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Begegnungen15_Wolfram

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:89–98.

HERWIG WOLFRAM

Die Ungarn und das fränkisch-bayerische Ostland

 

1. Die Terminologie

Das fränkisch-bayerische Ostland des 9. Jahrhunderts unterschied sich von der bayerischen Donaumark, dem Ostarrichi des 10. und der folgenden Jahrhunderte, allein schon durch seine enorme Ausdehnung. Von der Traunmündung im heutigen Oberösterreich bis zur Draumündung an der heute ungarisch-serbischen Grenze, von der Save östlich von Sisak bis an die slowenisch-italienische Grenze, aber auch die Drau aufwärts bis Osttirol, bis in den Salzburger Lungau und in die ober- und niederösterreichisch-steirischen Kalkalpen erstreckte sich die Präfektur des fränkisch-bayerischen Grenzgrafen, der auch eine theoretische Oberaufsicht über Mähren und die Slowakei ausübte.1 Dieser riesige Bereich zerfiel um 900, als sich die Magyaren in Pannonien niederließen, und wurde in der Zeit der Sachsenkaiser nur in seinen westlichen Teilen, im Herzogtum Karantanien und in der Babenbergermark wiederhergestellt.2

Der Begriff „Ungarische Landnahme in Pannonien” ist zwar in der deutschen Sprache eingebürgert, weckt aber falsche Assoziationen. Das Wort „Landnahme” leitet sich aus dem Altnordischen her und meint zu Recht den Siedlungsvorgang der Norweger und anderer Skandinavier in Island. Diese nahmen ein so gut wie menschenleeres Land in Besitz, während es sich bei allen anderen Landnahmen tatsächlich um Landwegnahmen handelte; siehe das schaurig-schöne Panorama-Bild von Árpád Feszty.3 Es wäre daher besser, von der ungarischen Niederlassung in Pannonien zu sprechen. Dieser Begriff würde auch die Tatsache abdecken, dass Ungarn (und nicht die Ungarn) das Land ursprünglich nicht durch Eroberung gewannen, sondern hier – wie die meisten anderen Neuankömmlinge in Europa – zunächst einmal als Hilfstruppen eingesetzt und auch angesiedelt wurden. Ja, es ist sicher nicht falsch zu sagen, die Ungarn sind erst in Ungarn Ungarn geworden.

Was aber bedeutete Pannonien zu der Zeit, da hier die Ungarn entstanden? Die frühmittelalterliche Geographie verarbeitete mehrfache, einander sogar widersprechende Traditionen, die aus verschiedenen Zeithorizonten stammten und unterschiedliche Wirklichkeiten festhielten. Für die Geographen mit gotisch-langobardisch-mediterranem Hintergrund ist Pannonien nur das Land zwischen Drau und Save. Die Franken und insbesondere die Bayern des 9. Jahrhunderts lokalisieren dagegen die alte(n) Römerprovinz(en) überwiegend zwischen Drau und Donau, wobei sie das Donauknie nördlich von Budapest vernachlässigen, die Drau von Süden nach Norden fließen lassen und daher die Donau nur als Nordgrenze ihres Pannoniens kennen.4 Mitunter bewahrte dieses System auch die Vorstellung von einer tota Pannonia, in der die Drau die Achse und nicht Grenze gegen Norden oder Süden bildete.5

 

2. Die Ereignisse. Ein Überblick

Wie auch in anderen Fällen, zeigte sich Erzbischof Hinkmar von Reims im Falle der Ungarn besser informiert als ostfränkische Quellen. Während diese schweigen, berichten seine Annales Bertiniani zu 862, in diesem Jahr hätten „bisher jenen (ostfränkischen) Völkern unbekannte Feinde, Ungarn genannt, (Ludwigs des Deutschen) Reich verheert”. Ein Jahr später vermerken die alemannischen Annalen, „ein Volk der Hunnen habe die Christenheit angegriffen”.

Woher die Ungarn kamen und wer sie waren, ist wie jede Herkunftsgeschichte nicht mit einem Satz zu beantworten. Wer solches fordert, überfordert formal das Genus der Origo gentis und stellt inhaltlich falsche Fragen. Im Rahmen des gestellten Themas genügt es, mit der Lebedia des Konstantin Porphyrogennetos zu beginnen. Hier passten sie sich an ihre nomadische Umwelt an, wurden aber durch die Petschenegen vertrieben. Die Flüchtlinge fanden Aufnahme im Etelköz (Atelkuzu) zwischen Dnepr, Karpaten und Donaudelta, wo sie unter die Oberhoheit der Chazaren gerieten und viel von deren Herrschafts- und Lebensformen annahmen: Bis kurz nach 900 gab es einen ungarischen Sakralfürsten, der Kende (Kündü) hieß und damit den Namen des dritthöchsten chazarischen Würdenträgers besaß. Damit stimmt die Nachricht überein, wonach Arpad von den Chazaren als Herrscher der Ungarn eingesetzt worden sei. Auf dem Weg von der Krim zu den Chazaren wurde der spätere Slawenapostel Konstantin-Cyrill von einer Schar von Ugri überfallen, die wie die Wölfe heulten. Unterwerfungen und Überschichtungen sind ethnogenetische Vorgänge, die stets Reaktionen hervorrufen; es kommt zu Aufständen und Spaltungen. Der chazarische Teilstamm der Kabaren fällt vom chazarischen Khagan ab und schließt sich den Magyaren an. Dann treten abermals die Petschenegen auf und vertreiben beide Gruppen in den Westen.

Die Zusammengehörigkeit von Magyaren und Kabaren zeigt sich bereits im Jahre 881, als die Bayern im Raum von Wien mit den Ungarn und danach bei Pöchlarn mit den Kabaren kämpfen mussten. Diese Nachricht der Salzburger Annalen enthält nicht bloß die älteste Nennung Wiens, sondern auch die früheste Erwähnung der Ungarn durch einen bayerischen Beobachter, mag auch die Quelle selbst erst aus der Zeit um 950 stammen. Wien und die Ungarn traten also gemeinsam in die Geschichte des Westens ein; eine Verbindung, die trotz des stürmischen Beginns bis heute anhält.

Die strategischen Planungen der Mächte in Ost und West machten sehr bald von dem „skythisch-hunnischen” Volk der „Awaren, die nun Ungarn heißen”, Gebrauch oder meinten zumindest, sie gegen unbotmässige Nachbarn kontrolliert einsetzen zu können. Im Jahre 892 führte König Arnulf Krieg gegen den Mährerfürsten Zwentibald. Am allgemeinen Sengen und Brennen während des Erntemonats 892 beteiligten sich zum ersten Mal ungarische Reiter. Ihr Ziel war wohl das mährisch besetzte Pannonien am Südufer der Donau. Dabei dürften die Ungarn auf den Geschmack gekommen sein, weil sie 894 „ganz Pannonien” verheerten und daher auch das Gebiet ihrer Verbündeten von 892 heimsuchten. Im Jahre 896 erhielt der Sisak-Fürst Brazlavo die Moosburg wegen der Ungarngefahr und nicht wegen einer Bedrohung aus Mähren.6

Der Ungarnsturm und seine verheerenden Folgen wurden sehr bald König Arnulf und seinen Großen zum Vorwurf gemacht. Man hatte nämlich in Bayern wenig Grund, sich über die Verwüstungen in der Nachbarschaft zu freuen. Als die Ungarn 899/900 in Italien einfielen und im großen Stil die Poebene plünderten, führte sie ihr Rückweg durch Pannonien, und zwar zuerst südlich, dann nördlich der Drau. Von hier aus griffen sie noch im Herbst 900 über die Enns an und verwüsteten „fünfzig Meilen weit” den Traungau. Am 20. November 900 vernichtete Luitpold eine versprengte ungarische Abteilung bei Linz, worauf die Ennsburg errichtet wurde. Im Jahre 901 erlitten die Ungarn eine Niederlage, als sie einen Plünderungszug nach Karantanien unternahmen. Frühestens 902, spätestens aber zwei Jahre später, luden die Bayern den obersten Herrscher der Ungarn, den Kende Kurszán-Cussal, zu einem Gastmahl an die Fischa. Als man sich zu Tische setzte, wurden die Ungarn heimtückisch umgebracht. Alle Mittel schienen gegen sie erlaubt und nötig. Selbst der mährisch-bayerische Gegensatz wurde begraben, und 902 kämpften die alten Feinde miteinander gegen die wilden Heiden, die nach dem auf Herodot zurückgehenden Skythentopos wahrgenommen wurden.

Im Lichte der zeitgenössischen und späteren Quellen waren nämlich diese Ungarn blutrünstige, schreckliche Skythen, die rohes Fleisch fraßen, Blut tranken und „die in Stücke zerteilten Herzen ihrer Gefangenen” als Medizin einnahmen. Sie brachten alle Männer und alten Frauen um, trieben die jungen Frauen wie das Vieh zusammen und schleppten sie mit sich fort. Sie waren hervorragende Pfeilschützen und handhabten mit großer Kunst ihre Hornbogen. Kahl geschoren, saßen sie zu allen Zeiten auf ihren Pferden; ihre Weiber waren ebenso wild wie sie selbst. Wer zu ihnen gehören wollte, musste ihre Haartracht annehmen, was angeblich die Mährer taten. Die Ungarn heulten wie die Wölfe und verwendeten Wolf oder Hund als Totem, über dem sie Eide schworen. Sie waren die wiederauferstandenen Awaren oder Hunnen. Wenn sie aber Hunnen waren, dann wusste man um ihre Herkunft Bescheid. Widukind von Corvey hatte bei Jordanes gelesen, dass die Mütter der Hunnen gotische Hexen, ihre Väter aber die Geister der Steppe seien. Das Fremde hatte einen Namen, eben den der Skythen oder Hunnen und war damit in die ethnographisch-geographische Typologie eingeordnet.

Bereits im Jahre 900 bemerkte ein bayerischer Beobachter, die Ungarn seien von ihrem Traungauer Plünderungszug „beutebeladen nach Pannonien (wohl südlich der Drau), woher sie gekommen waren, heimgekehrt”. Die Niederlassung in Pannonien, das die Ungarn bis heute – gegen die europäische Tradition, aber als logisches Gegenstück zum Gebiet jenseits der Theiß – Transdanubien nennen, muss demnach noch der Kende Kurszán-Cussal begonnen haben. Seine Ermordung verschaffte den Bayern eine kurzfristige Atempause. Die Ausschaltung des Kende ebnete aber den Weg für Arpad und dessen Nachfolger, die ihr Heerkönigtum in den großen Siegen des 10. Jahrhunderts festigten und – trotz der Niederlage von 955 – glänzend behaupteten.7

 

3. Die Überlieferung neu interpretiert

Im Folgenden wird versucht, die karolingischen Annalen mit der Epistola Theotmari gemeinsam zu interpretieren, das heißt Quellen, die sich zeitgenössisch mit dem Auftreten der Ungarn beschäftigen.8 Schon die erste Jahreszahl bereitet anscheinend Schwierigkeiten. Die Annales Bertiniani, die westfränkischen Reichsannalen, erwähnen zum Jahre 862 als erste europäische Quelle die Ungarn, und zwar als Angreifer auf das Reich Ludwigs des Deutschen.9 Erst dreißig Jahre später nehmen die Annales Fuldenses die Ungarn wahr, und auch dann sind sie den ostfränkischen Reichsannalen nichts anderes als Awaren, die man jetzt Ungarn nennt.10 Was soll diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung durch die Betroffenen und der der Fernerstehenden? Die Schwierigkeiten werden dadurch verstärkt, dass die in der Mitte des 10. Jahrhunderts niedergeschriebenen Salzburger Annalen schon zum Jahre 881 die Ungarn und die mit ihnen verbündeten Kabaren bei Wien und Pöchlarn erwähnen.11

Immer dann, wenn die historische Interpretation auf Schwierigkeiten stößt, ist sie nur zu gerne bereit, diese der Überlieferung anzulasten und dafür die Autoren der Vergangenheit verantwortlich zu machen. Dies ist auch im Falle der Annales Bertiniani geschehen; man hat ihre scheinbar isolierte Ungarnnennung als Verwechslung mit den Bulgaren gesehen. Dass ein solcher Ausweg sehr rasch in eine Sackgasse mündet, ist leicht zu zeigen: Erstens bezeichnen die Annales Bertiniani die Ungarn als einen neuen Feind des Ostfränkischen Reiches, und als der konnten die Bulgaren nahezu vier Jahrzehnte nach ihrer ersten Auseinandersetzung mit den karolingischen Franken wahrlich nicht mehr gelten. Außerdem waren die Bulgaren im Jahre 862 Verbündete Ludwigs des Deutschen sowohl gegen seinen Sohn Karlmann wie gegen dessen mährische Helfer. Zweitens ist die Meldung zu 862 keineswegs isoliert, berichten doch die Annales Alamannici zum darauf folgenden Jahr 863, „ein Volk der Hunnen habe die Christenheit angegriffen”. Drittens ist die gute Unterrichtung der Annales Bertiniani kein Wunder, wurden sie doch in diesen Abschnitten von keinem Geringeren als Hinkmar von Reims verfasst. Dieser Mann war bestens informiert; er wusste noch aus der hochkarolingischen Zeit, dass die Mark- und Grenzgrafen verpflichtet waren, jährlich in der Zentrale zu erscheinen, um dort Bericht zu erstatten und ihre Entscheidungen absegnen zu lassen.12

Die Annales Alamannici lehren auch die Tatsache zu verstehen, warum die Ungarn den Bayern so spät als ethnische Novität auffielen: Es war eben nichts Neues, wenn ein hunnisches Volk, wie man auch die Awaren als solches bezeichnete, im bayerischen Ostland, vor allem in Pannonien auftrat.13 Daher brauchten die Bayern ein ganzes Menschenalter, bis sie den Sondernamen dieser „neuen” Awaren eigens registrierten. Noch 870 berichtete man von Salzburg dem König nach Regensburg, dass awarische Tributpflichtige in Pannonien lebten.14 Daher auch kein Wort über die unbotmäßigen Hunnen oder Awaren der Jahre 862/63 in den Annales Fuldenses. Wenn diese Annalen vom bayerischen Ostland berichten, und der ungarische Vorstoß hat bis 899 nur diesen Teil des Karolingerreichs betroffen, beschäftigen sie sich fast ausschließlich mit Nachfolgestreitigkeiten und nicht mit den damit verbundenen Auseinandersetzungen zwischen Bayern und Mährern.

Sehr gut bekannt ist die Verwendung ungarischer Reiter in König Arnulfs mährischem Sommerfeldzug von 892, zugleich die Erstnennung der Ungarn in den Annales Fuldenses, jedoch noch unter der Oberbezeichnung Awaren. Erzbischof Theotmar von Salzburg erwähnt das Bündnis mit den Ungarn in seinem Brief an den Papst, in der Epistola Theotmari, von 900. Dieser Brief wurde von der Forschung bisher nur zögerlich verwendet, weil gegen die Quelle immer wieder der Vorwurf der Fälschung erhoben wurde. Tatsächlich ist der Verdacht unbegründet.15 Theotmar räumt nicht nur Arnulfs Bündnis mit den Ungarn als Fehler ein, sondern greift seinerseits die Mährer an, sie hätten schon „seit vielen Jahren” sich der Ungarn als Verbündete bedient, ja sogar „eine gar nicht so kleine Anzahl von Ungarn bei sich aufgenommen und nach deren Gewohnheit ihre Häupter als falsche Christen ganz geschoren und sie (die Ungarn) auf unsere Christen losgelassen”.16 Nimmt man diese multi anni ernst, und es besteht kein Grund, es nicht zu tun, passen die ungarischen Angriffe auf Bayern und damit auf das Ostfrankenreich sowohl zum Jahre 862 wie 881. Man kann nun mit größerer Sicherheit einen Gedanken aufgreifen und ausbauen, der in Ansätzen über Szabolcs de Vajay auf Ernst Dümmler zurückgeht.17

In den Jahren 861 bis 865 und daher auch 862/63 versuchte der Königssohn Karlmann, mit Hilfe seiner mährischen (und ungarischen) Verbündeten das bayerische Ostland und Bayern östlich des Inns seinem Vater Ludwig dem Deutschen abzutrotzen und hier ein selbständiges Herrschaftsgebiet zu errichten.18 Des Weiteren kann 881 als Vorspiel des großen Krieges der Jahre 882–884 gelten, in dem Zwentibald I. dem Ostfrankenreich beinahe ganz Pannonien entrissen hätte, wobei das Land schwer verwüstet wurde. Bezeichnenderweise lassen die Annales Fuldenses die Kämpfe durch Aufklärer oder Pfeilschützen eröffnen, die Zwentibald über die Donau ins karolingische Pannonien schickte. Diese speculatores (einmalig erwähnt bei den Mährern, später der Fachausdruck für die ethnisch differenzierten ungarischen Grenzwächter) waren offenkundig die Magyaren und Kabaren der Salzburger Annalen.19

Im Juli 892 hatte Arnulf in bewährter Weise Mähren mit drei Heeren verwüstet, denen sich ungarische Reiter anschlossen. Vermittler zu den ungarischen Hilfstruppen war offenkundig Brazlavo, der 884 der Vasall Kaiser Karls III. geworden war und das vom Frankenreich abhängige Fürstentum zwischen Save und Drau beherrschte. Den vier Wochen dauernden Feldzug von 892 hatten König Arnulf und der Sisak-Fürst vorerst auf dem Hengstfeld, dem heutigen steirischen Wildon, ausführlich beraten. Brazlavos Lebensgeschichte läßt das Vordringen einer ungarischen Abteilung im pannonischen Save-Drau-Zwischenstromland erkennen. Diese Abteilung war nicht mit den mährischen Ungarn identisch.20 Nicht unmöglich, dass 892 jene fränkischen Ungarn aus Slawonien, die Arpad-Gruppe (?), gegen mährische Ungarn kämpften. Im September 892 war jedenfalls der Save-Weg zum Unterschied von der Donaustraße offen. Damals fertigte König Arnulf eine Gesandtschaft zu den Bulgaren ab, um den Frieden zu erneuern sowie ein gemeinsames Salz-Embargo gegen die Mährer durchzusetzen. Die Gesandtschaft konnte „wegen Zwentibalds Widerstand nicht den Weg durch Pannonien (nördlich der Drau und an der Donau)” nehmen, sondern wich über Slawonien, Pannonien südlich der Drau, aus.21

Zwei Jahre später waren Ungarn wieder über die Donau vorgestoßen und verheerten im Jahre 894 „ganz Pannonien”. Zwentibald I. war gestorben; „seine” Ungarn werden daher die ersten gewesen sein, die ins fränkische Pannonien eindrangen. Die Annales Fuldenses nennen als Angreifer jenseits der Donau nomadisierende, peragrantes, Ungarn.22 Diese Nachricht würde mit der Behauptung des Theotmar-Briefs übereinstimmen. Ist der Kende Kurszán-Cussal den mährischen Ungarn zuzuordnen, die erstmals 881 gemeinsam mit den Kabaren an der heute österreichischen Donau auftraten? Schwere, höchst verlustreiche Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Bulgaren verschafften den Bayern eine Atempause. Diese Auseinandersetzungen könnten durchaus im bulgarischen Ostslawonien erfolgt sein. Die Maßnahme Arnulfs, 896 Brazlavo die Moosburg zu übertragen, wird damit begründet, dass sich „die Kämpfe in diesen Gebieten häuften”. Dieser Satz der Annales Fuldenses folgt unmittelbar einer längeren Darstellung des ungarisch-bulgarischen Konfliktes von 896, in dessen Verlauf die Bulgaren abermals, wenn auch wieder unter schwersten eigenen Verlusten, die Oberhand behielten. Auslösend für diese Auseinandersetzung war ein griechisch-ungarischer Vertrag, der gegen die Bulgaren gerichtet war. Letztere griffen darauf Konstantinopel an, wurden aber in ihrem Rücken bedroht, da griechische Schiffe ungarische Reiter über die Donau setzten. Diese Vorgänge dürften daher zwischen dem Eisernen Tor23 und der Savemündung zu lokalisieren sein, beunruhigten aber auch die fränkisch-bayerische Südostgrenze. Ungarn waren auch die Hilfstruppen von Byzanz, des Kaisers, der als einziger ihre Niederlassung an der Donau in den Formen des traditionellen Rechts absegnen konnte.

Mit dem Zurückdrängen der Bulgaren wie der Aufgabe der fränkisch-bayerischen Präsenz südlich der Drau stand den Ungarn das slawonische Tiefland offen. Erst dann war für sie – die bayerisch-fränkische Krain wurde einfach überrannt – der Weg frei nach Italien. In den Jahren 899 und 900 erfolgte daher zunächst ein Vorstoß nach Italien, darauf auf dem Rückmarsch 900 die Verheerung Pannoniens, wobei nach einer allerdings jüngeren ungarischen Quelle Brazlavo, der wahrscheinliche Gründer von Preßburg (Bratislava), gefallen sei. Des weiteren geschah im Anschluss daran noch im selben Jahr 900 ein Vorstoß gegen Bayern westlich der Enns und schließlich die Heimkehr der Ungarn ad sua in Pannonien. Aber das heimgesuchte Pannonien und das Pannonien, in das die Ungarn heimkehrten, war offenkundig nicht dasselbe Gebiet. Unter dem Pannonien Brazlavos wird wohl das Land nördlich der Drau, unter dem frühesten pannonischen Besitz der Ungarn das Land südlich des Flusses zu verstehen sein. Und es war vom Save-Drau-Zwischenstromland aus, dass 901 Karantanien vergeblich angegriffen wurde, weil das Angriffsziel als südlichster und nicht östlichster Teil des Bayernreichs beschrieben wird, oder mit anderen Worten, weil die Ungarn von Süden und nicht von Osten angriffen.24

Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet durch ungarische Niederlagen in Ost und West; man hat den Eindruck, als ob jeder Stamm auf eigene Faust vorgegangen wäre. Nach dem Tod des Kendes Cussal dürfte es jedoch zu einer Einigung gekommen sein. Dann erst gelang die Eroberung Pannoniens nördlich der Drau und im Anschluss daran erfolgte der vernichtende Schlag gegen das Mährerreich 905/06, wobei wohl die „mährischen” Ungarn die Vorreiterrolle spielten. Der Sieg beider Gruppen über die Bayern bei Preßburg 907 sicherte schließlich die Besitznahme ganz Pannoniens und zumindest des Ostteils des Mährerreichs, der heutigen Slowakei und Nordungarns, unter Einschluss des frühmittelalterlichen Pannoniens östlich der Enns und der Fischbacher Alpen.25

 

4. Schlussfolgerungen

Zugegeben, dem Leser wurde einiges zugemutet: Anstelle von Landnahme eine Ethnogenese der Ungarn in Ungarn analog etwa zu Angelsachsen, Alemannen und Bayern, und überdies Kämpfe innerhalb des Ungarischen Stammesbundes am Beginn dieses Prozesses als Verbündete zuerst der Mährer, dann der Franken. Dafür eine gute Nachricht: Unter den besprochenen Jahreszahlen für die Anfänge der ungarischen Niederlassung in Pannonien wirkt 896, also das übliche „Landnahmedatum”, am glaubwürdigsten. 896 hat sich aber Brazlavo sicher aus Westslawonien zurückgezogen, weil er das Land den Ungarn überließ oder, genauer, seinem Verbündeten Arpad(?) von 892 überlassen musste. Die ungarische Ethnogenese im Karpatenbecken begann daher einerseits unter dem chazarischen (?) Kende in mährischen Diensten am linken Donauufer und an der oberen Theiß (Oberungarn), andererseits unter árpádischer Führung und in fränkischen Diensten wie als Eroberer Slawoniens zwischen Save und Drau, das heißt in der Pannonia der spätantik-gotischen Tradition.

Dazu noch eine Beobachtung, ohne der mit Recht verpönten „vermischten Argumentation” zu verfallen: Archäologen meinen zu erkennen, dass Ungarn schon wenig nach 850 im nördlichen Karpatenbogen, das heißt im Mährerreich, angesiedelt wurden. Mechthilde Schulze-Dörlamm interpretiert entsprechendes Material dahingehend, dass ethnische Gruppen aus dem oberen Wolga-Kamagebiet bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts im nördlichen Karpatenbogen anzutreffen seien, von wo aus sie im Jahre 862 das ostfränkische Reich überfielen.26

Was ist aber zu 895 zu sagen, zu der Jahreszahl, die in den Schulbüchern den Beginn der ungarischen Geschichte in Ungarn markiert? Ihre Grundlage ist so schmal, dass sie im Grunde keine ist. Im Staatshandbuch Konstantins VII., des Purpurgeborenen, steht zu lesen, die Petschenegen hätten vor 50 oder, verbessert, vor 55 Jahren die Ungarn unter Arpad in den Westen vertrieben.27 Dazu nahm man an, De administrando imperio sei 950 geschrieben worden, weshalb man von dieser Jahreszahl auf moderne Art 55 Jahre abzog und auf 895 kam.28 Das Staatshandbuch wird jedoch heute nicht auf 950, sondern zwischen 948 und eher 952 datiert,29 was für eine auf mittelalterliche Weise (unter Einschluss der Ausgangszahl) errechnete „Landnahme” die Jahre 894 bis eher 898 ergäbe. Auch sind Annales Fuldenses anni 895 für die Datierung unbrauchbar.

Zwischen 985 und seinem Todesjahr 995 nahm der Bayernherzog Heinrich der Zänker seine Kämpfe gegen die Ungarn wieder auf, die er schon in den siebziger Jahren begonnen hatte. Im Jahre 991 „triumphierte Herzog Heinrich über die Ungarn”. Das ungarische Herrscherhaus der Arpaden musste daher wieder zu einer Annäherung an den westlichen Nachbarn finden. Noch zu Lebzeiten seines Vaters heiratete der 994/95 getaufte Sohn Gézas, Vajk die bayerische Prinzessin Gisela, die Tochter Heinrichs des Zänkers und Schwester dessen gleichnamigen Sohnes, der soeben Herzog geworden war. Da diese Verbindung im Einvernehmen mit dem ottonischen Hof erfolgte und der Schwager Stephans der spätere Kaiser Heinrich II. wurde, waren die guten Beziehungen Ungarns zum Reich auf eine dauerhafte Grundlage gestellt. Mit der bayerischen Gisela kamen nicht nur vermehrt christliche Missionare, sondern auch ein stattliches Gefolge ins Land.

Der Einfluss dieser „Gäste” reichte von militärischen Belangen – mit bayerischer Hilfe hatte Stephan nach dem Tod des Vaters die Herrschaft behauptet und wohl auch noch 1030 Kaiser Konrad II. besiegt – bis zum Urkundenwesen und der Gesetzgebung. Gézas Sohn Vajk hatte in der Taufe den Namen des Passauer Patrons Stephan erhalten. (Allerdings dürfte der Arpade den Namen nicht auf Passauer Vermittlung, sondern deswegen angenommen haben, weil er am Stephanstag getauft wurde.)30 Die großen Hoffnungen, die man in Passau bezüglich der ständigen Einbeziehung Ungarns in die bischöfliche Jurisdiktion oder gar hinsichtlich einer Rangerhöhung als Donaumetropole hegen mochte, blieben jedenfalls unerfüllt. Im Einvernehmen zwischen Papst, Kaiser und Bayernherzog erfolgten die Anerkennung Ungarns als christliches Königreich und die so gut wie gleichzeitige Einrichtung der ungarischen Kirchenprovinz in Gran, nachdem Stephan I. vor tausend Jahren zum ersten christlichen König der Ungarn gekrönt und gesalbt worden war.31 Stephan war ein politisches, militärisches und nicht zuletzt religiöses Genie, ein Gründerkönig, den die Nachwelt zurecht als Heiligen verehrt, getreu dem Grundsatz: sanctus utilis esse debeat.

 

Anmerkungen

1

Herwig WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband, 31, Wien 1995, 49 ff., 175 ff. und bes. 298 ff.; DERS., Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Österreichische Geschichte 378–907, (Wien 1995), 212 ff.

2

Karl BRUNNER, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert. Österreichische Geschichte 907–1156, (Wien 1994), 48 ff.

3

Herwig WOLFRAM, in: Deutsches Archiv 52, 1 (Köln 1996) S. 161–169., bes. 162 f.

4

H. WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.), S. 68–71.

5

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume [wie oben Anm. 1.), S. 326. mit Anm. 261.

6

Annales Fuldenses sive annales regni Francorum Orientalis. Ab Einhardo, Ruodolfo etc. (Ed.) Friedrich KURZE–Heinrich HAEFELE, Hannoverae 21891, (Nachdruck: 1993.) (MGH SS) oder: Ed. und übersetzt Reinhold RAU, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. VII, Darmstadt 1992, S. 1–177. (aa. 892, 894 und 896.)

7

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 325–327.

8

Herwig WOLFRAM, Wortbruch I. Nachträge zu „Salzburg, Bayern, Österreich”, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 105 (1997) S. 467–471., (bes. S. 467 ff.)

9

Annales Bertiniani (Ed.) Georg WAITZ, Hannover 1883, (MGH SS) oder (Ed.) Reinhold RAU, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. VI, Darmstadt 1969, S. 11–287. (a. 862.)

10

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.) (a. 892.)

11

Annales Iuvavenses maximi (Ed.) Harry BRESSLAU, Leipzig 1934, (Nachdruck Stuttgart 1976), S. 727 ff.) MGH SS 30, 2 ) (a. 881.)

12

H. WOLFRAM, Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), S. 467. mit Anm. 2.

13

Annales Alamannici (Ed.) Georg Heinrich PERTZ, Hannoverae 1826, (Nachdruck

Stuttgart 1976), S. 22–60. (MGH SS 1) oder (Ed.) Walter LENDI, Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik, in: Scrinium Friburgense, 1 (1971), S. 146–192. ( a. 863.)

14

Conversio Bagoariorum et Carantanorum (Ed.) Fritz LOSEK, Hannover 1997, cap. 3. (MGH Studien und Texte 15.)

15

Fritz Losek, der den Theotmar-Brief seiner MGH-Edition der Conversio beifügte, hat die wertvolle Quelle gerettet.

16

Theotmar von Salzburg, Epistola. Conversio 138–157. S. 148 ff.

17

Szabolcs de VAJAY, Der Eintritt des ungarischen Stammesbundes in die europäische Geschichte (862–933), in: Studia Hungarica, 4 (1968), S. 11 und 13 f.

18

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 162 f.

19

H. WOLFRAM, Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), S. 468 f.; Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (aa. 882–884).

20

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (aa. 884 und 892.); H. WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.), S. 91 f.

21

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), a. 892.

22

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (a. 894.) bringen den Tod Zwentibalds und dann erst die Überquerung der Donau durch die Ungarn – irreführende Übersetzung von Rau.

23

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio (Ed.) Gyula MORAVCSIK–R. J. H. JENKINS, , Dumbarton Oaks 1967, und 19672. (Corpus fontium historiae Byzantinae 1 und 2.) c. 40., 28.: Ungarn beginnt beim Eisernen Tor.

24

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 326.; DERS., Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.) S. 316 f.

25

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 272 f. und 327.; DERS., Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), 470.

26

S.: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz, 35/2 (1988) S. 373–478., bes. 441–446. – Andreas Schwarcz hat dankenswerter Weise auf diese Arbeit hingewiesen.

27

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio, c. 37, 5 ( 50 Jahre); c. 37, 13 f. (55 Jahre); vgl. c. 38, 55 ff., c. 40, 44 ff. (Árpád).

28

H. WOLFRAM, Deutsches Archiv (wie oben Anm. 3.), S. 166.

29

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio 1, S. 11; H. HUNGER, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd I, München 1978, S. 362. (Handbuch der Altertumswissenschaft 12, 5.)

30

János M. BAK, Stephan (István) I. d. Hl., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (München 1996) col. 112–114. col. 112.; Stefan WEINFURTER, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten (Regensburg 1999,) S. 90 mit Anm. 95. – Zum Tauftag Stephans siehe Ademar von Chabannes, Historiae (Ed.) Georg WAITZ, Hannoverae 1841 (Nachdruck Stuttgart 1981), S. 106–148) (MGH SS 4), oder DERS., Historiae (Chronicon) (Ed.) Pascale BOURGAIN u. a., Corpus Christianorum, 129, 1, Turnhout 1999, III, 31.

31

Herwig WOLFRAM, Konrad II. (990–1039) Kaiser dreier Reiche, (München 2000), S. 245 f. und 249.; DERS., Die ungarische Politik Konrads II. Festschrift János M. Bak (Budapest 1999), S. 460 ff.

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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:99–111.

LÁSZLÓ VESZPRÉMY

Die Ostmark (Bayern-Österreich) und Ungarn

 

Die Ungarn der Landnahmezeit bzw. der Zeit der Streifzüge zogen mit selbstverständlicher Natürlichkeit durch Pannonien und nahmen das Gebiet der fränkischen Markgrafschaften in Besitz. Sie überschritten die westliche Grenze des Landes der Ungarn ohne geahnt zu haben, wo die Grenzen der römischen Provinzen oder fränkischen Marken, ein Jahrtausend später die im Friedensvertrag von Trianon bestimmten Grenzen verliefen. Laut der Salzburger Annalen waren die Ungarn im Jahre 881 „ad Weniam” und die Kabaren in der Gegend von Pöchlarn anzutreffen.1 Die mittelalterliche Historiographie Ungarns widmete der in einem Teil vom künftigen Österreich entstehenden Ostmark keine besonders große Aufmerksamkeit; man machte nämlich keinen Unterschied zwischen dem Reich und der Ostmark. Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass sich die ungarischen Chronisten auf diesem Gebiet, wo sie sogar kleinere Städte und Flüsse namentlich erwähnten, einigermaßen gut auskannten. Für die zufällige Kontinuität spricht jedoch, dass der Fluss Répce, der einst die Grenze zur fränkischen Markgrafschaft bildete, zur Grenze zwischen den ungarischen Komitaten Wieselburg (Moson), Ödenburg (Sopron) bzw. Eisenburg (Vas) wurde.2

In den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts sollte schließlich der ungarische Chronist Simon von Kéza im Zusammenhang mit den Kämpfen des Jahres 1042 aufgrund der Altaicher Jahrbücher den Markgrafen Gottfried erwähnen und ihn als Österreicher identifizieren sowie den Einbruch der Ungarn in Österreich durch Erwähnung des Flusses Traisen und von Petovia lokalisieren.3 Viel interessanter ist jedoch die in den ungarischen Chroniken alleinstehende Bemerkung des Chronisten, dass Österreich im 11. Jahrhundert von Markgrafen, d. h. marchiones, damals, im 13. Jahrhundert jedoch schon von Herzögen, d. h. duces regiert wurde.4 Mit seinen gründlichen Informationen prahlend fügt der Chronist der Münchener Variante der ungarischen Chronikredaktion noch hinzu, dass Petovia Pettau heißt und in Kärnten liegt; und nicht Pitten in Steiermark wie im allgemeinen angenommen ist.5 Bei der Erwähnung von Tulln meint er zu wissen, dass es einst zu Pannonien gehört hat, sich nunmehr aber auf österreichischem Gebiet befindet. In der ungarischen Bilderchronik (sog. Wiener Bilderchronik) wird – zwar irrtümlich – hinzugefügt, dass der Ort etwa drei Rast von Wien entfernt liegt.6 Diese Bemerkung zeugt eindeutig davon, dass Österreich bereits im 13. Jahrhundert eine privilegierte Stellung unter den Nachbarn Ungarns einnahm, im Vergleich zu denen anderer Länder waren seine Geschichte und Topographie den Ungarn relativ gut bekannt.

 

1. Die Grenzen

Die moderne ungarische Geschichtsschreibung konzentrierte sich vor allem auf die Veränderungen der österreichisch-ungarischen Grenzlinie bzw. auf die von dieser Frage nicht ganz unabhängigen ungarischen Bezüge des Nibelungenliedes. Die Historiker sind der Meinung, dass die westliche Grenze der ungarischen Oberherrschaft nach der vernichtenden Niederlage der Deutschen im Jahre 907 bei Preßburg (Pozsony, Bratislava) weit im Westen verlief.7 Die Niederlage bei Preßburg bedeutete die Vernichtung der bayerischen Kriegerelite in den Marken. Die einstige fränkisch-awarische Grenze die Enns entlang wurde wiederhergestellt. Diese Bestrebung wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Routen der Streifzüge der Ungarn in Richtung Westen lange Zeit die Donau entlang führen mussten. Demnach wurde das Land auch an seiner Westgrenze von einem weit ausgedehnten, gar nicht oder nur spärlich bewohnten Niemandsland umgeben, über das die Ungarn durch die Errichtung von Wachposten ihre Oberherrschaft ausübten. Interessanterweise meint die überwiegende Mehrheit der ungarischen Historiker in der Person des Gizo, Herrn von Melk, oder vielleicht in der eines Sighardinger Sizo den ungarischen Fürsten Géza zu erkennen und daher wird Melk häufig als ungarische Grenzburg erwähnt. Sicher ist es übertrieben, aufgrund einer einzigen, aus dem Jahre 983 stammenden Angabe die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Truppen Gézas Melk nicht nur zerstört, sondern auch zurückerobert hatten.8 Ferner ist es ebenfalls fraglich, dass die Ungarn, die in ihrem eigenen Land erst im 11. Jahrhundert mit dem Burgbau begannen, von ihrer leichten Bewaffnung und traditionellen Strategie abweichend gerade auf diesem Gebiet den Bau von starken Grenzburgen versucht hätten.9 Auch der Ausdruck Óperencia – eigentlich Österreich ob der Enns – taucht im ungarischen Märchenschatz erstmals im 18. Jahrhundert auf, als ein fernliegendes, meistens nur in der Vorstellung existierendes märchenhaftes Meer, Land oder Gebirge.10 Es ist durchaus möglich, dass dieser Ausdruck – im Gegensatz zu der ziemlich weit verbreiteten ungarischen Auffassung – nicht auf die Ereignisse aus dem 10. Jahrhundert zurückzuführen ist. Die Beurteilung der Grenzgebiete außerhalb der Siedlungsgrenzen ist in der modernen Fachliteratur schon immer problematisch gewesen. Ihre Beschreibung vermittelt das Bild einer riesigen, beinahe einheitlichen Pufferzone, die von Peremyschl/Przemyśl über Brünn (Brno) bis Melk reichte.11 Aber es kann sich eigentlich eher um Kontrollpunkte von strategisch wichtigen Reiserouten und Furten gehandelt haben, die im Falle von Gefahr mit einem größeren Gegenschlag verteidigt wurden.

Mehrmals wurde der Versuch unternommen, das um 1200 entstandene Nibelungenlied als unmittelbar benutzbare Quelle der Geschichte Ungarns im 10. Jahrhundert zu interpretieren.12 Im Nibelungenlied kommen tatsächlich ungarische Ortsnamen wie Gran (Esztergom), Wieselburg (Moson) oder das mit dem späteren Óbuda (Alt-Ofen) identifizierte Etzelburg vor. Von den ungarischen Persönlichkeiten sind es in erster Linie der Fürst Géza und Königin Gisela, die als Vorbilder des friedlichen, untätigen Königs Attila bzw. der „bösen” Kriemhild in Betracht kommen. Diese Auffassung wurde von Bálint Hóman bzw. von Péter V. Simon vertreten, während in neuester Zeit Salvini-Plawen sogar die Erwähnung ungarischer historischer Ereignisse des angehenden 13. Jahrhunderts für möglich hielt. Andere wiederum betrachten das Werk als historische Quelle hinsichtlich der Grenzflüsse, da der Markgraf der Hunnen, Rüdiger, den einige für das Vorbild des zu den Ungarn fliehenden Herzogs Arnulf halten, in Pöchlarn an der Erlau seinen Sitz hat und das wahre Etzelenlant erst am Fluss Traisen beginnt.13 Auch wenn das Nibelungenlied nicht als direkte Quelle der Ereignisse des 10.–11. Jahrhundert interpretiert werden kann, steht so viel fest, dass es um 1200 herum eine entscheidende Rolle in der Entstehung des ungarischen Nationalbewusstseins und des mythischen Rahmens der hunnisch-ungarischen Identität gespielt hat.14 Im 13. Jahrhundert übernahm der bereits erwähnte Chronist Simon von Kéza einige Szenen des Nibelungenliedes in seine Darstellung der Geschichte vom hunnisch-ungarischen Attila. Somit zogen die Namen Tulln und Zieselmauer in die ungarischen Geschichtsbücher ein, sie wurden in die gedruckten Chroniken übernommen und sind bis in unsere Tage dort zu lesen. Simon von Kéza oder einer seiner Vorgänger hat auch unter den vom Westen kommenden advenae Österreicher gefunden. Wolfger und Hedrich sollten aus dem steyerischen Wildon, nach anderen Chronikvarianten, aus Hainburg gekommen sein, während Tibold de Fanberg eventuell aus Schaumburg stammte.15

Über das westliche Grenzgebiet Ungarns in der Zeit zwischen 955 und 997 gibt es viele Vermutungen. Vermutlich war der „Preis” des Friedens zwischen Géza und Otto I. die Modifizierung der Grenzen der ungarischen Oberherrschaft, eventuell der Rückzug bis zum Fluss Traisen. Andere wiederum datieren dieses Ereignis auf die Jahre nach dem Tod von Otto II., als in diesem Raum die Spannung zwischen den Ottonen und dem nach der kaiserlichen Krone strebenden Fürsten von Bayern, Heinrich dem Zänker, zunahm. In diesen Jahrzehnten verhielten sich die Ungarn eher passiv. Das kann für Heinrich den Zänker als Grundlage gedient haben, des ausfallenden ungarischen Beistands wegen aggressiv aufzutreten („triumphavit” im Jahre 991), und eventuell steht auch die Rücknahme der Grenzlinie bis zum Wienerwald mit diesem Umstand im Zusammenhang. Einige identifizieren den Ausdruck „der Krieg zwischen den Deutschen und den Ungarn” in der interpolierten Gründungsurkunde von St. Martinsberg (Pannonhalma) mit diesem Ereignis, andere bringen ihn eher mit dem nach 997 mit bayerischer Hilfe ausgetragenen inneren Kriege in Zusammenhang.16

Schließlich kann der Rückzug zum Fluss Leitha als eine Geste der Ungarn zwecks Aufnahme der Beziehungen zu Otto III. nach seiner Krönung angedeutet werden. Nach einigen Meinungen soll das beispielhafte Festhalten im Geist des 973 geschlossenen deutsch-ungarischen Vertrags zum Ausbleiben der Hilfe geführt haben, welche die Ungarn den Bayern in ihrem Kampf gegen den Kaiser hätten leisten sollen, doch es ist durchaus möglich, dass das ungarische Heer einfach von den gesellschaftlichen Konflikten der Jahre nach 955 gelähmt wurde. Doch während die wechselnden Grenzen der ungarischen Oberherrschaft in der Ostmark eine umstrittene Frage sind, stimmen die Fachleute darin überein, dass diese Grenzlinie in der Steyermark den Flüssen Mur und Raab, der Wasserscheide der Mürz und der Raab, dem „mons Predel” sowie den heutigen Fischerbacher Alpen folgte.17 Hinter den westlichen Grenzlinien kann keine bewusste ungarische Besiedlungsaktivität nachgewiesen werden, doch die Ortsnamen bewahren oft bis in die Neuzeit die Namen der ungarischen Wachposten.18 Fest steht in der ungarischen Forschung, dass nach dem deutsch-ungarischen Konflikt des Jahres 1030 die Grenze der ungarischen Oberherrschaft wieder weiter nach dem Westen, zwischen die Flüsse Leitha und Fischa bzw. im Norden bis zum Fluss Morawa vorgerückt wurde. Obwohl einige mit Recht, wie unlängst Herwig Wolfram die Vermutung aufwarfen, dass bis 1030 die Fischa und nicht die Leitha die Grenzlinie bildete.19 Die Verteidigung der das linke Donauufer entlang verlaufenden Straße beruhte auf der Burg Preßburg. Daher war ihr Ausbau von den Ungarn unter den ersten erfolgt. Ein Beweis dafür ist, dass die Burg im Zusammenhang mit den Kämpfen im 11. Jahrhundert häufig Erwähnung findet. Zur Zeit der ungarischen Niederlagen nach dem Tod Stephans erreichte die Grenze im Süden die frühere, vielleicht bereits 991 erreichte Linie des Flusses Lafnitz,20 im Norden die der Leitha und bedeutete bis zum Jahre 1918 die tatsächliche, seitdem die symbolische Ost-West-Grenze des Landes.

 

2. Ungarische Grenzverteidigung

Am wichtigsten unter den Nachbarn Ungarns im 11. Jahrhundert war das Reich bzw. die Ostmark, wo die Straßen kontrolliert wurden, welche ins Reich führten. Ungarn, das sich nach 973 zum lateinischen Christentum hinwandte, wurde durch die Grenze vom Reich nicht nur getrennt, sondern auch kulturell und politisch mit ihm vereint. Zur gleichen Zeit errangen die ungarischen Heere ihre größten Erfolge und erlitten ihre schwersten Niederlagen an diesem Grenzgebiet. Ein spektakuläres Ereignis dieser Beziehung war die Eröffnung der Pilgerstraße ins Heilige Land von Stephan dem Heiligen, von der auch ein Itinerar aus dem 12. Jahrhundert zeugt. Da in diesem Itinerar der Fluss Fischa als die österreichisch-ungarische Grenze sowie Hainburg als ein Ort auf ungarischem Gebiet erwähnt sind, widerspiegelt es die Verhältnisse der Jahre vor 1043.21 Bis 1030 bzw. 1041 waren eindeutig die friedlichen Beziehungen entscheidend, danach verdienten jedoch die bis 1108 von Zeit zu Zeit immer wieder geführten deutschen Reichszüge die größte Aufmerksamkeit. Doch von einem deutsch-ungarischen Konflikt kann überhaupt nicht gesprochen werden. Diese Kämpfe stellten vielmehr die wichtigsten Mittel des sich stets verändernden dynastischen, politischen und militärischen Beziehungssystems des Reichs, der österreichischen Markgrafschaft sowie des während des Investiturstreites über einen größeren Spielraum verfügenden Ungarn dar. Wie das Heide Dienst summiert: „der Bürgerkrieg des sog. Investiturstreites barg wesentlich größeren politischen Sprengstoff als die Grenzkämpfe. Er brachte es mit sich, dass Ungarn und Böhmen als Bündnispartner und Helfer der beiden streitenden Parteien ein wesentlich höheres politisches Gewicht erhielten.”

Hansgerd Göckenjans Meinung nach kann man den Grenzschutz und das Grenzwächtersystem Ungarns folgendermaßen zusammenfassen: „Ungarn war von ausgedehnten Waldgürteln umgeben, die das Land gegen feindliche Einfälle abschirmten (...). Im Westen erschwerten die waldreichen Ausläufer der Ostalpen ebenso wie die unzugänglichen Sumpfregionen östlich des Neusiedler Sees (Fertő) und die Überschwemmungsgebiete der westungarischen Donauzuflüsse jeden Angriff. Nach den Ereignissen der Jahre 951 und 955 trugen die Ungarn der veränderten Lage Rechnung, indem sie die Grenzwildnis im Westen durch zahlreiche Verhaue und Befestigungen zusätzlich sicherten und unwegsam machten. Wie Otto von Freising in 12. Jahrhundert schrieb: »gloriosissimus rex [sc. Otto I.] tantaque predictos barbaros [sc. Ungaros] virtute stravit, ut exhinc gens omnium inmanissima non solum regnum invadere non auderet, sed et suum desperatione correpta vallibus et sudibus in locis palustribus munire cogitaret«. Das Grenzödland wurde nur von wenigen Straßen durchschnitten, die Ungarn mit den benachbarten Ländern verbanden. Eine Kontrolle der Durchreisenden ermöglichten vor allem die als clusae oder portae regni bezeichneten Landestore, deren Bollwerke wiederholt den Angriffen feindlicher Heere widerstanden. Die Altaicher Annalen rühmten die Stärke der Befestigungen, auf die Heinrich IV. bei seinem Ungarnzug im Jahre 1063 bei Wieselburg stieß oder drei Jahrzehnte später scheiterte ein Kreuzfahrerheer bei dem Versuch, das Landestor von Wieselburg im Sturm zu nehmen.”22

Schriftliche Angaben über das westliche Grenzverteidigungssystem Transdanubiens stehen uns seit dem Ungarnzug Konrads II. zur Verfügung. Zur Grenzverteidigung wurden die Wälder, Sümpfe und Flüsse Transdanubiens, so unter anderem die natürlichen Schutzlinien der Flüsse Raab, Rábca, Lafnitz, Zala und Mur, ausgenutzt. Die in die Mitte des Landes führenden Kriegsstraßen wurden so angelegt, dass sie durch leicht zu verteidigende Tore (porta) führen sollten, welche auf die Straße quer standen und durch Holzgerüste verstärkt waren. So findet man das Russische Tor bei Verecke, die polnischen Tore am Fluss Poprád oder in Sáros bzw. die deutschen Tore in Kapuvár oder Radkersburg in Transdanubien.23

Die einen spezifischen Typ der Burgorganisation bedeutenden Grenzkomitate, Grenzgespanschaften sind eine der umstrittensten Organisationen der ungarischen Verwaltung der Árpádenzeit.24 Ihr lateinischer Name (marchia, confinium) kommt nur selten, meistens in den Gesetzen vor. In juristischem Sinne könnte eigentlich von Grenzgespanschaften, Grenzgespanen nur dann gesprochen werden, wenn man – nach westeuropäischem Vorbild – die direkte Abhängigkeit vom König nachweisen könnte. Das würde den Unterschied zwischen dem Grenzkomitat und der eigentlichen Grenzgespanschaft bedeuten. Dies kann am ehesten im Falle der „Marchia” zwischen der Donau und der Save nachgewiesen werden. Als alleinstehende Organisation verweist dies jedoch auf eine sehr frühe und nur ausnahmsweise ins Leben gerufene Praxis. Weniger wahrscheinlich, doch nicht unmöglich ist, dass die Bezeichnung „Sebes marchio” (1039) auf eine westliche Grenzgespanschaft (mit dem Zentrum in Wieselburg, Neutra [Nyitra/Nitra]) verweist. An die westliche Grenzlinie knüpft sich das Problem von Bergl (Oroszvár), Rusovce, gebaut auf die Ruinen des römischen Kastells Gerulata.25 Außer dem Ortsnamen, der einen ungarischen Chronisten um 1200 auf hier angesiedelte Russen folgern lässt, stehen uns keine weiteren Angaben zur Verfügung. Es wäre jedenfalls auffällig gewesen, wenn zwischen die Grenzverteidigungsorte eines leicht bewaffneten Hilfsvolks schwer bewaffnete Waregen angesiedelt worden wären.

Übrigens scheint es glaubwürdig zu sein, dass die durch das Land führende internationale Heerstraße im Norden und im Süden von einem Grenzgebiet mit besonderem Terminus verteidigt wird, das militärisch ausreichend befestigt ist. Von 1018 an ist es bekannt, dass diese Heerstraße zugleich zu einer ins Heilige Land führenden wichtigen Straße aufrückt, die über Raab (Győr) und Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) Transdanubien durchkreuzt. Zur gleichen Zeit wurde geklärt, dass die nahe der westlichen Grenze, vor allem am Fluss Waag gegründeten, später aufgelösten und in Komitate verschmolzenen Burggespanschaften (Bolondóc [Beckov], Freistadtl [Galgóc/Hlohovec] usw.) nicht als der Zuständigkeit des Komitatsgespans entzogene Grenzgespanschaften aufgefasst werden dürfen, sondern dass sie als Burggespanschaften charakterisiert werden können, die keinen Komitatshintergrund haben und Grenzwachaufgaben versahen26. Dem Gespan von Ödenburg konnte z. B. Babót unterstellt gewesen sein, vielleicht auch Kapuvár und Locsmánd. Unter den Einwohnern der Grenzgespanschaften sind die Wächter, die Schützen zu finden. Aufgrund der Gesetze gehörte nicht nur der militärische Schutz der Grenze des Landes, das Auskundschaften, sondern auch die Kontrolle des Außenhandelsverkehrs, der Ausfuhr von Pferden und Ochsen zu ihren Aufgaben.

Von Transdanubien führten zwei Hauptstraßen in Richtung Westen hin. Die Straße aus Gran verzweigte sich bei Raab, der eine Zweig folgte dem Lauf der Donau und erreichte die Landesgrenze beim Wieselburger Tor. Der andere Zweig führte um den Neusiedler See und bog sodann durch Kapuvár und das Ödenburger Tor nach Westen ab. Die nördliche Straße führte durch die Schanzen der Leithagegend und Kapuvár. Diese letztere tat der Überschwemmung mit Wasser Einhalt. Auch die vom Süden ins Landesinnere führenden Straßen wurden mit ähnlicher Sorgfalt verteidigt. Die ersten Schanzen der aus Pettau kommenden sog. Italienischen Straße (via Latinorum), der Fortsetzung der Bernsteinstraße, standen bereits bei Radkersburg an dem Mur, während die Verteidigungsanlagen der aus Fürstenfeld kommenden deutschen Straße (via Theutonica) am Fluss Lafnitz errichtet wurden. Nach ihrer Vereinigung gingen die beiden Straßen bei Eisenburg (Vasvár) über eine weitere, sogar heute vorhandene 3–4 Meter hohe Schanze und eine vier Meter breite Kontrollstelle, um dann ungehindert ins Landesinnere, nach Wesprim (Veszprém) und Székesfehérvár zu führen.

 

3. Kämpfe an der Grenze

Über den Angriff des Kaisers Konrad II. gegen Ungarn im Jahre 1030 stehen uns wichtige Informationen zur Verfügung. Das deutsche Heer drang tief in Transdanubien ein, doch – wie mehrmals im 11. Jahrhundert – sahen sie sich gezwungen, wegen Schwierigkeiten des Nachschubs zurückzukehren.27 Das mächtige Heer bestand außer den zahlreichen Bayern auch aus Lothringern, und böhmische Hilfstruppen waren ebenfalls unterwegs. König Stephan I. erkannte wahrscheinlich richtig den geringeren militärischen Wert des ungarischen Heeres und wartete weise ab. Erst später gingen die ungarischen leicht bewaffneten Reiter in den Angriff über, und es gelang ihnen, die sich auf dem Rückweg befindenden Deutschenmit ihrem Guerilla Kampfstil so sehr zu schwächen, dass sie schließlich das kaiserliche Heer bei Wien umringen und gefangen nehmen konnten. Dieser Erfolg wurde zu einem der größten der ungarischen Kriegsgeschichte des 11. Jahrhunderts, die Ereignisse des Jahres 1051 im Vértes Gebirge bekräftigten die Richtigkeit dieser Strategie und Taktik.

Nach dem Tod Stephans I. gewannen die deutsch-ungarischen Kriege einen erneuten Schwung, als Peter Orseolo als vertriebener König von Ungarn im Oktober 1041 in Regensburg erschien und den Kaiser um Hilfe gegen seinen Rivalen, König Aba, bat. Nicht ohne jeglichen Grund sah Kaiser Heinrich III. darin eine Möglichkeit, nach dem Tod Stephans des Heiligen seinen Einfluss auf das in eine Krise geratene Ungarn auszudehnen, und innerhalb von einem Jahrzehnt führte er fünf Kriegszüge gegen Ungarn. Im September 1042 drang er bis zum Fluss Gran vor, 1043 versuchte er es am anderen Donauufer, bis es den Deutschen schließlich 1044 gelang, in kleinere Truppen unterteilt den ungarischen Grenzschutz zu überwinden und am 5. Juli unweit der Grenze, bei Ménfő, das Heer des Königs Aba in einer offenen Schlacht zu besiegen. Danach hielt Kaiser Heinrich Einzug in Stuhlweißenburg, in die Krönungsstadt der Ungarn, und setzte Peter eigenhändig in die Macht zurück, indem er ihm sogar die von Kaiser Otto III. geschenkte ungarische königliche Lanze zurückgab. 1045 finden wir Heinrich erneut in Stuhlweißenburg, wo er die Lanze wieder zu sich und damit das Land unter seine Lehnherrschaft nahm, doch Peter wurde von seiner inneren Opposition bereits im darauf folgenden Jahr zu Fall gebracht. Im Laufe dieser Kämpfe verlor Ungarn die Gebiete, die das Land im Jahr 1030 gewann und die Reichsgrenze wurde für mehrere Jahrhunderte den Fluss Leitha entlang stabilisiert.28

König Andreas I., der gerade zur Macht gelangte, sowie sein jüngerer Bruder Béla stellten sich 1051 entscheidend dem Angriff unter der Führung Heinrichs III., einem der vielleicht am besten organisierten deutschen Angriffe des Jahrhunderts. Die Deutschen griffen aus drei Richtungen an. Nördlich drangen sie von den Flüssen Waag und Neutra ein, während der Nachschub auf der Donau transportiert wurde. Der Kaiser umging mit dem Hauptheer den schwer zu durch dringenden Grenzschutz an den Flüssen Raab und Rábca, drang an der Mündung des Flusses Zala ins Land ein, und nahm seinen Weg direkt in Richtung Stuhlweißenburg. Der Schatz- und Münzfund von Zsennye und Bögöt, der wohl vor dem Feind versteckt worden war, wird mit diesem Angriff in Zusammenhang gebracht.29 Nach einer landesweiten Alarmierung ergriff das Heer Ende August die Offensive. Da jedoch die Ungarn dem Feind auswichen und die Ankunft des deutschen Nachschubs verhinderten, kehrte Heinrich am Anfang des Herbstes unverrichteter Dinge nach Hause. Auf seinem Heimweg bereiteten ihm die Ungarn im Vértes Gebirge einen schweren Verlust, so dass er nur nach großen Schwierigkeiten bis zum 25. Oktober in Hainburg ankam. Das Andenken an den Sieg der Ungarn im Vértes Gebirge wird bis in unsere Tage von einer Volkssage bewahrt, der Name des Gebirges wird von der Volksetymologie durch die weggeworfenen Schilde der Deutschen erklärt.30 1052 wurde Preßburg vom deutschen Kaiser erfolglos belagert, während – wenigstens laut einer ungarischen Volkssage – ein ungarischer Soldat, der Taucher Kund, die Schiffe mit dem für die deutschen bestimmten Nachschub versenkte.

Um die Macht für seinen fünfjährigen Sohn, Salomo sichern zu können, schloss Andreas I. Frieden mit den Deutschen und gewann Judit, die Tochter Heinrichs III. für seinen Sohn zur Gemahlin. Doch umsonst stellten ihm 1060 im Kampf gegen seinen Bruder Béla die Deutschen und Böhmen Hilfstruppen zur Verfügung, er erlitt eine Niederlage. Bald verstarb Andreas und sein Sohn Salomo wurde bei Kaiser Heinrich IV. in Sicherheit gebracht. Heinrich IV. kam seiner Pflicht tatsächlich nach und am Ende des Sommers 1063 setzte er in Stuhlweißenburg mit Hilfe seines großen Heeres Salomo auf den ungarischen Thron. Doch Salomo bzw. die ihn unterstützende deutsche Partei verwickelten sich in langwierige Kämpfe mit den Söhnen des Herzogs Béla, mit Géza und dem späteren König Ladislaus I.

Den Wendepunkt in der Herrschaft Salomos und der deutschen Partei bedeutete 1074 die Schlacht bei Mogyoród im Komitat Pest, wo die Herzöge den Sieg davontrugen. Salomo wurde endgültig aus der Macht verdrängt. Da er aber noch einige Befestigungen an der Grenze besaß, ermunterte er umsonst seinen Schwager, den deutschen Kaiser zur Einmischung. 1074 kehrte Heinrich ohne Kampf aus Ungarn heim, und verwickelte sich immer mehr in einen langwierigen, ihn oft mit dem Sturz bedrohenden Streit mit dem Papsttum. Ladislaus heiratete die Tochter des deutschen Gegenkönigs Rudolf, und als sich auch der Markgraf von Österreich gegen den Kaiser wandte, eroberte er von Salomo auch die Burg von Preßburg sowie die ungarische Krone zurück.

 

4. Ein neues System von Beziehungen

Als die bayrisch-ungarischen Beziehungen Ende der neunziger Jahre des 10. Jahrhunderts enger wurden, geschah es zu einer Zeit, wo sie für den Erfolg und Charakter der gesamten ungarischen Staatsgründung ausschlaggebend waren. In diesem Prozess fiel der Ostmark eine Vermittlungsrolle zu, die im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts sogar einen eigenartigen Charakter hatte. Namentlich bekannt ist uns z. B. der Regensburger Mönch, der mit dem Schiff die Donau hinabfuhr, und in Gran dem heiligen Emmeram zu Ehren Antifonen verfasste. 1053 flüchtete Chuono/Konrad, Fürst von Bayern, nach Ungarn, von wo er mit ungarischer Hilfe in Kärnten einbrach, und später um 1077 auch Graf Ekbert von Formbach.31 1060 ließ König Andreas I. vor den einbrechenden Truppen Bélas in die Burg Melk des Markgrafen von Österreich, Ernst seine Familie flüchten. 1063 schenkte die Witwe des Königs Andreas I. das sog. Schwert Attilas dem Herzog von Bayern, Otto II.32 Die Regierungszeit von Géza II. hat von unserem Gesichtspunkt aus eine besondere Bedeutung. In das von ihm in Cikádor, im Komitat Tolnau gestiftete Zisterzienserkloster kamen Mönche aus Heiligenkreuz. Die Schwester von Géza, Sofie, zog sich nach Vereitelung ihrer geplanten Ehe mit Heinrich Hohenstauf ins Kloster von Admont zurück. In jenen Jahren gelangte auch die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Salzburg illuminierte Admonter Bibel nach Csatár in Ungarn.33

Das Heer des von den Deutschen, vom Markgrafen von Österreich sowie dem Herzog von Bayern unterstützten Thronprätendenten Boris wurde von Géza II. im Gebiet zwischen der Fischa und der Leitha geschlagen. Dieser Kampf ist der erste Erfolg des ritterlich bewaffneten ungarischen Heeres. Bald sollte am norditalienischen Kriegszug im Heer desselben Heinrichs II. eine Truppe von mehreren hundert ungarischen Bogenschützen beteiligt sein. Im Jahre 1166 gewann der König von Ungarn, Stephan III., die Tochter des Herzogs von Österreich zur Gemahlin, Agnes, während die Tochter von Géza II. mit Leopold, Herzog von Österreich vermählt wurde.

Die Verselbständigung der östlichen Marken, die Stabilisierung des „werdenden Landes” und des selbständigen Ungarns, die Konsolidierung der mitteleuropäischen Machtverhältnisse sind Prozesse, die eng miteinander zusammenhängen. Darin spielen die Aktionen Heinrichs des Zänkers, die einen Auftritt des Reichs in Ungarn unmöglich machten, eine ebenso wichtige Rolle, wie die friedlichen Jahrzehnte, welche mit der Eheschließung Stephans und Giselas ihren Anfang nahmen. Der Klassiker der ungarischen Historiographie, Bálint Hóman führte die besondere Beziehung zwischen der Ostmark, Bayern bzw. Ungarn auf rein psychische Ursachen zurück: „Was ihren Charakter und ihre Bildung anbelangt, standen die Ungarn den Bayern viel näher als ihren Nachbarn. (...) In den Bayern jedoch lernten sie ausgezeichnete Krieger, disziplinierte Soldaten, offene Feinde, ehrliche Freunde und ein unabhängiges Volk wie sie es selbst waren, kennen. (...) Das Bild ist zwar übertrieben und idealisiert, doch auch heute, wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist man der Meinung, dass der Weg der Ungarn zur westeuropäischen Zivilisation durch die konsolidierten Beziehungen zur Ostmark und zu Süddeutschland führte.”34 Gegenüber der übertriebenen Meinung der mittelalterlichen Chronisten, die den Sieg der Habsburger in der Schlacht auf dem Marchfeld (Dürnkrut) ausschließlich der Hilfe der Ungarn zuschrieben, sind wir der Meinung, dass die österreichisch-ungarische Schicksalsgemeinschaft im 10.–11. Jahrhundert ihren Anfang nahm.

 

Anmerkungen

1

Herwig WOLFRAM, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, 378–907, Wien, 1987. S. 373–375.: Diese Nachricht der Salzburger Annalen enthält nicht bloß die älteste Nennung Wiens, sondern auch die früheste Erwähnung der Ungarn durch einen bayerischen Beobachter. Wien und die Ungarn traten also gemeinsam in die Geschichte ein; eine Verbindung, die trotz des stürmischen Beginns bis heute anhält; György GYÖRFFY, Der Donauraum zwischen Bayern, Mähren und Ungarn im 10. Jahrhundert, in: Baiern, Ungarn und Slawen im Donauraum, Wien 1991, S. 43. ff. (Forschungen zur Geschichte der Städte und Märkte Österreichs 4.)

2

Gábor KISS–Endre TÓTH–Balázs ZÁGORHIDI CZIGÁNY, Savaria-Szombathely története a város alapításától 1526-ig [Geschichte von Szombathely-Steinamanger von seiner Gründung bis 1526], Szombathely, 1998, S. 110.

3

László VESZPRÉMY (Hrsg.), Simonis de KÉZA, Gesta Hungarorum. Simon of Kéza, The Deeds of the Hungarians. Übers. Frank SCHAER, Budapest–New York, 1999, S. 112. (Kap. 48.)

4

Ebd. Kap. 48. S. 112.

5

Sándor DOMANOVSZKY (Hrsg.), Chronicon Monacense, in: Scriptores rerum Hungaricarum. Hrsg. von Imre SZENTPÉTERY. Bd. II, Budapest, 1938, (Reprint. Budapest, 1999.), S. 68–69. – Für die Lokalisierung s. Alois ZAUNER, Die Anfänge des Landes ob der Enns, in: Österreich in Hochmittelalter, 907 bis 1246. Hrsg. von Anna M. DRABEK, S. 201.

6

Chronicon Monacense (wie oben Anm.5.), S. 58. und Sándor DOMANOVSZKY (Hrsg.), Chronicon Pictum in Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, Bd. I., S. 259–260. (SRH)

7

H. WOLFRAM (wie oben Anm. 1.), S. 308.; György GYÖRFFY, Stephan der heilige, Budapest, 1988, S. 40.; György GYÖRFFY, Landnahme, Ansiedlung und Streifzüge der Ungarn, in: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, 31 (1985) S. 231–270.; István BÓNA, A magyarok és Európa a 9–10. században [Die Ungarn und Europa im 9.–10. Jahrhundert], Budapest, 2000, S. 76–81.; von österreichischer Seite: Fritz POSCH, Die deutsch-ungarische Grenzentwicklung im 10. und 11. Jahrhundert auf dem Boden der heutigen Steiermark, in: Südostforschungen 11 (1963) S. 126–139.; DERS., Die Leistungen der Steiermark im Kampf gegen Ungarn, in: 800 Jahre Steiermark und Österreich 1192–1992, Graz, 1992, (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, Band 25.) S. 61–72.

8

I. BÓNA (wie oben Anm.7.), S. 80. – Bóna, wie viele ungarische Forscher, meint, dass Gizo mit Fürst Géza identisch wäre.

9

István BÓNA, Az Árpádok korai várai [Die frühen Burgen der Arpaden], Debrecen, 1998, S. 18.

10

Lóránd BENKŐ (Hrsg.), A magyar nyelv történeti etimológiai szótára [Das historisch-etymologische Wörterbuch der ungarischen Sprache], Band 2, Budapest, 1971, S. 1084–1085. (Auch veröffentlicht als Etymologisches Wörterbuch des Ungarischen).

11

Gy. GYÖRGY, István király és műve (wie oben Anm. 7.), S. 82–86.

12

Jakob BLEYER, Die germanischen Elemente der ungarischen Hunnensage, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 31 (1907) S. 429–599.; Bálint HÓMAN, Geschichtliches in Nibelungenlied, Berlin-Leipzig, 1924. (Ungarische Bibliothek. Für das Ungarische Institut an Universität Berlin. Hg. von Robert GRAGGER. 1. Reihe, Band 9.); Péter SIMON V., A Nibelungének magyar vonatkozásai [Die ungarischen Beziehungen des Nibelungenliedes], in: Századok, 112 (1978) S. 271–325.; A. BERCZIK, Vermutliche ungarische Spuren im Nibelungenlied, in: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses. Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A II, Bern und Frankfurt, 1976, S. 383–388.; Luitfried SALVINI-PLAWEN, Zur Datierung des Nibelungenliedes. Bezüge zum Haus Andechs-Meranien, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 103 (1995) S. 26–43.

13

Max WELTIN, Markgraf Rüdiger von Bechelaren – eine historische Figur?, in: Philologica Germanica (Wien), 12 (1990) S. 181–193. – Ihrer Meinung nach ist im Manuskript eindeutig „Sizo” zu lesen. (S. 182.) Mit einer weiterer Literatur, auch mit Angaben darüber, dass die österreichischen Analisten gegen Ende des 13. Jahrhunderts im Nibelungenlied eine Geschichtsquelle gesehen hatten (S. 189.). S. noch: Karl BRUNNER, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert in Österreichische Geschichte 907–1156. Hrsg. von Herwig WOLFRAM, Wien, 1994, S. 169–170.

14

Jenő SZÛCS, Theoretische Elemente in Meister Simon von Kézas Gesta Hungarorum 1282–1285, in: DERS., Nation und Geschichte: Studien. Köln–Wien–Graz–Budapest, 1981, S. 263–328.; eine Variante in englischer Sprache in Simonis de Kéza, Gesta Hungarorum (s. wie oben Anm. 3.) S. XXIX–CCII. – Für die hunnisch-ungarische Identität s.: András RÓNA-TAS, Hungarians and Europe in the Early Middle Ages. Budapest-New York, 1999, S. 423–428.; László VESZPRÉMY, La tradizione unno-magiara nella Cronaca universale di fra’Paolino da Venezia, in: Spiritualita e lettere nella cultura italiana e ungherese del basso medioevo. Hrsg. v. S. GRACIOTTI, C. VASOLI. Firenze, 1995. S. 355–375.; Jennifer WILLIAMS, Etzel der rîche, in: Europäische Hochschulschriften, Reihe1. Band 364., Frankfurt, 1981.

15

Simon von Kéza (wie oben Anm. 3.), S. 163., 161.; Emil PLOSS, Zeizenmure und die Helchenburg, in: Forschungen und Fortschritte, 31 (1957) S. 208–215.; zu den Textvarianten Traismauer und Zieselmauer s. Karl BRUNNER (wie oben Anm. 13.), S. 103.; Heinz DOPSCH, Die Hengistburg, Wildon und die Herkunft der Grafen von Güssing, in: Die Güssinger: Beiträge zur Geschichte der Herren von Güns/Güssing und ihrer Zeit (13/14. Jahrhundert). Hrsg. von. Heide DIENST und Irmtraut LINDECK-POZZA, Eisenstadt, 1989, S. 185–196.; Helmut FRIEZBERG, Die Burgen Wildon und Neuwildon, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 84 (1993) S. 41–50.; Erik FÜGEDI, Das mittelalterliche Ungarn als Gastland, in: Deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte, Sigmaringen, 1975, S. 471–507.; Erik FÜGEDI und János M. BAK, Fremde Ritter im mittelalterlichen Ungarn, in: Questiones Medii Aevi Novae, 3 (1998) S. 3–18.

16

György GYÖRFFY (Hrsg.), Die Gründungsurkunde von Pannonhalma: Diplomata Hungariae antiquissima. Vol. I. 1000–1131, Budapest 1992, S. 25–41. Faksimileausgabe in: György GYÖRFFY (Hrsg.), Chartae antiquissimae Hungariae ab anno 1001 usque ad annum 1196, Budapest 1994, (Nr. 1.) – Es sei der Krieg mit Heinrich der Zänker: in Géza ÉRSZEGI, Szent István pannonhalmi oklevele. Oklevéltani-fiológiai kommentár [Die Urkunde des heiligen Königs Stephan für Pannonhalma. Ein diplomatisch-philologischer Kommentar], in: Imre TAKÁCS (Hrsg.), Mons Sacer. Band I., S. 51. Oder sei das ein Zivilkrieg; s. darüber György GYÖRFFY, István király és műve [König Stephan und sein Werk], Budapest, 1977, S. 117 und Gyula Kristó, Magyarország története 895–1301 /Geschichte Ungarns, 895–1301/. Budapest, 1998, S. 89.

17

F. POSCH (wie oben Anm. 7.)

18

Elisabeth SCHUSTER, Die Etymologie der niederösterreichischen Ortsnamen, Wien 1989–1994, (Historisches Ortsnamenbuch von Niederösterreich. Reihe B, 3 Bände). Vgl. noch dazu DIES., Niederösterreichische Ortsnamen magyarischer Herkunft, in: Unsere Heimat, 66 (1995) S. 291–300; Alexander Karl ROZMÁN, Ortsnamen magyarischer Herkunft in Niederösterreich – ein Indiz für magyarische Siedlung bis zur Enns? In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 106 (1998) S. 426–431.; Max WELTIN, Ascherichsbrvgge – Das Werden einer Stadt an der Grenze. NÖLA, in: Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv, 10 (1986/87) S. 1–5.: schreibt, dass nicht Ascherich, der umstrittene angebliche erste Erzbischoff von Gran dem Ort (Bruck an der Leitha) seinen Namen gegeben habe, (...) dieser Ascherich erst (...) nach den Ungarnkriegen der Jahre 1042 bis 1045 an der Leitha niedergelassen hat.

19

Herwig WOLFRAM, Die ungarische Politik Konrads II, in: The Man of Many Devices. Who Wandered Full Many Ways. Festschrift in Honour of János M. BAK. Hrsg. von Balázs NAGY und Marcell SEBŐK, Budapest-New York, 1999, S. 460–469.

20

Der ungarische anonyme Notar, „Magister P” schreibt um 1200 mit Sicherheit: eines Tages überquerten die Römer (...) den Grenzfluss zwischen Pannonien und dem Gebiet der Deutschen (...) Lafnitz genannt (...). S.: Die „Gesta Hungarorum” des anonymen Notars. Die älteste Darstellung der ungarischen Geschichte. Hrsg., übersetzt von Gabriel SILAGI, unter Mitarbeit von László VESZPRÉMY, Sigmaringen, 1991, S. 112–113.

21

J. G. ECCARDUS, Corpus historicum medii aevi. Band II, Leipzig 1723, S. 1345. Zitiert von Gy. GYÖRFFY, István király és műve (wie oben Anm. 16.), S. 300. und Gyula KRISTÓ (Hrsg.), Az államalapítás korának forrásai [Quellen der ungarischen Staatsgründung], Szeged 1999, S. 160–162.

22

Hansgerd GÖCKENJAN, Hilfsvölker und Grenzwächter in mittelalterlichen Ungarn, Wiesbaden 1972, S. 5–11.; Géza ÉRSZEGI, Die Obere Wart, in: Die Obere Wart. Festschrift zum Gedenken an die Wiedererrichtung des Oberen Warts im Jahre 1327. Hrsg. von Ladislaus TRIBER, Oberwart 1977, S. 117–161.

23

Gábor KISS–Endre TÓTH, A vasvári „római sánc” és a „katonák útja” időrendje és értelmezése. Adatok a korai magyar gyepűrendszer topográfiájához [Die Chronologie und Interpretation des „römischen Walles” und der „Heerstrasse” zu Vasvár/ Eisenburg. Angaben zur Frühgeschichte des „gyepű”–Verhauensystems in Ungarn], in: Communicationes Archeologicae Hungariae, 1987 S. 101–137.

24

Attila ZSOLDOS,: Confinium és marchia. Az Árpád-kori határvédelem néhány intézményéről [Confinium und marchia. Über einige Elemente der Grenzverteidigung in der Arpadenzeit], in: Századok, 134 (2000) S. 99–116.

25

Magda PICHLEROVÁ, Gerulata und seine Rolle im Bratislavaer Tor, in: Archeologické rozhledy, 38 (1986) S. 435–445.

26

A. ZSOLDOS (wie oben Anm. 24.)

27

H. WOLFRAM (wie oben Anm.1.); s. auch seine Monographie über Konrad II.; Bruno GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte, Band I. Frühzeit und Mittelalter, Stuttgart 1959, (4er Nachdruck) S. 225.

28

Eine kleine Zusammenfassung von Csaba SZABÓ, Die militärischen Aspekte der deutsch-ungarischen Beziehungen während der Salierzeit, in: Ungarn-Jahrbuch, 21 (1993–94) S. 1–18.

29

Gábor KISS, Régészeti adatok Vas megye 10–11. századi történetéhez [Archeologische Angaben zur Geschichte des Komitates Vas/Eisenburg im 10.–11. Jahrhundert], in: Vasi Szemle, 50 (1996) Nr. 3. S. 332–333.

30

Über die Volksetymologie des Wortes „Vértes” s. Lajos KISS (Hrsg.), Földrajzi nevek etimológiai szótára [Etymologisches Wörterbuch der geographischen Namen], Band II. Budapest 1988, S. 755–756. Das Wort „Vért” heißt „Schield”.

31

M. WELTIN, Markgraf Rüdiger (wie oben Anm. 18., S. 193.) mit weiteren Beispielen, wie Markgraf Diepold II. vom Cham-Vohburg und der berühmte „comes Boto, cognomento Fortis”; vgl. noch darüber Fritz POSCH, Die Herrschaft Riegersburg und Graf Poto (auch Boto) und seine Erben, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark, 83 (1992) S. 127–163.

32

István FODOR, A bécsi szablya és a prágai kard [Der Wiener Säbel und das Prager Schwert], Szeged, 2000, S. 1–20.; Zoltán TÓTH, Attila’s Schwert, Budapest 1930.

33

Tünde WEHLI, Die Admonter Bibel, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae, 23 (1977) S. 173–285.; für die anderen liturgischen Kontakte s. László VESZPRÉMY, Legkorábbi hazai sacramentariumaink [Die frühesten Sakramentaren in Ungarn], in: László NAGY SELESTEI (Hrsg.), Tanulmányok a középkori magyar- országi könyvkultúráról [Studien über die mittelalterliche Buchkultur in Ungarn], Budapest 1989, S. 121–135.; DERS., Szentkultusz korai liturgikus kódexeinkben [Heiligenverehrung in den frühen liturgischen Büchern in Ungarn], in: Ars Hungarica, 17 (1989) S. 15–22.

34

Bálint HÓMAN, Magyar történet [Ungarische Geschichte], Budapest 1941, (7. Aufl.) S. 170–171.

Begegnungen15_Trestik

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:145–156.

DUŠAN TŘEŠTÍK

Die Tschechen und die Ungarn im 10. Jahrhundert

 

Im Jahre 906, als die Ungarn die mährische Macht, wie es scheint, in einer einzigen Schlacht zerschlagen hatten, feierte man auf der damals noch neuen Burg Prag eine Hochzeit. Der Bruder des hier herrschenden Fürsten, Vratislav, aus der Familie, die sich für den halbgöttlichen „haltenden” Urahn, Přemysl aneignete, nahm Drahomíra, eine hevellische Prinzessin zur Gemahlin. Als im nächsten Jahr die Ungarn in der Schlacht bei Pressburg die Mehrheit des bayerischen Adels der Ostländer vernichtet haben, gebar Drahomíra ihren ersten Sohn. Die Eltern nannten ihn Václav, „mehr Ruhm”. „Mehr Ruhm” – Boleslav – wurde aber auch ihr zweiter Sohn genannt, der einige Jahre später auf die Welt kam. Die Eltern haben also damit ein Bruderpaar, das sich unzweideutig dem archaischen Muster nach der gleichnamigen, zu halbgöttlichen Zwillingen richtete, geschafft. Für eine kleine Familie, die in einem kleinen Fürstentum in der Mitte des böhmischen Kessels mit der Unterstützung des neuen bayerischen Herzogs und des ebenso in Böhmen im Namen des neuen christlichen Gottes herrschte, war es vielleicht zu hochtrabend, ihren Söhnen so eine ruhmreiche Zukunft vorzuschreiben.

Die Geschichte hatte ihnen aber doch recht gegeben. Merkwürdigerweise schienen sie sich doch dem archaischen Zwillingsmuster nach, der den Eltern vielleicht vorschwebte, zu richten. Nicht nur dass der ältere Sohn seine götterähnliche Natur bestätigte, indem er der erste slawische Heilige geworden ist, spielten die Brüder sozusagen den wichtigsten Zwillingsmythos ab als Boleslav den Brudermord begangen hatte und dadurch er – wie Romulus oder Kain – einen Staat gegründet hat. Dass diese Angleichung an das archaische Denkmuster keine leere Zumutung ist, ist durch die Tatsache bewiesen, dass noch im 11. Jahrhundert der Prager Bischof seinen Priestern ans Herz legen musste, dass sie den Gläubigen erläutern sollten: Wenzel wurde nicht darum zum Heiligen, weil er von seinem Bruder ermordet wurde, sondern darum, weil er ein vorbildliches christliches Leben geführt hatte.

Was aus dem Mord Boleslavs am 28. September 935 in Stará hervorging, war wirklich ein Staat, in dem alle öffentliche Macht direkt und allein in den Händen des in Prag regierenden Přemyslidenfürsten ohne jegliche Mittlerrolle irgendwelchen Adels lag. Boleslav beseitigte mit viel Tatkraft und nicht wenig Glück, sowie mit der ständigen Bedrohung seitens des ottonischen Reichs in seinem Rücken, die alten knjazi, Fürsten der Bohemannen. Er vernichtete ihre stolzen Burgen und baute neben den Ruinen seine kleinen Verwaltungsburgen auf, zu denen er alle freien Leute zuordnete, um hier die neue Friedenssteuer für ihre Freiheit zu entrichten, und ließ sie Sonntags zum Markt und zu der Messe in der ebenfalls neuen Burgkirche kommen. Dieses Modell eines Staates hatte mit dem Reich der Ottonen nichts gemeinsames, eher schon mit dem alten Reich der Karolinger. Den missing link muss man daher, aller Wahrscheinlichkeit nach, im Mähren des 9. Jahrhunderts suchen.

Die gens Bohemannorum konnte sich während des 9. Jahrhunderts erstaunlich erfolgreich gegen den ständigen Druck Karls des Großen und seiner Nachfolger wehren, wobei den Tschechen, besonders nach 871, das Mähren des Svatopluk als die wichtigste Stütze diente. Svatopluk entlohnte jedoch irgendwann um 882 mit der Eingliederung Böhmens in seinen direkten Herrschaftsbereich ihre Treue. Die Fürsten der Tschechen ließ er dabei selbstverständlich unangetastet, nur wählte er einen von ihnen aus, den Přemysliden Bořivoj, als einen Exponenten in Böhmen. Er hat ihn taufen lassen, wobei er offenbar als Pate auftrat und band ihn so – wie die byzantinischen Kaiser oder Karl der Große – als seinen geistigen Verwandten an sich. Mit Svatopluk im Rücken baute Bořivoj ganz neu auf und von einem gentilen Fürsten ist er ein autokratischer Herrscher geworden, wenn auch bloß in seinem mittelböhmischen Fürs- tentum. Sein Sohn, gleichzeitig sein Nachfolger organisierte dann die přemyslidische Domäne dem mährischen Vorbild nach als einen kleinen Staat. Damals wurde auch Prag gegründet, absichtlich als ein Mittelpunkt des neuen kleinen Staates im Zentrum Böhmens.

Dennoch, die mährische Herrschaft ist für die Tschechen unerträglich geworden und als Svatopluk 894 starb, waren sie die ersten, die von Mähren abgefallen sind. Als sich die tschechischen Fürsten im Jahre 895 an König Arnulf wandten, stellten sie an die Spitze ihrer Gesandten neben irgendeinem Vitislav den Sohn des „Quislings Bořivoj – den Spytihnĕv. Die Vormachtstellung der Přemysliden wurde schon so gefestigt, dass man sie gar nicht bestreiten konnte. Es ist daher kein Zufall, dass sie in den Quellen als im Einvernehmen politisch handelnder Fürsten der Bohemannen zum letzten Mal im Jahre 911 genannt sind. Seither sind es auschließlich die Přemysliden gewesen, die im Namen der Tschechen handelten, obwohl auch die übrigen Fürsten weiter in ihren Fürstentümern herrschten. Die Tschechen hielten während des ganzen 10. Jahrhunderts an dem Bündnis mit den Bayern fest, besonders als der neue gefährliche Feind, nämlich die Sachsen auftauchten, die kurz vor 906 die Sorben – von denen Ludmila, Mutter Spytihnĕvs und Vratislavs abstammte – zerschmetterten und die Heveller bedrohten. Dieses Ereignis führte zu dem Bündnis mit ihnen, der durch die Heirat Drahomíras mit Vratislav im Jahre 906 bekräftigt wurde.

Wenn wir uns immer dem Jahr 906 zukehren, ist das gewiss nicht zufällig. Das war wirklich das Jahr, in dem sich mehrere Geschicke erfüllt hatten, vor allem jenes Mährens. Für die Heiratsgäste in der Prager Burg war es sicher eine gute Nachricht und als sich herumgesprochen hatte, dass die Daleminzer die Ungarn gegen die Sachsen zu Hilfe rufen wollen, gaben ihnen die tschechischen Fürsten freien Weg über Böhmen. Die Ungarn benutzten den sogar zweimal, 906 und 907. Mit diesen Jahren beginnt auch die Geschichte des Lebens des Hl. Wenzels. Seine Legenden heben besonders – als ein Vorzeichen seiner Heiligkeit – die Tatsache hervor, dass seine Haarschur als eines kleinen, siebenjährigen Knaben, ein Bischof durchführte. Die dunkle Stelle könnte man so erklären, dass es sich hier um einen Bischof mit seinem Notar oder einen Bischof namens Nothar, oder auch irgendwelchen (jeter in dem slawischen Text) Bischof handelte. Der lange Streit der Slawisten darüber wurde mit dem Auffinden eines wirklich in dieser Zeit lebenden Bischofs mit dem Namen Notar vorläufig gelöst. Es handelte sich aber um den Bischof Nother II. von Verona, der hier von 915 bis 928 amtierte. Wie konnte ein Bischof von Verona in das völlig unbedeutende, am Rande der christlichen Gebiete liegende Prag gelangen?

Die Antwort muss vor allem in Erwägung ziehen, dass Verona seit 896 die Hauptstadt des regnum Italiae Königs Berengar war. Kaiser Arnulf hatte gegen ihn einmal, 898 die Ungarn benutzt. Berengar versöhnte sich aber mit ihnen und ist ihr treuer Verbündete geblieben. Einen anderen Verbündeten fand er dann in Bayern. Als er im Jahre 905 dem Kaiser Ludwig von Provence unterlag, floh er nach Bayern, kehrte umgehend mit einer bayerischen Streitmacht des dux Baiuvariorum, Luitpold zurück, eroberte Verona und nachgehend das ganze regnum zurück. Damals gab er höchstwahrscheinlich dem Sohn Liutpolds, Arnulf, seine Tochter zur Gemahlin, damit für Arnulf die – vorläufig nur vagen – Aussichten auf die Nachfolge im regnum Italiae. Arnulf war 907 Herzog, allerdings wie ein König und als dann mit dem Tod des Kindes Ludwigs das ostfränkische Reich auch formal zu aufhörte existieren, hatte er kaum ein Interesse daran, sich an den gemeinsamen Angelegenheiten der ostfränkischen Herzogtümer zu beteiligen. Er ignorierte praktisch die Wahl Konrads von Franken zum König im Jahre 911, im Jahre 914 kam es aber zu einem offenen Kampf zwischen ihnen. Arnulf unterlag und musste mit seiner Gemahlin fliehen. Die Quellen erzählen, dass er eine Unterkunft bei den Ungarn fand, sicher stand er aber lieber mit Berengar, dem Vater seiner Frau, die mit ihm das Exil teilte, in Verbindung. Er versuchte im nächsten Jahr, aus Kärnten kommend, Regensburg zurückzugewinnen, konnte das aber nicht erreichen. Erst im Jahre 917 hatte er einen Erfolg – wie allgemein bekannt – als die Bayern ihn begeistert als den Herrscher des regnum Baiuvariorum – und nicht Theutonicorum angenommen haben.

Mitten bei diesen Begebenheiten, im Jahre 915, feierte der Bischof Nother an den Stufen des Altars der Prager Marienkirche die Haarschur des kleinen Wenzels. In demselben Jahr sollten sich die Tschechen nach einer Nachricht Adams von Brehmen an dem Einfall der Ungarn in Sachsen beteiligen. Man wollte ihr kaum Glauben schenken, da man sich kaum vorstellen konnte, warum sich gerade die Tschechen zu einem solchen Abenteuer hinreißen ließen. Nimmt man aber die ganze verwickelte Situation Arnulfs und seiner tschechischen Verbündeten in Erwägung, muss doch die Angabe Adams ernst genommen und in Nother ein Gesandter Berengars und Arnulfs gesehen werden, der vielleicht eine ungarische Gesandtschaft nach Prag begleitete. Worum es den Ungarn hierbei ging, ist klar, nämlich um die Unterstützung der Tschechen bei dem Angriff der Sachsen, des gefährlichsten Feindes der Tschechen Vratislavs und der Heveller Drahomíras. Welche Angelegenheiten Nother mit dieser Reise zu erledigen hatte, wissen wir nicht; es ging sicher vor allem um Arnulf, gegen den sich damals gerade die gesamten Bischöfe Bayerns gestellt haben. Das war auch wahrscheinlich der Grund, warum der zuständige Bischof, Tuto von Regensburg, nicht nach Prag kommen wollte und man nahm so die Dienste eines fremden Bischofs bei der feierlichen Haarschur Wenzels dankbar an.

Nach einigen späten ungarischen Quellen war aber gerade Vratislav ein Gegner der Ungarn und nicht ihr Freund. Simon von Keza und das Chronicon pictum Vindobonense, die beide an die verlorenen Gesta Hungarorum vom Ende des 11. Jahrhunderts auf irgendeine Weise zurückgehen, erzählen davon, dass die Ungarn im siebenten Jahr nach ihrer Landnahme Pannonien, Böhmen und Mähren überfallen hatten und ihren dux Vratislav entweder in einer Schlacht getötet hatten (von Keza), oder mit ihm Frieden abgeschlossen haben (Chronicon pictum). Dazu kommt noch der berüchtigte Anonymus, der von einer Grenzsetzung zwischen den landnehmenden Ungarn und den Tschechen am Fluss Morava durch Zolta, den Sohn Árpáds spricht und zugleich schreibt er über eine Herrschaft der Tschechen in dem Dukat von Nitra schon vor der ungarischen Landnahme, wo ihr Statthalter Zubur residieren sollte. Einige Historiker haben immer wieder hartnäckig aus diesen offenbar phantastischen Angaben versucht etwas Brauchbares zu machen, selbstverständlich ohne jeden annehmbaren Erfolg.

Es genügt, sich den Kontext dieser Nachricht z. B. bei Keza (Cap. 34 f.) anzusehen. Er fasst hier die Taten der Ungarn nach der Landnahme so zusammen, dass die Ungarn vorerst Vratislav besiegten, dann kämpften sie in Kärnten mit dem Herzog von Meran, den es damals nicht mehr gab; dann spricht er über einen Zug Kaiser Konrads aus Rom gegen die Ungarn. Das bezieht sich ohne jeden Zweifel auf Konrad II. (1024–1039) und nicht Konrad I. (911–918). Beide Konrade sind hier ebenso ohne jeden Grund verwechselt, wie die tschechischen Vratislavs: Der erste lebte am Anfang des 10. Jahrhunderts (915–921), der zweite aber in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (1061–1092). Wird man diesen Angaben Glauben schenken, würde das bedeuten, dass Spytihnĕv oder eher Vratislav das herrenlose Mähren mitsamt des Neutragebietes besetzt haben. Das kommt aber überhaupt nicht in Frage, weil der kleine mittelböhmische Fürst Vratislav für ein solches Unternehmen nicht in der Lage war, genügend Mittel aufzubringen und er hätte mit den anderen tschechischen Fürsten höchstens in einem oder mehreren Plünderungszügen sich einigen, nicht aber eine dauerhafte Besatzung ausgedehnter Gebiete organisieren können.

Die Tschechen und Ungarn wurden ohne jeden Zweifel erst unter Boleslav I. Nachbarn, Um 950 schrieb Konstantin Porphyrogennetos, dass die Länder Boleslavs der Länge nach an die Ungarn grenzen. Es war das Ergebnis einer großen Expansion, die Boleslav nach 935 begonnen hat. Sie folgte dem irgendwelchen transeuropäischen Handelsweg von dem arabischen Spanien nach Chasarien, d. h. von Prag über Nordmähren mit Olomouc als eine Etappenstation nach Krakau und Kiew. Zugleich öffnete Boleslav mit der Besetzung Schlesiens den Weg zu dem baltischen Handel, an der Oder entlang zu der großen Hafenstadt Wolyn bei der Mündung der Oder. Er disponierte ja schon mit den Mitteln von ganz Böhmen, mit denen er eine schlagkräftige Armee aufbauen konnte, die sich dann bequem von den Trägern des ständigen Krieges ernährte. Im Zusammenhang mit den Trägern des Handels, den Boleslav kontrollierte und an dem er sich auch mit seiner Menschenbeute kräftig beteiligte, ergab es sich eine noch nie dagewesene Macht.

Er hatte gleich im Jahre 935 mit der Liquidation der böhmischen Fürstentümer und mit dem Aufbau der territorialen Verwaltung begonnen, dann kam Mähren an die Reihe. Boleslav wollte aber offenbar eine Konfrontation mit den Ungarn vermeiden, denn er versuchte überhaupt nicht den Süden von Mähren zu besetzen, das damals wahrscheinlich ein Niemandsland, zugleich aber eine empfindliche Grenzzone war. Mit dem eigentlichen Nordmähren machte er auch Anspruch auf die über die Pässe von Jablunka und Olava angrenzende provincia Wag geltend, nicht aber die davon südlich liegenden Gebiete, die ja ebenfalls zum Erbe von Altmähren der Moimiriden gehörten. Das bedeutet, dass das Gebiet am mittleren und oberen Wag damals nicht der Gegenstand eines Streites mit den Ungarn sein konnte, weil es von den Ungarn nicht besetzt war.

In Kleinpolen und Galizien, östlich auf dem Gebiet von Krakau und Przemyśl, versuchte man immer die von Konstantin Porphyrogennetos erwähnten Weißkroaten zu lokalisieren. Das kann aber jetzt als definitiv überholt gelten. Diese Weißkroaten waren ursprünglich sicher mit dem offenbar bedeutenden gens der Kroaten identisch, das in dem letzten Viertel des 9. Jahrhunderts in den Quellen auftaucht und um 950 wieder in denen nicht mehr zu finden ist. Seine Sitze sind schwer zu bestimmen, sicher ist nur, dass die kleinpolnischen Gebiete nicht in Frage kommen können. Am wahrscheinlichsten muss man sie irgendwo in Schlesien oder eher nördlich davon, an der Grenze zwischen Schlesien und Großpolen suchen. Offenbar sind diese Kroaten der Expansion Boleslavs I. zum Opfer gefallen. Bei Konstantin Porphyrogennetos sind sie mit dem gesamten Herrschaftsgebiet Boleslavs identisch. Das ist begreiflich, dieses Gebilde hat doch keinen Namen gehabt, „tschechisch” war es sicher nicht. Am treffendsten charakterisierte es Ibrahim ibn Jakub, der den Boleslav König der „Städte” Prag, Böhmen und Krakau nannte. Ein solches Hilfsgebilde könnte gut auch das „Weißkroatien” als pars pro toto sein.

Konstantin sagt, dass diese „Weißkroaten” besonders gute Beziehungen mit den „Türken”, d. h. Ungarn haben, sie haben auch sogar gegenseitig geheiratet. Das kann ganz gut wahrgenommen werden, denn gerade in Böhmen findet man auffällig viele altmagyarische archäologische Funde aus dem 10. Jahrhundert, die – von einigen unklaren Fällen abgesehen – in keinem Fall für Spuren irgendwelcher militärischer Aktionen gehalten werden können. Am ehesten handelte es sich wirklich um friedliche Beziehungen der tschechischen Elite mit den Ungarn, Heiraten inbegriffen. Das entspricht auch der auffälligen Zurückhaltung gegenüber den Ungarn, die sich in der Politik Boleslavs deutlich abzeichnet. Er beteiligte sich zwar in nicht unbedeutendem Maße an der Schlacht am Lech 955. Ob er dabei auch einen anderen Krieg mit dem Heer unter Lel führte oder ob es sich um eine Kampfhandlung in direktem Zusammenhang mit der Schlacht auf dem Lechfeld handelte, ist in den Quellen nicht klar zu beweisen.

In jedem Falle handelte es sich dabei um Mähren, wie man das öfters angenommen hat. Man hat indem behauptet, dass Boleslav die Niederlage der Ungarn am Lech dazu ausnutzte, um Mähren von den Ungarn zu erobern. Das hätte auch keinen Sinn gehabt, weil die Ungarn das jetzige Mähren aller Wahrscheinlichkeit nach nie besetzt haben. Alles was man darüber als angebliche Beweise bei verschiedenen Autoren lesen kann, ist nicht haltbar. Meistens sind es einfache Fehler wie, z. B. der Name der südmährischen Burg Breclav-Lundenburg, in den Quellen Laventenburg genannt, in dem der Name des Sohnes des Arpad, Levente anklingen soll, obwohl es sich um einen einwandfreien slawischen Namen Lovata handelt, dazu noch in einer Form (Lo mit a’ statt der späteren Lautung o’), die nur vor der Hälfte des 9. Jahrhunderts möglich ist. Der Name bezieht sich auf den großmährischen Burgwall Pohansko, der mit Großmähren auch zu Grunde ging, nicht auf die heutige Stadt Břeclav, beziehungsweise die Burg, die dort erst der Fürst Břetislav irgendwann nach 1020 gründete.

Dasselbe gilt für den Namen der Stadt Brno-Brünn, in dem man den Widerhall des ungarischen Stammesnamens Barany sehen wollte. Auch hier handelt es sich um einen einwandfreien slawischen Namen mit der einfachen Bedeutung: „sumpfiger Ort”. Was dann die archäologischen Funde angeht, muss man feststellen, obwohl die altmagyarischen Spuren in Mähren zwar nicht fehlen, sind sie aber gar nicht so zahlreich wie in Böhmen. Sie können kaum etwas beweisen, entscheidende Funde, altmagyarische Gräberfelder, findet man nämlich in Mähren jedenfalls nicht. Alles spricht für Südmähren als ein Niemandsland, in dem sich einige heimische Fürsten halten konnten, die dann auf der Seite Bolesławs des Tapferen (Chrobry) auch militärisch gegen die Tschechen aufgetreten sind. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Ungarn dieses Gebiet als ihr Interessengebiet betrachteten und das von Boleslav auch respektiert wurde und zwar vor 955, wie auch später, als die ungarische Gefahr aufhörte zu drohen.

Als der arabisch-jüdische Kaufmann Ibrahim ibn Jakub im Jahre 961–962 oder 965–966 (beide Daten sind gleichermaßen berechtigt) Prag besuchte, notierte er sorgfältig alle Handelsbeziehungen des hiesigen berühmten Marktes. Leider kennen wir seine Relation, die er für den Kalifen von Cordoba geschrieben hatte, nur aus späteren Auszügen, die nicht immer zuverlässig sind. Einer der allgemein bekannten und standardmäßig in der Forschung zitierten Auszüge spricht über die „ungarische Verbindung”, es sind nämlich aus Ungarn Muslime, Juden und Ungarn nach Prag angekommen. Das würde bedeuten, dass die bekannten Muslime aus Choresm, die wir in Ungarn seit dem 11. Jahrhundert kennen, sich schon damals hier angesiedelt haben. Eine andere, in den 60er Jahren entdeckte Version der Relation, schreibt aber offensichtlich genauer, dass nach Prag „aus den Ländern der Türken und aus den Ländern des Islams Juden und Türken” kommen, d. h. die Türken-Ungarn aus Ungarn und die Juden aus den Ländern des Islams.

Die Ungarn, die den Prager Markt regelmäßig besuchten, waren kaum professionelle Kaufleute, eher schon Lieferanten von Sklaven, da der Prager Markt vorrangig ein Sklavenmarkt war. Das funktionierte auch umgekehrt: Im 11. Jahrhundert war Ungarn jedenfalls für Böhmen das Absatzland für Sklaven par excellence; das „Verkaufen nach Ungarn” war eine standardmäßige Strafe für schwere Verbrechen. Ein rabbinischer Respons behandelt den Fall von zwei jüdischen Knaben die um 1018 irgendwo bei Przemyśl von den Leuten Bolesławs des Tapferen gefangengenommen worden. Einen von ihnen verkaufte dann ein Jude in Prag nach Byzanz und der Knabe sollte dann auch wirklich in Konstantinopel gesehen worden sein.

Bezeichnend für diese weiten Verbindungen Prags ist die Geschichte, die eine sog. chasarische Korrespondenz erzählt. Einmal sind mit einer der regelmäßigen Gesandtschaften Boleslavs I. nach Cordoba zwei, offenbar Prager Juden, Mar Saul und Mar Joseph gekommen. Sie wurden von Chazdai ben Schaprut, dem jüdischen Sekretär des Kalifen empfangen. Als sie ihre Botschaft erledigten, wollte Chazdai von ihnen auch etwas über das jüdische Königtum der Chasaren erfahren, das ihn schon seit Jahren interessierte. Die Prager Juden teilten ihm mit, dass sie leider keine direkte Verbindung nach Chasarien haben, sie könnten sich nur erinnern, dass zu ihnen nach Prag einmal ein blinder Rabbiner aus Chasarien kam. Sie haben dem Chazdai aber doch vorgeschlagen, er sollte nach Chasarien schreiben und ihr König – nicht ihre Gemeinde, sondern Boleslav selbst – werde dann den Brief den Juden in Ungarn schicken und die werden ihn nach Bolgar an der mittleren Wolga vermitteln. Von dort wird es dann sicher zu den Chasaren an der unteren Wolga gelangen. Aus einem anderen (nicht unverdächtigen) Schriftstück geht dann hervor, dass Boleslav endlich einen anderen Weg wählte. Er beauftragte damit den Rabbi Jakob ben Elizer „aus dem Lande Nemetz” – Bayern, ohne Zweifel aus Regensburg, der direkt nach Chasarien reiste.

Die hebräische Korrespondenz nennt Boleslav „König der Gebalim”. Gebal ist hier der hebräische Name für die biblische Handelsstadt Byblos. Die Juden benutzten ihn – mit gutem Grund – als ihren Namen für Prag; „König der Gebalim” bedeutet also „König der Prager”. Aus anderen hebräischen Quellen wissen wir aber, dass der übliche Name Böhmens Kaanan war – „weil die Bewohner des Landes ihre Söhne und Töchter an alle Nationen verkaufen”. Die Gebalim sind also nicht mit den Kaananiten identisch, das Reich des Boleslav ist ein „Prager” Reich, nicht ein tschechisches – dieselbe Hilfskonstruktion wie mit den Weißkroaten.

Das bedeutet aber nicht, dass das přemyslidische „Reich” selbst nur eine „Hilfskonstruktion” war. Sicher, es war schon eine Konstruktion. Am besten charakterisierte es Mieszko I., als er seinen Herrschaftsbereich wie einen „civitas Schinesghe (Gnesen) cum pertinentiis” beschrieben hatte. Boleslav sollte über einen „civitas Praga cum pertinentiis”, einen Prager Staat „mit seinen Zugehörigkeiten” sprechen. Diese „pertinentia” waren riesige Gebiete, die nur lose an das Zentrum angehängt waren. Boleslav und nach ihm auch Mieszko bemühten sich aber eifrig diesen seinen Konglomeraten festere Umrisse zu geben. Es ging dabei nicht um eine straffere und mehr effiziente Verwaltung, das wäre reine Utopie gewesen. Es ging eher um eine Identität, um den „Namen”. Polen des Bolesławs des Tapferen bekam seinen Namen – wenn es auch manchen überraschend und unwahrscheinlich klingen kann – von dem Kaiser im Rahmen des „Aktes von Gnesen” im Jahr 1000. Weitere Elemente dieser Identität bildeten das Königtum und das Erzbistum, die dem neu „benannten” Gebilde eine feste eigenständige Stellung innerhalb des universalen Kaisertums und der universalen Kirche gegeben haben. Man hatte es immer als etwas Selbstverständliches auf die Länder und Nationen, „Böhmen”, „Polen” oder „Ungarn” bezogen, die es aber in der Wirklichkeit nicht gab; sie existierten – wie auch das „Deutsche” Reich – zum guten Teil nur als Projektion der Lage des nationalen Staates des 19. Jahrhunderts in das 10. Jahrhundert.

Damit haben wir das wirklich Faszinierende in dieser ganzen Geschichte völlig verschleiert. Es ist – ganz allgemein ausgedrückt – das Ringen der Neuankömmlinge am Rande der „zivilisierten” Welt um ihren eigenständigen Anteil an jener, um die Eingliederung, aber ohne Unterwerfung. Das setzt natürlich voraus, dass die Eigenartigkeit ein authentischer Wert ist. Es ist sicher – wie bei allen Werten – eine Frage der Entscheidung, nimmt man aber in Erwägung, dass die schöpferische Pluralität vielleicht wirklich das ist, was Europa zum Unterschied von verschiedenen universellen Reichen mit Weltherrschaftsanspruch ausmacht, kann man es doch ja als Wert annehmen. Es ist eine Tatsache, dass die beiden Reiche, sowohl das östliche, d. h. byzantinische, als auch das westliche, d. h. fränkische nur eine einzige Alternative angeboten haben, eben die Eingliederung durch Unterwerfung. Das hat auch für das Christentum gegolten. Vom Standpunkt der Reiche gesehen, konnte es nämlich nur eine einzige Form der Christianisierung geben: Die mit der Unterwerfung verbundene.

Wenn Historiker über die vom Reich ausgegangene Mission sprechen, verschweigen sie zumeist – etwas heuchlerisch – gerade diese klare Tatsache. Das Christentum war auf diese Weise einerseits unbedingte Voraussetzung für die neuen Herrschaftsbildungen der Neuankömmlinge, und andererseits tödliche Bedrohung. Der einzige Ausweg war daher, die Taufe und den Aufbau der Landeskirche in eigener Regie zu arrangieren. Die Herrscher der Neuankömmlinge konnten nun selbstverständlich mit Hilfe der Schwerter ihrer Krieger relativ einfach Tatsachen schaffen, doch konnten sie keineswegs so einfach für ihre Anerkennung sorgen, ihren neuen Staaten Legitimität zu sichern. Sie kommt doch – wie zum guten Teil auch die Identität – vom außen, konstituiert sich in dem „internationalen” Spielraum der Ideen und Interessen. Wenn die neuen Staatenbildungen nun an die Türen der anti-christlichen Welt klopften und vom Fränkischen Reich abgewiesen worden sind, blieb doch noch die Suche nach einer anderen Tür. Da jene des östlichen Reichs, die von Byzanz, ebenso hoffnungslos verschlossen war, blieb nur die Autorität der Kirche, die Tür des Papsttums. Das war der Weg den in Mähren schon um 861 Rostislav angetreten hat, indem er sich in Rom um das Erzbistum (nicht Bistum) bemühte. Den Erfolg feierte dann im Jahre 880 Svatopluk, der sein Land dem Hl. Petrus schenkte und dafür bekam er das Erzbistum für Method. Vor allem kam er dadurch zu einer unbestreitbaren Legitimität seines „großen” Mährens.

Im 10. Jahrhundert standen etwa nach 955 alle mitteleuropäischen Neuankömmlinge, die Ungarn inbegriffen für die allerdings etwa das Datum 973 gelten kann, vor diesem Problem. Die Historiker schrieben immer über den tschechischen Boleslav I., dass er sich um ein Bistum für Prag bemühte. Das ist nicht wahr; er wollte und bekam endlich auch zwei Bistümer, nämlich in Prag und in Mähren – wobei er von dem letzteren wirklich nur einen Teil beherrschte. Der Grund dafür liegt auf der Hand (den Beweis können wir hier nicht führen). Mähren hatte doch immer noch sein Bistum, wenn auch keinen Bischof, ein Paar Kirchen in Ruinen und kaum Gläubige. Es war das alte mährische Bistum von Method, im Rahmen seines Erzbistums. Für Boleslav ist das gewichtige Argument, ihn nicht in den Verhandlungen in Rom zu benutzen, unverzeihlich gewesen. Zu diesem alten Erzbistum von Method gehörten aber auch weite Gebiete, die im 10. Jahrhundert die Ungarn hielten.

Damit kam Ungarn auch in das Spiel. Es ging ja um die lukrativen und prestigeträchtigen Missionsrechte in Ungarn. Sie interessierten freilich Boleslav kaum, er wollte zunächst doch nur das Bistum mittels der Ordination eines neuen Bischofs wiederbeleben; um so mehr interessierte das aber den Passauer Bischof Pilgrim. Seine Argumentation mit dem angeblichen Erzbistum in Lorch war nicht selbstständig, eher war es eine Reaktion auf die Bemühungen Boleslavs um eine wenigstens teilweise Wiederbelebung der Erzdiözese von Method in der Gestalt des mährischen Bistums. Das Lorcher Erzbistum Pilgrims war ja eine treue Kopie des mährischen Erzbistums (mit einem Passauer Anhang), obwohl Pilgrim mit der Ausdehnung der Rechte Passaus an Mähren kaum ernst rechnen konnte. Mehr realistisch waren dagegen die Ansprüche an Ungarn, die daraus folgten. Auch sie führten aber schließlich in die Leere.

Das mährische Bistum, ohne Zweifel mit dem Sitz in Olmütz (Olomouc), war – etwa nach dem Ableben des ersten Bischofs – aus irgendwelchen, nicht näher bekannten Gründen, nicht besetzt und die Diözese kam irgendwann nach 983 unter die Verwaltung des zweiten Prager Bischofs, des Hl. Adalberts. Der ist dadurch ein Herr über eine riesige Diözese geworden, die allerdings in ihrer mährischen Hälfte kaum Ertrag lieferte und praktisch ausschließlich auf die Mission ausgerichtet war. Die Legenden übergehen seine Amtstätigkeit auf diesem Gebiet mit Stillschweigen, doch lassen sie durchblicken, dass er damals rege Beziehungen zum ungarischen Hof hatte. Näheres darüber ist kaum bekannt, sicher wissen wir nur, dass er dabei keine Ansprüche an die kirchliche Hoheit über ungarische Gebiete, die er ja mit besserem Recht als Pilgrim geltend machen konnte, erhob. Die Beschreibung der Grenzen seiner beiden Diözesen, die in der berühmten Urkunde vom Jahre 1086 enthalten ist, respektiert die ungarische Grenze und die Beschreibung sagt das ja auch ausdrücklich. Hinter diesem Schriftstück stehen möglicherweise Adalberts Pläne auf ein Erzbistum. Wenn es wirklich so gewesen wäre, hätte es sich in keinem Falle um die Wiedererrichtung der Erzdiözese Methods, sondern um eine Neubildung auf der Grundlage des „Reiches” der tschechischen Boleslave gehandelt.

Dieses Reich ging aber nach 989 als Mieszko die alte Freundschaft mit den beiden ersten Boleslaven aufgab und in einem Zug Schlesien und das Krakauer Gebiet eroberte, sehr rasch zu Grunde. Die in der Struktur aller vergleichbaren staatlichen, auf Expansion eingestellten Gebilde vorprogrammierte Krise brach mit einer unerwarteten Wucht aus. Schon bei ihrem Ausbruch floh Adalbert nach Rom, auf jeden Fall nicht aus den schönen moralischen Gründen, die in den Legenden angeführt sind, sondern aus politischen Ursachen. Welche es waren, zeigte sich, als er in Rom dann seine kanonische Bewilligung zu der Bitte Mieszkos um ein Erzbistum, das selbstverständlich auch die von den Tschechen eroberten Länder einschließen sollte vorbrachte. Es ist auffällig, dass Mieszko dabei den alten Schritt Svatopluks wiederholte, indem er diese seine Länder – „civitas Schinezghe cum pertinentiis” – dem Hl. Petrus schenkte. Dass er sich wirklich nach diesem Vorbild richtete, zeigt die Tatsache, dass er einem seiner Söhne den Namen Svatopluk gab. Es ist daher wahrscheinlich, dass der Vermittler dieser Ideen Adalbert selber war.

Es war dabei keinesfalls der von den Historikern willkürlich konstruierte, in der Tat vor 995 gar nicht existierende Konkurrenzkampf der Slavnikider mit den Přemysliden im Spiel, sondern eine großartige, Grenzen überschreitende Vorstellung von einer neuen kirchlich-politischen Ordnung des ganzen mitteleuropäischen Raumes – nicht von einer Identität, sondern mehreren vergleichbaren und gleichwertigen Identitäten. Es drehte sich alles offenbar schon damals darum, was dann Otto III. beim Grabe Adalberts in Gnesen mit Bolesław dem Tapferen und nachher mit Stephan verwirklicht hat. Böhmen war für Adalbert nur ein Glied in diesem Grenzen überschreitenden Ganzen gewesen, er dachte – aufgrund seiner Erziehung und seinem Leben, das er in einer „europäischen” Umgebung führte – nicht in den Maßstäben seines Landes, sondern in der Christenheit. Es ist nicht möglich hier ausführlicher darüber zu reden, nur vielleicht eine kurze Bemerkung machen, dass es ganz gut möglich sein kann, in dieser Hinsicht seine Beziehungen zu Gezas Hof schon vor 989 bedeutsam gewesen sein konnten. Er taufte den Stephan nicht, es waren aber sicher seine Mitarbeiter, die sozusagen die Taufpaten Stephans ungarischen Kirche geworden sind.

Tschechen und Ungarn haben das Glück gehabt, während des 10. Jahrhunderts nicht lange Nachbarn zu sein. Ihre Beziehungen konnten daher friedlich, ja sogar freundschaftlich sein. Als bald die Tschechen in die ungarischen Angelegenheiten eingegriffen haben, waren es eben Adalberts Leute und seine Gedanken. Sobald die Tschechen im Jahre 1000 Verlierer geworden sind, haben Ungarn und Polen ihre Königskronen und Erzbistümer erhalten, und die Tschechen standen mit leeren Händen da. Die Ordnung Mitteleuropas war aber dadurch trotzdem für die folgenden Jahrhunderte, ja bis heute, gegeben. Aus den namenlosen Herrschaftsbildungen der Dynastien der Přemysliden, Árpáden und Piasten sind Staaten und später auch „politische” Nationen entstanden, und die Mitte Europas hat sein (neues) Gesicht bekommen.

Begegnungen15_Szekely

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:157–164.

GYÖRGY SZÉKELY

Ungarn und Böhmen

10.–11. Jahrhundert

 

Wichtige, gleichzeitig heikle Frage ist die Integration der Stämme, die Entwicklung vom Stamm zum Volk. Nach der Auffassung von Dušan Třeštík haben sich mehrere slawischen Stämme an der Wende des 6.–7. Jahrhunderts politisch meistens in das, was man etwas euphemistisch Großstämme nennt, zusammengeschlossen. Diese gentes der nördlichen Sorben, der Tschechen, Mährer Karantanen, Kroaten, südlichen Serben und einiger mehrerer (Wislanen, Ślęzanen, nördlichen Kroaten) bildeten dann in ihrer Mehrzahl den Ausgangspunkt für eine spätere ethnische Gliederung des mitteleuropäischen Raumes.

Die westlichen Quellen des späteren 10. und früheren 11. Jahrhunderts kennen aber schon die Völker. Thietmar nannte die Region Svatopluks Marierun. Regino Abt von Prüm gab dem mährischen Fürst den Titel „rex Marahensium Sclavorum”. Im Jahre 903 tauchen aber die Boemanni auf; im Zollregister aus den Jahren 903–906 sind „Sclavi (...) de Boemannis” erwähnt, aber auch ein „mercatus Marahorum”. Doch damals existierten noch die tschechischen Stämme. Třeštík gibt als deren Quelle eine private Aufzeichnung an, die die Grenzen des Amtsbereiches Adalberts beschreibt, welche Bischof Jaromir im Jahre 1086 für Beschreibung der Grenzen des Bistums als Argument benutzt hatte.

Die Stämme sind also nicht vergessen und sind so im Jahre 1086 erwähnt: die Dedosize am südlichen Ufer des Flusses Oder, die Milčané an der tschechisch-sächsischen Grenze, die Pobarane am Gebiet Bober, die Zlasane in Schlesien, die Trebouane um Legnšica (Liegnitz), die Chrouati et alteri Chrovati am Nordrand der Karpathen. Eine hebräisch geschriebene Quelle, die Yosippon (Yosifon) aus dem 10. Jahrhundert kennt schon Stammesgruppierungen: Morava, Karvati, Sorbin, Lučanin, Lwwmn (=Ljachin?), Krakar, Bojmin. Der Chronist Cosmas aus Prag nennt noch mehr tschechische Stämme (tribus) aus der mythischen Vorzeit. Die Pšované um Melnik sind auch in der Ludmila-Legende erwähnt. Dass diese Stämme wirklich existierten, ist dadurch bestätigt, dass sich im Jahre 845 in Regensburg 14 tschechische Stammeshäuptlinge taufen ließen. Es gibt noch eine Ewähnung über die Dúdlebi, als Untertane der Slavnik-Dynastie bis 995. Ibrahim ibn Jakub schilderte die integrierten slawischen Gruppen um 965: Unter den vier slawischen Fürsten sah er Brislaw (oder Bujislaw) als Fürst von Fraga, Bwima (oder Bújima) und Krakw. Er war Boleslav, ein tschechischer Fürst.

Es ist aus der arabischen geographisch-geschichtlichen Literatur wohl bekannt, dass Prag um die Mitte des 10. Jahrhunderts schon eine hervorragende politische und wirtschaftliche Rolle innehatte. Schon Mas’udi, der Reisende und Historiker (gestorben in 957, Alt-Kairo) erwähnt Prag, wo er einen slawischen König (das bedeutet vielleicht Land) lokalisiert, zu dem am nächsten das Land der Türken (das bedeutet Magyaren) liegt. Einen späteren Reisenden behandelt Trestík als einen inoffiziellen Botschafter des Kalifs von Cordoba, Abdarahman III. zu Boleslav, nämlich Ibrahim ibn Jakub. Dieser war sicher kein gewöhnlicher Kaufmann gewesen, schon darum nicht, weil die Kaufleute keine Reiseberichte schreiben. Er führte mit Otto I. Gespräche, was davon zeugt, dass er in Magdeburg und auch in Prag irgendeinen offiziellen Auftrag zu erfüllen hatte.

Hier muss aber eine Korrektion angeboten werden: Abd Al-Rahman al Nasir III. regierte nur bis 961 und sein Nachfolger war Al-Hakam al-Mustansir II. (961–976). Die tschechische Fachliteratur der 1950–1960er Jahre wusste wohl, dass mit einer Gesandtschaft des Al-Hakam II. aus Cordoba Ibrahim ibn Jakub kam, welche in den Jahren 965/66 auf der Reise zum Kaiser Otto I. war. Einem anderen tschechischen Standpunkt nach gab es ein „weißes, steinernes Prag”, wie der arabisch-jüdische Kaufmann und Diplomat die Stadt nannte, der dort auf seiner Reise Halt machte. Seinem Bericht zufolge war Böhmen „das beste der Länder im Norden und das an Nahrungsmitteln reichste”.

Dieser Ibrahim ibn Ya’qub aus Tortosa hinterließ einen Reisebericht und dieser ist in der geographischen Handschrift des Abú Obaid Al-Bakri erhalten geblieben. Was Ibrahim in Fraga sah, hat ihn tief beeinflusst und darum gab er eine so detaillierte Beschreibung: „Die Stadt Prag ist von Stein und Kalk gebaut, sie ist der größte Handelsplatz des slawischen Landes. Russen und Slawen kommen mit ihren Waren von der Stadt Krakau dorthin, und Muselmänner, Juden und Türken [d. h. Magyaren] kommen mit Waren und byzantinischen Mithquls [vermutlich Münzen oder silbernes Handelsgewicht] aus dem türkischen [d. h. ungarischen] Gebiet und nehmen dafür Sklaven, Biberfelle (oder Zinn?) und anderes Pelzwerk in Empfang. Für eine Silbermünze verkauft man ihnen so viel Weizen, dass ein Mann daran für einen Monat genug hat, und verkauft bei ihnen an Gerste für eine Silbermünze das Futter von 40 Nächten für ein Reittier, und man verkauft bei ihnen 10 Hühner um eine Silbermünze. In der Stadt Prag verfertigt man Sättel, Zäume und dicke Schilde, die in ihren Ländern im Gebrauch sind. Auch verfertigt man im Lande Böhmen dünne lockergewebte Tüchelchen, wie Netz, die zu nichts taugen. Ihr Preis ist bei ihnen wertbeständig: 10 Tücher für eine Silbermünze. Mit ihnen handeln sie und verrechnen sich untereinander. Davon besitzen sie ganze Truhen. Sie sind ihr Vermögen und die kostbarsten Dinge kauft man dafür: Weizen, Sklaven, Pferde, Gold, Silber und alle Dinge.”

Für den Kaufmann aus dem Kalifat von Cordoba waren diese Tüchlein exotisch. Seine begeisterten Zeilen sind doch durch archäologische Ausgrabungen bestätigt: Die Reste der Holzkonstruktion des Schutzwalles (Hradschin) und hölzerne Brücken in der Stadt aus dem 10. Jahrhundert. Das alles konnte er während der Heimreise länger studieren. Der Reisende wusste wohl, dass dort ein Bujslâv (also Boleslav) regierte und dass sein Land sich von Prag bis Krakau ausdehnte und eine Grenze mit dem Land der Ungarn (etrak) hatte.

Für die nächsten Jahre schreibt Třeštík das Prager Bistum betreffend folgendes: Die Bitte war ein Erfolg. Mlada, die Schwester Boleslavs, die die tschechische Seite in Rom vertreten hatte, kehrte mit der Bewilligung Johannes’ XIII. für Prag zurück. Man konnte doch nicht den Regensburger Bischof übergehen und schließlich nicht den Kaiser. Die grundsätzliche Entscheidung war zwar vielleicht auf dem großen Hoftag in Quedlinburg im Jahre 973 gefallen, ordiniert war der Bischof aber erst 976. Mitteleuropäische Bedeutung hatte aber die Ordination Adalberts als des zweiten Bischofs von Prag.

Für das Thema, Ungarn und die Nachbarn ist dieser Hoftag viel mehr wichtig. Dort war eine Begegnung der Begleiter des böhmischen Herzogs und der Gesandten der ungarischen Stämme möglich. Die Ungarn konnten dort von den deutsch-böhmischen Relationen hören. Es ist sicher, dass für Otto den Großen die Quedlinburger Zusammenkunft einen großen Erfolg bedeutete, wohin viele Völker ihre Repräsentanten sandten. Die Größeren Jahrbücher von Altaich erwähnen, dass am 23. März 973 für die Osterfeste Otto und sein Sohn Otto, auch der Kaiser mit den Kaiserinnen anreisten. Dorthin sind auch Gesandte der Griechen und der Beneventaner mit Geschenken angekommen. Die Ungarn waren mit 12, die Bulgaren mit 2 Hauptpersonen vertreten. Auch der Herzog Harold sandte seinen Vertreter hin, obwohl man glaubte, er widersteht dem Kaiser und sie meldeten die Unterwerfung.

Es ist merkwürdig, dass die Staaten mit Gesandten, die Stämme mit Hauptpersonen repräsentiert waren. Der Chronist, der immer die sächsischen Partikularinteressen vertretende Thietmar von Merseburg, schrieb aber, dass Kaiser Otto nach Quedlinburg zog um das bevorstehende Osterfest mit Gottes Lobe und in menschlicher Freude zu begeben. Hierher kamen auf Anordnung des Kaisers (imperatoris edictu) die Herzöge Miesko und Bolislav und Bulgaren (Bulgariorum), Dänen, Slawen und alle Größen aus dem ganzen Königreiche. Alle Sachen fanden eine friedliche Schlichtung, man kehrte mit reichen Gaben beschenkt, frohgemut nach Hause. Nur den Polenfürst Mieszko und der Böhmenherzog Boleslaw II. der Fromme (972–999) sind namentlich gegeben, mit dem ersten sollte der Kaiser die Beilegung des Streits mit Markgraf Hodo erreichen, der zweite wollte die Gründung eines Bistums in Prag sichern. Die ungarischen und bulgarischen Gesandten sind zwischen den südlichen und nördlichen erwähnt.

Wir möchten hier ein wenig vom Geldverkehr sprechen, weil es ein wichtiges Zeichen der Kontakte der Völker ist. Die Böhmen hatten schon im 10. Jahrhundert eine herzogliche Münzprägung. Boleslav I. ist schon in numismatischen Sammlungen vertreten. Der tschechische Chronist Cosmas (gestorben 1125) schrieb dem sterbenden Fürsten Boleslav II. im Jahre 999 Worte, wodurch dieser seine Nachfolger von einer Herabsetzung des Edelmetallinhaltes des Geldes dringlichst abmahnte.

Was dann Ungarn angeht, sind in Mähren 96 Gräber zu finden, wo seit 950 bis 1200 mit dem Tote auch Münzen begraben wurden; 36 Prozent derer sind ungarische königliche Münzen, davon wurden drei Viertel zwischen 1035 und 1085 geprägt. Man hat nicht nur Geldstücke begraben, welche nicht mehr in Zirkulation waren. Die ältesten sind in Mährens 6 Begräbnisstätten, nämlich 12 Denare des Hl. Stephans. Diese Münzen konnten dorthin durch Außenhandel gekommen sein, z. B. für Sklaven. Der Fürst Břetislav verkaufte seine polnischen Kriegsgefangenen in Ungarn. Münzen des Hl. Stephans wurden in Nemcice (Zentralmähren) gefunden, wo mehr als 1000 ungarische Denare in einem Münzfund ausgegraben worden sind.

Das bedeutet aber auch, dass wir die Informationen des Cosmas Pragensis und des Neplachonis nicht mehr annehmen dürfen, die über Siege Břetislavs gegen die Ungarn und über sein Vordringen bis Gran im Jahre 1030 geschrieben haben. Albin Ferenc Gombos hat schon 1938 behauptet, dass die Rolle Břetislavs in Ungarn, auch seine Teilnahme in den kaiserlichen Feldzügen Konrads II. nur falsche Informationen sind. Dagegen – wie polnische, schlesische Quellen darüber schreiben – standen Ungarn und Böhmen in guter Beziehung. Die bis 1113 informierende Chronicae Polonorum bemerkt: „sanctus Stephanus Ungariam gubernabat (...), qui cum Bohemicis, Polonorum infestissimis inimicis, pacem et amicitiam retinebat”. Wir lesen in Chronica principum Poloniae folgendes: „sanctus Stephanus rex (...) pacem servabat cum Bohemis”.

Aus der ungarischen Sammlung der Krönungsinsignien ist das Schwert verloren gegangen: das sog. Schwert des Hl. Stephans ist wikingischer Herkunft; Werk eines gewissen Ulfbrecht und man glaubte, dass es im Fränkischen Reich vor 950 gemacht wurde. Das Schwert tauchte in der Prager Schatzkammer schon während des Mittelalters auf. Der Name des Schwertfegers Ulfbrecht erscheint am Bruchstück einer Degenklinge, in dem Fluss gefunden und an einem Schwert, das zum Wikingerfriedhof am Memel Gebiet gehörte. Dadurch war das Gedächtnis des heiligen Königs von Ungarn am Hradschin niemals verschwunden.

Für die Ausgestaltung der ungarischen Kirche waren auch böhmische Kontakte wertvoll. Damit können wir die verehrungsvolle Pflege tschechischer Märtyrer – Wenzels und Adalberts – in Ungarn erklären. Was den ersten betrifft, betont Třeštík, dass Böhmen unter Wenzel gezwungen war, sich Heinrich I. zu unterwerfen, als der deutsche König 929–930 seine Herrschaft in allen Herzogtümern zu festigen versuchte. Ein Streit ist damit in Böhmen in der herzoglichen Dynastie begonnen, worin Boleslav den Bruder Wenzel am 28. September des Jahres 935 an der Burg von Stará Boleslav (Altbunzlau) töten ließ. Dann begann derselbe Boleslav eine Kampagne für die Kanonisation des Märtyrers, weshalb er eine feierliche Übertragung seiner Überreste nach Prag anordnete. Dann war auch das Kaisertum schon daran interessiert, so dass Kaiser Otto II. dem Bischof Gumpold von Mantua einen Auftrag gab, eine Wenzelslegende zu schreiben. Was den zweiten betrifft, weist Třeštík darauf hin, dass die Legenden Adalberts zeigen, es habe der Bischof rege Beziehungen zu dem ungarischen Hof während seiner ersten Amtszeit gehabt.

Adalbert, der Slawnikider hat im Jahre 989 Böhmen verlassen und zog sich in Rom in die Klöster zurück und widmete sich in deren Stille der vita contemplativa, bis er dann im Jahre 992 nach Prag zurückkehrte. Dann aber endete die Feindschaft der Přemysliden und der Slawnikider mit dem Massenmord im Jahre 995. Třeštík interpretiert die verworrene Nachricht der Hildesheimer Jahrbücher so, dass Otto III. eigentlich nicht nach Gnesen, sondern nach Prag, Hauptstadt der Slawen fahren wollte „Sclaviam intravit (...) in principali urbe Sclauorum Praga” und nicht auf die Bitte des polnischen Bolesław Chrobrys, sondern Boleslavs II., Fürsten der Tschechen „causa petitionis Bolizlavonis Boemiorum ducis”. Otto III. wollte vorerst das „Erzbistum des Hl. Adalbert” in Prag haben. Hier ist doch eine große Schwierigkeit für seine These, nämlich dass eine Pilgerfahrt des Kaisers nur dorthin möglich war, wo der Märtyer begraben war, also nicht Prag, sondern Gniezno war dazu gewählt. Es ist aber wahr, was auch in der Studie von Třeštík daraus folgt: Polen und Ungarn bekamen ihre Königskronen und Erzbistümer, nur Böhmen ist aus all dem mit leeren Händen herausgekommen. Třeštík hat Recht, dass die Pläne Ottos III. unrealistische Träumereien waren, wozu aber Adalbert beigesteuert hatte, sind sie realisiert worden.

In der ungarischen Dedikationspraxis wurde der Adalbert-Kult besonders bedeutsam. Die Kathedrale in der Burg von Gran wurde von Anfang an dem Namen des Hl. Adalbert geweiht, er ist seit je der „pius patronus Ecclesiae Strigoniensis”. Auch das Domkapitel von Raab wählte sich den Hl. Adalbert als Patron. In dem Evangelistarium des Szelepchényi-Kodex und im Sacramentarium des Hahóter Kodex findet sich neben der Verehrung des Hl. Adalbert auch jene des Hl. Alexius, dessen Dedikation auf dem römischen Aventin ein Kloster hatte, wo Adalbert eine Zeitlang weilte. Die sog. Annales Posonienses beginnen mit der Erwähnung des Martyriums Adalberts.

Die Ausbreitung des Kultes des Hl. Wenzels ist ebenso wichtig für Ungarn. Im Evangelistarium Szelepchényianum sind die Feiertage 23. April De sco Adalberto, 17. Juli De s. Alexio, 28. September De sco Wenzezlao. Im Pray-Kodex 1192–1195, der als ein Sacramentarium in einem Benediktinerkloster in Deáki benutzt wurde, sind 23. April Adalberti, 24. April Adalberti epi et mr., 28. September Wenceslai ducis et mr., 6. November Adalberti translacio. Im Missale einer ungarischen Kirche aus dem 13. Jahrhundert ist eine Randbemerkung zum 24. April S. Adalberti. In einem Missale einer ungarischen Kirche aus dem 14. Jahrhundert sind Feiertage: 23. April Adalberti epi et mr., 28. September Wenceslai mr. In einem Missale des 14. Jahrhunderts aus Nordungarn sind mehrere böhmische Heilige erwähnt: capella sancti Wenceslai; Sequentia s. Viti; in passione s. Ludmille; Oct. Wenceslai. Im Missale des Paulinerordens aus dem 14. Jahrhundert sind die Tage 23. April Adalberti epi et mr., 28. September Wenceslai mr., 6. November Translacio s. Adalberti. Im Codex A des Missale Posoniense aus dem 14. Jahrhundert sind die Tage am 4. März Translacio s Wencezlay; 23. April Adalberti mr. epi; 28. September Wenceslai ducis mr. Bohemi[e]; 6. November Translacio s Adalberti. Eine Rangerhöhung befindet sich im Codex H des Missale Posoniense aus dem 14. Jahrhundert, wo Adalbert als Papst, Wenzel als König erwähnt war. Am 23. April Adalberti mris et pp.; 28. September Wenceslai regis et mr. (später verbessert: Ducis); 6. November Transl. S. Adalberti. Im Missale des Zipser Kapitels ist Adalbert als Bekenner erwähnt: 4. März Translacio s. Wenceslai; 23. April Adalberti epi et cf.; 4. Oktober Octava Wenceslai; 12. Oktober Invencio s. Adalberti (14. Jahrhundert). Im Ödenburger (Sopron) Missale von 1363 ist 24. April Adalberti collecta; 28. September Wenceslay ducis. Im Missale des Benediktinerklosters Garamszentbenedek (Sankt Benedikt/Hronsky Benadik) von 1394 ist 23. April Adalberti epi; 28. September Wenceslai mr.; 6. November Translacio s. Adalberti. Im Kodex I des Missale Posoniense aus dem 15. Jahrhundert steht 23. April Adalberti epi. et mr.; September Wencezlai; 6. November Translacio s. Adalberti. Im Missale des Erzbischofs Georg Pálóczi, der 1423–1439 dort tätig war, ist 4. März Translacio sci Wenceslai; 23. April Adalberti epi et mr.; 28. September Wenczlay mr.; 6. November Translacio s. Adalberti epi.

Třeštík geht in seiner Argumentation bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Dazu gehört, dass er die Urkunde des Kaisers Heinrich IV. zitiert, worin der Prager Bischof Gebhard Klage wegen der Lage seiner Diözese erhebt, obwohl einst diese für ganz Böhmen und Mähren durch Papst Benedikt und Kaiser Otto I. gegründet und später verkleinert wurde. Böhmen war also ein Teil des Römischen Reiches Deutscher Nation an der ungarischen Grenze, dessen Fürsten mit konsequenter kaiserfreundlicher Politik das Land erheben konnten.

So war die Lage bis zu der Regierungszeit Herzogs Wratislaw II. (1061– 1092), der als Geschenk für seine Treue vom Kaiser Heinrich im Jahre 1085 mit dem Titel eines Königs, für seine Person nominiert wurde. Er wurde in Prag gekrönt, doch durch den Erzbischof von Trier. Der ungarische König Ladislaus I. konnte aber mit Vermittlung des Meißener Bischofs Benno, den tschechischen Herrscher aus dem Lager des Gegenpapstes Klemens III. entfernen. Ladislaus war treu zum Papst Viktor III.; Wratislaw stand in Verwandtschaft mit der Árpádendynastie, (seine Frau Adleyta war eine Tochter des Königs Andreas I.). Die siebzehnte Szene der Hl. Ladislaus-Legende im Anjou-Legendarium schildert die Versöhnung Ladislaus’ mit dem König der Tschechen und das ist mit einem Kuss symbolisiert. Zur komplizierten Relation gehört, dass ungarische Bischöfe den Kontakt mit exkommunizierten, kaisertreuen Bischöfen aus Deutschland und Böhmen aufnahmen. In diesem Rahmen reiste Bischof Gebhard aus Prag durch Ungarn, wo er in Gran starb.

 

Ausgewählte Quellen und Literatur

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Begegnungen15_Nazarenko

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:191–208.

ALEXANDER V. NAZARENKO

Ungarn und Rus’ um das Jahr 1000

 

Eine ausführlichere monographische Untersuchung russisch-ungarischer Beziehungen des Mittelalters fehlt uns bis heute.1 Deswegen sind vorliegende Ausführungen keinesfalls als eine Forschungsbilanz, sondern vielmehr als eine Präliminarübersicht von einschlägigen Quellendata für die ungefähr hundertjährige Periode von der Mitte des 10. bis etwa zur Mitte des 11. Jahrhunderts aufzufassen. Die späteren Zeugnisse werden nur berücksichtigt, insofern sie auf diese Achsenzeit, in die Grundlagenbildung des ungarischen Staates sowie dessen Verwurzelung im internationalen Beziehungsgeflecht der Christenheit fallen, Licht werfen können. Außer Acht bleibt auch die frühere und nur schwer rekonstruierbare Geschichte von ungarisch-ostslawischen Wechselverbindungen vor der Landnahme, während des Aufenthalts der Madjaren auf dem Gebiet der sog. „Lebedien” und in Etelköz.

Die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts war sowohl in Ungarn, als auch in der Rus’ Periode aktiver staatlicher Konsolidierung. In Ungarn lief die kriegerische Phase intensiver Raubzüge gegen seine westlichen Nachbarn aus; es kam zur Festigung territorial gebundener Herrschaft der Fürsten aus der Árpádendynastie sowie der mächtigsten Stammesfürsten, der Kampf mit denen für die Árpáden noch bevorstand, und die politisch mehr oder weniger Anlehnung an Nachbarreiche (das Reich der Sachsenkönige, Byzanz, Bulgarien) suchten. Unter Großfürst Géza (970/2–997) setzte eine aktive politische Missionierung vom Westen her ein, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte bescheidene Ansätze der byzantinischen Mission im Süden und Osten überlagern sollte, obwohl politisch engagierte Schritte von Seiten ungarischer Machthaber der byzantinisch-orthodoxen Kirche entgegen auch später im 11.–12. Jahrhundert keine Seltenheit war.2 Das Kiewer Reich hatte einen anstrengenden Krieg gegen Byzanz unter Swjatoslaw (um 960–972) (der nebenbei auch ungarische Hilfstruppen in seinem Heer hatte3) und langwierige Thronwirren nach Swjatoslaws Tod endlich hinter sich; bereits die ersten fünfzehn Jahre ständiger Stabilität unter der Herrschaft von Swjatoslaws Sohn Wladimir (978–1015) verursachten eine territoriale Abrundung des Reiches und eine offizielle Christianisierung samt Anfängen der Kirchenorganisation mit sich (eine Metropole in Kiew mit mindestens zwei bis drei Suffraganbistümern in Nowgorod, Belgorod und Polozk). Das bedeutete nicht nur eine einmalige dynastische Bindung an das Mazedonische Kaiserhaus in Konstantinopel (Wladimir heiratete die purpurgeborene Schwester der Kaiser Basileios II. und Konstantinos VIII.), sondern auch eine Eingliederung der Kiewer Rus’ in die byzantinische „Staatenfamilie”, die Russland auf Jahrhunderte hin zu einem festen Bestandteil des byzantinisch-griechischen Kulturkreises, der Slavia Orthodoxa machte.

Die endgültige Formierung der russischen Westgrenze mit dem Krakauer Land (das damals noch unter böhmischer Oberherrschaft stand) und mit Ungarn fällt in die 980er Jahre, als die so genannten „Tscherwenischen Burgen” („Červenskie grady”, westlich vom Oberlauf des Westlichen Bug) und das Gebiet um Peremyšl’ (Przemyšl), d. h. das spätere Galizien, das zukünftig seit Ende des 12. Jahrhunderts mehrmals unter zeitweilige Herrschaft der ungarischen Krone geraten wird, einen engeren Anschluss an das Kiewer Reich gefunden hatten. Die Nord-Ost-Karpaten bildeten die ungarisch-russische Kontaktzone, so dass diese Bergkette in der altrussischen Tradition stets als „die Ungarischen Berge” („gory Ugor’stii”) auftritt.4 Die Quellen über diese Zeit fließen sehr karg, allerdings dürfte feststehen, dass die gegenseitige Anerkennung des entstandenen status quo durch dynastische Verbindungen des Kiewer Hofes mit den Árpáden und den Piasten befestigt wurde. Der im 14. Jahrhundert im „Chronicon Budense” und im „Chronicon Vindobonense pictum” zusammengefassten älteren ungarischen Überlieferung nach ist zu entnehmen, dass der ungarische Árpádenherzog Ladislaus der Kahlköpfige (Szár László), Vetter König Stephans I., eine Russin zur Frau nahm;5 an der Glaubwürdigkeit dieser kurzen Bemerkung zu zweifeln, gibt es keine Gründe. In der zeitgenössischen Chronik des Merseburger Bischofs, Thietmar ist eine Nachricht über eine weitere Ehe zu lesen, nämlich hat einer der älteren Söhne Wladimirs Swjatopolk eine Tochter des polnischen Fürsten Bolesław Chrobry geheiratet.6 In der altrussischen Chronik („Povest’ vremennych let”, in dem deutschsprachigen Schrifttum oft ungenau „Nestor-Chronik” genannt) wird dieses Ereignis um das Jahr 1000 kurzgefasst in folgenden Worten dargestellt: „Und so begann Wladimir mit den Nachbarfürsten in Frieden zu leben, mit dem polnischen Bolesław und dem ungarischen Stephan und dem böhmischen Andrich.”7 (Unter ihm ist wahrscheinlich anachronistischer Weise Herzog Udalrich [Oldřich 1012–1034] gemeint.)

Es ist mit einer gewissen Sicherheit anzunehmen, dass das gegenseitige Interesse nicht nur politisch bedingt wurde. Anfang des 12. Jahrhunderts war der Verfasser der Endredaktion der altrussischen Chronik auffallend bemüht, alle Informationen zur Frühgeschichte der Ungarn als Verbündete Kaiser Leons VI. in dem byzantinisch-bulgarischen Krieg 894–896 bzw. über den ungarischen Feldzug gegen Konstantinopel unter Kaiser Romanos I. 933–934 aus seiner griechischen Hauptquelle, d. h. aus der Fortsetzung der Chronik des Georgios Hamartolos, zu sammeln und in seinen Text einzuarbeiten.8 Auch eine Quelle böhmisch-mährischer Provenienz, die in der kyrillo-methodianischen Tradition verwurzelte und nur dank der Rezeption in die altrussische Annalistik rekonstruierbare sog. „Erzählung über die Übersetzung der Bücher [d. h. der Heiligen Schrift und des liturgischen Kanons] in die slawische Sprache” („Skazanie o preloenii knig na slovenskij jazyk”)9 wird in dieser Richtung tüchtig ausgebeutet. So ist in die altrussische Chronik ein langatmiger Bericht über die ungarische Landnahme aufgenommen: „Es zogen die Ungarn vom Osten her an Kiew vorbei über den Berg, der heute der Ungarische heißt, und gelangten an den Dnjepr und lagerten sich in ihren Zelten, denn sie wanderten [damals] wie die Polowzer [heute]. Dann strömten sie über die großen Berge hin, die deswegen die Ungarischen Berge benannt wurden, und begannen die da beheimateten Wlachen und Slaven zu bekriegen, denn früher hatten da Slaven gewohnt und dann waren die Wlachen10 gekommen und das slawische Land genommen. Und die Ungarn jagten die Wlachen weg und erbten nach ihnen das Land und siedelten mit den Slaven zusammen, indem sie diese unterwarfen. Und seitdem hieß das Land das Ungarische Land. Und die Ungarn begannen gegen die Griechen zu kriegen, und überzogen mit Krieg das thrakische und mazedonische Land bis an die Thessalonike, und gegen die Mähren und die Böhmen.”11

Zwar kann das augenfällige Interesse des Kiewer Chronisten für die Frühgeschichte der Ungarn daraus erklärt werden, dass er um 1100 unter Fürst Swjatopolk Izjaslavič (1093–1113) schrieb und somit der offenkundigen Tatsache Rechnung trug, dass Swjatopolks Verhältnis zu Ungarn, zuerst zu Ladislaus I. dem Heiligen (1077–1095), dann zu Kolomann (1095–1116), sich durch eine stabile Freundschaft auszeichnete; zu nennen wären nur zwei Ehen, die von Jaroslaw, dem Sohne Swjatopolks, mit einer Tochter König Ladislaus (um 1089)12 und die des jüngeren Bruders König Kolomanns, Herzog Álmos, mit Swjatopolks Tochter Peredslava im Jahre 1104.13 Allerdings bezeugt die zitierte Passage der Chronik unverkennbar auch das, dass der gelehrte Mönch des Kiewer Höhlenklosters nicht nur schriftliche Quellen, sondern auch lokale mündliche Tradition verwertet haben soll, namentlich eine toponymische Sage, die um den „ungarischen” Namen eines der Kiewer Hügel rankte und diesen mit der im Volksmunde um die Wende zum 12. Jahrhundert immer noch lebendigen Erinnerung an die Westwanderung der Ungarn in Verbindung brachte.

Hinzu kommt ein in seiner Authentizität charakteristisches Detail. Der alt russische Chronist macht einen klaren Unterschied zwischen den „Weißen” („Ugri bĕlii”) und den „Schwarzen” Ungarn („Ugri černii”),14 was er aus seinen Quellen auf keine Weise auslesen konnte. Eine ähnliche Unterscheidung ist meines Wissens lediglich in drei weiteren Texten belegt: in der „Vita quinque fratrum” und in dem Brief an König Heinrich II. (1002–1024), die von dem berühmten Missionserzbischof Brun von Querfurt geschrieben wurden15 (er unternahm zwei Missionsreisen, 1003 und 1007, zu den „Ungri Nigri”), sowie in stark verworrener Form in der Chronik Adémars von Chabannes aus den 30er Jahren des 11. Jahrhunderts, bezeichnenderweise ebenfalls innerhalb einer Erzählung über die Tätigkeit Brunos von Querfurt.16 Dieser Quellenbefund lässt vermuten, dass die Information über die „Schwarzen” Ungarn in der Kiewer Chronik letzten Endes auch auf Brun von Querfurt zurückgehen dürfte, der ja, wie aus dem erwähnten Brief an König Heinrich hervorgeht, 1008 im Zusammenhang mit seiner Predigt bei den Petschenegen längere Zeit in Kiew am Hofe von Wladimir verbrachte und sogar ein ephemeres petschenegisches Missionsbistum der Kiewer Metropole organisiert haben will (vor der Kirchentrennung 1054 war das noch möglich). Wie dem auch sei, diese Information ist historisch vom Chronisten falsch interpretiert, denn die „Weißen” Ungarn werden von ihm mit jenem Volkseiner byzantinischen Quellen (Theophanes Homologetes, „Breviarium” des Patriarchen Nikephoros I., Georgios Hamartolos) identifiziert, die noch im Jahre 626 unter Kaiser Herakleios als byzantinische Verbündete gegen die Perser zogen, also mit den Chazaren17. So eine Fehlinterpretation (das Problem der „Schwarzen” Ungarn bereitet auch den Historikern von heute Schwierigkeiten18) hat der Chronist mit anderen altrussischen Texten gemeinsam, zum Beispiel mit der sogenannten „Großen Chronographie” („Chronograf po velikomu izloeniju”) aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, wo die Chazaren aus dem Jahre 626 ebenfalls als „Ungarn” („Ugri”) erscheinen.19

Parallel der altrussischen sagenhaften Überlieferung über den Aufenthalt der Ungarn in der nordpontischen Steppe und ihre Landnahme im Mitteldonauraum läuft die ungarische Tradition über Urheimat der Ungarn jenseits der Wolga und Wanderung durch Südrussland; es ist bekannt, dass sie erst spät, Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts, in literarisch ausgeschmückter Form eines quasi-ritterlichen Epos schriftlich fixiert wird.20 Es war gerade diese zähe Erinnerung an die ehemalige ungarische Heimat weit im Osten, irgendwo in der Nähe vom russischen Land Wladimir-Susdal („Ruscia quae Susudal vocatur”, „Magna Laudameria”), die noch in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts dominikanische Missionare aus Ungarn bis an den Kama-Fluss führte.21

Bevor wir hier auf unmittelbare politische Verbindungen, die oben schon gestreift worden sind, zu sprechen zurückkommen, müsste die Situation auf dem Gebiet des Fernhandels kurz skizziert werden. Peremyšl’ und die Tscherwenischen Burgen zu beherrschen, war für die Kiewer Fürsten nicht zuletzt deswegen wichtig, weil dieses Karpatenvorland ein Schlüsselgebiet auf dem großen Transithandelsweg zwischen Westeuropa und dem Khalifat war.22 Nach orientalischen Quellen (Ibn Hurdadbeh) bestand diese strategische Route bereits im 9. Jahrhundert.23 Ein Jahrhundert später, um 960, wird sie in einem Brief des Ministers Rabbi Hisdai von Cordoba an den chazarischen Chakan Joseph folgendermaßen beschrieben: Deutschland – Böhmen – Ungarn (HNKR) – Rus’ – Wolgabulgarien – Chazarien.24 Da die Strecke Böhmen – Ungarn für die 60er Jahre des 10. Jahrhunderts auch durch den ausdrücklichen Bericht Ibrahim Ibn Jakubs über die ungarischen Kaufleute in Prag gesichert wird,25 wäre die Information von Rabbi Hisdai so zu verstehen, dass der Fernhandelsweg, der im 9. Jahrhundert das Mitteldnjeprgebiet um Kiew durch die Karpatenpässe und Nordungarn mit der bayerischen Ostmark verbunden26 und um 900 wegen der ungarischen Gefahr sich weiter nördlich bis an den Nordrand der Karpaten verlagert hatte,27 in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts im Großen und Ganzen schon wiederhergestellt war. Davon dürften auch mehrere Dirhamschatzfunde aus dem Gebiet am Oberlauf des Südlichen Bug, d. h. aus dem späteren Land Galič (Halitsch), und von der oberen Theiß zeugen, die hier nur für die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts charakteristisch sind.28 Es fehlen vergleichbare europäische Quellen für das 10. Jahrhundert zu diesem Thema, aber sobald seit Ende des 12. Jahrhunderts in der Steiermark und Österreich herzogliche Zoll- und Handelsordnungen in Erscheinung treten, werden in den meisten dieser Urkunden (denen von Herzog Ottokar IV. von Steiermark aus dem Jahre 1191–1192, Herzog Leopold V. von Österreich aus dem Jahre 1192 und Herzog Leopold VI. aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts) Fernkaufleute erwähnt, die von Regensburg aus mit Russland Handel trieben.29 D. h. die Verbindung verlief nicht bzw. nicht nur über Prag, sondern auch über Ungarn, was durch ein ungarisches Privileg wahrscheinlich aus der Zeit König Emmerichs (1196–1204) für das Kapitel und Kloster zu Gran bestätigt wird, in dem von russischen Kaufleuten in Pest, Gran und in anderen Orten („sive in Pest, sive Strigonii, sive alibi”) die Rede ist.30 Die Stabilisierung des west-östlichen Fernhandelsverkehrs durch die Karpatenpässe und Ungarn seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts war ein Hauptgrund dafür, dass die Kiewer Fürsten, zuerst Jaropolk Swjatoslavič und dann sein Bruder Vladimir der Heilige im Karpatenvorland um Peremyšl’ in den 970er Jahren wiederholt Krieg führen, um das Land aus einer Abhängigkeit von Prag zu lösen und an das Rus’-Reich zu bringen, was auch in der Tat geschah.31

Soweit wir aus dürftigen Quellenzeugnissen schließen können, blieb die ungarische Hilfe (500 milites) während des Feldzugs des polnischen Fürsten Bolesław Chrobry gegen Kiew im Jahre 1018, wovon Thietmar von Merseburg berichtet,32 eine Episode. Um 1025 waren die inneren Kämpfe in der Rus’ nach dem Tode Wladimirs des Heiligen 1015 ausgekämpft, und die politische Lage stabilisierte sich unter der Doppelherrschaft von zwei Söhnen Wladimirs, Jaroslaw von Kiev (Jaroslaw dem Weisen) und Mstislav von Tschernigow, soweit, dass 1030–1031 die Tscherwenischen Burgen, die 1018 von Bolesław besetzt worden waren, zurückerobert werden konnten.33 Die Lage des ungarischen Königs Stephan des Heiligen (997–1038) in diesem Konflikt wird daraus ersichtlich, dass die vor Stephan flüchtigen ungarischen Prinzen (duces), Stephans Neffen Andreas, Béla und Levente, um 1033 gerade am polnischen Hofe Mieszkos II. Asyl fanden;34 einige Jahre später geriet (wenn wir uns auf Gallus Anonymus verlassen wollen) der junge polnische Fürst Kasimir bei Stephan in eine Art Ehrengefangenschaft, die bis Stephans Tod 1038 andauerte.35

Hinzu kommt noch eine interessante Einzelheit. Der 1031 einem Jagdunfall zum Opfer gefallene ungarische Thronfolger, Stephans Sohn Emmerich, führte nach einer einzelnen Nachricht der Hildesheimer Annalen den seltsamen Titel „Herzog der Russen” („dux Ruizorum”)36; die wahrscheinlichste Deutung dieser crux interpretum bestehe darin, dass unter Führung Emmerichs ein Korps von russischen Söldnern, etwa wie in Byzanz, gestanden hätte. Ein mehrfach angenommener Zusammenhang mit der „Russischen Mark” in Ungarn scheint kaum plausibel. Die Mark ist quellenmäßig erst um 1125 durch die „Vita des Salzburger Erzbischofs Konrad” belegt37 (die Lokalisierung schwankt von der ungarisch-russischen Grenzregion im Nordosten bis in das Land zwischen der Donau bzw. der Drau und der Save im Süden);38 darüber hinaus wäre eine lokale Präfektur in einer entlegenen Mark mit dem Thronfolgerstatus Emmerichs nur schwierig zu vereinbaren. Die Existenz eines russischen Gardetrupps am ungarischen Hof ist selbstverständlich nur unter Voraussetzung vertraulicher Beziehungen zwischen Stephan und Jaroslaw in den 20er Jahren des 11. Jahrhunderts denkbar.

Hingewiesen sei auch auf Ungarn im Dienste der russischen Fürsten zu dieser Zeit. Am bekanntesten ist Georgij „der Ungar” („Ugrin”, „syn Ugoresk”), Lieblingsotrok (otrok hieß Mitglied der „jüngeren” Fürstengefolgschaft, der alt- russischen druina) des Fürsten Boris Wladimirovitsch, eines der jüngsten Söhne Wladimirs; Georgij teilte das Schicksal seines Herrn und wurde 1015 mit Boris während der Fehde nach dem Tod Wladimirs ermordet39. Georgij war nicht alleine; sein Bruder Moisej (Moses), der ebenfalls den Beinamen „Ungar” führte, befand sich 1018 unter Vertrauensleuten (familiares) Peredslavas, einer der Töchter Wladimirs. Nach seiner Rückkehr aus der polnischen Gefangenschaft wurde Moisej Mönch im Kiewer Höhlenkloster; seine Vita, in der er wegen eines radikalen Asketismus hochgepriesen wird, lag bereits in den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts vor und fand anderthalb Jahrhunderte später Eingang in das Klosterpaterikon.40 Einer späteren, seit dem 13. Jahrhundert fassbaren hagiographischen Überlieferung zufolge, sollen Boris und Moisej noch einen dritten Bruder, namentlich Efrem (Ephraim), konjuij (Stallmeister) des Fürsten Boris Wladimirovitsch, gehabt haben, dem durch die „Vita Efrems” die Gründung eines Klosters zu Ehren der heiligen Brüder Boris und Gleb in Torok, im Grenzgebiet zwischen Nowgorod und Rostow-Susdal, im Nordosten der Rus’, zugeschrieben wird.41 Es ging also um eine ganze Familie fürstlicher Dienstmannen, deren ungarischer Stammvater bereits unter Wladimir in der Rus’ geweilt haben muss. Die augenfällige Tatsache, dass die Angaben über die drei ungarischen Brüder sich um die Person Boris Wladimirovitsch’s konzentrieren, legt die Vermutung nahe, sie wären mit seinem Vater in den Dienst des Fürsten Boris eingetreten, als dieser Anfang des 11. Jahrhunderts kurze Zeit in Wolhynien, d. h. an der ungarischen Grenze, residierte.42

Die ungarische Politik Jaroslaws, seit 1036 Alleinherrscher in der Rus’, wechselte in den 40er Jahren. Die Gründe dafür werden nur verständlich, wenn wir die gleichzeitige Wendung in den russisch-deutschen Beziehungen mitberücksichtigen. Die Zusammenarbeit Jaroslaws und Kaiser Konrads II. (1024– 1039), nach 1039 auch König Heinrichs III. (1039–1056) bei der Stabilisierung der Verhältnisse in Polen und der Restituierung Kasimirs des Erneuerers (1038/9– 1058) auf dem polnischen Fürstenthron43 ließ Jaroslaw mit eventueller politischer Unterstützung des Salierreiches im anrückenden Konflikt Kiews mit Konstantinopel rechnen, der 1043 zu dem letzten russisch-byzantinischen Krieg führte. Die Weihnachten 1042 von Heinrich III. empfangene russische Gesandtschaft, die dem inzwischen verwitweten deutschen König die Hand einer der Töchter Jaroslaws anbot, schlug jedoch fehl,44 denn angesichts burgundischer Angelegenheiten musste Heinrich die Aquitanierin Agnes von Poitiers bevorzugen. Ergebnis dessen war das, dass der Kiewer Fürst den ungarischen Thronprätendenten den Arpaden Andreas gegen den von Heinrich 1044 zum zweiten Mal mit Waffengewalt auf den Thron erhobenen König Peter von Orseolo (1038– 1041, 1044–1046) tatkräftig unterstützte. Es gibt Anhaltspunkte zu ahnen, dass die Wende noch früher, unter König Samuel Aba (1041–1044), d. h. gleich nach der Ablehnung des russischen Heiratsangebots durch Heinrich, eingetreten sein muss.

In der „Regensburger Kaiserchronik” ist zu lesen, dass Samuel Aba nach der Niederlage durch die Deutschen bei Ménfõ 1044 mit seiner Familie nach der Rus’ zu fliehen versuchte („Ottô huob sich enzît, // er nam chint unde włp, // ze den Riuzen er entran”)45. Die „Kaiserchronik” wurde ein Jahrhundert später um 1140–1150 verfasst und ihre Quellen bleiben manchmal recht dunkel;46 dennoch wäre dieser Hinweis eines anonymen Regensburger Geistlichen ernst zu nehmen, da er auch sonst Einzigartiges über Samuel zu berichten weiß: etwa dass Samuel einen Beinamen „der Schielende” gehabt (”der hiez der scilhende Ottó”) oder dass er den Thron mit der böhmischen Hilfe ergriffen haben soll47 (das letztere ist durchaus wahrscheinlich). Dass Samuel 1044 in der Rus’ Hilfe zu finden hoffte, ist sehr bemerkenswert, da Jaroslaw kurz zuvor, um 1040, in einer ähnlichen Situation sich weigerte, den bereits erwähnten ungarischen Prinzen Andreas und Levente Asyl zu geben, um das Einvernehmen mit König Peter nicht zu stören; Andreas und sein Bruder mussten weiter zu den Petschenegen fliehen.48 Samuel musste also über das deutsch-russische Zerwürfnis informiert werden. Es sind wahrscheinlich seine Gesandten bei Heinrich III. im Mai 1043 gewesen,49 die ihm diese Information brachten.

Der Tod Samuel Abas konnte an der schroffen Ablehnung König Peters und der ungarischen Politik Heinrichs III. durch Jaroslaw nichts ändern, nur dass Andreas jetzt an die Stelle Samuels trat. Um 1045 wurde Andreas aus seinem petschenegischen Asyl nach Kiew geholt50 und mit einer Tochter Jaroslaws verheiratet,51 möglicherweise derselben, die ehemals für Heinrich bestimmt worden war und jetzt Mutter des künftigen ungarischen Königs Salomon werden musste. Es ist kaum nur ein chronologischer Zufall, dass Andreas aus der Rus’ gerade 1046 auf den ungarischen Thron geleitet wird, d. h. in dem nächsten Jahr, nachdem es schließlich zu einem russisch-byzantinischen Frieden kam,52 den die Ehe Wsewolod Jaroslawitsch, eines der Söhne Jaroslaws, mit einer Tochter Kaiser Konstantinos’ IX. Monomachos (1042–1055) gefestigt hat.53 Jetzt konnte sich der Kiewer Fürst schließlich den ungarischen Angelegenheiten zuwenden und Andreas Geld und Heer bereitstellen,54 um den Kampf mit König Peter aufzunehmen. Anhaltende Auseinandersetzungen mit Böhmen, Polen und besonders mit dem Reich Heinrichs III. machten Andreas auch später an eventueller russischer Unterstützung sehr interessiert.55 Dieses Interesse scheint sogar einen kirchenpolitischen Aspekt gehabt zu haben. So fanden die böhmischen Anhänger der slawischsprachigen Liturgie aus dem Kloster Sázava, die um 1056 unter Herzog Spytihnĕv II. (1055–1061) aus Böhmen verjagt worden waren, eine freundliche Aufnahme in Ungarn.56 Um dieselbe Zeit siedelten orthodoxe Mönche (russischer Herkunft?) in Felsengrotten in der Nähe der 1055 von König Andreas gestifteten Benediktinerabtei Tihany; sie dürften Zuzügler aus der Rus’ gewesen sein, die unter Obhut der Königin stünden, wie es der später belegte Name des Ortes Oroszkő (der „russische Stein”) nahelegt.

Nachdem 1058 endlich ein ungarisch-deutscher Frieden zustande gekommen ist und der ungarische Thronfolger Salomon mit Judith, der Schwester des jungen Heinrich IV. (1056–1106) vermählt worden war, wiederholte sich die Situation noch einmal. Ende des Jahres 1060 riss Andreas’ Bruder Béla I. (1060– 1063), der sich auf Polen stützte, den Thron an sich, Salomon flieh mit seiner russischen Mutter nach Deutschland57 und während des Kampfes der Söhne Bélas Géza und Ladislaus gegen König Salomon (1063–1074) suchten die rebellierenden Prinzen wiederum Hilfe in der Rus’58. Dass sie keine solche bekamen,59 erklärt sich aus der komplizierten innenpolitischen Lage, die sich in der Rus’ nach dem Tod Jaroslaws im Jahre 1054 ergeben hatte. Es etablierte sich eine Art Triarchie von drei Söhnen Jaroslaws, namentlich von Izjaslaw von Kiew, Swjatoslaw von Tschernigow und Wsewolod von Perejaslawl’ und Rostow. Der mit Polen fest verbundene Izjaslaw, der eine Schwester von Kasimir I. zur Frau hatte, hätte gern die Söhne Bélas unterstützt, konnte sich aber gegen die jüngeren Brüder nicht durchsetzen. Es lassen sich somit feste Konturen eines Bündnisses zwischen Béla I., Izjaslaw Jaroslavitsch von Kiew und Bolesław II. von Polen (1058–1079) erkennen. Es spricht vieles dafür, dass Izjaslaw seinem Neffen Rostislaw, dem Sohn seines verstorbenen älteren Bruders Wladimir von Nowgorod, eine Residenz im Westen der Rus’, in Wolhynien, zugewiesen hat und eine Tochter Bélas heiraten ließ.60 Wie scharf diese außenpolitischen Gegensätze innerhalb des russischen Fürstenhauses waren, ist daraus ersichtlich, dass bereits 1064, d. h. sofort nach dem Tod Bélas Ende 1063 und dem Thronantritt Salamons, Rostislaw seinen wolhynischen Sitz verlassen musste.61

Zum Schluss möchten wir das Gesagte kurz zusammenfassen. Über die ungarisch-russischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts lässt sich nur einiges bestimmt sagen. Die Ost-West-Fernhandelsstrecke über Nordungarn scheint zu dieser Zeit bereits wieder funktioniert zu haben. Seit Anfang des 11. Jahrhunderts sind stabile und im Ganzen freundschaftliche politische Verbindungen zwischen Ungarn und der Rus’ zu verfolgen, die nicht nur rein dynastischer Natur waren, sondern Kontakte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen der beiden Staaten zur Folge hatten, z. B. die Migration von Dienstmannen in den beiden Richtungen. Zumindest seit den 40er Jahren wird Ungarn ein bedeutsamer Faktor in der russischen Außenpolitik, und umgekehrt: die Beziehungen zu der Rus’ werden zum festen Bestandteil der internationalen Politik der ungarischen Könige, was angesichts der Lage Ungarns an der Grenze zwischen Mittel-, Südost- und Osteuropa anders auch kaum sein könnte. Das Bündnis mit der Rus’ hat Ungarn unter König Andreas I. aufgrund der politischen Rückschläge zur Zeit Peters seine politische Souveränität gegen das Reich wiederherzustellen und zu sichern geholfen.

 

Anmerkungen

1

Die politischen Verhältnisse sind informativ, wenn auch nicht ganz fehlerlos in den „ungarischen” Kapiteln des Standardwerkes über die Außenpolitik der vormongolischen Rus’ skizziert von V. T. PAŠUTO, Vnešnjaja politika Drevnej Rusi, Moskwa 1968, S. 49–54., 167–182.

2

Gyula MORAVCSIK, Die byzantinische Kultur und das mittelalterliche Ungarn, Berlin 1956, (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin, Klasse für Philologie, Geschichte, Jg. 1955, Nr. 4.); DERS., Byzantium and the Magyars, Budapest 1970.; György SZÉKELY, La Hongrie et Byzance aux XIe–XIIe siècles, in: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, Tomus 13 (1967).

3

Nach Leo Diaconus (Leonis Diaconi Caloënsis Historiae libri decem, e rec. C. B. HASII, Bonnae, 1828, cap. VI, 12, S. 108.) nahm eine „große Menge von Hunnen” an der Seite Swjatoslaws in der Schlacht bei Arkadiopolis 970 teil.) (Hunnen = Ungarn nach Gyula MORAVCSIK, Byzantinoturcica, Band II. Die Sprachreste der Turkvölker in den byzantinischen Quellen, Berlin 1958, S. 235. [Berliner Byzantinische Arbeiten, Band 10.]); Skylitzes nennt in einem ähnlichen Bericht als „Verbündete” des Kiewer Fürsten unzweideutig die „Petschenegen und im Westen in Pannonien siedelnden Turkoi" (Ioannis Scylitcae Synopsis historiarumed, ed. princeps rec. I. THURN, Beroloni-Novi Eboraci 1973, S. 288. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, vol. 5.).

4

Vgl. in der altrussischen Chronik vom Anfang des 12. Jahrhunderts: Polnoe sobranie russkich letopisej (im Folgenden PSRL), Band I., Leningrad, 1928, Sp. 3., 25., 139.; Band II., Sankt-Petersburg, 1908, Sp. 3., 18., 126.); weiterhin in dem sog. „Igorlied” aus den 1180er Jahren (Slovo o polku Igoreve, [Hrsg. Von O. V. TVOROGOV], in: Biblioteka literatury Drevnej Rusi, Band IV., Sankt-Petersburg, 1997, S. 262.), u. a. m.

5

Calvus Ladizlaus, qui uxorem de Ruthenia dicitur accepisse. Das Zitat s. in: Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, praefatus est, textum rececensuit, annotavit, instruxit Alexander DOMANOVSZKY, in SRA), Tomus I., Budapestini 1937, S. 344. – Aus chronologischen Gründen ist anzunehmen, dass es hier um eine Tochter Wladimirs handelte; N. Baumgarten will sogar ihren Namen Premislava wissen (N. BAUMGARTEN, Généalogies et mariages occidentaux des Rurikides russes du Xe au XIIIe siècle, Rome,1927, S. 7., table I, nr. 17 [Orientalia Christiana, vol. IX, nr. 35]), doch entbehrt diese Angabe jede ernsthafte Grundlage.

6

Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, (Hrsg. von. R. HOLTZMANN), Berlin, 1935, cap. IV, 58.; VII, 72–73.; VIII, 33., S. 196., 486., 488., 530. (MGH SRG ns.], t. 9); A. V. NAZARENKO, Nemeckie latinojazyčnye istočniki IX–XI vekov: teksty, perevod, kommentarij, Moskwa 1993, S. 150., Anm. 21.; S. 167–170., Anm. 52.; S. 202–203., Anm. 112.

7

Diese Notiz befindet sich anachronistischerweise unter dem konstantinopolitanischen Weltjahr 6504, d. h. unter dem Märzjahr 996/7 n. Chr. (PSRL, Band I, Sp. 126.; Band II, Sp. 111.). Die in der Forschung mehrfach postulierte ungarische Ehe Svjatoslavs, eines der Söhne Vladimirs (V. P. ŠUŠARIN, Russko-vengerskie otnoenija IX veka, in: Meždunarodnye svjazi Rossii do XVII veka, Moskwa 1961, S. 155.; V. T. PAŠUTO, Vnešnjaja politika [wie oben Anm. 1.], S. 51.; u. a. m.), ist nur eine vage Vermutung, die darin ihren Grund hat, dass 1015 während der Thronstreitigkeiten nach dem Thode Wladimirs Swjatoslaw, der im Land der Drevljanen, westlich von Kiev, seinen Sitz hatte, nach Ungarn («v Ugry») zu flüchten versuchte (PSRL, Band I., Sp. 139.; Band II., Sp. 129.).

8

PSRL, Band I., Sp. 29., 43.; Band II., Sp. 20., 33.

9

A. A. ŠACHMATOV, Povest’ vremennych let i jejo istoèniki, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury Instituta russkoj literatury AN (Puškinskogo doma), Band IV., Leningrad, 1940, S. 80–92.; V. M. ISTRIN, Moravskaja istorija slavjan i istorija poljano-rusi kak predpolagaemye istočniki načal’noj russkoj letopisi, in: Byzantinoslavica, Tom 3., Praha 1931, S. 308–332.; B. N. FLORJA, Skazanie o preloenii knig na slavjanskij jazyk: istočniki, vremja i mesto napisanija, in: ebda. Tom 46., Praha 1985, S. 121–130.

10

Die Beurteilung dieser «Wlachen» („Volochy”) des „Skazanie” bleibt kontrovers (Römer?, italienische Franken?), vgl. die informative Übersicht von V. D. KOROLJUK, Volochi i slavjane russkoj letopisi, in: Slavjane i vostočnye romanci v epochu rannego srednevekovja, Moskwa 1985, S. 168–186. (zuerst erschien 1971).

11

PSRL, Band I., Sp. 25.; Band II., Sp. 17–18.

12

Mór WERTNER, Az Árpádok családi története [Die Familiengeschichte der Arpaden], Nagybecskerek 1892, S. 205–210.; N. BAUMGARTEN, Généalogies et mariages (wie oben Anm. 5.), S. 10., table II., Nr. 11. Gerasclavus filius regis Rutenorum wird in der Gründungsurkunde des monasterium s. Aegidii de Simigio als Schwiegersohn („gener”) von Ladislaus I. im Jahre 1091 erwähnt. S. das in: György GYÖRFFY et al. (Hrsg.), Diplomata Hungariae antiquissima. Accedunt epistolae et acta ad historiam Hungariae pertinentia, Vol. I., Budapest 1992, Nr. 88., S. 268). Über den politischen Hintergrund dieses Heiratsbündnisses vgl. N. V. NAZARENKO, Drevnjaja Rus’ na meždunarodnych putjach: meždisciplinarnye očerki kul’turnych, torgovych, političeskich svjazej IX–XI vekov, Moskwa 2001, S. 548–553.

13

PSRL, Band I., Sp. 280.; Band II., Sp. 256.; M. WERTNER, Az Árpádok (wie oben Anm. 12.), S. 251.; N. BAUMGARTEN, Généalogies et amriages (wie oben Anm. 5.), S. 10, table II., Nr. 14.

14

PSRL, Band I., Sp. 11–12.; Band II., Sp. 9.

15

J. KARWASIŃSKA (Hrsg.), Żywot pięciu braci pustelników albo Żywot i męczeństwo Benedykta, Jana i ich towarzyszy napisany przez Brunona z Kwerfurtu, Tomus IV/III., Warszawa 1973, cap. 10., S. 52. (MPH ns.); s. noch den Brief Bruns zu König Heinrich, ebda. S. 100.

16

J. CHAVANON (Hrsg.), Adémar de Chabannes. Chronique, Paris 1897, cap. III., 37., S. 152–153., not. f. (Collection des textes, t. 20). – Die Erzählung über Bruno-Bonifatius von Querfurt gibt es lediglich in der Redaktion C der Chronik Adémars; sie wurde deswegen allgemein für eine Interpolation aus dem 12. Jahrhundert gehalten (in der Edition von J. Chavanon nur als eine Fußnote abgedruckt); K. F. Werner hat mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine von Adémar selbst Anfang der 1030er Jahre vorgenommene letzte Bearbeitung der Chronik gehandelt werden muss. (K. F. WERNER, Adémar von Chabannes und die Historia pontificum et comitum Engolismensium, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Jg. 19, Köln-Wien 1963, S. 287–326.)

17

Theophanis Chronographia, rec. C. de BOOR, Tomus I., Lipsiae 1883, S. 315–317.; Nicephori archiepiscopi Constantinopolitani Opuscula historica, ed. C. de BOOR, Lipsiae 1880, S. 15.

18

Die Identität der „Schwarzen” Ungarn mit dem Volk von Kabaren ( Gyula KRISTÓ, A fekete magyarok és pécsi püspökség alapítása [Die schwarzen Ungarn und die Gründung des Bistums in Fünfkirchen], in: Acta Universitatis Szegediensis de Attila József nominatae. Acta Historica, Tomus 82, Szeged 1985, S. 15–16.; u. a. m.) bleibt hypothetisch (Vgl. noch: V. P. ŠUŠARIN, Rannij etap etničeskoj istorii vengrov: problemy etničeskogo samosoznanija, Moskwa 1997, S. 172–173.)

19

Die in selbständiger Form nicht erhaltene „Große Chronographie” fußte auf der slawischen (altrussischen) Übersetzung (Mitte des 11. Jahrhunderts) der Chronik des Georgios Hamartolos, in der Verbündete Kaiser Herakleios’ ebenfalls als „Ungarn” auftreten (V. M. ISTRIN, Chronika Georgija Amartola v drevnem slavjano-russkom perevode, Tom I.: Tekst, Petrograd 1920, S. 434–436.); vgl. auch: I. V. TVOROGOV, Drevnerusskie chronografy, Leningrad 1975, S. 256., Art. 364.; O. V. TVOROGOV-S. A. DAVIDOVA (Hrsg.), Letopisec Ellinskij i Rimskij, Tom I.: Tekst, Sankt-Petersburg 1999, S. 391. – Der von uns hier nur angedeutete textologische Befund blieb leider ganz unberücksichtigt im Aufsatz von J. Perényi über die Ungarn in der altrussischen Chronik: József PERÉNYI, Ugry v „Povesti vremennych let”, in: Letopisi i chroniki. Sbornik statej 1973 g. Festschrift für A. N. Nasonov, Moskwa 1974, S. 92–102.

20

P. magistri, qui Anonymus dicitur, Gesta Hungarorum, praefatus est textumque recensuit Aemilius JAKUBOVICH, Tomus I., Budapest 193?, S. 33–117. (SRH)

21

H. DÖRRIE, Drei Texte zur Geschichte der Ungarn und Mongolen: Die Missionsreisen des fr. Julianus O. P. ins Uralgebiet (1234/5) und nach Rußland (1237) und der Bericht des Erzbischofs Peter über die Tataren, Göttingen 1956, (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1956, Nr. 6.) Als „Magna Hungaria” ist das Gebiet am Niederlauf der Kama und an dem Belaja-Fluß archäologisch am besten gesichert von E. A. CHALIKOVA, Bol’še-Tiganskij mogil’nik, in: Sovetskaja archeologija, Nr. 2., Moskwa 1976, S. 158–178.; DIES. Rannevengerskie pamjatniki Nižnego Prikamja i Priuralja, ebda., Nr. 3. Moskwa 1976, S. 143–152.; V. V. SEDOV, Vengry v Vostočnoj Evrope, in: Finno-ugry i balty v epochu srednevekovja, Moskwa 1987, S. 237–239.

22

A. V. NAZARENKO, Drevnjaja Rus’ (wie oben Anm. 12.), S. 71–112.

23

Kitab al-Massalik wa’l-Mamalik auctore Abu’l-Kasim Obaidallah Ibn Khordadbeh (...), ed. M. J. de GOEJE, Lugduni Batavorum 1889, S. 155. (Bibliotheca geographorum arabicorum, Tomus 6.); T. LEWICKI, Żródła arabskie do dziejów Słowiańszczyzny, Tom I., Wrocław-Kraków 1956, S. 77.; Ibn Chordadbech, Kniga putej i stran, Übersetzt, kommentiert und untersucht von N. VELICHANOVA, Baku 1986, S. 124.

24

P. CASSEL, Der Chazarische Königsbrief aus dem 10. Jahrhundert, Berlin 1877, S. 69. (deutsche Übersetzung); P. K. KOKOVCOV, Evrejsko-chasarskaja perepiska v X veke, Leningrad 1932, S. 16. (hebräischer Originaltext), S. 65–66. (russische Übersetzung).

25

T. KOWALSKI (Hrsg.), Relacja Ibrahima ibn Ja’kuba z podróªy do krajów słowia¤skich w przekazie al-Bekriego, Kraków 1946, S. 49., 146. (MPH NS, Tom I.) (arabischer Originaltext mit lateinischer Übersetzung); die deutsche Übersetzung s. bei F. WESTBERG, Ibrâhîm’s-ibn-Ja’kûb’s Reisebericht über die Slawenlande aus dem Jahre 965, Sankt-Petersburg 1898, S. 53. (Zapiski imperatorskoj Akademii nauk, istoriko-filologičeskoe otdelenie, Tom III., Nr. 4.)

26

A. V: NAZARENKO, Die frühesten bayerisch-russischen Kontakte in historischer und sprachwissenschaftlicher Sicht, in: H. BEYER-THOMA (Hrsg.), Bayern und Osteuropa. Aus der Geschichte der Beziehungen Bayerns und Schwabens mit Russland, der Ukraine und Weißrussland, München, 2000, S. 25–56.

27

Das Raffelstettener Zollweistum aus dem Jahre 904/6 lässt vermuten, dass die russischen Kaufleute zur Zeit der ungarischen Landnahme nicht über Nordungarn, sondern bereits über Krakau und Prag an der Seite der böhmischen Händler nach der bayerischen Ostmark kamen: Sclavi, qui de Rugis vel de Boemanis mercandi causa exeunt. S. das: A. BORETIUS, V. KRAUSE (Hrsg.), Capitularia regum Francorum, Tomus II., Hannover 1897, Nr. 253., S. 251. (MGH LL); V. A. NAZARENKO, Nemeckie latinojazyčnye istočniki (wie oben Anm. 6.), S. 59–100. (ein ausführlicher Kommentar [hier: S. 83–88., Anm. 38.] wird u. a. die Unhaltbarkeit der in der letzten Zeit viel erörterten These, nämlich die Rugi seien autochthone Donauslawen, demonstriert; vgl. auch die oben in den Anm. 11. und 25. genannten Werken).

28

V. V. KROPOTKIN, Vremja i puti proniknovenija kufičeskich monet v Srednee Podunavje, in: Problemy archeologii i drevnej istorii ugrov, Moskwa 1972, S. 197–202.; A. V. FOMIN-I. KOVÁCS, The tenth century Máramaros („Huszt”) dirham hoard, Budapest 1987.

29

J. WIDEMANN (Hrsg.), Regensburger Urkundenbuch, Band I., München 1912, Nr. 43., S. 13.; H. FICHTENAU-E. ZÖLLNER, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich, Band I., Wien, Nr. 86., S. 118.; H. KNITTLER, Eine Markt- und Zollordnung Herzog Leopolds VI., in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 85 (1977), (Wien 1977), S. 350. – In der letzten dieser drei Urkunden werden die Wagen aus der Rus’ in einem Atemzug mit denen aus Ungarn genannt: () de curru, qui dicitur ringwagen, qui ducitur de Vngaria vel de Ruchia (bei Ruchia geht es offensichtlich um einen Kopistenfehler anstatt Ruczia oder Ruthia des verlorengegangenen Originals).

30

Monumenta ecclesiae Strigoniensis, Tomus II., ordine chronologico disposuit, dissertationibus et notis illustravit F. KNAUZ, Strigonii 1882, Nr. 215., S. 238–241.

31

Vladimir (...) nahm die Burgen Peremyśl’, Červen und andere Burgen ein, die bis heute unter der russischen Herrschaft sind. (PSRL, Band I., Sp. 81.; Band II., Sp. 69.); in der Chronik wird dieser Zug Wladimirs kaum richtig in das Märzjahr 981/2 datiert, es muss eher um die Ereignisse des Jahres 979 gegangen sein (T. WASILEWSKI, Przemyl w X–XI wieku w świetle latopisów ruskich, in: Rocznik Przemyślki, Tom 24/25, Kraków 1989, S. 307–314.; A. V. NAZARENKO, Drevnjaja Rus’ [wie oben Anm. 12., S. 393–411.]). Es gibt Gründe anzunehmen, dass bereits Jaropolk 977 Versuch machte, hier Fuß zu fassen, indem er in die deutsch-böhmischen Auseinandersetzungen als Verbündeter Kaiser Ottos II. eingegriffen hat (A. V. NAZARENKO, Rus’ i Germanija v 70-e gody X weka, in: Russia Mediaevalis, Tomus VI/1., München 1987, S. 38–89.; DERS., Drevnjaja Rus’ (wie oben Anm. 12.), S. 339–390.

32

R. HOLTZMANN (Hrsg.), Thietmar von Merseburg (wie oben Anm. 6.), Cap. VIII., 32., S. 530.

33

PSRL, Band I., Sp. 149–150.; Band II., Sp. 137.

34

Simonis de Kéza Gesta Hungarorum, praefatus est, textum recensuit, annotationibus instruxit Alexander DOMANOVSZKY, Tomus I., Budapest 193?, S. 177.; Chronica Hungarorum compos. (wie oben Anm. 5.), cap. 78–80., S. 334–336.

35

K. MALECZYNSKI (Hrsg.), Anonymi Galli Chronicae et gesta ducum sive principum Polonorum, Kraków 1952, cap. I., 18. (MPH ns., Tom II.).

36

Georg WAITZ (Hrsg.), Annales Hildesheimenses, Hannoverae 1878, S. 36. (erwähnt anno 1031.)

37

G. H. PERTZ (Hrsg.),Vita Chonradi archiepiscopi Salisburgensis, cap. 18., Hannoverae 1854, S. 74. (MGH SS, Tomus XI.)

38

A. V. NAZARENKO, O „Russkoj marke” v srednevekovoj Vengrii, in: Vostočnaja Evropa v drevnosti i srednevekovje. Festschrift für V. T. Pašuto, Moskwa 1978, S. 302–306. – Die von O. Pritsak (O. PRITSAK, The Origin of the Name Rus/Rus’, in: Passé turco-tatar, présent soviétique: Études offertes à Alexandre Bennigsen, Louvain-Paris 1986, S. 50–51.) postulierte Gleichsetzung der „Russischen Mark” in Ungarn mit Ruzaramarcha in der Urkunde König Ludwig des Deutschen aus dem Jahre 862/3 (MGH DD regum Germaniae ex stirpe Karolinorum, Tomus I., ed. P. KEHR, Hannover 1934, Nr. 109.), dass es bei Ruzaramarcha etymologisch ebenfalls um eine „russische Mark” handelt, vgl. A. V. NAZARENKO, Ob imeni Rus’ v nemeckich latinojazyčnych istočnikach IX–XI vv., in: Voprosy jazykoznanija, (1980) Nr. 5., S. 47–50.; DERS., Drevnjaja Rus’ (wie oben Anm. 12.), S. 15–20. (hier, S. 15–17.; zur Lokalisierung dieser Ruzaramarcha zwischen der Donau und der Ybbs in der bayerischen Ostmartk) verbietet sich wegen allzu großer chronologischer und territorialer Distanz.

39

RL, Band I., Sp. 134.; Band II., Sp. 120.; D. I. ABRAMOVIC (Hrsg.), ºitija svjatych mučenikov Borisa i Gleba i sluãby im, Petrograd 1916, S. 35., 37.

40

D. I. ABRAMOVIČ (Hrsg.), Paterik Kievskago Pečerskago monastyrja, Sankt-Petersburg 1911. (Erzählung 30.)

41

Die älteste Redaktion der Vita, die im 14. und möglicherweise auch noch im 15. Jahrhundert existiert zu haben scheint, ging später verloren, so dass in den 70-er Jahren des 16. Jahrhunderts eine neue Variante verfasst werden musste, die dann mehrmals überarbeitet wurde; eine kritische Edition dieser ziemlich verworrenen Erzählung fehlt (V. O. KLJUČEVSKIJ, Drevnerusskie žitija svjatych kak istoričeskij istočnik, Moskau 1871, S. 335–336. [Nachdruck mit Kommentar: Moskau 1988.]; N. F. DBROBLENKOVA, Žitie Efrema Novotoržskogo, in: Slovar’ knižnikov i knižnosti Drevnej Rusi, Lief. 1: XI - pervaja polovina XIV veka, Leningrad 1987, S. 148–150.).

42

Vladimir sandte Boris als seinen Statthalter in das Land Vladimir (na oblast’ Vladimer: žitija svjatych mučenikov Borisa i Gleba [], S. 6.). Später wurde Boris vom Westen der Rus’ weit nach dem Nordosten, nach Rostov umgesetzt.

43

M. HELLMANN, Die Heiratspolitik Jaroslavs des Weisen. – Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 8, Berlin-Wiesbaden 1962, S. 16–19. (Nachdruck: M. HELLMANN, Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1988, No. 8.)

44

Lamperti monachi Hersfeldensis Opera, recensuit O. HOLDER-EGGER, Hannover-Leipzig 1894, S. 58. (sub anno 1043); vgl. auch: Annales Altahenses maiores, edidit, recensuit W. de GIESEBRECHT et E. L. B. ab OEFELE, recognovit E. L. B. ab OEFELE, Hannover 1891, S. 42. (anno 1043). – Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass dieses Heiratsangebot bereits 1040 zum Thema deutsch-russischer Verhandlungen wurde (Annalista Saxo, edidit G. WAITZ, Hannover 1844, S. 684 [MGH SS, T. 6.]; E. STEINDORFF, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich III, Band 1, Leipzig 1874, S. 98., 164.).

45

Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, (Hrsg.) E. SCHRÖDER, Vers 16 438–16 440., Hannover 1892, S. 378. [MGH Scriptores qui vernacula lingua usi sunt, T. 1/1.] – Diese Nachricht ist mit der Version der ungarischen Quellen, dass Samuel Aba sich in Richtung Mittel-Theiß flüchtete (fugit versus Tysciam), in: Chronici Hungarici compositio (wie oben Anm. 5.), cap. 76., S. 332; Simonis de Kéza (wie oben Anm. 34.), cap. 50., S. 176–177.), gut vereinbar, denn Karpatenpässe am Theißoberlauf boten die beste Möglichkeit dar, aus Ungarn in das Peremyšler Land zu gelangen. Sein Ziel erreichte Samuel nicht, da er unweit von Eger verhaftet und hingerichtet wurde (Lamperti monachi Herfeldensis [wie oben Anm. 44., S. 59.; Annales Altahenses [wie oben Anm. 44.], S. 37.). Hier in der Umgegend von Eger befanden sich Familienländereien Samuels sowie sein Eigenkloster in Sar (proprium monasterium in Sarus), wo er auch begraben wurde; daraus wird sich der Fluchtweg des geschlagenen Schwagers König Stephans genug gut erklären.

46

E. NELLMANN, Kaiserchronik, in: Lexikon des Mittelalters, Band V, München-Zürich 1992, Sp. 856–857.

47

Kaiserchronik [wie oben Anm. 45.), Vers 16 392–16 393., S. 377.

48

Andreas und Levente begaben sich von Polen ad regem Lodomerie [Vladimir in Volhynien – A. V. N.], qui ipsos non recepit. Cumque non haberent, ubi caput suum reclinarent, abinde ad Cumanos perrexerunt. (Chronici Hungarici compositio [wie oben Anm. 5.), cap. 80., S. 336.); Simonis de Kéza [wie oben Anm. 34.], cap. 52., S. 177.) will wissen, dass die Unterkunft in der Rus’ den Brüdern „propter Petrum regem” verweigert wurde. Dieser Bericht der ungarischen Quellen leidet an chronologischen Widersprüchen: die Brüder des in Polen gebliebenen Bélas sollen ihn noch unter Mieszko II, also vor Mai 1034, verlassen, doch kommen sie in die Rus’ seltsamerweise erst unter Peter (nach August 1038). Da der Fürstensitz Wladimir in Volhynien erst um 1038/42 von einem der Söhne Jaroslaws (Izjaslaw? Swjatoslaw?) besetzt werden konnte, hat die spätere Chronologie viel mehr für sich. Da der ältere Isjaslaw, der seit 1038/39 das mit Polen angegrenzte Teilfürstentum Turow und Berestje (heute Brest am Westlichen Bug) innehatte, um diese Zeit eine polnische Gattin bekam, wäre es in diesem Zusammenhang wohl nicht allzu wagemütig, die Frage zu stellen, ob die als Kilikia (d. h. Kikilia) im Synodikon von Ljubeč belegte erste Frau Swjatoslaws (R. V. ZOTOV, O černigovskich knjazjach po Ljubeckomu sinodiku i Černigovskom knjažestve v tatarskoe vremja, Sankt-Petersburg 1892, S. 24.) eine Ungarin und Verwandte Samuel Abas gewesen sein dürfte? Kikilia ist eine griechisch-slawische Namensform, welcher dem lateinischen Caecilia entspricht, aber der Name blieb in dem griechisch-orthodoxen Kulturbereich eine durchaus seltene Ausnahme (im russischen Fürstenhaus ist er nicht mehr anzutreffen), während er im lateinischen Westen ganz im Gegenteil sehr populär war (Näheres vgl. darüber A. V. NAZERENKO, Ob odnom epizode vengerskoj politiki Jaroslava Mudrogo, in: Afmælisbók, Festschrift für E. A. MEL’NIKOWA, Moskau 2001, [unter Druck]).

49

Annales Altahenses (wie oben Anm. 44.), (anno 1043), S. 33.; die Gesandtschaft versuchte vergebens, den im letzten Jahr ausgebrochenen Krieg mit einem akzeptablen Frieden zu beenden.

50

Abhinc (d. h. von der Petschenegien. – A. V. N.) postea in Rusciam sunt profecti. (Chronici Hungarici compositio [wie oben Anm. 5.), cap. 80, S. 366.)

51

Andreas duxit () sibi uxorem filiam ducis Ruthenorum, de qua genuit Salomonem et David. (Chronici Hungarici compositio [wie oben Anm. 5.], cap. 88., S. 345.; vgl. auch: P. magistri, qui Anonymus discitur, Gesta Hungarorum [wie oben Anm. 20.), cap. 15., S. 56.); dass es eine Tochter Jaroslavs war (filia regis Ruziae Gerzlef), berichtet ausdrücklich Adam von Bremen (Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, [Hrsg.] B. SCHMEIDLER, cap. III., 13., schol. 62., Hannover-Leipzig 1917, S. 153.) Ob sie wirklich Anastasia hieß, wie es Jan Długosz wissen will (Ioannis Dlugossii Annales seu cronicae incliti regni Poloniae, rec. D. TURKOWSKA, [T. 2.] Libri 3–4., Warszawa, 1970,) (anno 1049), muss dahingestellt bleiben. In der modernen Historiographie (W. L. JANIN, Russkaja knjaginja Olisava-Gertruda i ejo syn Jaropolk, in: Numizmatika i epigrafika, Band, 4., Moskau, 1963, S. 150., Anm. 25.; W. T. PAŠUTO, Vnešnjaja politika (wie oben Anm. 1.), S. 52.; u. a. m.) tritt die russische Gemahlin König Andreas’ öfters unter ihrem angeblichen zweiten Namen Agmund(a) auf, den sie in Ungarn angenommen haben soll (die Zweinamigkeit war beim Wechsel des Kulturmilieus eine gewöhnliche Norm: G. THOMA, Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa, München 1985, besonders S. 169–190.). Offensichtlich handelt es sich um ein Missverständnis; der Name, der nur aus der Geschichte Ungarns von Antonio Bonfini (Antonio de Bonfinis, Rerum Ungaricarum Decades, edidit Josephus FÓGEL, Bela IVÁNYI, Ladislaus JUHÁSZ, T. II/2., Leipzig 1936, S. 227., und nach dem Index: T. IV/2., edidit M. KULCSÁR, Péter KULCSÁR, Budapest 1976, S 128–129) aus der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts bekannt ist, entstand wohl als Missdeutung einer lateinischen Namensvariante des Klosters Admont monasterium Agmundense, die als vom Personennamen abgeleitete Form aufgefasst wurde (die Mutter Salamons verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Admont, wo sie auch starb und begraben wurde: Ioannes de Thurocz, Chronica Hungarorum, T. 1: Textus; edidit. Elisabeth GALÁNTAI, Iulius KRISTÓ, Budapest 1985, S. 111.). Der Personenname Agmund(a) ist sonst nicht belegt. Die mehrfach angenommene frühere Datierung der Ehe um 1038 (vgl. z. B.: Gyula KRISTÓ–Ferenc MAKK, Az Árpád-házi uralkodók [Die Herrscher der Arpaden- Dynastie], Budapest 1980, S. 70–78.) scheint uns angesichts in der Anm. 49 dargelegten Überlegungen weniger wahrscheinlich. Sie gründet sich auf einem chronologischen Kalkül: Andreas’ Tochter Adleyta-Adelheid heiratete um 1055/58 den böhmischen Herzog Wratislaw II. (Die Chronik der Böhmen des Kosmas von Prag, unter Mitarbeit von W. WEINBERGER. Hrsg. von B. BRETHOLZ, cap. II., 16., Berlin 1923, S. 107. [MGH SRG NS, T. 2.]) und müsste somit um 1040 geboren sein. So triftig diese Erwägungen auch sind, wird ihre Beweiskraft dadurch zunichte, dass Adleyta kaum Tochter aus Andreas’ russischer Ehe sein konnte, wie es eine allzu große Zeitspanne zwischen ihrer Geburt und der Salomos (1053) vermuten lässt.

52

Der russische Kriegszug gegen Konstantinopel fand 1043 statt, der Frieden wurde nach drei Jahren (po trech letech) geschlossen (PSRL, Band I. [wie oben Anm. 4.), Sp. 154.; Band II., Sp. 142.), was der altrussischen Rechnungsweise gemäß auf das Jahr 1045 hinweist.

53

PSRL (wie oben Anm. 4.), Band I., Sp. 160.; Band II., Sp. 149. (anno 1053).

54

Andreas kam nach Ungarn an der Spitze eines riesengroßen Söldnerheeres (inmensam multitudinem conducticii exercitus secum advexisset): Annales Altahenses (wie oben Anm. 44.), (anno 1046), S 42.). Die ungarischen Quellen stellen die Berufung Andreas’ lediglich als Initiative des oppositionellen ungarischen Adels dar (Tunc nobiles Hungarie [] totius Hungarie nuncios miserunt sollempnes in Rusciam ad Andream et Leuentam dicentes eis, quod tota Hungaria eos fideliter expectaret: Chronici Hungarici compositio [wie oben Anm. 5.], cap. 81., S. 337.; vgl. auch: Chronicon Posoniense, praefatus est, textum recensuit, annotationibus instruxit Alexander DOMANOVSZKY, cap. 51., [SRA, T. II.], Budapest 1938, S. 38.), aber kaum mit Recht.

55

Die nervöse Atmosphäre jener Zeit wird in einem Bericht des ungarischen Anonymus sehr deutlich widergeben: König Andreas soll sehr viel Zeit in der Burg Komárom verbracht haben, denn seine russische Gattin bevorzugte diesen Wohnort, der ja am nächsten zu ihrer Heimat gelegen war, aus dem Grunde, dass sie in ständiger Angst vor einem Angriff der Deutschen lebte ([] quia diligebat partes illas habitare uxor sua eo, quod propius ad natale solum esset, quia erat filia ducis Ruthenorum et timebat adventum imperatoris Theotonicorum, ut ne ulterius [sic! anstatt ulturus. – A. W. N.] sanguinem Petri regis Hungariam intraret. – P. magistri, qui Anonymus dicitur, Gesta Hungarorum [wie oben Anm. 20.], cap. 15., S. 56.). Eine schlechte Geographie (die deutsche Grenze lag von Komárom viel näher, als die russische), aber eine eindrucksvolle psychologische Skizze.

56

Kosmas von Prag (wie oben Anm. 51.), Anhang I. (Die Erzählung über die Gründung des Klosters Sázava), S. 247.

57

Annales Altahenses (wie oben Anm. 44.), S. 57. (sub anno 1061): vidua regis Ungarici cum filio nuruque kam zu Heinrich IV. und Kaiserin Agnes nach Regensburg; ihr wurde ein Herkunftsort in der Bayerischen Ostmark zugewiesen, während Salamon und seine deutsche Frau mit der kiflichen Familie „in Franciam” weiterreisten.

58

Chronici Hungarici compositio (wie oben Anm. 5.), cap. 111., S. 377.: Laudizlaus autem consilio fratris sui de civitate Byhor ivit in Rusciam, querere auxilium amicorum suorum, ut contra machinamenta regis sese premunirent.

59

Ibidem, cap. 115., S. 381.: Ladislaus iam tunc reversus erat de Ruscia sine subsidio.

60

N. BAUMGARTEN, Pervaja vetv’ knjazej Galickich: Potomstvo Vladimira Jaroslaviča, in: Letopis’ Istoriko-rodoslovnago obščestva, 8 (1908), Liefrung 4 (16), S. 1–30.; DERS., Généalogies et mariages (wie oben Anm. 5.) S .15., table III., No. 1.

61

PSRL (wie oben Anm. 5.), Band, I., Sp. 163; Band II., Sp. 152. – Der hier notwendigerweise nur flüchtig skizzierte Tatbestand lässt eine vernünftige Konjektur für eine korrupte Stelle im „Chronicon Vindobonense” vorschlagen. 1099 unternahm König Kolomann auf Veranlassung des Kiewer Fürsten Swjatopolk Izjaslavič einen Feldzug gegen Galizien, wo damals die Söhne Rostislavs residierten. Der umfangreiche Bericht darüber im „Chronicon Vindobonense” weist eine offensichtliche Lakune auf: Post hec autem rex invasit Rusciam, et ducissa Rutenorum nomine Lanca eiusdem regis akune, venit obviam regi, pedibus provoluta obsecrabat regem cum lacrimis, ne disperderet gentem illam. Nach eiusdem regis fehlt ohne Zweifel ein Wort, das das Verwandtschaftsverhältnis der russischen Fürstin zu Kolomann bestimmte. Das von dem Herausgeber des Chronicon A. Domanovszky vermutete vidua ergibt keinen Sinn. Hier muss vielmehr amita bzw. agnata vom Schreiber übersehen worden sein, denn die Frau Rostislaws war für Kolomann eine Vatersschwester.