kennt dafür kein anderes Wort, es verwendet dafür manchmal höchstens ‘Totenvogel’” (Horger 1899: 707); bei ung. bika ‘Zuchttier bei Rindern: Stier’ heißt es: „Das Wort Stier verwenden sie ganz selten, die Bauern kennen es vielleicht gar nicht” (Horger 1899: 706); ung. városháza ‘Gemeindehaus, Rathaus’: „Das Gemeindehaus wird damit neuerdings bezeichnet, es verdrängt immer mehr das aus der deutschen Literatursprache übernommene kemeintehaus (Kräuter 1907: 44). Und noch ein abschließendes Beispiel, das aber zeigt, dass dieses Nebeneinender auch Jahrzehnte in Anspruch nehmen kann, bzw. auch bis in die jüngste Vergangenheit aufrechterhalten wurde: 1941 ist in Boglar/Vértesboglár (im Schildgebirge) ung. kakas ‘Hahn’ neben deutsch-mundartlich hau gebräuchlich. Der Fragebogen des „Ungarndeutschen Sprachatlasses” dokumentiert für die Ortschaft noch in den siebziger Jahren das Nebeneinender des deutschen und des ungarischen Wortes, ohne jeglichen semantischen Unterschied.

Neben diesen Zwischenstadien lässt sich aber in vielen Fällen die endgültige Tilgung des indigenen Wortes nachweisen. Diese Tatsache macht sich jedoch nicht nur bei weniger frequentierten, seltener gebrauchten Wörter bemerkbar, sondern erfasst neben dem alltäglichen Wortschatz sogar den sog. bäuerlichen Grundwortschatz, denn in den Bereichen Tierzucht und Landwirtschaft finden wir auffallend viele ungarische Transferenzen. Die nachtürkischen deutschen Siedler waren in ihrer überwiegenden Mehrheit Bauern, und so kann man davon ausgehen, dass der Wortschatz ihrer mitgebrachten Mundart in der Lage war – abgesehen von einzelnen ungarischen Spezifika – diese Bereiche vollständig abzudecken. Wir haben hier jedoch – wie es auch aus der Liste der Lehnwörter hervorgeht – viele Tierbezeichnungen, vor allem für Haustiere, bzw. Kollektiva für Hautiere, weiterhin Pflanzennamen, Herationen, Tiernamen bzw. auch viele sonstige Ausdrücke. Dieses „Eintauschen des Mitgebrachten” basiert neben der hohen Gebrauchsfrequenz dieser Lexeme im sprachlichen Miteinander vor allem auf eruierbaren sprachexternen Faktoren. Weil diese aber zur komplexen und nach unserem Verständnis richtigen Beurteilung der Entlehnungen auch dieser Art fest dazugehören, soll hier kurz auf sie eingegangen werden.

a) In deutschen Haushalten und Einzelwirtschaften waren sehr oft Ungarn, aber – abhängig von der bevölkerungsmäßigen Zusammensetzung des Gebietes – auch Angehörige anderer Minderheiten, vor allem Slowaken und Rumänen, als Wirtschafts- und Hauspersonal beschäftigt, somit war das Ungarische in vielen deutschen Haushalten unmittelbar präsent.

b) Hirten und Halter waren auch in von Deutschen bewohnten Gegenden traditionell Ungarn, bei den Ausdrücken im Zusammenhang mit der Pferdezucht kann man außerdem aus einer wirschaftlichen Dominanz der Ungarn als Pferdenation ausgehen. „Die meisten Wörter kamen in unsere Mundart durch die Hirten, die in unserem Dorfe ebenso wie in den deutschen Nachbarortschaften ungarischer Herkunft waren” – berichtet Hajnal aus Isszimmer/ Isztimér (Hajnal 1906: 67). Dasselbe stellt Potoczky in seiner Monographie über Sebegin/Zebegény fest: „die Ochsenhirten sind Ungarn (in den Augen der Dorfbevölkerung ist dies ein niedriger Beruf)” (Potoczky 1910: 45).

c) Die hohe Anzahl der ungarischen Lehnwörter im Zusammenhang mit der Tierzucht deutet auf bestehende wirtschaftliche und Handelskontakte hin. Tiere wurden von den Vertretern verschiedener Ethnien des Landes auf Märkten gehandelt, Ungarisch fungierte zwischen den einzelnen Sprachen als Vermittlersprache, als ‘lingua franca’. Dass man den Haustieren ungarische Rufnamen gab, ist jedoch nicht als typisch deutsche Strategie zu werten, denn die Haustiere haben bei allen Minderheiten von Ungarn durchgehend ungarische Rufnamen gehabt.15 Tiere wechseln den Beitzer, und weil sie sich nicht ohne weiteres umbenennen lassen, einigte man sich scheinbar stillschweigend auf die Sprache des Mehrheitsvolkes. Das Verfahren setzte vermutlich bei den kommandierungsbedürftigen Tieren, bei Pferden, Kühen und Stieren ein und wurde dann in einem Analogverfahren auch auf andere Haustiere – Hunde und Katzen – übertragen. Larissa Naiditsch berichtet übrigens über die gleiche Strategie bei den Deutschen um Petersburg: „Russische Rufnamen wurden gewöhnlich den Haustieren gegeben” (Naiditsch 1994: 35).

3.3. Abzugewinn?

Neben Zugewinn und Abbau lassen sich bereits in der behandelten Periode die Konturen einer dritten, jedoch nicht unproblematischen Kategorie erkennen, die allerdings erst in der Zeit nach 1945 außerordentlich häufig vertreten sein wird, denn bis 1945 wurden in unseren Quellen diesbezüglich insgesamt nur sechs Lehnwörter dokumentiert (kalauz ‘Schaffner’; mozi ‘Kino’; posta ‘Post’; postás ‘Briefträger’; villamos ‘Straßenbahn’ und vonat ‘Zug’;): Es geht dabei hauptsächlich um die sog. Sachmodernismen. Durch die Sprachinsellage, durch die fehlenden oder mangelnden Kontakte zum deutschen Sprachgebiet waren die nachtürkischen deutschen Sprachinselgemeinschaften und ihre Mundarten von der Entwicklung der deutschen Sprache isoliert. Durch die Assimilierung des deutschen Städtebürgertums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, durch den Verlust der eigenen Intelligenz verlor das deutsche Bauerntum fast jegliche Chancen auf eine Verbindung zu den gehobeneren Varietäten der eigenen Muttersprache. Die Kluft zwischen den auf sich gestellten deutschen Bauernmundarten aus dem 18. Jahrhundert und dem, von der rasanten technisch-wirtschaftlich-wissenschaftlichen Entwicklung bestimmten 20. Jahrhundert wurde immer größer; es taten sich in den deutschen Dialekten immer mehr Nominationslücken auf, die somit, in Ermangelung einer anderen Möglichkeit, mit Hilfe des Ungarischen als Innovationssprache geschlossen wurden. Neben der temporalen Diskrepanz und dem eingeschränkten Repertoire der Ungarndeutschen in der eigenen Muttersprache muss hier auch die varietäten- und funktionsspezifische Diskrepanz zwischen dem Ungarischen und den deutschen Mundarten erwähnt werden. In diesem Fall geht es in erster Linie nicht um das Aufeinandertreffen zweier genetisch verschiedener Sprachen, sondern um das einer vollständig ausgebauten Schrift- sowie Hochsprache und eines Substandards – mit deutlich voneinander abweichenden strukturellen und kommunikativen Möglichkeiten, Funktionen und Domänenrepräsentanz. Angesichts der bisherigen Ausführungen bin ich der Meinung – obwohl man bei dieser Gruppe der Lehnwörter aus verschiedenen Standpunkten heraus evt. sowohl für Abbau als auch für Zugewinn plädieren könnte (deshalb auch ‘Abzugewinn’) –, dass die Grundkonstellation hier doch eine andere ist.

 

4. Zusammenfassung

Unsere Ausführungen bezogen sich anhand eines aus 400 Lehnwörtern bestehenden Belegmaterials auf einen möglichen, allerdings sehr oft und mit Vorleibe aufgegriffenen Aspekt von Sprachkontakten, nämlich auf die Auswirkungen dieser auf den indigenen Wortschatz der Repliksprache. Dieser Fragestellung kommt bei unseren Entlehnungssprachen eine besondere Bedeutung zu, zumal es sich um Sprachinselmundarten handelt, die im allgemeinen ein sehr hohes Kontaktpotential aufweisen, bei denen aber zugleich die Muttersprache als das bedeutendste identitätsstiftende und -erhaltende Element zu werten ist. Die sowohl gesellschaftlich als auch sprachlich spezifische Situation solcher Gemeinschaften fand auch in unserem Falle ihren Niederschlag im Lehnwortbestand, und zwar auf derart differenzierte Weise, dass für ihre Beschreibung „klassische” Pauschalkategorien wie ‘Abbau’ oder ‘Zugewinn’ allein nicht ausreichen. Auch innerhalb dieser Einstufungen haben wir es mit verschiedenen Sub- und Übergangskategorien zu tun, hinzu kommt noch der im letzten Abschnitt geschilderte Konstellationstyp, der von den beiden anderen in vielerlei Hinsicht deutlich abweicht. Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die neueren deutschen Sprachinselmundarten von Ungarn bis 1945 (auch) im Bereich des Wortschatzes ihren indigen-deutschen Charakter grundsätzlich bewahrt haben, auch wenn in manchen Bereichen – begründet durch die aus ihrer besonderen Situation resultierenden Bedürfnissen und Möglichkeiten – „das Eintauschen des Mitgebrachten” (Weber-Kellermannn/Schenk 1977: 45) nachzuweisen ist.16

 

Anmerkungen

1

Vgl. dazu: Weber-Kellermann (1959) 1978.

2

Zur Ansiedlung, zu den Siedlungsräumen und zur Sprache siehe z.B. Hutterer 1991.

3

Teils fungierten diese Sprachen als Modellsprachen teils als Vermittlersprachen bei bestimmten, im ostmittel- und südosteuropäischen Raum verbreiteten Wander- bzw. Kulturwörter. Vgl. dazu Abschnitt 2 ‚Die ungarischen Lehnwörter und ihre Einteilung in Sachgruppen’.

4

Es geht dabei eigentlich um verschiedene deutsche Ortsdialekte, deshalb hier auch die Pluralform in Klammern.

5

So sind Streusiedlungen, deutsche Ortschaften in Industriegegenden bzw. in der Nähe der Hauptstadt Budapest dem ungarischen Einfluss im gleichen Zeitabschnitt sowohl qualitativ als auch quantitativ mehr ausgesetzt als das größere und kompaktere deutsche Siedlungsgebiet in Südungarn. Bis auf den heutigen Tag lassen sich diese temporalen und Intensitätsunterschiede an der Kompetenz- und Sprachgebauchstruktur der verschiedenen deutschen Siedlungsgebiete ablesen: Dabei geht es in erster Linie nicht (mehr) um die Etablierung des Ungarischen im sprachlichen Repertoire der Ungarndeutschen, sondern viel mehr um die Position und den Gebrauch des Dialektes. Vgl. dazu: Erb/Knipf 2000; Erb/Knipf 1998.

6

Die Auflistung der von uns bearbeiteten Quellen siehe im Anhang. Die Erschließung der Quellen erfordert übrigens philologische Kleinstarbeit, denn die überwiegende Mehrheit der Belege ist in Arbeiten mit einer oft gänzlich anderen Grundausrichtung zu finden. Deshalb ist auch davon auszugehen, dass das bisher geortete und bearbeitete Belegmaterial noch ergänzt werden kann – vor allem in arealer Hinsicht, d.h. was die Anzahl der Belegorte der einzelnen Kontaktphänomene anbelangt –, wir denken jedoch, dass es auch in diesem Umfang repräsentativ ist und eine solide Basis für die Untersuchung dieser vielschichtigen Problematik darstellt.

7

Gut dokumentiert sind die ungarischen Lehnwörter im Siebenbürgisch-Sächsischen. Vgl. dazu z.B.: Jacobi 1895.

8

Flüche sind im Allgemeinen sprach- und kulturspezifisch. Die ungarischen Flüche haben im Deutschen keine Äquivalenten und lassen sich auch nicht adäquat ins Deutsche übersetzen, deshalb wird hier auf eine inhaltlich-segmentierende Übersetzung verzichtet.

9

Alle ungarischen Zitate sind von mir ins Deutsche übersetzt worden.

10

Die kindersprachlichen Ausdrücke machen übrigens über zehn Prozent des Belegmaterials aus.

11

Insgesamt konnten zwanzig Flüche und Schimpfausdrücke aus den Quellen isoliert werden, das macht immerhin fünf Prozent unserer Belege aus.

12

Interessante Einblicke in die weitverzweigte Multilateralität und Multikulturalität dieser Problematik gewährt v.a. die Untersuchung von Karin Ney in vier siebenbürgisch-sächsischen Dörfern aus dem Jahre 1984. „Die Deutschen sind so phantasielos! Wenn sie mal richtig schimpfen wollen, langt es höchstens zu ‚Scheiße’, stellet ein Siebenbürger Sachse fest. Einem wütenden Sachsen steht dagegen ein reiches Inventar an Flüchen und Schimpfwörtern zur Verfügung, um seinem Herzen Luft zu machen – meist auf Rumänisch! Ein Sachse flucht auf Rumänisch: ein Rumäne auf Ungarisch! [...] Am besten kann man auf Ungarisch fluchen, aber Rumänisch ist auch nicht schlecht” (Ney 1984: 125).

13

Vgl. dazu z.B.: Naiditsch 1994.

14

In diesem Zusammenhang spielt vermutlich auch die Motiviertheit bzw. Unmotiviertheit eine erhebliche Rolle.

15

Vgl. dazu folgende Stelle bei Reichnitz über die ungarischen Lehnwörter bei den Rumänen im Komitat Hajdú-Bihar: „Wenn es viel ‚gunoi’ (ganaj) [=’Mist’, auch ein ungarisches Lehnwort M. E.] gibt, spannt er die Bimbau, die Daru, die Virág, die Csákó (Kuhnamen) ein; oder den Betyár, Bátor, Bicskás, Bársony, Büszke, Szürke, Vilma, Jancsi, Pista, Rántotta usw. (Pferdenamen) und zieht ihn auf das Feld hinaus” (Reichnitz 1896: 301).

16

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Bolyai-Stipendienprogramms der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.

 

Literaturverzeichnis

Quellen

Bakonyi, János 1940: Márkó telepítése és nyelvjárása [Siedlungsgeschichte und Mundart von Marka.]. Budapest.

Bauer, Hilda 1933: Nagyárpád: Mundart und Sitte. Pécs.

Dengl, János 1907: Az orczyfalvi német német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der Mundart von Orczydorf]. Budapest.

Eszterle, M. Edit 1929: A budakeszi német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Wudigess]. Budapest.

Folláth, Ferenc 1941: Szóképzés a budakörnyéki német nyelvjárásban [Wortbildung in den deutschen Mundarten des Ofner Berglandes]. Budapest.

Hajnal, Márton 1906: Az isztiméri német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Isszimmer]. Budapest.

Happ, József 1915: Béb község német nyelvjárásának hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart der Gemeinde Bib]. Budapest.

Horger, Antal 1899: A bánsági sváb nyelvjárás magyar szavai [Ungarische Lehnwörter der schwäbischen Mundart des Banats]. In: Egyetemes Philológiai Közlöny 7, 702–716.

Jakob, Károly 1926: Magyar jövevényszók a verbászi német nyelvjárásban [Ungarische Lehnwörter im deutschen Dialekt von Werbaß]. In: Magyar Nyelvõr 55, 203–204.

Járai, József 1944: A kaposfõi német telepesek és nyelvjárásuk [Die Somajomer deutschen Siedler und ihre Mundart]. Budapest.

Kräuter, Ferenc 1907: A niczkyfalvi német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Niczkydorf]. Budapest.

Lindenschmidt, Mihály 1905: A verbászi német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Werbaß]. Budapest.

Mornau, József 1915: A szeghegyi német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Sekitsch]. Budapest.

Müller, József 1901: A franzfeldi német nyelvjárás [Die deutsche Mundart von Franzfeld]. In: Egyetemes Philologiai Közlöny 25, 728–740 und 809–822.

Neuhauser, Frigyes 1927: A zirci német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Sirtz]. Budapest.

Popper, Stefánia 1906: A zsombolyai német nyelvjárás [Die deutsche Mundart von Hatzfeld]. Budapest.

Potoczky, Lajos 1910: A zebegényi német nyelvjárás [Die deutsche Mundart von Sebegin]. Budapest.

Révai, József 1910: A csenei német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Tschene]. Budapest.

Riedl, Ferenc 1933: A budaörsi német (középbajor) nyelvjárás alaktana [Formenlehre der (mittelbairischen) deutschen Mundart von Wudersch]. Budapest.

Róth, János 1911: A kucorai német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Kuczura]. Budapest.

Schäfer, Károly 1896: Vándormagyarok (Apatin és környéke). [Wandernde Ungarn (Apatin und Umgebung)]. In: Magyar Nyelvõr 25, 579–581.

Schäffer, István 1908: A kalaznói német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart von Kalasch]. Budapest.

Schilling, Rogerius 1933: Dunakömlőd és Németkér telepítés-, népiség és nyelvtörténete [Siedlungs-, Volkstums- und Sprachgeschichte der Gemeinden Kimling und Kier]. Budapest.

Schmidt, Henrik 1899: A verbászi német nyelvjárás [Die deutsche Mundart von Werbaß]. In: Egyetemes Philológiai Közlöny 23, 806–828.

Tafferner, Antal 1941: Vértesboglár. Egy hazai német település leírása [Boglar: Beschreibung einer ungarndeutschen Siedlung]. Budapest.

Tóth, Károly 1934: Das Bikácser Deutschtum und seine Mundart. Beitrag zur Mundartenforschung [sic!] und Sitte. Debrecen.

Vonház, István 1908: A szatmármegyei német nyelvjárás hangtana [Lautlehre der deutschen Mundart in der Gespanschaft Sathmar]. Budapest.

Weidlein, János 1930: A murgai német nyelvjárás alaktana [Formenlehre der deutschen Mundart von Marke]. Budapest.

Wittmann, Adam 1943: Die Mundart von Pusztavám. Bistritz.

Forschungsliteratur (in Auswahl)

Erb, Maria 1997: Ungarische Lehnwörter in den neueren deutschen Sprachinselmundarten von Ungarn bis 1945. Strukturlinguistische und soziopragmatische Untersuchungen. Diss. (Ms.) Budapest.

Erb, Maria; Knipf, Elisabeth 2000: Observations on the Proficiency of the German Minority of Hungary. In: Minorities Research. A Collection of Studies by Hungarian Authors 2, 99–110.

Erb, Maria; Knipf, Elisabeth 1998: Sprachgewohnheiten bei den Ungarndeutschen Vorergebnisse einer Untersuchung. In: Hutterer, Claus Jürgen; Pauritsch, Gertrude (Hgg.): Beiträge zur Dialektologie des ostoberdeutschen Raumes. Referate der 6. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie, 20.–24. 9. 1995 in Graz. Göppingen, 253–265.

Ebenspanger, János 1882: A hiencz nyelvbe olvadt magyar szavak [Ungarische Lehnwörter in der Sprache der Heanzen]. In: Felsőlövői ág. hitv. ev. nyilv. tanintézetek értesítője 6.

Hutterer, Claus Jürgen 1982: Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologische Arbeitsprinzipien. In: Besch, Werner [u.a.] (Hgg.): Dialektologie: Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin/New York. Bd. 1 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 1.2), 178–189.

Hutterer, Claus Jürgen 1991: Hochsprache und Mundart bei den Deutschen in Ungarn. In: Ders.: Aufsätze zur deutschen Dialektologie. Hg. von Karl Manherz. Budapest (= Ungarndeutsche Studien 6), 253–281.

Jacobi, Karl 1895: Magyarische Lehnwörter im Siebenbürgisch-Sächsischen. In: Programm des Evangelischen Gymnasiums A. B. in Schässburg. Schässburg.

Kuhn, Walter 1934: Deutsche Sprachinselforschung: Geschichte, Aufgaben, Verfahren. Plauen.

Mattheier, Klaus Jochen 1994: Theorie der Sprachinsel. Voraussetzungen und Strukturierungen. In: Bernd, Nina; Mattheier, Klaus Jochen (Hgg.): Sprachinselforschung. Ein Gedenkschrift für Hugo Jedig. Frankfurt am Main, 333–348.

Naiditsch, Larissa 1994: Wortentlehnung – Kodemischung – Kodewechsel: Sprachinterferenzen in den Mundarten der deutschen Kolonisten bei Petersburg-Leningrad. In: Berend, Nina; Mattheier, Klaus Jochen (Hgg.): Sprachinselforschung. Eine Gedenkschrift für Hugo Jedig. Frankfurt am Main, 31–45.

Ney, Karin 1984: Rumänische Transferenzen in vier siebenbürgisch-sächsischen Ortsmundarten des Kreises Hermannstadt/Rumänien. Marburg.

Polenz, Peter von 1979: Fremdwort und Lehnwort sprachwissenschaftlich betrachtet. In: Braun, Peter (Hg.): Fremdwort-Diskussion. München, 9–31.

Reichnitz, Ignác 1896: Magyar szók a hajdú megyei oláhoknál [Ungarische Lehnwörter bei den Rumänen im Komitat Hajdú]. In: Magyar Nyelvõr 25, 300–301.

Weber-Kellermann, Ingeborg (1959) 1978: Zur Frage der interethnischen Beziehungen in der „Sprachinselvolkskunde”. In: Dies. (Hg.): Zur Interethnik: Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen und ihre Nachbarn. Frankfurt am Main, 125–149.

Weber-Kellermann, Ingeborg; Schenk, Annemie 1977: Deutsche in Südosteuropa. In: Zeitschrift für Volkskunde, 43–59.

Weber-Kellermann, Ingeborg (Hg.) 1978: Zur Interethnik: Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen und ihre Nachbarn. Frankfurt am Main.

Weidlein, Johann 1961: Deutsch-ungarische Kulturbeziehungen im Spiegel der Sprache. In: Südostdeutsches Archiv 3, 197–201.

Weidlein, Johann 1962: Zur Frage der ungarischen Lehnwörter in den donauschwäbischen Mundarten. In: Donauschwäbisches Archiv 5, 178–183.

Wiesinger, Peter 1983: Deutsche Dialektgebiete außerhalb des deutschen Sprachgebietes: Mittel-, Südost- und Osteuropa. In: Besch, Werner [u.a.] (Hg.): Dialektologie: Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin/New York. Bd. 2 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 1.2.), 900–930.

Begegnungen14_David

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:73–87.

ÁGNES DÁVID

Englische Elemente in der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache

Soziolinguistische Ergebnisse einer korpusbasierten Analyse

 

1. Vorbemerkungen

Die deutsche Sprachgemeinschaft erlebt seit über 50 Jahren eine durchaus progressive Phase des deutsch-englischen Sprachkontakts. Der Anfang dieser Progression ist auf die Nachkriegsjahre datiert, als das Angloamerikanische, die Sprache der wirtschaftlich, politisch-ideologisch und kulturell für Westeuropa ausschlaggebenden Großmacht Vereinigte Staaten immer stärkere Akzeptanz in der Sprachverwendung des deutschsprachigen europäischen Raumes erfuhr. Obwohl dieser Prozess weder in der Geschichte des Deutschen, noch in der parallelen Sprachentwicklung des europäischen Sprachraumes etwas Einmaliges darstellt, sorgte und sorgt er im traditionell monolingualen (geteilten bzw. wiedervereinigten) Deutschland bis heute für Furore. Pate für diese Spracheinstellung stand ein recht verzweigter Ursachen-Komplex, von dessen Komponenten hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, folgende hervorgehoben werden sollen: a) die Rivalität der Weltsprachen Deutsch und Englisch1, aus der das Englische als Lingua franca des ausgehenden 20. Jh. hervorging; b) die von Zeit zu Zeit in der öffentlichen wie auch in der wissenschaftlichen Sprachbetrachtung aufkommende, teils puristisch-nationalistisch gefärbte Befürchtung des Sprachverfalls2 ; c) die lange Zeit vornehmlich historisch-etymologische Prägung der deutschen Sprachwissenschaft, innerhalb derer eine neue Generation erst in den 60er Jahren eine Lanze für die synchronische Untersuchung der Gegenwartssprache brach und u. a. auch die Fremdwort-Lehnwort-Problematik ins modernere Licht rückte (den Auftakt dazu bildete von Polenz (1967)); und nicht zuletzt d) die monolinguale Fixierung der deutschen Linguistik, die zur Folge hatte, dass Ergebnisse kontaktlinguistischer Untersuchungen, die seit den 50er Jahren in verschiedenen bilingualen Sprechgemeinschaften der Welt durchgeführt worden sind, in Deutschland so gut wie unreflektiert blieben und erst seit etwa zehn Jahren ansatzweise Eingang in die Analyse des Deutschen im Kontakt mit anderen Sprachen gefunden haben (Pfaff 1991; Pütz 1994; Androutsoupoulos 1998). Angesichts obiger Tatsachen erfüllen synchrone, empirische Untersuchungen des Deutschen im Kontakt mit anderen Sprachen trotz des in der Öffentlichkeit abgedroschenen Themas „sprachlicher Einfluss” in wissenschaftlicher Hinsicht eine wichtige Funktion, indem sie zur Deckung eines Nachholbedarfs an Arbeiten beizutragen vermögen, die Sprachwirklichkeit unter dem Aspekt des Sprachkontakts möglichst unvoreingenommen präsentieren.

 

2. Beschreibung der eigenen empirischen Untersuchung

Im Interesse des zuletzt erwähnten Zieles wurde auch die vorzustellende Analyse eines Teilbereichs der gesprochenen deutschen Sprache durchgeführt. Der gewählte Untersuchungsrahmen dient u.a. dem Zweck, auf sprachkontakttypische Erscheinungen innerhalb des „Mediendeutsch” detaillierter einzugehen. Das Korpus bilden 150 auf Video aufgezeichnete Talkshowsendungen aus dem deutschen Fernsehen, von denen demnächst das Sprachmaterial der ersten 100 Einheiten ausgewertet wird. Die Idee zur Untersuchung des Anglizismengebrauchs3 in deutschen Talkshows wurzelt in der Annahme, dass gewisse Typen dieses kommerziellen Genres einen geeigneten Querschnitt des gesprochenen Standarddeutsch bieten, um bei der Analyse ihres sprachlichen Materials über die Ermittlung spezifischer Eigenschaften des „Mediendeutsch” hinaus auch auf allgemeine gemeinsprachliche Charakteristika schließen zu können, von denen hier soziologische Komponenten des Anglizismengebrauchs in den Mittelpunkt gestellt werden. Darüber hinaus werden in diesem Rahmen die Ergebnisse nach Möglichkeit mit den Angaben der ebenfalls das Fernsehdeutsch untersuchenden 18-stündigen Erhebung von Glahn (2000) verglichen, sofern es die unterschiedlichen Forschungsinteressen zulassen.

Für die Untersuchung wurden zwei Showtypen ausgewählt. Die größere Gruppe bilden 82 sog. Laien-Talkshows (Steinbrecher & Weiske [1992]), die von den Privatsendern RTL und SAT1 zwischen 30. 09. 1996 – 8. 10. 1998 ausgestrahlt wurden (bei RTL moderiert von Ilona Christen, Hans Meiser und Bärbel Schäfer, in SAT1 von Johannes Kerner/Jörg Pilawa und Sonja Zietlow). Alle sind rund einstündige Sendungen, die ohne Werbeblöcke 45 Minuten moderiertes Studiogespräch über ein im Voraus bestimmtes Thema mit 6–10 Podiumsgästen und einigen Wortmeldungen aus dem Studio-publikum enthalten. (Podiumsgäste und Teilnehmer aus dem Studio-publikum werden im Weiteren „Medienlaien” genannt.) Die angesprochenen Themen sind in ihrer Alltäglichkeit nicht zu überbieten (Partnersuche, problematische Familienverhältnisse, Karriere, Arbeitslosigkeit, besondere Hobbys, Übergewicht, merkwürdige Ess-, Trink- und Liebesgewohnheiten etc.), so dass sie unabhängig von Bildungsniveau und sozialem Status der Teilnehmer keinen an der Meinungsäußerung hindern – vorausgesetzt, dass die Teilnehmer keine Hemmungen haben, über ihr Privatleben vor der breiten Öffentlichkeit zu sprechen.

Die andere Gruppe besteht aus im gleichen Zeitraum in SAT1 ausgestrahlten 18 Sendungen der Harald-Schmidt-Show.4 Sie können in gewisser Hinsicht als Kontrollgruppe zu den Laien-Talkshows betrachtet werden, da in diesen – ohne Werbung – ebenfalls 45-minütigen Sendungen neben dem Entertainer Schmidt nur Medienprofis auftreten, mit denen er im zweiten Teil der Sendung zwei Interviews führt. Seine Gäste sind lauter Prominente aus der Showbranche, Schauspieler, Journalisten, Pop- und Rockmusiker usw., die ganz bewusst mit dem Medium Sprache umgehen. Obwohl die Gespräche in erster Linie Werbezwecken dienen, und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Neuerscheinungen (Bücher, CDs), Fernsehsendungen, Filme und Konzerte lenken wollen, treten Imagearbeit (im Sinne von Holly (1979)) und verbale Prestige-Duelle zwischen Moderator und Gast/Gästen deutlich in Erscheinung, was sich auch im häufigen Gebrauch von Anglizismen niederschlägt.

Die Auswahl der Sendungen erfolgte nach dem Zufallsprinzip, wobei die rund hundert Aufzeichnungen (gemessen an der für die Arbeit vorgesehenen Zeit) in den möglichst größten Zeitabständen aufeinander folgend, in vier Etappen stattfanden: Im Herbst 1996, im Frühling 1997, im Winter 1997/98 und im Herbst 1998. Bei der Untersuchung des Anglizismengebrauchs im ersten, 45 Stunden langen Teil des Korpus wurde folgendes Raster verwendet:

a) Der ohnehin viel zu weit gefasste Begriff „Anglizismus” wurde auf Ein- und Mehrworteinheiten evident englischen Ursprungs reduziert, d. h. auf solche Sprachdaten, die wenigstens ein im Englischen ebenfalls existentes lexikalisches Morphem enthalten. Ausgeklammert wurde durch diesen Schritt zum einen fast gänzlich das breite Feld des sog. „latenten Lehnguts”, das zwar nach englischem Muster, jedoch mit deutschen Lexemen gebildet wird, zum anderen die auf die Interferenz des Englischen zurückzuführenden, morphosyntaktischen Erscheinungen im Deutschen, pauschal formuliert: solche deutschen Sprachelemente, die in Analogie zum Englischen verwendet werden (Kalter Krieg, Erdnussbutter, Pille für die Frau bzw. Sinn machen, in 2001, mehr und mehr usw.). Diese Entscheidung will keineswegs die Berechtigung der im engeren Sinne genommenen Transferenz- und Interferenzforschung in Frage stellen. Sie wurde viel eher im Interesse des Operationalisierbarkeitsprinzips getroffen, das im Bereich der Lehnprägungen bzw. der Grammatik wegen Mangel an zuverlässigen Kriterien mehr als erwünscht von Vermutungen und Annahmen abgelöst wird.

b) Unbeachtet blieb bei der Auszählung eine verhältnismäßig große Zahl von Lexemen englischer Herkunft innerhalb der evidenten Anglizismen, bei denen allein aufgrund des sozialen Integrationsfaktors (hohe Frequenz und allgemeine Verbreitung) über eine bereits erfolgte Eingliederung ins Deutsche gesprochen werden kann. Diese Art Eingliederung fällt nicht immer mit dem vollständigen Grad der sprachlichen Integration (dem herkömmlichen Lehnwortstatus) zusammen. Lexeme wie Computer, Videorecorder, Fan, sexy usw. unterscheiden sich zwar von den auf allen sprachlichen Ebenen integrierten Lehnwörtern wie antörnen, bluffen, Film, Partner, Sport, Reporter, Tipp, Trend und tricksen, trotzdem werden sie unsererseits nicht mehr als markierte Einheiten des deutschen Lexikons betrachtet (vgl. Eisenberg & Baurmann (1984) u. Eisenberg (2001)). Solche Lexeme wurden in die Datensammlung nur in der Hoffnung aufgenommen, dass ihre Wortformen im Laufe der Untersuchungszeit neue Integrations-merkmale aufweisen werden. Für frequentiell nicht genau erfasste Sprachdaten wurde die Kennzeichnung [Computer] eingeführt. Nicht uninteressant scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass das Gros dieser Lexeme zu den Internationalismen gehört.

Ebenfalls ausgegrenzt wurden Eigennamen jedweder Art (bis auf appellativierte), Warenbezeichnungen, Titel von Büchern, Platten, Filmen, Veranstaltungen, Institutionen und Organisationen, sowie jegliche Zitate aus diesen mit Prowort-Charakter (Johannes Big Kerner, Rocky Horror Picture Show, The mans world, Take the money and run, Christopher-Street-Day, Love Parade, Cola light, Extasy). Ungeachtet blieben auch Initialwörter, unabhängig davon, ob sie analytisch oder synthetisch artikuliert werden (Dink („double income, no kids“), WAP, AIDS, PR), des Weiteren Komposita oder Mehrworteinheiten, die Initialwörter enthalten (ATP-Weltmeisterschaft, Kanzler Records, PR-Tour, Welt-Dart-Verband etc.). Ein generelles Kriterium für die Aufnahme war, dass die Sprachdaten in keiner schriftlichen Form von dem Zuschauer mitgelesen werden können, indem sie als Aufschrift oder als Einblende auf dem Bildschirm erscheinen.

c) Das Analyseraster arbeitet mit einer modifizierten Version der Type-Token-Relation. Tokens referieren nicht, wie in der Sprachstatistik üblich, über das Gesamtvorkommen der einzelnen Types, sondern sie geben Auskunft nur darüber, in wie vielen Korpuseinheiten ein Type (wenigstens einmal) vorkam. Registriert wurde immer das erste Vorkommen eines Belegs in der jeweiligen Sendung. Eventuell weitere Vorkommen desselben Types, bei denen formal-semantische Unterschiede festzustellen waren, wurden zwar für die sprachliche Analyse festgehalten, statistisch gesehen galten sie jedoch nicht als neue Tokens. Der maximale Token-Wert liegt demgemäß in diesem Ausschnitt der Untersuchung bei 100. Ein Token-Wert von 10 bedeutet also, dass der Type in zehn Sendungen registriert wurde, ohne Kennzeichnung dessen, wie oft es zu seiner wiederholten Erwähnung innerhalb derselben Sendung kam. Stichprobenartigen Auszählungen nach (im Fall von fünf Sendungen) verringerte diese statistische Modifizierung die Tokenwerte etwa um ein Drittel im Durchschnitt. Da jedoch die Token-Angaben quantitativ systematisch verringert wurden, erweisen sie sich bei unversehrter, vollständiger Typerfassung für die linguistische Analyse immer noch als aussagekräftig genug.

d) Die Auswertung des Sprachmaterials erfolgte anhand der Videoauf-nahmen. Die Belege wurden mit Minimalkontext aufgezeichnet, was überwiegend in der schriftlichen Festhaltung des vollständigen Satzes bestand. In manchen Fällen war es nötig, auch kürzere Gesprächssequenzen aufzuzeichnen, um den kontextuellen Zusammenhang zu verdeutlichen. Die Überprüfung der Belegerfassung auf Vollständigkeit bei zehn Sendungen ergab, dass für das Gesamtkorpus hochgerechnet eine über 95-prozentige Genauigkeit in der Datenerfassung gilt.

e) Zur schriftlichen Fassung des mündlichen Materials wurde die literarische Transkription gewählt. Diese Methode verlangt viele formal-orthographische Entscheidungen, die teilweise instinktiv getroffen werden müssen (Zusammen- und Getrennt-, Groß- und Kleinschreibung, Verwendung von Bindestrichen, die Wiedergabe/Nicht-Wiedergabe von deutlichen phonetischen Abweichungen im Vergleich zur englischen Aussprache usw.). Als Stütze in dieser Hinsicht dienten die Eintragungen des „Duden Deutschen Universalwörterbuches 2001“, weil es bestrebt ist, eine „aktuelle, umfassende, objektive und zuverlässige Darstellung der deutschen Sprache an der Jahrtausendwende“ (Duden 2001: Vorwort, o. S.) zu geben, und in diesem Sinne auch die semantisch-morphologische Entwicklung des Zeitraumes referiert, den das Sprachmaterial des Talkshowkorpus erfasst.

 

Ergebnisse der Analyse

Bei der nach obigen Kriterien erfolgten Auswertung des 75-stündigen Materials von den 100 Talkshow-Sendungen wurden 724 evidente Anglizismenbelege registriert, die insgesamt 1.304 Mal als ‘limitierte’ Tokens (weil auf einen Maximalwert von je 100 beschränkt) realisiert vorkamen. Dies bedeutet, dass alle 6,2 Minuten ein neuer Type bzw. alle 3,45 Minuten einer von den 724 registrierten Anglizismen erwähnt wurde. Der statistische Type-Durchschnitt, etwa sieben Anglizismen pro Sendung, ergibt sich aus folgender Verteilung: 19 Sendungen enthalten 5 oder weniger Types, 6–10 Types kommen in 35, 11–20 Types in 28 Talkshows vor. Bei 10 Prozent der Sendungen gibt es Typewerte von 21–30, und in den restlichen acht Sendungen lag die Zahl der Types zwischen 31 und 48.

 

Zahl der Types

Sendungen in %

1–5
6–10

19
35

11–20

28

21–30

10

31–40
41–

5
3

Tabelle 1: Types pro Sendung.

 

Die Themen der Talkshows stehen mit der Anglizismenfrequenz in einem interessanten Zusammenhang. Bekanntlich gibt es Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sprachlich besonders „anglizismenfreundlich" sind, wie Sport, Mode, Informationstechnik, Unterhaltungsindustrie (Film- und Musikbranche, Fernsehen), sowie gewisse Wirtschaftsbereiche (vor allem Werbung, Marketing und Unternehmensführung) und Presse. Für die Sendungen, die thematisch den einen oder anderen Teilbereich berühren, ist meistens der Einbezug der betroffenen anglizismenträchtigen Sondersprache charakteristisch, was zur Frequenzsteigerung englischer Ausdrücke auch in gemeinsprachlicher Kommunikation führt. Tabelle 1a illustriert diesen Zusammenhang durch die Anordnung der Talkshowthemen zu den jeweiligen Pro-Sendung-Typewerten:

 

Zahl der Types

Thema der Sendung

1–10

„Tiere sind meine besten Freunde“/„Fette Tiere“
„In meinem Hause spukt’s!“/„Und es gibt sie doch. Unerklärliche Phänomene“
„Ich muss mich über Leben und Tod entscheiden“/„Begegnung mit dem Tod“/„Männer sind die besseren Mütter“
„Vom Frauenhaus zurück zu ihm“
„Raucher raus!“/„Ich hasse Nichtraucher“
„Schwarzarbeit“
„Ich liebe Dich, heute sag ich’s Dir“/„Liebe in Deinem Alter? Schäm Dich!“
„Traumpartner“/„Kontaktanzeigen: Liebe auf den ersten Blick“

11–20

Bärbel sucht für dich den Richtigen/„die Richtige“/„Meine Tochter ist noch zu haben!“
„Vergiss das Kleid – dafür bist du zu dick“
„Meine Serie ist schöner als mein Leben“
„Extremsport – Hör auf damit, ich habe Angst um Dich!”/„Wilde Eltern, brave Kinder“/„Ich schleppe gern Männer ab!“
„Karrierefrauen – erfolgreich ohne Penis“/„Chefs, die zu sehr lieben“

21–30

„Heiße Südländer wollen sich verlieben“/„Deutsche Verkäufer sind doch das Letzte“
„Twiggy – das Schönheitsideal der 90er?“

31–40
41–

„Ich will vor die Kamera. Fernsehstars gesucht“

Tabelle 1a: Talkshowthemen und Anglizismenfrequenz.

 

Die kleine, proportionale Verhältnisse aber durchaus beachtende Kostprobe an Talkshowthemen, verbunden mit der Zahl der innerhalb der Sendung belegten Types untermauert meiner Meinung nach den angesprochenen Zusammenhang recht deutlich. In der ersten Kategorie mit dem niedrigsten Typewert ist keiner der überdurchschnittlich anglizismenträchtigen Bereiche vertreten. Typisch für das Gros der Themen in dieser Kategorie sind die starke emotionale Betroffenheit der Gesprächsteilnehmer und die betont affektive Prägung, die auch in der Formulierung der Sendungstitel zum Ausdruck gebracht wird. Das an letzter Stelle angeführte, im Korpus häufig vorkommende Thema Partnersuche hat jedoch einen Doppelcharakter: Einerseits ist es stark emotional geladen (Liebe, Ehe usw.), andererseits funktionieren Sendungen mit diesem Thema auch als eine Art „Homeshopping" – mit dem Unterschied, dass dabei statt zu erwerbender Waren zu umwerbende Personen präsentiert werden. Das Schlüsselwort Werbung überführt in die zweite Kategorie, in der schon einige anglizismenträchtige Themen (Werbung, Mode, Fernsehunterhaltung, Unternehmensleitung) erscheinen, die eine Frequenzsteigerung der Anglizismen in den Talkshows bewirken. Unter den 18 Sendungen, die in die letzten beiden Kategorien mit den höchsten Typewerten gehören, sind 14 Harald-Schmidt-Shows zu finden. Abgesehen von teilweise bereits erwähnten Merkmalen, die diesen Showtyp von den Laientalkshows unterscheiden, trägt zur überdurchschnittlich hohen Zahl der Anglizismen-Types auch die Tatsache bei, dass der monologische Teil der Show überwiegend aus Kommentaren des Moderators zu Nachrichten und Pressemeldungen besteht, wodurch einer der markierten sprachlichen Bereiche – die Pressesprache – auch in die Harald-Schmidt-Shows Einzug hält. Die vier Sendungsthemen in der letzten Kategorie, bei denen die höchste Anglizismendichte zu beobachten war, sind Partnersuche, Service im Handel, Mode und Fernsehunterhaltung.

Auch bezüglich der Tokens erweist die Kontrollgruppe der Harald-Schmidt-Shows höhere Werte. Laientalkshows und Kontrollgruppe stehen zueinander in einem Verhältnis 10:26 Tokens pro Sendung. Da in der Harald-Schmidt-Show nur Medienprofis auftreten, kann vermutet werden, dass sie deutlich mehr Anglizismen benutzen als Alltagsleute bei ihren Talkshow-Auftritten – Prestigearbeit und Imagepflege gehen demzufolge auch mit der Frequenzsteigerung von Elementen des heute als Prestigesprache geltenden Englischen einher. Um diese Behauptung nuancieren zu können, ordnen wir nun die 1.304 Tokens danach, ob der Datenvermittler Medienlaie oder Profi war.

 

Laien-Talkshow 831

Harald-Schmidt-Show 473

ModeratorInnen (5)    317
Gäste                     514
davon Medienprofis   26

Moderator                  401
Gäste                          72

Tabelle 2: Tokens insgesamt in den beiden Talkshow-Gruppen.

 

Die Teilstatistik zeigt, dass die Laien-Talkshows 64 % und die Schmidtsche Kombination von One-Man-Show und Prominenten-Show 36 % der Gesamtbelege lieferten. Die mit Abstand meisten Belege stammen vom Moderator Harald Schmidt selbst (etwa 30 % aller Tokens). In der ersten Gruppe haben Moderatoren und Moderatorinnen bzw. die Medienprofis unter den eingeladenen Studiogästen 38 % der Anglizismen als erste im Laufe der Sendung erwähnt, in der zweiten Gruppe stammen alle Belege von Medienprofis. Im Endergebnis bedeutet dies, dass nur 37 % der Gesamtbelege von der um ein Vielfaches größeren Gruppe der Medienlaien in die Diskussion einbezogen wurden.

Da die Talkshows in Form von Bildschirmaufschriften dem Zuschauer auch zusätzliche Informationen über die Gäste vermitteln, war es oft möglich gewesen, Alter und Beruf der Podiumsgäste zu erfahren. Bei sich spontan zu Wort meldenden Gästen konnten diese Daten nur eingeschätzt oder anhand indirekter Informationen festgelegt werden. Tabelle 3 zeigt, wie sich die 488 von Medienlaien stammenden Anglizismen-Belege auf Altersgruppen und Geschlechter verteilt haben.

Altersgruppe

Tokens (insg. 488)

 

Frau

Mann

Gr. 1: unter 20

37

31

Gr. 2: 21–40

117

167

Gr. 3: 41–60

42

73

Gr. 4: über 60

7

9

Tabelle 3: Tokens nach Altersgruppen5.

 

Obige Angaben legen die Vermutung nahe, dass Männer bis auf die Altersgruppe der Jugendlichen häufiger Anglizismen verwenden würden als Frauen – bei Männern liegt ja die Gesamtzahl der Belege um etwa 16 % höher. Das Ergebnis relativiert jedoch, dass die Zahl der insgesamt zu Wort gekommenen Personen (inklusive derjenigen, die keine oder nur innerhalb der jeweiligen Sendung bereits registrierte Anglizismen benutzt haben) weder nach Alter noch nach Geschlecht notiert wurde. Es ist demzufolge nicht auszuschließen, dass die angeführten Angaben schlichtweg mit der statistischen alters- und geschlechtsmäßigen Repräsentanz der sich Äußernden zusammenfallen, d.h., dass die meisten bzw. die wenigsten Anglizismen deswegen junge erwachsene Männer bzw. ältere Damen gebraucht haben, weil diese beiden Gruppen unter den Gesprächspartnern verhältnismäßig über- bzw. unterrepräsentiert waren.

Ein in den bisherigen Korpusanalysen noch nicht ermitteltes Ergebnis brachte die Auszählung, welchen Anteil diejenigen Anglizismen an den Gesamtbelegen haben, die nur oder durchaus überwiegend in Äußerungen von Medienprofis vorkamen.6 Beinahe ein Drittel der Types (190 von 724 Belegen) gehören hierher. Die untenstehende Zusammenfassung stellt dar, wie sich dieser Belegbereich zusammensetzt.

Die Angaben sind folgenderweise geordnet: Die erste Spalte enthält einige Beispiele für den Belegtyp, die Spalte „Zahl der Personen“ gibt Auskunft darüber, wie viele Datenvermittler das jeweilige englische Sprachelement benutzt haben bzw. die Spalte „wiederholtes Vorkommen“ gibt an, wie oft dieses Element als Ersterwähnung innerhalb der 100 Sendungen vorkommt, also in wie vielen Sendungen präsent war. Dementsprechend wurde z. B. Happyend nur von einer Person und in einer Sendung benutzt. Solche Types gibt es 131 im Korpus (s. Spalte 4), die logischerweise genauso viele Tokens ausmachen (s. Spalte 5). Die zweite Zeile benennt Beispiele für Belege, die von nur einem Medienprofi, jedoch öfter, zwei bis sieben Mal verwendet wurden. Beispiele wie President oder Groupie in der dritten Zeile sind – wie Belegtyp 1 – von je einer Person und nur einmal erwähnt worden, die Zahl der Datenvermittler beträgt jedoch insgesamt zwei oder drei. Die vierte Zeile informiert über die frequentesten Anglizismen unter den Medienprofis, von denen z. B. Hit und Boygroup von zwei Personen in vier Talkshows, Fan (exkl. Komposita) aber von sechs Medienprofis in 17 Sendungen benutzt wurden.

Bei der Interpretation der Angaben ist es wichtig, zu betonen, dass sie höchstens ausreichen, um Tendenzen abzustecken, und keineswegs zu unbegründeter Verallgemeinerung verlocken dürfen. Angesichts der Tatsache, dass die in die Analyse einbezogenen 100 Sendungen nur einen Bruchteil (2 Prozent) der in der gleichen Periode in RTL und SAT1 ausgestrahlten Talkshows ausmachen, kann ja auch ein noch so umfangreiches Korpus nicht als repräsentativ gelten. Tabelle 4 erfasst eigentlich den Teil der Anglizismen, der mit gewissen Einschränkungen in den passiven Wortschatzbereich des Alltagssprechers gehört und 26 % der Gesamtbelege betrifft. In Wirklichkeit mag dieser Anteil niedriger ausfallen, da die korpusspezifische Erhebungsmethode nur auf die Ersterwähnungen innerhalb der 100 Einheiten abgezielt war. Es lässt sich anhand dieser Erhebung nicht nachvollziehen, ob und wie in den weiteren Verlauf der Diskussion diese englischen Elemente von den Studiogästen eingebaut wurden. Auch unter den als Beispiel zitierten Belegen gibt es solche, über die schwer zu vermuten ist, dass sie von Medienlaien nicht aktiv verwendet werden (Cowboy, Hit, Softie etc.). Andererseits kann aber auch nicht genau bestimmt werden, inwiefern dieser 26-prozentige Anteil von den Studiogästen und dem -publikum tatsächlich auch passiv beherrscht wird. Aufgrund indirekter Hinweise (Missverständnisse, hinzugefügte Erklärungen, Rückfragen, Falschverwendungen usw., auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird) kann man mit Sicherheit darauf schließen, dass auch in den Allerwelt-Talkshows nicht alle von Medienprofis gebrauchten Anglizismen „ankommen“. Der korpusspezifisch hohe Wert von 26 % der nur von Medienprofis gebrauchten Anglizismen mag zwar bei der herkömmlichen Token-Erhebung etwas niedriger ausfallen, er vermittelt relational doch zuverlässig die hohe Zahl von Anglizismen, mit denen Medienleute durchs Fernsehen die Gemeinsprache überschütten. Die hier nicht besprochene Analyse der weiteren 50 Sendungen aus dem Jahr 1999 bestätigt, dass etwa 5 % der „Fernsehanglizismen“, d. h. derjenigen Ausdrücke, die in den ersten zwei Dritteln des Korpus nur im Sprachgebrauch von Medienprofis aufgetaucht sind, im chronologisch gesehen letzten Drittel auch schon durch Talkshowgäste als Ersterwähner in die Gespräche einbezogen werden.

Bei der sprachsoziologischen Betrachtung des Korpus muss im Weiteren unbedingt auch der oft zu Unrecht vernachlässigte Aspekt der Einsprachigkeit/Mehrsprachigkeit Beachtung finden. Auch wenn Verfasser von Korpusanalysen in der Praxis dazu neigen, sprachkontaktbasierte Belege in mehrsprachigen Sprechgemeinschaften als Ergebnisse von Codeswitching und die gleichen oder ähnliche Belege in einsprachigen Gemeinschaften als Produkte der sprachlichen Entlehnung zu präsentieren, wäre es m. E. durchaus verfehlt, sich dieser Vereinfachung anzuschließen. Anhand des Talkshow-Korpus kann mehrfach nachgewiesen werden, dass bilinguale Sprecher – in unserem Fall also solche, die sowohl zur einsprachig deutschen als auch zur einsprachig englischen Kommunikation fähig sind – teilweise anders mit Anglizismen umgehen als einsprachige Sprachteilhaber. Zunächst sei hier auf die oben geschilderten Unterschiede zwischen Medienlaien und Medienprofis verwiesen. Bei den Starmoderatoren der ausgewählten RTL- und SAT1-Sendungen können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Gesprächsleiter kompetente Sprecher des Englischen sind, die den Vorteil, dass sie der Prestigesprache Englisch mächtig sind, in der Image-Arbeit nutzen. Wie bereits festgestellt, kamen 63 % aller Tokens in „professionellen“ Erstverwendungen vor, von denen 26 % nur von den Medienprofis gebraucht wurden. Die Zahl derjenigen Types jedoch, die innerhalb dieser 26 % eine Art Branchenjargon (spezielle Ausdrücke in Fernsehshows, bzw. in der Film- und Musikszene) repräsentieren (z. B. Telepromter, Backstage, Spot, Casting oder Cliffhanger), beträgt nur etwa 25, nach Tokens gerechnet 54, was relativ niedrigen prozentualen Werten entspricht:

 

Bereich

Types

Tokens

Medien-Anglizismen

13 %

16 %

Gesamtkorpus

4 %

4 %

Tabelle 5: Branchenjargon (nur von Medienprofis gebraucht).

 

Diese Auszählungswerte lassen darauf schließen, dass (höchstwahrscheinlich) bilinguale Medienleute wesentlich mehr solche Anglizismen verwenden, die in der Quellsprache gemeinsprachlichen Charakter haben, da der Anteil an Branchenjargon-Elementen sowohl innerhalb der nur von Medienprofis benutzten Anglizismen als auch hinsichtlich der Gesamtbelege überraschend niedrig ausfällt. Dass es so ist, ist sicherlich kein Zufall: Moderatoren, die sorgfältig darauf zu achten haben, dass sie Erklärungen zu den von ihren Gästen verwendeten, nicht geläufigen Anglizismen hinzufügen, dürfen wahrscheinlich auch selbst ihren Branchenjargon nur geringfügig einsetzen. Leider kann bezüglich der Mehrsprachigkeit von Talkshow-Gästen und Studiopublikum nur in Einzelfällen Sicheres ausgesagt werden, was eine vergleichende Untersuchung des ein- und mehrsprachigen Anglizismengebrauchs unter ihnen in den Bereich der vagen Vermutungen überführen würde.

Konkrete Angaben gewinnen wir jedoch durch die Analyse der sozialen Akzeptanz der Anglizismenbelege. Gestützt auf die Annahme, dass die zeitgemäße Lexikographie bei der Lemmaauswahl unbedingt auch Frequenz und Verbreitung der jeweiligen Ein- und Mehrworteinheiten innerhalb des gegenwartssprachlichen Lexikons in Erwägung zieht, haben wir uns bei der Analyse der sozialen Akzeptanz auf die Einträge einsprachiger deutscher Allgemeinwörterbücher verlassen. Als Maßstab diente im ersten Schritt – über die nachfolgenden wird an dieser Stelle nicht berichtet – das „Deutsche Wörterbuch“ von Wahrig (19863/1987), mit dessen Lemmabestand die Talkshow-Belege verglichen wurden, um festzustellen, welche Anglizismen bereits zehn Jahre zuvor Eingang in die Gemeinsprache gefunden haben und zu Beginn der Korpussammlung schon als sozial integriert betrachtet werden können. Die Analyse ergab, dass 233 Types des Korpus (32 %) im „Wahrig“ registriert sind. Dieses Ergebnis bedeutet jedoch keineswegs, dass die übrigen 68 % der Anglizismen-Types Neologismen im Gegenwartsdeutsch wären. Einen beträchtlichen Teil von ihnen bilden Mischkomposita, bei denen der als Grundwort oder Bestimmungswort fungierende Anglizismus oft als Lemma vorhanden ist, nicht jedoch in allen im Korpus belegten Zusammensetzungen ins Wörterbuch aufgenommen wurde. Fan z. B. ist im „Wahrig“ registriert, wie auch das Kompositum Fanklub, nicht aber Fußball-, Motorrad-, Motorsport-, Handy-, Hunde-, Internet- und Apotheken-Fan bzw. Fan-Post, Fan-Schal, Fan-Dasein und Fan-Bereich. Viele dieser Komposita sind Ad-hoc-Bildungen, die starke Kontextbezogenheit aufweisen und die in der allgemeinen lexikographischen Praxis schon aus diesem Grund generell nicht erfasst werden. Andererseits aber, wenn wir in Erwägung ziehen, dass 29 von den 233 Types (12,4 %) eine Bedeutungsveränderung – im Allgemeinen eine semantische Erweiterung – im Vergleich zu den kodifizierten Sememen erfahren haben (Bingo, cool, Fan, fit, First Lady etc.) schrumpft der Anteil der kodifizierten Korpus-Belege auf 28 %.

Bei der getrennten Betrachtung der nur von Medienprofis verwendeten Anglizismen, die sich auf 26 % der Gesamtbelegzahl belaufen, ergab sich ein Kodifizierungsgrad von 37 % (71 von 190 Types kommen im „Wahrig" registriert vor). Der prozentuale Anteil der kodifizierten Belege sinkt aber auf ca. 30 %, wenn wir auch hier nicht nur die formale Seite, sondern auch die lexikalisierte Bedeutung abwägen; in vielen Fällen spielte sich im Laufe von zehn Jahren auch in dieser Beleggruppe eine Bedeutungserweiterung ab (z. B. bei Charter, Kid, Look, Oldtimer, Rocker, toppen). Aufgrund obiger Angaben kann behauptet werden, dass sich der Anglizismengebrauch der Medienprofis von dem der Medienlaien nach dem generellen Kodifizierungsgrad der Belege nur geringfügig unterscheidet, obwohl bei Mehrsprachigen im Allgemeinen das häufigere Vorkommen von nicht bzw. noch nicht kodifizierten, in ihrer Verwendung jedoch integriert benutzten Äußerungselementen zu erwarten wäre.

Die Zahl der Mehrwortlexeme zeigt in den beiden Gruppen eine wesentlich größere Divergenz. In dieser Hinsicht bedeutet die Abgrenzung von englischsprachigen Ein- und Mehrwortlexemen im Deutschen ein ziemliches Problem, da viele englische Kollokationen infolge der Integrierung als Einwortlexeme im Deutschen benutzt werden. Schriftlich vorhandene Belege spiegeln durch die Wahl einer der möglichen orthographischen Möglichkeiten (Getrennt-, Zusammen-, oder Bindestrichschreibung) in dieser Hinsicht eindeutig die Auffassung des Schreibenden wider, während die diesbezügliche Auffassung des Sprechers bei mündlichen Belegen nicht eindeutig nachvollziehbar ist. Gelten bungee jumping, duty-free shop, First Lady, tracking team usw. im Deutschen als Ein- oder Mehrwortlexeme? Bei der literarischen Transkription des gesprochenen Sprachmaterials richteten wir uns im Fall von kodifizierten Lexemen nach der im „Duden Deutsches Universalwörterbuch“ (2001) angegebenen orthographischen Form, bei nicht kodifizierten Belegen waren die neuen Rechtschreibregeln maßgebend. In nicht eindeutig regulierten Fällen, die mehrere Schreibversionen zulassen, schlossen wir uns der Tendenz der Zusammenschreibung an. Die Einordnung als Ein- oder Mehrwortlexem erfolgte dann nach formalen Kriterien. In diesem Sinn gehören First Lady, American Football, absolutly perfect, Personal Trainer, favorite Star, Training on the job bzw. Präpositional-, Verbal-, Adverbialphrasen und idiomatisierte Wendungen wie not for me, go home, just for fun oder nobody is perfect zu den Mehrwortlexemen, während Super-Latin-Lover, Telefontraining, Cornflakeskrümel, Designerlampe etc. als Einwortlexeme kategorisiert wurden. Die Auszählung der Mehrwortlexeme nach Datenvermittlern ergab, dass der überwiegende Teil – alle bis auf sechs Belege – von Medienprofis gebraucht wurden. Medienlaien neigen durchaus zum Gebrauch von Einworteinheiten, die sie im Deutschen meistens auf der morphosyntaktischen Sprachebene integriert benutzen. Ebenfalls untypisch für Medienlaien ist der Gebrauch von vollständigen englischen Sätzen, es sind höchstens satzwertige Phrasen, die im ersten Teil des Korpus vorkommen. Für die „umgekehrte“ Art von Sprachenmischung in der untersuchten Relation, bei der das Englische die Matrixsprache bildet, in die deutsche Elemente integriert werden, gab es in den ersten 100 Sendungen keine Belege.

Im abschließenden Teil des Beitrags soll ein kurzer Vergleich mit den sprachstatistischen Angaben aus der Analyse von Richard Glahns Arbeit (2000) stehen. Glahn untersuchte ein 18-stündiges Korpus im Bereich des Fernsehdeutsch, das sich nicht auf einen Sendungstyp konzentrierte, sondern innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen (01.09.1998 – 15.10.1998) alle repräsentativen Sendungsarten – Informations-, Kinder- und Musiksendungen, Serien, Sportübertragungen, Talkshows und Werbe-sendungen – im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (ARD, ZDF und SWR) berücksichtigte (Glahn 2000: 18ff). Jede Sendungsart ist dabei gleichmäßig, mit einer Sendezeit von 135 Minuten vertreten. Da Glahn mit der traditionellen Type-Token-Relation arbeitete, weiterhin das durch englische Beeinflussung entstandene evidente und latente ,Lehngut‘ in seine Analyse einbezogen hatte, gibt es – bei der Ausklammerung der systemlinguistischen Merkmale – leider nur einige Stellen, wo man parallele Angaben vergleichen kann.

In Glahns Korpus, das einen repräsentativen Querschnitt der Genres darbietet, kommen insgesamt 629 Types und 1.146 Tokens vor. Davon fallen auf das Genre Talkshow 8,2 % aller Belege, 52 Types bzw. 94 Tokens. Der Anglizismenfrequenz nach stehen die von ihm aufgezeichneten Talkshows im mittleren Bereich, auf dem vierten Platz unter den acht untersuchten Sendebereichen. Vor allem Werbesendungen und Sportübertragungen, aber auch Musik- und Informationssendungen mit politischem und wirtschaftlichem Inhalt weisen eine höhere Anglizismenfrequenz als Talkshows auf. Der dargebotene Untersuchungsausschnitt unseres Talkshow-Korpus steht, zeitlich gesehen, mit dem betreffenden Teil in Glahns Analyse in einem Verhältnis 100:3, Glahns Talkshow-Korpus macht also drei Prozent der hier behandelten Talkshow-Sendezeit aus. (Es gab leider keine näheren Informationen darüber, auf welche Talkshowtypen sich Glahns Angaben konkret beziehen.) Das wichtigste Ergebnis, das meiner Meinung nach auch dieser Vergleich bestätigt, ist, dass sich die Zahl der Types keineswegs exponentiell erhöht. Angesichts des quantitativen Verhältnisses 100:3 zwischen den beiden Korpora wäre es falsch, zu erwarten, dass das große Talkshow-Korpus dem obigen Verhältnis entsprechend mehr, also 1.733 verschiedene Anglizismen enthält. Auch wenn wir Glahns Talkshow-Belegzahl auf die von ihm aufgezeichneten 46 evidenten Anglizismen reduzieren (Glahn 2000: 197f) – die übrigen sechs gehören zu den latenten – kommen wir dem tatsächlichen Typewert auch nicht wesentlich näher: Statt 1.533 verschiedener Anglizismen kommen nämlich im großen Talkshow-Korpus nur 724 Types vor. Der aus der Sprachstatistik bekannte Zusammenhang, dass mit zunehmender Textlänge die Type-Token-Relation sinkt (Glück 1993: 658), beweist das größere Talkshow-Korpus überzeugend: Bei einem 33-fachen Umfang zeigt die Zahl der Anglizismen-Types bloß einen 46,2-prozentigen Anstieg.

Zusammenfassend kann über die Untersuchung des Talkshow-Korpus gesagt werden, dass sprachsoziologische Aspekte einen durchaus wichtigen Teil bei der Auswertung des mündlichen Textmaterials darstellen, und helfen, Erscheinungen in der gesprochenen Gemeinsprache facettenreich zu beschreiben. Bewusst wurde bei dieser kurzen Erörterung ein wichtiger Aspekt der sprachsoziologischen Untersuchung nicht behandelt. Es kam nicht zur Erwähnung, welche pragmatisch-funktionalen Rollen Sprachenmischung bzw. der Gebrauch anderssprachiger Elemente bei der Kommunikation in mono- und bilingualer sprachlicher Umgebung einnehmen können. Die Besprechung dieses Themenkreises benötigt meiner Ansicht nach unbedingt einige kontakttheoretische Klärungen, die den Rahmen dieses Aufsatzes gesprengt hätten.

 

Anmerkungen

1

Diese Bezeichnung wird im Weiteren stellvertretend für alle diatopischen Varietäten des Englischen benutzt.

2

Es soll in diesem Zusammenhang auf eine von Andreas Gardts exzellenten Analysen zum Thema hingewiesen werden (Gardt 2001).

3

Der Begriff „Anglizismus” wird von uns in seiner weitesten Bedeutung benutzt, als (kürzestes) Synonym für englischsprachige lexikalische Elemente, die in deutschen Kontexten gebraucht werden.

4

Im Gesamtkorpus sind alle fünf Laien-Talkshows bzw. auch die Harald-Schmidt-Show mit jeweils 25 Sendungen vertreten.

5

Zu den Angaben der Person der Datenvermittler gab es einen Datenverlust von 0,76 %.

6

D. h. bei Vielfachvorkommen höchstens von 1–2 Personen benutzt, die zu den Medienlaien gehören.

 

Literaturhinweise

Androutsoupoulos, J. K. (1998): Deutsche Jugendsprache: Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt am Main u. a.

Duden Deutsches Universalwörterbuch (20014). Herausgegeben vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim.

Eisenberg, P. (2001): Die grammatische Integration von Fremdwörtern. Was fängt das Deutsche mit seinen Latinismen und Anglizismen an? In: Stickel, G. (Hrsg.) (2001): 183–209.

Eisenberg, P. & Baurmann, J. (1984): Fremdwörter – fremde Wörter. In: Der Deutschunterricht 67 (1984): 15–26.

Gardt, A. (2001): Das Fremde und das Eigene. Versuch einer Systematik des Fremdwortbegriffs in der deutschen Sprachgeschichte. In: Stickel, G. (Hrsg.) (2001): 30–58.

Glahn, R. (2000): Der Einfluss des Englischen auf gesprochene deutsche Gegenwartssprache: eine Analyse öffentlich gesprochener Sprache am Beispiel von „Fernsehdeutsch“. Frankfurt am Main u.a.

Glück, H. (Hrsg.) (1993): Metzler–Lexikon Sprache. Stuttgart/Weimar.

Holly, W. (1979): Imagearbeit in Gesprächen. Tübingen.

Pfaff, C. (1991): Mixing and linguistic convergence in migrant speech communities: Linguistic constraints, social conditions and models of acquisition. In: Network on Code-switching and Language Contact. Papers for the Workshop on Constraints, Conditions and Models. London: 119–153.

Polenz, P. v. (1967): Sprachpurismus und Nationalsozialismus. Die „Fremdwort-Frage gestern und heute. In: Lämmert, E. (Hrsg.): Germanistik – Eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt am Main: 113–165.

Pütz, M. (1994): Sprachökologie und Sprachwechsel: die deutsch–australische Sprechgemeinschaft in Canberra. Frankfurt am Main u. a.

Steinbrecher, M. & Weiske, M. (1992): Die Talkshow. 20 Jahre zwischen Klatsch und News. München.

Stickel, G. (Hrsg.) (2001): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz: aktueller lexikalischer Wandel. Berlin/New York (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2000).

Wahrig, G. (19863): Deutsches Wörterbuch. Neu hrsg. von U. Hermann, R. Wahrig-Burfeind [et al.]. Budapest.

Begegnungen14_Burger

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:61–72.

HARALD BURGER

Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache in den Massenmedien

 

1. „Tendenz” – zur Problematik des Begriffs

In Arbeiten zur Sprache der Massenmedien ist oft die Rede von „Tendenzen” – der Tendenz zu immer mehr Fremdwörtern, zu immer mehr Mündlichkeit, zu immer mehr Boulevardstil, zu immer mehr Phraseologie, in der Schweiz etwa zu immer mehr Mundart, komplementär dazu dann zu immer weniger sprachlicher Sorgfalt im Detail, zu immer weniger Schriftsprachlichkeit usw.

Das scheint mir in vielen Belangen eine kurzsichtige und letztlich verfehlte Optik. Sicherlich gibt es einige Tendenzen, die sich seit Anfang der Massenmedien kontinuierlich durchgehalten haben: Beispielsweise hat sich die Zeitung von einem Medium für sog. „Ganzleser” – die also die Ausgabe von vorne bis hinten lesen und auch lesen müssen, wenn sie voll orientiert sein wollen – zu einem Medium für selektive Leser entwickelt, also Leser, die sich zunächst grob orientieren und dann hier und da den einen Artikel genauer, anderes weniger genau lesen. Doch ist diese Entwicklung wohl am Ende angelangt, darauf komme ich noch zurück. In vielen anderen Hinsichten aber sind die Entwicklungen vor allem in neuerer Zeit eher diskontinuierlich. Ich nenne nur zwei Beispiele, eines aus der Stilistik und eines aus dem Problembereich der Textsorten.

1. In der Werbung, aber nicht nur dort, sondern z. B. auch in informierenden Magazinen des Fernsehens, beobachten wir heute ein Grassieren von Wortspielen, insbesondere mit Phraseologie und Metaphorik (vgl. Hemmi 1994). Ein beliebiges Beispiel mag zur Demonstration genügen:

„Mit dem neuen Passat Variant ziehen Sie den Kürzeren. Denn der Variant ist gegenüber der Limousine um genau 4 Millimeter kürzer. Und hat doch einen Laderaum von 1500 Litern. Und wenn Sie sich jetzt fragen, wie das denn gehe: »Kürzer als eine Limousine und doch so viel Platz«, dann möchten wir Ihnen in Erinnerung rufen, dass es sich beim Passat ja schließlich um einen VW handelt. Und da ist bekanntlich nichts unmöglich. [...] Der neue Passat Variant. Da weiß man, was man hat.”

Hier wird mit dem Idiom den Kürzeren ziehen (‘benachteiligt werden, unterliegen’ nach Duden 11) gespielt, das in der phraseologischen Lesart eigentlich negativ konnotiert ist, hier aber wörtlich genommen und positiv umgedeutet wird.

In ihrer für die Sprache der Werbung in Deutschland bahnbrechenden Studie „Die Sprache der Anzeigenwerbung” von 1968 schreibt Ruth Römer noch: „Wortspiele kommen vor, sind aber nicht sehr häufig.” (Römer 1968, 197.)

Wenn man nur die Daten vom Anfang der 60er Jahre und diejenigen der 90er Jahre nimmt, gewinnt man den Eindruck, es handle sich um einen linearen Anstieg der Sprachspiele. Dem ist aber nicht so, wie Bass (2000)1 an Werbeanzeigen seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts quantitativ gezeigt hat. So weist die Dichte der Phraseologismen Spitzenwerte Ende der 40er und der 80er Jahre auf, und die Zahl der modifizierten, d. h. vor allem sprachspielerisch verwendeten Phraseologismen – wie im obigen Beispiel – ist bereits in den 30er und 40er Jahren erstaunlich hoch, sinkt dann wieder ab und erreicht in den 80er und 90er Jahren neue Höchstwerte.

2. Das zweite Beispiel betrifft das Textsortenensemble (im journalistischen Sprachgebrauch „Format”) Fernsehnachrichten mit seinen unterschiedlichen Konstellationen von Textsorten wie Sprechermeldung, Interview, Reportage usw2. In den siebziger und achtziger Jahren hatte man den Eindruck, dass sich die Formate der Fernsehnachrichten immer stärker in Richtung auf den amerikanischen Typ der „Newsshow” hin entwickeln würden, vor allem bei den privaten, aber partiell auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Newsshow bedeutet: Mehrfachmoderation mit gewollt witzigem Geplänkel zwischen den Moderatoren, Absenkung des Stilniveaus auf eine sehr saloppe Ebene, in thematischer Hinsicht zunehmende Wichtigkeit von „soft news” (Gesellschaftsklatsch) und „spot news” (Unglücke, Verbrechen). Dieser Trend ist eindeutig gebrochen. In den letzten Jahren sind mehrere Nachrichtensendungen, die man mit einem solchen Konzept aufgebaut hatte, wieder abgesetzt worden, und heute haben wir eine Palette von Angeboten, auf der zwischen den Polen RTL Aktuell und ARD Tagesschau alles Mögliche vorkommt, aber nichts wirklich dominant geworden ist; die geradezu asketische ARD Tagesschau ist immer noch die erfolgreichste Nachrichtensendung in Deutschland.

Unter dem Vorbehalt, dass es sich bei Tendenzen der Mediensprache offenbar um relativ kurzfristige Erscheinungen handelt, möchte ich im Folgenden einige Tendenzen skizzieren, die sich heutzutage relativ deutlich abzeichnen und die sich in unterschiedlichen Stadien befinden. Dabei stehen weniger die Bereiche Wortschatz und Syntax im Vordergrund, sondern eher großräumigere sprachliche Einheiten auf der Textebene.

 

2. Die Zeitung als Hypertext

Der Entwicklung auf der Rezipientenseite, die ich angesprochen habe – vom Ganzleser zum selektiven Leser – entspricht auf der Textseite eine De-Linearisierung des Zeitungstextes und eine Entwicklung in Richtung auf das, was man heute als Hypertext bezeichnet. Ein echter Hypertext kann die materielle, auf Papier gedruckte Zeitung nicht werden, da Hypertext die elektronische Publikation voraussetzt, mit deren spezifischen Möglichkeiten einer sozusagen unendlichen Vernetzung im WorldWideWeb. Aber die Zeitung kann gewisse Merkmale mit dem echten Hypertext teilen, vor allem die Multi-Medialität und die Nicht-Linearität (vgl. Bucher 1996, Strassner 2001).

Mit Multi-Medialität ist gemeint, dass die Zeitung sich nicht nur der geschriebenen Sprache bedient, sondern in hohem Masse auch der Medien Foto und Grafik. Nicht-Linearität meint: Ein Pressetext ist nicht mehr ein durchlaufender Text, sondern ein Ensemble von z. T. ganz kurzen Textbausteinen, ein Cluster mit modularem Aufbau. Modular bedeutet: Jeder Baustein ist als Text zwar selbständig und kann selbständig rezipiert werden, hat aber im Text-Ganzen eine bestimmte Funktion. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die schon früher in Ansätzen vorhanden war – man denke an den Aufbau eines Berichts mit Schlagzeile, Vorspann (Lead) und Fließtext oder das komplementäre Nebeneinander von Bericht und Kommentar. Prototypisch realisiert ist das modulare, nicht-lineare Prinzip vielfach in Nachrichtenmagazinen wie Focus oder in der Schweiz Facts, aber auch viele Tageszeitungen zeigen einen Trend in diese Richtung.

Die Kohärenz eines Clusters als eines Ensembles ist häufig nicht nur durch die thematische Einheit gesichert, sondern auch durch spezifische sprachliche Mittel, beispielsweise eine durchgehende Metaphorik. So wird – um ein beliebiges Beispiel zu nehmen – ein Text-Ensemble über „Allergie” in Focus (14/1999), das aus 10 Modulen besteht, mit kriminalistischer Metaphorik zusammengehalten. Im einleitenden Text, wo es um die Erklärung der Entstehung von Allergien geht, ist von einem „Hauptverdächtigen” die Rede („der moderne Lebensstil – Stress, Rauchen...”). Eine Liste der Allergie-Tests hat die Unterzeile: „Detektivarbeit: die Suche nach dem Allergen”. Einer schematischen Darstellung des menschlichen Rückens ist als Legende unterschrieben: „Überführt: Gerötete Haut verrät das Allergen”. Eine Grafik mit Darstellung des Immunsystems hat als Legende den Satz „Der Steckbrief wird in der Zelle angelegt”. Ein Balkendiagramm mit Allergie-Auslösern ist übertitelt mit „Die Hitliste der Täter” usw.

Das Ende dieser Entwicklung ist jedoch absehbar. Eine Zeitung kann wie gesagt nicht ein eigentlicher Hypertext werden, die Vernetzung der Textbausteine kann kaum über die einzelne Zeitungsausgabe und allenfalls deren unmittelbare Vorläufer hinausgehen; die Zeitungsrezeption kann kaum mehr selektiver werden, als sie es derzeit schon ist. Der nächste Schritt wäre die konsequente Umstellung von Produktion und Rezeption auf die on-line-Zeitung. Der anfängliche Optimismus der on-line-Zeitung gegenüber ist inzwischen aber schon deutlich gedämpft3. Der durchschlagende Erfolg der on-line-Versionen lässt generell noch auf sich warten. Hier ist also eine textlinguistisch fassbare Entwicklungstendenz an ihr Ende gekommen oder steht unmittelbar vor ihrem Ende. Für die materielle Zeitung ist die Entwicklung eine Einbahnstraße.

Eine ganz andere Tendenz zeigt sich bei der Presse in Bezug auf den Bereich Intertextualität (s. unten).

 

3. Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Radio und Fernsehen

In den Anfängen pflegten Radio und Fernsehen einen im hohen Masse schriftlichen Sprachstil, da sie sich am Vorbild der Presse orientierten. Es gab dann vor allem in den siebziger Jahren einige wesentliche Impulse, die der Mündlichkeit zu immer stärkerer Geltung verhalfen: Im Radio war es die Einführung der sog. „Begleitprogramme”, in denen über Stunden hinweg ein und derselbe Moderator den Zuhörer bei seinen alltäglichen Aktivitäten begleitet. Im Fernsehen war es der Trend zu live-Schaltungen, die mindestens die Illusion von Spontaneität der Berichterstattung erzeugte, sowie zu dialogischen Formen auch im Nachrichtenbereich, in exzessivem Maße dann die bis heute ungebrochene Welle von Talkshows, in denen Leute „wie du und ich” reden dürfen und sollen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Für den Bereich der Moderationstexte und für journalistische Texte im Informationsbereich wurde der Begriff der sekundären Oralität geprägt. Damit meint man u. a., dass ein Moderator nicht wirklich spontan spricht, wie man es im Alltag tut, sondern dass er eine Sprache verwendet, die auf schriftlicher Vorbereitung basiert, die dann aber gezielt Elemente von Mündlichkeit aufweist, also ein artifizielles Sprachprodukt, das eine mündliche Sprachform jenseits von Schriftlichkeit produziert.

Eine neue Tendenz, die wohl erst in ihren Anfängen steht, ergibt sich nun aus der zunehmenden Bedeutung der Neuen Medien, insbesondere des Internets und der Mobilkommunikation. Ohne dass man jetzt schon Prognosen machen könnte, wie sich das Verhältnis von Fernsehen und neuen Medien künftig gestalten wird, zeichnet sich bereits eine Entwicklung ab, die eine mögliche Richtung andeutet: Die neuen Medien können als Ergänzung der Radio- und Fernsehkommunikation (als neue Art der Folgekommunikation) dienen, insofern sie deren Einwegkommunikation auf interaktive Weise weiterführen können. Wie diese Ergänzung in Gang kommt, kann man tagtäglich in den verschiedensten Bereichen verfolgen. Das fängt damit an, dass in vielen Sendungen eine Internetadresse angegeben wird, auf der man ergänzende Informationen erhalten kann. Über solche unpersönliche Weiterführung der Kommunikation hinaus gibt es aber zunehmend auch persönlichere Formen: So wurde man kürzlich nach der Übertragung eines Fußballländerspiels Frankreich – Deutschland aufgefordert, sich an einem unmittelbar anschließenden Chat mit Günther Netzer zu beteiligen.

Während das Mobiltelefon teils mündlich, teils schriftlich (SMS) funktioniert, ist das Internet – bis jetzt – vor allem schriftorientiert bzw. multimedial in dem Sinne, dass auch Bilder transportiert werden. Wie einige linguistische Analysen zu diesen neuen Kommunikationsformen gezeigt haben, weisen Chats, aber auch e-mail-Kommunikation, deutliche Zeichen von Mündlichkeit im schriftlichen Medium auf. Es handelt sich vielfach um eine Art Simulation mündlich-dialogischer Kommunikation, die man als sekundäre Literalität bezeichnen könnte. Es ist nicht die primäre Schriftlichkeit eines Briefs, einer Zeitung, sondern eine Schriftlichkeit, die durch primär-schriftliche und primär-mündliche Kommunikationsformen hindurchgegangen ist.

Eine bereits institutionalisierte Form der Folgekommunikation sind die elektronischen Gästebücher (vgl. Diekmannshenke 1999 und 2000). Ein – wie mir scheint – besonders aufschlussreiches Beispiel findet sich in einer psychologischen Ratgebersendung, der derzeit wohl beliebtesten Sendung dieser Art in der deutschen Fernsehlandschaft: Lämmle live (vgl. Burger 2001a). Die Protagonistin ist eine Psychotherapeutin, die am Fernsehen mit Leuten, die in die Sendung telefonieren, so etwas wie live-Kurztherapien macht (ca. 10 Minuten pro Anrufer). Sie hat eine metaphernreiche und phasenweise sehr saloppe Sprache. Zu dieser Sendung gibt es im Internet ein Gästebuch, in das die Rezipienten hineinschreiben können – unzensiert, soweit ich das beobachten kann. Man sieht dort, wie die Sprechweise der Protagonistin auf die Rezipienten wirkt. Die Schreiberinnen und Schreiber imitieren die Sprache ihrer angebeteten oder auch gehassten Kult-Figur und finden sich darin wieder:

„Also die Sendung von Brigitte finde ich nicht nur gut, die finde ich saugut! Ich darf mich hier einer Rhetorik unserer allseits beliebten, psychotherapeutisch begabten Freundin bedienen. [...] Es ist impertinent vom Intendanten des südwestdeutschen Fernsehens, die Sendung von Brigitte förmlich zu sabotieren, indem er zuvor eine unfähige Person wise Frank Elstner ausstrahlt [...] Frank Elstner ist dermaßen langweilig, dass selbst die Migräne des Bandwurms meiner Hündin ansprechender auf die Flöhe der Nachbarkatze wirkt, als Frank auf seine Zuschauer. Um mich der bildreichen Sprache unseres therapeutischen Vorbilds zu bedienen: Frank Elstner entspricht dem, was die Krankenschwester einem Patienten spritzt, der innerhalb der nächsten Stunden einen Bypass gelegt bekommen soll.” (Ein Eintrag vom 3. 2. 2001)

Interessant sind an dieser Folgekommunikation nicht nur Sprache und Stil im engeren Sinne, interessant ist vor allem auch das neue Muster von Kommunikation, das sich im Anschluss an die Fernsehsendung ergibt: Die Schreiberinnen beziehen sich teils auf Äußerungen der Therapeutin aus der Sendung, teils auf Briefe anderer Schreiberinnen. So entsteht ein dichtes interaktives Netzwerk, das sich um die Fernsehsendung herumlagert.

 

4. Intertextualität in Medientexten

Mit „Intertextualität” meint man Bezüge zwischen Texten, von einzelnen partiellen Bezugnahmen bis hin zu Bezügen zwischen Text und Textgattung. Ohne hier auf die theoretischen Hintergründe eingehen zu können, möchte ich auf den medienspezifischen Aspekt von Intertextualität hinweisen. Medientexte nahezu jeder Art sind in einer ganz spezifischen Weise hochgradig intertextuell geprägt – in einer anderen Weise als z. B. literarische Texte. Zu dieser intertextuellen Prägung gehören z. B. folgende Aspekte (vgl. genauer dazu Burger 2001b):

 

1. Der Begriff des „Autors” hat für Medientexte oft keinen empirischen Gehalt, d. h., es ist kein konkreter Autor des Textes festzumachen und entsprechend ist auch die Verantwortlichkeit für den Text nicht einer bestimmten Person zuzuschreiben.

2. Unsere üblichen Vorstellungen von „Textproduktion”, die sich am Verfassen von Aufsätzen, Protokollen usw. orientieren, müssen für Medientexte revidiert werden.

3. Das einzelne Medienprodukt, das Textexemplar, ist zwar formal als singuläres Phänomen abgrenzbar. Von der Produktion her gesehen, ist es aber nur eine „Variante” in einer Kette von Texten, die (in z. T. schwer entwirrbaren Verläufen) aufeinander basieren.

4. Bei einer linguistischen Betrachtung von Medientexten sind demzufolge mehrere Ebenen zu unterscheiden:

– Der aktuelle Text, das publizierte, von Redakteuren („Autoren”) erstellte Medienprodukt, das in der Regel gemeint ist, wenn von „Medientext” gesprochen wird.

– Hinter dem aktuellen Text stehen die verschiedenen redaktionsinternen Verfasser, die an der Textproduktion beteiligt sind, und entsprechend verschiedene Versionen im Verlauf der Textproduktion.

– Diese beiden ersten Ebenen haben eine Vorgeschichte (Textgeschichte), die für die Textkonstitution ausschlaggebend ist. Verschiedene Akteure (z. B. Politiker) liefern zu unterschiedlichen Zeitpunkten mündliche und schriftliche Texte, die in Bezug auf den aktuellen Text als Prätexte fungieren. Diese schließen sich auf z. T. komplexe Weise zu einer Textkette zusammen, die – häufig über die Station der Agenturtexte – im aktuellen Text mündet. Die Textgeschichte ist also nicht dasselbe wie die Textproduktion (z. B. die Produktion einer konkreten Tagesschau-Sendung) der Ebene B, aber sie beeinflusst die Textproduktion maßgeblich.

– Schließlich ist als eigene Text-Ebene abzuheben der Text „im Kopf des Rezipienten”, die individuelle „Lesart” des Medientextes durch den Rezipienten.

Presse, Radio und Fernsehen weisen zwar alle ein hohes Maß an intertextuellen Bezügen auf, aber in unterschiedlichen Ausprägungen, die ich hier nicht differenzieren kann. Generell ist es häufig so, dass die Markierungen der Intertextualität in keiner Weise ausreichen, um für den Rezipienten transparent zu machen, welches der Anteil an übernommenen Prätexten und welches die Eigenleistung der Redaktion ist. Ein namentlich gezeichneter Artikel in der Presse kann nahezu vollständig ein Konglomerat aus Prätexten der Textgeschichte sein. Dies ist der linguistische Aspekt eines allgemeineren Phänomens der öffentlichen Kommunikation: die z. T. unglaubliche Macht der Public Relations. Wirtschaftsunternehmen und Institutionen können Texte oder Teile von Texten, und damit auch die eigenen Wertungen und Perspektivierungen in die Textgeschichte von Medientexten einbringen, ohne dass der Rezipient davon eine Ahnung hat.

In formaler Hinsicht haben die elektronischen Medien ihre eigenen Formen des Zitierens entwickelt, die zu einer Systemverschiebung innerhalb des Systems der Formen der Redewiedergabe führen (vgl. Burger 2001 c). Im Fernsehen sind es vor allem zwei Verfahren: das kumulative mündlich-schriftliche Zitat und das Zitat mit Original-(Bild-)Ton.

Im folgenden, ganz alltäglichen Beispiel aus einer Fernsehnachrichtensendung wird derselbe Text sowohl mündlich als schriftlich zitiert:

Der geschriebene Text ist vollständig identisch mit dem gesprochenen, mit Ausnahme der Auslassungszeichen, die ihn als genuin schriftlichen ausweisen und für die im gesprochenen Text kein Äquivalent (z. B. eine Pause) vorhanden ist. Dass es sich beim gesprochenen Text um ein wörtliches Zitat aus der (schriftlichen) Begründung des Bundesgerichtes handelt, wird erst durch den geschriebenen Text klar.

Der Zweck der kumulativen Zitierweise ist klar: es soll strikte Wörtlichkeit in einem Rechtsfall vermittelt werden, und die Kumulation der Modalitäten schriftlich-mündlich ist ein eindeutiges Signal für Wörtlichkeit. Das wortwörtliche Zitieren erlaubt dann dem Moderator eine umso deutlichere (ironische) Distanzierung von den Überlegungen des Bundesgerichts (... so räsoniert das Bundesgericht).

Das zweite strukturelle Mittel zielt in die gleiche Richtung: Wenn immer möglich, werden Akteure (z. B. Politiker) im Fernsehen nicht mit dem grammatikalisierten Mittel der direkten oder indirekten Rede zitiert, sondern mit einem Original-Ton-Bild-Ausschnitt (Statement). Ein solcher Original-Ausschnitt ist als Zitat völlig transparent. Es ist klar, wer spricht und welcher Text wortwörtlich zitiert wird (obwohl oft nicht klar ist, wann, wo, in welchem Zusammenhang der Sprecher das gesagt hat, was er sagt).

Mit diesen Verfahren, die der stärkeren Transparenz des Zitierens dienen, verlieren die herkömmlichen Mittel der Redewiedergabe, vor allem die direkte Rede, aber in der Folge auch die indirekte Rede, teilweise ihre herkömmlichen, an schriftlichen Texten orientierten Funktionen. Die direkte Rede, die ihre Funktion als das bevorzugte Mittel des wortwörtlichen Zitierens einbüßt, wird funktional „geschwächt” mit der Folge einer Annäherung an die indirekte Rede. In vielen Texten hat man den Eindruck, dass direkte und indirekte Rede nur noch stilistische Varianten sind. Ein beliebiges Beispiel aus einer Nachrichtensendung:

Moderator [on]: Das Sozialversicherungssystem der Schweiz hat sich bewährt, meint Bundesrätin Ruth Dreifuss. Es dränge sich kein grundlegender Umbau auf. Bundesrätin Dreifuss – hat heute – über die erste Klausursitzung orientiert, die der Bundesrat zum Thema – Sozialversicherungen – abgehalten hat.

Sprecher [off]: (Bild: Dreifuss an der Pressekonferenz) Vor den Journalisten sagte Frau Dreifuss, dass über einen Aus- oder Abbau der Sozialwerke noch nicht entschieden sei. Klar sei aber die Finanzierung.

(Tagesschau, Schweizer Fernsehen DRS, 19. 2. 98)

Die Anmoderation beginnt mit direkter Rede (hat sich bewährt) und wechselt dann zur indirekten Rede (dränge sich auf; und weiter zum Redebericht: hat über [...] orientiert), während der Sprecher im Off unmittelbar die indirekte Rede verwendet. Die direkte Rede zu Anfang der Moderation soll wohl die Kernaussage hervorheben, ohne dass aber eine Abstufung der Wörtlichkeit intendiert ist.

 

5. Die Deutschschweizer Sprachsituation

Abschließend seien noch ein paar Hinweise zur Sprachsituation der Medien in der deutschen Schweiz gegeben, mit der ich mich als Germanist an der Universität Zürich spezifisch befasst habe (vgl. Burger 1998). Um die Mediensituation zu verstehen, muss man die Sprachsituation des Alltags kennen, obwohl die Medien nicht einfach die außermediale Situation abbilden. Innerhalb der viersprachigen Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) hat der deutschsprachige Teil die größte Einwohnerzahl. In diesem deutschsprachigen Teil spielt der Dialekt eine viel wichtigere Rolle als sonst im deutschen Sprachgebiet. Dabei ist dialektologisch kein großer Unterschied zum alemannischen Teil Süddeutschlands festzustellen. Der Unterschied ist vor allem soziolinguistischer und kommunikativer Art: Es herrscht die Situation der sog. medialen Diglossie, was – sehr vereinfacht gesagt – bedeutet: Mündliche Kommunikation vollzieht sich durchwegs in Mundart, schriftliche in Standardsprache. Mündliche Kommunikation in Standardsprache ist auf wenige Domänen beschränkt (und auch dort nicht generell die Regel): die Schule, das Parlament, die Kirche, das Militär und eben die Medien, aber auch hier nur partiell. Dialektsprechen ist – im Gegensatz zu Deutschland – nicht negativ bewertet, sondern durchaus positiv, und es ist auch in keiner Weise schichtgebunden.

Was nun die Medien betrifft, so zeigt sich der mediale Aspekt der Diglossie zunächst in der klaren Regelung, dass Pressetexte mit kleineren Ausnahmen durchwegs hochdeutsch geschrieben sind. Die Verteilung der Sprachformen wird aber in den elektronischen Medien zum Problem. In Radio und Fernsehen wird zwar überwiegend gesprochen und nicht geschrieben – obwohl schriftlich-visuelle Elemente im Fernsehen zunehmend vorkommen (s. o. 3.) –, aber das Gesprochene basiert häufig auf Geschriebenem. Früher war es klar, dass aufgeschriebene und abgelesene Texte – zum Beispiel Radio- und Fernsehnachrichten hochdeutsch zu sein hatten. Das ist heute nur noch partiell der Fall. Der private Sender Tele 24 beispielsweise sendet Nachrichten grundsätzlich in Mundart. Bei den kommerziellen Sendern im Radio wie im Fernsehen ist nicht das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ausschlaggebend für die Sprachwahl, sondern die Bewertung der Mundart als die alltägliche, vertraute Sprachform, gegenüber dem Hochdeutschen, das distanzierter, formeller wirkt. Somit bedeutet Mundartsprechen für die kommerziellen Sender stärkere Zuschauerbindung als Hochdeutschsprechen. Deshalb hört man in den Lokalradios und den privaten Fernsehsendern praktisch nur Mundart, wenigstens was die redaktionellen Texte betrifft. (Fernsehserien, die aus Deutschland eingekauft werden, sind selbstverständlich hochdeutsch. Daneben gibt es aber auch schweizerische Eigenproduktionen von Soap operas – und die sind ebenso selbstverständlich mundartlich gehalten.) Meist kommt auch noch der Faktor der regionalen Bindung hinzu: Im Basler Regionalfernsehen dominiert die Basler Mundart, im Berner Fernsehen die Berner Mundart usw.

Die Zunahme der Mundart in den elektronischen Medien ist aber nicht nur eine Sache der privaten Sender. Im öffentlich-rechtlichen Radio gab es mit der Einführung der Begleitprogramme (s. o. 2.) einen eigentlichen Mundartschub. In diesen Programmen spricht ein und derselbe Moderator kurze Texte zwischen viel Musik, er begleitet die Hörer durch den Tag, spricht sie an wie im Alltag. Hier wird also eine Art face-to-face-Kommunikation simuliert, und für diese ist in der Deutschschweiz eben die Mundart selbstverständlich.

Man hat in diesem Zusammenhang sprachkritisch von „Mundartwelle” geredet. Das ist eine oberflächliche und sogar irreführende Charakterisierung. Tatsächlich handelt es sich um tiefgreifende Umwälzungen im Mediensystem, die zunächst nichts mit Sprache zu tun haben, die sich aber auf die Sprache auswirken. Das resultierende Bild der Verteilung von Standardsprache und Mundart(en) ist äußerst komplex. Im Bereich der Informationssendungen von Schweizer Fernsehen DRS beispielsweise ergeben sich 5 Typen von Verteilungen (Genaueres dazu in Burger 1998):

 

 

I    

II    

III    

IV    

V    

Moderation
Beitrag
Interview

Standard
Standard
Standard

Standard
Standard
Mundart

Mundart
Standard
Mundart

Mundart
Stand./Ma.
Mundart

Mundart
Mundart
Mundart

 

Beispiele von Sendungen:

I   Tagesschau
II  10 vor 10
III                    Sportpanorama
IV                    Kassensturz
V  Schweiz aktuell

 

Wenn man die schweizerische Situation unter den oben behandelten Aspekten 2 bis 4 betrachtet, dann ergibt sich Folgendes: Im Bereich der Presse (2) sind keine deutlichen Abweichungen vom übrigen deutschsprachigen Raum zu registrieren. Die auffälligsten Unterschiede ergeben sich im Bereich Mündlichkeit/Schriftlichkeit (3) und in der Folge davon partiell auch im Bereich der Redewiedergabe (4). Die Formen der Redewiedergabe werden – im Vergleich zu den deutschen und (überwiegend auch) österreichischen Medien – komplexer durch die Tatsache, dass man häufig mit mundartlichen Prätexten rechnen muss, die dann – je nach Sendung – ins Hochdeutsche transformiert werden, oder auch mit hochdeutschen Prätexten, die beispielsweise im mundartlichen Umfeld als mundartliche Zitate erscheinen. Das gilt natürlich nicht für die O-Ton-Zitate, sondern nur für die herkömmlichen Formen der Redewiedergabe.

Die heutige Situation ist insgesamt durch eine gewisse Stabilisierung der Sprachverteilung gekennzeichnet. Auf manchen Sendern hört man (fast) nur noch Mundart, auf anderen haben sich relativ kleinräumige, z. T. sendungsspezifische Verteilungen – wie im obigen Beispiel der Informationssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – eingespielt. Der Trend zur Mundart ist an eine Grenze gelangt, die kaum mehr überschritten werden dürfte. Allerdings ist auch nicht zu erwarten, dass Domänen, die derzeit dem Dialekt gehören, zugunsten des Hochdeutschen aufgegeben werden.

 

Anmerkungen

1

Nicole Bass: „Muescht Knorr probiere, s’gaht über’s Schtudiere!” Phraseologismen und Modifikationen in der Anzeigenwerbung 1928–1998. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit Zürich 2000.

2

Zu den Textsorten der Massenmedien vgl. Burger 2000.

3

Brodde-Lange/Verhein-Jarren (2001) zeigen, dass bis anhin die Makrostruktur von Nachrichtentexten in den On-line-Medien weitgehend den Konventionen herkömmlicher Agentur- und Presseberichte folgt.

 

Literatur

Brodde-Lange, Kirsten/Verhein-Jarren, Annette (2001): News im Netz – Sprache in Online-Medien am Beispiel von Nachrichtentexten. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.): Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 339–352.

Bucher, Hans-Jürgen (1996): Textdesign – Zaubermittel der Verständlichkeit? Die Tageszeitung auf dem Weg zum interaktiven Medium. In: Hess-Lüttich, Ernest W. B./ Holly, Werner/Püschel, Ulrich (Hrsg.): Textstrukturen im Medienwandel. Frankfurt a. M. u. a., 31–59.

Burger, Harald (1990): Sprache der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Berlin, New York 1990 (= Sammlung Göschen).

Burger, Harald (1998): Mundart und Hochdeutsch in den Massenmedien. In: Gérard Krebs (Hrsg.), Schweiz 1998 – Beiträge zur Sprache und Literatur der deutschen Schweiz. Helsinki (= Der Ginkgo-Baum 16), 64–85.

Burger, Harald (2000): Textsorten in den Massenmedien. In: Text- und Gesprächsanalyse. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband. Berlin, New York (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), 614–628.

Burger, Harald (2001 a): Psychologische Beratung am Fernsehen. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 305–335.

Burger, Harald (2001 b): Intertextualität in den Massenmedien. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 13–43.

Burger, Harald (2001c): Das Zitat in Fernsehnachrichten. In: Dieter Möhn/Dieter Ross/Marita Tjarks-Sobhani (Hrsg.): Mediensprache und Medienlinguistik. Festschrift für Jörg Hennig. Frankfurt a. M., 45–62.

Diekmannshenke, Hajo (1999): Elektronische Gästebücher – Wiederbelebung und Strukturwandel einer alten Textsorte. ZfAL 31, 49–75.

Diekmannshenke, Hajo (2000): Die Spur des Interflaneurs – Elektronische Gästebücher als eine neue Kommunikationsform. In: Caja Thimm (Hrsg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Wiesbaden, 131–155.

Hemmi, Andrea (1994): „Es muss wirksam werben, wer nicht will verderben” Kontrastive Analyse von Phraseologismen in Anzeigen-, Radio- und Fernsehwerbung. Bern.

Holly, Werner/Biere, Bernd Ulrich (Hrsg., 1998): Medien im Wandel. Opladen.

Römer, Ruth (1968): Die Sprache der Anzeigenwerbung. Düsseldorf.

Strassner, Erich (2001): Von der Korrespondenz zum Hypertext. Zeitungssprache im Wandel. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 87–102.