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Begegnungen14_Oksaar

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:47–60.

ELS OKSAAR

Mehrsprachigkeit und interkulturelle Verständigung in Europa

 

1. Einführung

Europa ist ein Kontinent im dynamischen Umbruch. In einer Zeit der zunehmenden Internationalisierung verschiedener Bereiche der Lebenswelt ist man nicht nur in den Staaten der Europäischen Union gut beraten, über internationale Kommunikationsmöglichkeiten, deren Mittel und deren Erwerb genauer als früher nachzudenken. Es ist bekannt, dass Politiker und Festredner seit langem gerne von der Wichtigkeit der Völkerverständigung und der Notwendigkeit zum Dialog zwischen den Völkern reden. Nicht selten aber scheint es, dass sie sich über den Weg dazu – interkulturelle Kommunikation und ihre konkreten Voraussetzungen – weniger, wenn überhaupt, Gedanken gemacht haben, obwohl fast jedes Land von den multidimensionalen Frage- und Problemkomplexen der interkulturellen Verständigung berührt ist.

Einerseits ist der Bedarf an interkultureller Verständigung bedingt durch die technisch-ökonomische Entwicklung mit zunehmenden wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Völkern und Staaten. Andererseits tragen auch der weltweite Tourismus, die steigende Mobilität der Arbeitskraft, sowie die politisch und ökonomisch bedingten Völkerwanderungen und andere Mobilitätsgründe erheblich dazu bei, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachgemeinschaften begegnen, dass sie zusammenarbeiten und miteinander auskommen müssen. In ihrer Interaktion müssen dann viele auf die vertrauten Kommunikationsmittel verzichten. Andere Sprachen und Verhaltensweisen als die einheimischen müssen zur Verständigung und zur Interpretation neuer soziokultureller Umgebungen eingesetzt werden. In derartigen Fällen kann es leicht zu Fehlinterpretationen kommen, die einerseits zu Missverständnissen oder zum Nichtverstehen führen, andererseits aber auch zur Irritation und zu Vorurteilen über das Partnerverhalten in der Kommunikation.

Zur Veranschaulichung derartiger Situationen sei auf Folgendes hingewiesen. Sprachen sind verglichen worden mit Schlüsseln zur Welt. Je größer der Schlüsselbund, desto mehr Türen können geöffnet werden, desto mehr Möglichkeiten zum Kontakt ergeben sich mit den Menschen in der Welt. Aber Vorsicht! Dieses schöne Bild verschweigt etwas Wesentliches: Man übersieht nämlich leicht, dass sich hinter jeder Tür ein sehr glatter Fußboden befinden kann, auf dem man leicht ausrutscht, wenn man nicht weiß, wie man sich zu bewegen hat. Je besser man eine Sprache spricht, desto mehr setzen diejenigen, die diese Sprache als Muttersprache beherrschen, voraus, dass man auch die mit der Sprachverwendung verbundenen situationsadäquaten Verhaltensweisen Kultureme und Behavioreme – beherrscht. Dies ist aber keineswegs immer der Fall. Und damit bin ich schon beim Thema meines Vortrages, das ich aus der Perspektive behandeln möchte, die auf einige Probleme der interkulturellen Verständigung aufmerksam macht. Dies geschieht in drei Abschnitten. Erstens werde ich den Hintergrund der gewählten Perspektive etwas konkretisieren; dies schließt einen Blick auf die Europäische Union und einige begriffliche Erklärungen ein. Zweitens werde ich dann, im Hinblick auf die heutige sprachliche Situation Europas exemplarisch auf einige Problemfelder der Kommunikation eingehen und drittens als Ausblick Vorschläge zur Sprachenpolitik Europas machen.

 

2. Konkretisierung der Betrachtungsperspektive

2.1. Zur Europäischen Union

Die grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen, die es für die Mitgliedsstaaten der Union gibt und geben wird, haben Hoffnungen, Erwartungen, aber auch Befürchtungen hervorgerufen. Der gemeinsame Binnenmarkt und die beruflichen Mobilitätsmöglichkeiten werfen eine Reihe von Fragen auf, auch was die gegenseitige Verständigung betrifft. Landesgrenzen sind vielfach geöffnet worden, seit der zweiten Märzhälfte 2001 ist es möglich, von Lappland bis Sizilien ohne Grenzkontrollen gemäß dem Schengener Abkommen durchzukommen. Ebenso sind Zollbarrieren vielerorts abgeschafft worden – wie steht es aber mit Verständigungsbarrieren? Hat man überhaupt ernsthaft an sie gedacht? Wohl kaum, denn die heute zentrale Frage – Kommunikation und Verständigung – war den Vätern und Müttern der Europäischen Integration nicht so wichtig, wie sie es verdient hätte. Sie haben die Sprachenfrage des Binnenmarkts nicht thematisiert. Aber auch die weitere Planungsgeneration hat es versäumt, sich mit dieser Frage ernsthaft zu befassen. Da es bekanntlich nicht möglich ist, Sprache von gesellschaftlichen Prozessen zu lösen, im Gegenteil, diese werden erst durch die Sprache möglich, nimmt es wunder, dass in den Diskussionen im Problemkreis der Europäischen Integration die Frage der Verständigung der europäischen Völker vernachlässigt worden ist. Wenn die Europäische Union auch am Anfang Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und dann Europäische Gemeinschaft war, und die Diskussionen vorwiegend auf der technisch-wirtschaftlichen und politischen Ebene geführt wurden, und die Zahl der Mitgliedsstaaten kleiner war als heute, so darf nicht vergessen werden, dass jegliche Art der Integration auch immer eine ganze Reihe von linguistischen Fragen zu bewältigen hat, wenn es um Menschen geht.

Ich denke hier gar nicht so sehr an die Schwierigkeiten, die durch die Sprachenfrage in den Institutionen der Union vorherrschen, da alle relevanten Entscheidungen sowie Rechtsakte in 11 Amtssprachen übersetzt und veröffentlicht werden müssen und notgedrungen Perspektivenverschiebungen mit sich führen. So steht in juristischen Texten dem deutschen Wort Belastungszeuge das englische witness for the prosecution gegenüber. Im Deutschen handelt es sich um eine Bezeichnung, die aus der Sicht des Angeklagten herstammt, im Englischen ist es die Sicht des Anklägers, es bedeutet „Zeuge der Anklage”. Ich denke auch in erster Linie nicht an die komplizierte Sprachmittlung in den Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments in Straßburg, in denen es keine Simultandolmetscher für alle Sprachen gibt und die Dolmetscher zuerst auf eine der zwei Relaissprachen zurückgreifen müssen. Das heißt, eine spanische Rede wird simultan ins Englische und Französische übersetzt und der dänische oder finnische Dolmetscher hat auf eine von diesen zurückzugreifen; mit der Folge, dass die Dänen und die Finnen immer zuletzt lachen, wenn es etwas zu lachen gibt (vgl. Oksaar 1995).

Ich denke daran, dass es in Europa nicht allein um die Organe der Union, um die Wirtschaft und um die rund 4000 Mitarbeiter des Sprachendienstes der Europäischen Union, sondern auch um die Bürger gehen muss, von Lappland bis Sizilien. Wie steht es mit ihrer Sprachenbeherrschung? Wahrscheinlich nicht so überwältigend gut, denn es wird ja bekanntlich vorgeschlagen, dass jeder europäische Bürger neben seiner Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen lernen sollte, um in Europa leichter leben zu können. Aber welche Sprachen sollen es sein? Ein mehrsprachiger Finne mit Finnisch, Deutsch und Schwedisch kann einen mehrsprachigen Franzosen mit Französisch, Englisch und Italienisch nicht verstehen. Eine lingua franca, wie Englisch als Weltsprache es ja in vielen Bereichen schon ist? Oder auch mehr als eine? Es gibt keine Patentlösungen, die Notwendigkeit einer europäischen Verkehrssprache, mindestens einer, ist nach dem Zweiten Weltkrieg mit wechselnder Intensität immer wieder hervorgehoben worden (Oksaar 1994). Welche man außerdem braucht, hängt natürlich von Einzelbiographien ab. Die Sprache der Nachbarn zu beherrschen hat sich z. B. im Laufe der Geschichte stets gut bewährt. Ebenso die alte Kaufmannsregel, dass die beste Sprache die des Kunden ist. Ohne größere Fremdsprachenkenntnisse sei es, wie in der Wirtschaft gesagt wird, zwar einigermaßen möglich einzukaufen, aber nicht zu verkaufen. Dies gilt überall. Mehrsprachigkeit ist gefragt.

2.2. Begriffsbestimmungen

Was verstehen wir unter Mehrsprachigkeit? Seit den 30er Jahren hat es verschiedene Definitionsversuche gegeben, anfangs für Zweisprachigkeit, die dann mit der Zeit generell als Mehrsprachigkeit verstanden wurde. Da Mehrsprachigkeit nicht Gleichsprachigkeit ist – letzteres ist nur als ein idealisiertes Konstrukt anzusehen – hat sich die funktionale Definition (Oksaar 1966, 75) bewährt. Mehrsprachigkeit setzt die Fähigkeit voraus, zwei oder mehr Sprachen/Dialekte als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel zu verwenden und in den meisten Situationen von einer Sprache in eine andere umzuschalten, wenn die Umstände es erfordern. Das Verhältnis der Sprachen kann in verschiedenen Verwendungsdomänen durchaus unterschiedlich sein, in der einen kann, je nach der Situation und den Themen, ein wenig eloquenter Kode, in der anderen ein mehr eloquenter verwendet werden. Eine der Sprachen, in der Regel die Muttersprache, ist auch mehr mit emotionalen Konnotationen verbunden.

Da über 70 Prozent der Weltbevölkerung mehrsprachig ist und täglich zwei oder mehr Sprachen verwendet, und da über 50 Prozent der Kinder in der Welt als Schulsprache eine andere Sprache als ihre Muttersprache haben, kann davon ausgegangen werden, dass Mehrsprachigkeit das Normale ist und dass Einsprachigkeit als ein Problem in der heutigen Welt angesehen werden muss. Immer noch wird aber in den Schulsystemen Europas Einsprachigkeit allgemein als der Normalzustand für Schulanfänger und für Vorschulkinder angesehen und man fängt mit der ersten Fremdsprache viel zu spät an. Wie wir in Abschnitt 5 sehen werden, ist gerade das Vorschulalter eine sehr günstige Periode zum Erwerb mehrerer Sprachen.

Was ist interkulturelle Kommunikation? Unter interkultureller Kommunikation verstehe ich den gegenseitigen Verständigungsprozess durch Senden und Empfangen von informationstragenden Zeichen unter Beteiligten aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachgemeinschaften. Letzteres bedeutet, dass die Kommunikationssprache für mindestens einen der Teilnehmer nicht seine Muttersprache ist, was z. B. eintrifft, wenn sich ein Ungar und ein Deutscher entweder auf Ungarisch oder auf Deutsch unterhalten. Eine andere Verständigungsstruktur ergibt sich, wenn ein Ungar und ein Deutscher das Gespräch auf Englisch führen.

 

3. Kulturbedingte Verhaltensweisen

Zur Einleitung dieses Abschnitts möchte ich an etwas erinnern, was schon Georg Christoph Lichtenberg vor mehr als 200 Jahren hervorgehoben hat: „Man soll öfters dasjenige untersuchen, was von den Menschen meist vergessen wird, wo sie nicht hinsehen und was so sehr als bekannt angenommen wird, dass es keiner Untersuchungen mehr wert geachtet wird.“ (Mauthner 1984, 141).

Jegliche Sprachverwendung fordert viel mehr als, wie gewöhnlich angenommen wird, die Beherrschung von Aussprache, Wortschatz und grammatischen Regeln. Sie schließt auch die Fähigkeit ein, sprachliche Einheiten gemäß den in der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft geltenden Verhaltensregeln zu verwenden. Diese sind kulturspezifisch und variieren schon innerhalb einer Gesellschaft. Zur Kultur gehören somit nicht nur materielle und geistige Aspekte, sondern auch kommunikative Verhaltensweisen.

Man redet mit dem Mund, kommuniziert aber mit dem ganzen Körper. Die ideale Lage bei der mündlichen Verständigung schließt mindestens dreierlei ein: Der Hörer muss verstehen, was man sagt (rein akustisch), wie man es sagt (freundlich – feindlich – neutral; durch parasprachliche und nonverbale Signale), und wie das Gesagte gemeint ist. In der Praxis können alle drei Typen interkulturell Schwierigkeiten bereiten, denn auch beim dritten Typ kann es kulturell unterschiedliche indirekte Aussagestile geben. Es darf nicht vergessen werden, dass es kulturbedingte Verhaltensweisen gibt, die leicht missverstanden oder überhaupt nicht verstanden werden, obwohl die Sprache an sich keine Schwierigkeit bietet. Ein Beispiel:

Ein thailändischer Student, der gut Deutsch sprach, sagte in unserem Institut, als ein Mitarbeiter sein Baby vorführte: „Was für ein hässliches Baby!“ Als die Bestürzung der Anwesenden sich gelegt hatte und sie ihn fragten, ob er denn doch nicht das Baby niedlich finde, erwiderte er, natürlich tue er das, aber so müsse man in seiner Heimat sagen, wenn man will, dass aus dem Baby ein hübscher, gesunder Mensch werde. Hier haben wir es also mit einem Verhaltensmuster aus einer fremden Kultur zu tun, das, in die deutschsprachige Interaktion überführt, Verwirrung stiftete. Diese wurde durch eine Frage geklärt, viele Missverständnisse und Irritationen bleiben aber, wenn man nicht nachfragt, ungeklärt und können den weiteren Verlauf der Kommunikation ungünstig beeinflussen. Aber was tun wir selbst in Situationen, in denen ein Ausländer „viel Glück” erwartet, z. B. vor einer Prüfung? Wir sagen in Deutschland Hals- und Beinbruch, in Schweden Spark på Dig (spark ‘Fußtritt, Tritt’)!

Auch bei guter Sprachbeherrschung kann es, wie wir gesehen haben, Probleme mit Kulturemen d. h. Verhaltensweisen und ihrer Realisierung, den Behavioremen geben. Es kann nicht genug betont werden, dass jeglicher Spracherwerb stets auch kulturelles Lernen ist. Der Fremdsprachenunterricht scheint in so manchem europäischen Land immer noch mehr Wert auf die Vermittlung der korrekten Elemente des Sprachsystems zu legen als auf die Regeln und Normen der soziokulturellen Verhaltensweisen, der situationsbezogenen Sprachverwendung, d. h. auf die Kenntnisse dessen, was man wem, wann, wo, wie und warum sagt, oder nicht, und wie man sich zu verhalten hat, wenn man selbst angeredet wird. Fehlen derartige Kenntnisse, können Kommunikationsstörungen entstehen.

 

4. Gemeinsame Sprache garantiert noch nicht Verständigung

Winston Churchill – und vor ihm schon Oscar Wilde – soll einmal von den Amerikanern gesagt haben: „Uns trennt nur eines, die gemeinsame Sprache.“ Und wenn man von den Deutschen in Ost und West heute hört, dass viele trotz derselben Sprache sich noch fremd vorkommen, so wird deutlich, dass gemeinsame Sprache allein noch kelne Verständigung gewährleistet. Denn dazu ist auch die Beherrschung der mit der jeweiligen Sprache verbundenen kulturellen Verhaltensweisen notwendig. Ludwig Wittgenstein (1960, 358) stellt fest, dass ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann, „wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht”. Er betont, „man versteht die Menschen nicht“. Wittgenstein erklärt zwar nicht, was dies bedingt, lässt durch seine Aussage aber das anklingen, was Goethe (1819, 127) in seinem Westöstlichen Diwan aus einer anderen Perspektive treffend hervorgehoben hat: Wer das Dichten will verstehen/Muss ins Land der Dichtung gehen; „Wer den Dichter will verstehen/Muss ins Dichters Lande gehen”. Durch Analysen der sowohl sprachlichen als auch soziokulturellen Faktoren der kommunikativen Akte lässt sich Wittgensteins globale Feststellung mit Hilfe der Kulturemtheorie (Oksaar 1988) konkretisieren.

4.1. Kultureme und Behavioreme

Was muss berücksichtigt werden? Da Sprache Teil der Kultur ist, wird ihre Verwendung immer eingebettet sein in einen Situationskontext, in dem eine Reihe von anderen kulturell bedingten Verhaltensmustern gelten – wie man sich bewegt, wie man sitzt, wie man sich im Raum orientiert, wie man sich kleidet usw. Letzteres kann, wie die europäische Geschichte zeigt, sogar nationalpolitisches Gewicht haben. Die Nationaltracht galt z. B. in Ungarn, Griechenland, Polen und Schottland als Zeichen „nationaler Identität in Zeiten, in denen keine eigenständige Staatlichkeit bestand“ (S. Müller, Bilder und Zeiten, FAZ Nr. 83, 2001, VI). Verhaltensweisen einem Mitmenschen gegenüber fasse ich als eine soziokulturelle Kategorie zusammen. Diese lässt sich durch die Kulturentheorie erläutern und systematisieren. Kultureme sind als kommunikative Verhaltensweisen mehr oder weniger isolierbar: dass man sich anredet, grüßt, oder nicht, je nach unterschiedlichen Situationen, dass man sich bedankt, entschuldigt, dass man Themen hat, die tabu sind, usw. Kultureme sind als abstrakte Einheiten aufzufassen. Sie werden durch Behavioreme realisiert. Diese können verbal, parasprachlich (d. h. alles, was mit der Stimme hervorgebracht werden kann), nonverbal (Gestik, Mimik, Körperhaltung) und extraverbal (Zeit, Raum, Proxemik, soziale Variablen) sein und in erster Linie eine Antwort auf die Frage wie?/durch welche Mittel? ermöglichen. Von der Ganzheitsperspektive eines kommunikativen Aktes aus gesehen können dabei auch die Fragen wann? und wo?, die mit extraverbalen Einheiten beantwortet werden, maßgebend sein. So ergeben sich zwei Typen von Behavioremen: ausführende und regulierende. Zu den ersteren gehören die verbalen, parasprachlichen und nonverbalen Behavioreme, zu den letzteren die extraverbalen. Einige Beispiele mögen zur Illustration im Verständigungsprozess aufschlussreich sein.

Von den nonverbalen Behavioremen können Kopfbewegungen leicht missverstanden werden. Schon bei den Emblemen, d. h. bei Ausdrucksbewegungen, die durch verbale Mittel übersetzbar sind, z. B. beim Nicken „den Kopf (mehrmals) kurz senken und heben“ als Bejahung, kann es vorkommen, dass sie anders interpretiert werden. Denn die nach hinten gerichtete Kopfbewegung „den Kopf kurz heben und senken”, die mit dem Nicken leicht verwechselt werden kann, bedeutet Verneinung in Griechenland, in der Türkei und in Bulgarien. Was die Handbewegungen betrifft, so gibt man sich in Deutschland öfter die Hand – beim Gruß, beim Abschied – als in den skandinavischen Ländern, in Estland und in den USA. Deutsche interpretieren einen ausgebliebenen Händedruck leicht als Distanzierung. In den westlichen Kulturen ist es üblich, während der Interaktion Augenkontakt zu haben: kann man jemandem nicht in die Augen sehen, zeugt das vom schlechten Gewissen ihm gegenüber, es ist ein Signal, dass man nicht aufrichtig ist, oder etwas zu verheimlichen hat. Bewusstes Vermeiden des Blickkontakts gilt als unhöflich. Es gibt aber auch Kulturen, in denen es unhöflich ist, dem anderen direkt in die Augen zu blicken. In Japan ist es üblich, den Blick bei der Halslinie des anderen zu halten. In Estland ist die Linie das Ohr oder die Schläfe. In Puerto Rico ist es unhöflich, Respektpersonen in die Augen zu sehen. Wie würde aber ein deutscher Richter es auslegen, dass ein fremder Angeklagter ihn nie ansieht: Erkennt ein deutscher oder schwedischer Lehrer, dass es etwas anderes als Trotz sein kann, wenn ein asiatischer Schüler seinen Blick nicht erwidert? Es kann auch darauf hingewiesen werden, dass ein so gewichtiger, weil beziehungsbezogener Ausdruck wie sie würdigte ihn keines Blickes nicht in allen Kulturen verstanden werden würde.

Ein paar Worte zum extraverbalen Behaviorem Zeit. Ein zentraler Punkt in der zeitlichen Komponente ist das Wann der Sprechhandlung. Dieses Wann betrifft unter anderem den Zeitpunkt des „Zur-Sache Kommens“ im Gespräch, was besonders in der Wirtschaft und in der Politik von großem Gewicht ist. Europäer und Nordamerikaner kommen bei Geschäftsverhandlungen schnell zur Sache. In Asien und in den arabischen Ländern ist die Zeitspanne vor diesem Punkt viel länger als in der westlichen Welt. Japaner schneiden z. B. anfangs Themen an, die mit den Verhandlungen direkt nichts zu tun haben, u. a. um den Partner näher kennen zu lernen. Der in nicht japanischen Augen schleppende und störende Gang der Gespräche ist der kulturellen Norm unterworfen, ein direktes Nein zu vermeiden. Der direkte Verhandlungsstil kommt wiederum den Japanern als barsch und sogar bedrohlich vor, wie ein hervorragender Kenner Japans, der Harvard-Professor Reischauer (1977, 138) feststellt.

Das Kulturemmodell hat bei der Erforschung interkultureller Verständigungsprozesse den Vorteil, dass es neben sprachlichen und für die mündliche Kommunikation wichtigen parasprachlichen und nonverbalen Mitteln auch diejenigen soziokulturellen Normen berücksichtigt, die eine situationsadäquate Interaktion erst ermöglichen. Macht der Sprecher sprachliche Fehler, kann dies das Verständnis zwar erschweren, auf der Ebene seiner persönlichen Identität und Integrität rufen sie aber kaum Bewertungen und Missverständnisse hervor: der Sprecher wird dadurch nicht als ein unhöflicher und unzuverlässiger Mensch eingestuft. Handelt es sich aber um Verstöße gegen Regeln im Bereich der Kulturemrealisierungen, so werden die persönlichen Qualifikationen des Sprechers betroffen und nicht so sehr sein sprachliches Können. Schon von seinem Kommunikationsstil aus kann er als überheblich, unflexibel, rechthaberisch angesehen werden. Dies sei durch weitere Beispiele verdeutlicht.

4.1.1 Anrede

Unsere Befragungen im Bereich deutsch-schwedischer Geschäftsbeziehungen haben gezeigt, dass im Anredebereich Irritationen entstehen können, wenn vom schwedischen Geschäftspartner dem wenig bekannten deutschen Partner ohne weiteres das in Schweden in entsprechenden Situationen übliche Du angeboten wird, in Deutschland aber Sie die Norm ist. Wenn der Schwede bei derartigem Vorschlag noch verdeutlicht, dass dies den Verhandlungsdialog erleichtern würde, wird derartiges Verhalten von deutscher Seite nicht selten als Unhöflichkeit, Egoismus, Arroganz, Nonchalance u. dgl. aufgefasst. Die Überzeugung von der Angemessenheit der eigenen Verhaltensweise und fehlende Empathie fällt den anderen hier pejorativ auf, was weitere Beziehungen beeinflussen kann.

Ich nehme dieses Beispiel auch zum Anlass zu betonen, dass man derartige Komplikationsmöglichkeiten stets im Auge behalten muss, wenn zunehmend von den Vorzügen der Globalisierung der Weltwirtschaft und den großen Chancen, die sich durch die räumliche Flexibilität den Unternehmen weltweit eröffnen, gesprochen wird. Wie steht es aber mit der kommunikativen Flexibilität, mit der Interaktionskultur und auch mit den Arbeitsstilen der Mitarbeiter? Auch wenn man sich, wie es häufig der Fall ist, auf Englisch als Unternehmenssprache geeinigt hat, so bringt doch der finnische oder italienische, der japanische oder thailändische Mitarbeiter seine spezifischen, den anderen kaum geläufigen Verhaltensweisen in der einen oder anderen Weise in den Verständigungsprozess mit, sowohl als Sprecher als auch als Hörer. Versteht man das Schweigen des anderen, des Fremden? Die Kulturbedingtheit des Schweigens ist viel zu selten thematisiert worden.

4.1.2 Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – oder?

Missverständnisse und kommunikative Störungen entstehen nicht nur durch verschiedene Arten von kommunikativen Aktivitäten, sondern auch durch das Ausbleiben ihres hörbaren Teils: durch Schweigen. Schweigen ist aber keineswegs informationslos, und wer schweigt, braucht nicht passiv zu sein. Der schweigende Hörer gibt dem Sprecher in der Regel durch Blicke und Gestik Signale, dass er ihm zuhört. Dabei existieren aber erhebliche kulturelle Unterschiede. Aussagen wie du hörst mir ja gar nicht zu zeugen vom Ausbleiben der Hörersignale in unserer Kultur. Auch beim Schweigen gibt es erhebliche kulturelle Unterschiede. Der Ausdruck in mehreren Sprachen schweigen hat, wie aus dem Verhalten von Mehrsprachigen hervorgeht, durchaus Wirklichkeitsbezug. Nur der Einsprachige kann damit einen Versuch machen, geistreichwitzig zu sein. In den skandinavischen Ländern werden Hörersignale viel spärlicher gesendet als im mitteleuropäischen Raum.

Verschiedene Typen des Schweigeverhaltens, seine generellen Charakteristika und Funktionen im Interaktionsprozess habe ich in anderen Zusammenhängen ausführlich abgehandelt (Oksaar 1988, 52 ff; 1998, 37 ff). Je nach der Art und der Quantität des Redens und des Schweigens ließen sich dabei zwei größere Kategorien unterscheiden. Redekultur und Schweigekultur. Störungen entstehen leicht, wenn die trotz individueller Variation kulturspezifische Länge der Pausen nicht berücksichtigt wird. Denn was in einer Kultur als Denkpause gilt, kann in einer anderen schon als Sprecherwechselmöglichkeit aufgefasst werden. Was die normale Zeit der Pausenlänge für jemanden ist, erfährt man erst, wenn der sich als unvorteilhaft behandelt fühlt. Schon bei der Metadiskurs-Frage: Wem gehört die Pause in einem Gespräch? gibt es unterschiedliche Sehweisen. Angehörige einer Schweigekultur, wie z. B. Finnen, Schweden, Isländer, Esten, schätzen die Pause anders ein als ihre Partner aus der Redekultur, z. B. Deutsche, Südeuropäer, Amerikaner. Im deutschen Kulturkreis sind Pausen allgemein peinlich, sie sind, wenn möglich, zu vermeiden. Dies geht auch anschaulich aus einer Szene im vierten Kapitel der Buddenbrooks von Thomas Mann (1960, 223) hervor:

„Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!” erwiderte die Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden Seufzer: „Es is halt a Kreiz!“

Vom interkulturellen Standpunkt aus könnte man mit Recht fragen, warum denn Pausen verbal ausgefüllt werden müssen?

Was in der Schweigekultur als Sprechpause gilt, kann in der Redekultur schon als Sprecherwechselsignal verstanden werden. Die Unkenntnis dieser Tatsache kann leicht zu Irritationen führen, da der andere als sehr unhöflich angesehen wird, wenn er einem in die Pause, in seine Pause fällt. Was in der Redekultur als jemandem ins Wort fallen negativ auffällt, hat in der Schweigekultur sein verbales Gegenstück in jemandem in die Pause, in sein Schweigen fallen. In der Schweigekultur gilt aber beides als unangebracht. Für das dialogische Verhalten in der Schweigekultur sind somit zwei Maximen wichtig: Falle nie jemandem ins Wort und Falle nie jemandem ins Schweigen.

Es fehlen systematische Untersuchungen aus verschiedenen Kulturen über die Toleranzgrenzen von Pausenschweigen. Finnen sind in dieser Beziehung toleranter als Schweden, diese wiederum toleranter als Amerikaner und Zentraleuropäer (vgl. Lehtonen 1993). Kurz gesagt, wo nicht stets und allzu viel geredet wird, wo Reden wirklich Silber und Schweigen Gold ist, da stören lange Pausen kaum, man bemerkt sie gar nicht, auch wenn sie im Spiegel einer Redekultur quälend lang sein können.

In der Redekultur, z. B. in den USA, hat Schweigen einen niedrigen sozialen Wert. Das kann unter anderem der Grund zum Small talk sein. In der Schweigekultur, z. B. in Schweden, Finnland und Estland, kann Schweigen in vielen Situationen eine kontaktknüpfende Funktion haben, wie etwa der Small talk in den USA: man sendet nonverbale Signale. Schweigen kann aber auch Nachdenklichkeit signalisieren. In der Schweigekultur denkt man, ohne seine „halbfertigen” Gedanken laut zu verbalisieren, oder sie, wie im Deutschen häufig durch Ausdrücke vom Typ um es ganz offen zu sagen, oder ich rede zuerst einmal etwas ins Unreine anzukündigen. In der Schweigekultur sagt man im Allgemeinen erst dann etwas, wenn das fertige Gedankengefüge vorliegt. Oder man sagt es gar nicht, weil man es für andere gar nicht für so wichtig halt z. B. als Diskussionsbeitrag auf einer Tagung. Eine derartige Selbstkritik wird nicht selten missverstanden.

Wird Sprechen erwartet, wenn man schweigt, und Schweigen, wenn man redet, kann dies die Einstellung des Hörers gegenüber dem Sprecher unvorteilhaft beeinflussen. Menschen mit von der Redekultur geprägten Gesprächsstilen fassen von der Redekultur abweichendes Verhalten – Schweigen und Zurückhaltung – leicht als Gleichgültigkeit, Verschlossenheit und Schüchternheit auf, ja sogar als Inkompetenz oder Beschränktheit. Aus der Sicht der Schweigekultur werden wiederum Vertreter der Redekultur als geschwätzig, selbstherrlich und intolerant angesehen, häufig auch als Wichtigtuer. Auf unterschiedliche Sehweisen in verschiedenen Sprachen weisen im Deutschen Bildungen wie Redseligkeit hin, im Englischen love of chatting, im Schwedischen hingegen pratsjuka „Redekrankheit“. Interessanterweise kennen sowohl Völker der Redekultur als auch der Schweigekultur das Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dazu hat schon im vorigen Jahrhundert der Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1878, 257) festgestellt, dass das Gold des Schweigens leicht zu erhalten sei, weil es ja auch ein Schweigen des Toren gibt. Deshalb müsse es heißen: „Wessen Reden Silber ist, dessen Schweigen ist Gold”.

 

5. Warum ist frühe Mehrsprachigkeit erstrebenswert?

Die Antwort ist einfach: Weil das Vorschulalter eine optimale Möglichkeit zum Sprachenerwerb bietet, da Kinder die Sprachen im wahrsten Sinne des Wortes spielend lernen und ihr spontaner Lerneifer dies ihnen leicht macht. Ein Vorschulkind ist ein Erkenntnis suchendes Wesen. Ausführliche Diskussion dieser Thematik findet sich in Oksaar (1989); da werden u. a. auch sozialpolitische Fragen erörtert und die Unhaltbarkeit der mancherorts lauten Kritik früher Mehrsprachigkeit dargelegt. Betont werden muss auch heute, dass Probleme und Schwierigkeiten, die bei Kindern auftauchen, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, allzu leicht der Mehrsprachigkeit zugeschrieben werden. Dadurch versäumt man, mögliche Auswirkungen anderer Faktoren zu beachten, von Konflikten zwischen zwei Religionen oder Erziehungsmethoden bis zur frühkindlichen Deprivation. Man vergisst allzu leicht, dass Probleme und Lernschwierigkeiten auch bei Kindern vorkommen, die nur eine Sprache sprechen.

Man sollte mit mehr als einer Sprache so früh wie möglich anfangen, nicht nur in der Schule. Wo möglich, sollten Vorschulkinder zu Hause mit mehreren Sprachen in Kontakt kommen und mit ihnen vertraut werden, nach dem altbewährten Rezept: eine Person, eine Sprache (vgl. Grammom 1902). Günstige Gelegenheiten ergeben sich beispielsweise in Familien, in denen die Eltern verschiedene Muttersprachen haben. Dabei ist es in den ersten drei–vier Jahren wichtig, dass man konsequent sein muss. Wenn die Mutter mit dem Kind konsequent die Sprache A spricht und der Vater die Sprache B, dann ist dieses Kind bis zur Schule zweisprachig. Spricht eine dritte Persom z. B. die Großmutter oder die Kindergärtnerin noch die Sprache C, so wird das Kind ohne Schwierigkeiten dreisprachig sein. Kommt das Kind zur Schule, nimmt die Schulsprache leicht überhand und man muss Wege finden, die anderen Sprachen aktiv zu halten.

Wir wissen aber auch schon lange, und unser Hamburger pädolinguistisches Projekt mit zwei-, drei- und viersprachig aufwachsenden Kindern hat es bestätigt, dass Mehrsprachigkeit das analytische Denken des Kindes begünstigt, positive Einwirkung auf sein Intellekt hat, dem Kind eine nuanciertere Auffassung von der Welt gibt und den Erwerb von weiteren Sprachen erleichtert. Ein weiteres Argument kommt selten zur Sprache: Der Rhetoriker Quintilian, der ja auch Pädagoge war, forderte vor mehr als 1800 Jahren, dass das Kind gleich von Anfang an eine weitere Sprache neben der Muttersprache lernen sollte, damit seine muttersprachlichen Kenntnisse gefördert werden. Er hat es deutlich gesehen, dass im Spiegel einer anderen Sprache die Eigenarten der Muttersprache deutlicher hervortreten. Aus unserem Projekt geht hervor, dass durch die Fragen und Kommentare der Kinder deutlich wird, dass sie nicht nur ein Gefühl für verschiedene Sprachen entwickeln, sondern sie auch kontrastieren können. Wenn Kinder im Alter von 4–5 Jahren Fragen über grammatische Unterschiede stellen, z. B. warum es mir und mich im Deutschen, aber nur mig im Schwedischen gibt, so kann man daraus schließen, dass sie über Phänomene reflektieren und Themen anschneiden, die bei einem einsprachig aufwachsenden Kind nicht vorkommen. Sie sind zu abstrakten Operationen in einem Alter fähig, die bei einem einsprachig aufwachsenden Kind nicht vorkommen. Kontrastierung ist und bleibt ein Grundpfeiler im Erwerbsprozess mehrerer Sprachen.

Diesen Abschnitt abschließend sei noch ein weiterer Aspekt beleuchtet. Eltern, die mit ihren Kindern nicht ihre am besten beherrschte Sprache sprechen, können in ihren Beziehungen zu ihnen nicht alle wichtigen Nuancen zum Ausdruck bringen. In Familien, in denen die Mutter und der Vater aus verschiedenen Sprachbereichen kommen, ist es daher wichtig, dass sie mit dem Kleinkind ihre Sprache sprechen, damit auch die emotionale Seite der Kommunikation so natürlich wie möglich verlaufen kann. Das Kind wird dadurch aber auch ganz natürlich mit den jeweiligen Behavioremen vertraut.

 

6. Ausblick

Wir haben gesehen, dass es wesentliche kulturelle Unterschiede auf verschiedenen Ebenen des interkulturellen Verständigungsprozesses gibt, und dass Schwierigkeiten entstehen können, wenn man die Verhaltensweisen des Anderen nur durch den Filter der eigenen Kultur sieht. Die Art der eigenen Kulturgebundenheit muss deshalb intensiver als früher als Problem erkannt und thematisiert werden. Diese Aufgabe, deren Aktualität auch heute unverkennbar ist, habe ich vor etlichen Jahren (Oksaar 1984, 29) hervorgehoben: „Wir müssen die Probleme, die in dem Bildungsbereich, in der Politik und in der Wirtschaft durch Verschiedenheit der kulturellen Werte und Verhaltensweisen entstehen, zu erklären versuchen und Lösungsmöglichkeiten finden.“ Aber wie? Auch darauf bin ich da und bei anderen Gelegenheiten eingegangen (vgl. Oksaar 1983). Der erste Schritt ist, sich des eigenen Weltbildes und der eigenen kommunikativen Verhaltensweisen bewusst zu werden und Empathie für die des Anderen zu entwickeln. Frühe Mehrsprachigkeit begünstigt diese Entwicklung und fördert die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog.

Die Schulen und das Elternhaus haben hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: die Sensibilisierung der Kinder für die Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen. Dadurch erleben sie auch die eigene Sprache und Kultur bewusster. Es gibt kleine und große Sprachen, aber keine besseren und schlechteren, nur unterschiedliche.

Mehrsprachigkeit und Mehrkulturheit, die ja die Beherrschung der Behavioreme einschließen, sollten eine ernst zu nehmende Herausforderung für Europa sein. Für ein Europa der Partnerschaften, des Miteinanders, aber auch der scharfen Konkurrenz, in deren Karrieremustern Sprachenbeherrschung und internationale Erfahrung eine nicht geringe Rolle spielen. Es gilt, eine geistige Umwelt in Europa zu schaffen, in der sowohl die eigenen Landessprachen mit ihren Dialekten als auch die Sprachen der Nachbarn und der Minderheiten respektiert werden.

Interesse, Verständnis, Respekt und Offenheit für sowohl die eigene Sprache als auch für fremde Sprachen und Kulturen kann gelehrt und gelernt werden und bedeutet, dass man keine Entweder-Oder-Mentalität in der Sprachenfrage haben sollte, sondern eine Sowohl-Als-Auch-Perspektive. Das gilt auch für die heute lebhaft diskutierte Wissenschaftssprache. Es sei dem Forscher freigestellt, in welcher Sprache er seine Ergebnisse veröffentlicht – heute ist es überwiegend Englisch –, aber seine Bringschuld für die eigenen Landsleute und für die Gesellschaft muss sein, dass er die Muttersprache in demselben Bereich ebenso beherrscht (Oksaar 1994). Es gilt, das muttersprachliche Sprachgefühl als Grundlage für gutes Wissenschaftsdeutsch, Wissenschaftsschwedisch usw. zu verschärfen. Es darf ja nicht vergessen werden, dass die Unterrichtssprache in den europäischen Schulen und Universitäten, mit wenigen Ausnahmen, doch die Muttersprache ist.

In der Europäischen Union muss der Mensch und nicht die Bürokratie oder die Großfinanz im Zentrum stehen. Denn es werden ja nicht abstrakte Modelle, sondern konkrete, aus Einzelindividuen bestehende Gruppen, Regionen und Länder integriert. Mit sprachlichen Wurzeln der Zugehörigkeit und ihrer soziokulturellen Identität. Sagte doch schon Goethe in Maximen und Reflexionen (1973, 508): „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Aber er sagte auch noch folgendes zum Sprachenthema: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei.“ Ein schönes Ziel für alle Völker!

 

Literatur

Goethe, Johann Wolfgang von (1819): West-östlicher Diwan. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.), Berlin 1952.

Goethe, Johann Wolfgang von (1973): Maximen und Reflexionen. Goethes Werke, Band XII. München.

Grammont, Maurice (1902): Observations sur le langage des enfants. In: Mélanges linguistiques offertá. Antoine Meillet. Paris, 61–82.

Lazarus, Moritz (1878): Über Gespräche. In: Ideale Fragen. Berlin, 237–264.

Lehtonen, Jaakko (Hg.) (1993): Kulttuurien kohtaaminen. Jyväskylä

Mann, Thomas (1960): Buddenbrooks. Frankfurt/M.

Mauthner, F. A. (Hg.) (1984): Georg Christoph Zichtenberg. Sudelbücher. Frankfurt/M.

Oksaar, Els (1966): Tvåsprålcigheten och invandrarna. In: Schwarz, D. (Hg.): Svenska minoriteter. Stockholm, 68–83.

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Begegnungen14_Nelde

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:21–38.

PETER HANS NELDE

Mehrsprachigkeit in Europa

Überlegungen zu einer neuen Sprachenpolitik

 

Auf eine perspektivische Einordnung von Mehrsprachigkeit folgt anhand von fünf Thesen eine Darstellung der Problematik einer europäischen Sprachenpolitik im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Integration und nationalstaatlichem Selbstverständnis, wobei auf die Forderung der vierten These – die Europäisierung der Sprachenpolitik – etwas ausführlicher eingegangen wird, um Strategien der Konfliktvermeidung zu diskutieren, die sich in mehrsprachigen Ländern bereits bewährt haben und als Ausgangspunkt einer Debatte zur europaweiten Konfliktneutralisierung stehen könnten. In den anschließenden Schlussfolgerungen und dem Versuch einer Neubewertung sprachpolitischer Faktoren werden Wege aufgezeigt, die Anregungen geben, inwieweit auch unsere Disziplin, die Kontaktlinguistik, zur sprachpolitischen Konfliktanalyse in einer erweiterten Union beitragen kann.

Es hieße Eulen nach Budapest tragen, wenn aus Brüsseler Perspektive versucht würde, zu Anfang des Millenniums ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit zu halten. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität begegnen uns hier im Alltag in unzähligen Situationen. Neu ist, dass auch die offizielle Sprachplanung der Europäischen Union in Brüssel die unausweichliche Interdependenz von Politik, Wirtschaft, Medienkultur und Sprache (erst) in den neunziger Jahren erkannt hat und sich mit der Gründung eines „Ministeriums” (der Generaldirektion XXII) ein Instrument der Sprachenpolitik geschaffen hat, das Brennpunkte dieser Thematik – teilweise sehr erfolgreich – zu bewältigen sucht. So gehören der grenzüberschreitende Akademikeraustausch (Sokrates, Erasmus, Tempus etc.) und die in historisch und sozioökonomisch bedingte Konflikte verwickelten bodenständigen Minderheiten (die in der EU-Diktion sogenannten „weniger verbreiteten Sprachen”) zum Aufgabenbereich dieser Amtsstelle. Eine längst fällige, gründliche Analyse dieser Minderheitssprachen zur „Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprachgemeinschaften in der Europäischen Union” aus dem Jahr 1995 unter dem Titel „Euromosaic” bereicherte und ergänzte die kontaktlinguistische Forschung um wesentliche Aspekte. Damit haben Sprachplanung und Sprachpolitik – nunmehr auch nach außen sichtbar – Eingang in die Kulturplanung der Unionsmitglieder gefunden.

Neu dürften, zu Anfang dieses Jahrhunderts, zudem einige kontaktlinguistische Perspektiven sein, die sich auf die Mehrsprachigkeit des neuen Jahrhunderts auswirken könnten:

1. Mehrsprachigkeit ist nicht länger eine Ausnahmeregelung für sprachlich gemischte Staaten Europas, sondern wird – ähnlich wie in vielen Regionen Asiens und Afrikas – Allgemeingut und manchmal sogar bereits selbstverständlich.

2. Während man in der soziolinguistischen Literatur der Nachkriegszeit noch überwiegend von der Annahme ausging, dass Minderheiten, die zweisprachig (etwa durch Assimilation) werden, Gefahr laufen, ihre Muttersprache zu verlieren, dient Mehrsprachigkeit heute in sprachlichen Übergangs- und Minderheitsgebieten häufig als wirtschaftlicher und beruflicher Motor, um den Lebensstandard zu erhöhen (grenzüberschreitender Verkehr, die Rekrutierung von Translationsberufen in Sprachgrenzgebieten, supranationale Arbeitgeber).

3. Wirtschaftsfaktoren wie Globalisierung, die offensichtlich die großen Sprachen fördern, sind nicht denkbar ohne starke Regionalisierungsbestrebungen, die den kleinen und mittleren Sprachen in einem mehrsprachigen Kontext auf allen Ebenen zahlreiche neue Überlebenschancen vermitteln, weshalb des Weiteren auch der Begriff „Glokalisierung” (Globalisierung plus Lokalisierung bzw. Regionalisierung) verwendet wird.

4. Die jüngsten Entwicklungen haben von der jahrzehntealten Dauerdefensivhaltung kleiner und kleinster Sprachen zu einem neuen Argumentationsverständnis geführt, das die Vorteile des mehrsprachigen Minderheitssprechers hervorkehrt und im neuen europäischen Diskurs betont und damit in die Offensive geht: Der mehrsprachige Kleinstsprachensprecher muss seine Identität nicht mehr verleugnen und sich ausschließlich den Prestigesprachen anpassen, sondern sein Widerpart, der Einsprachige, hat häufig mehr Schwierigkeiten als in der Vergangenheit, in einem vielsprachigen und multikulturellen Europa seine Ansichten monodirektional, d.h. einsprachig durchzusetzen.

 

Erste These:
Kontaktlinguistische Modelle eignen sich in besonderer Weise zur Darstellung der Multidisziplinarität von Mehrsprachigkeitsphänomenen

Kontaktlinguistik ist per definitionem multidisziplinär, erfasst Sprachkontaktphänomene unterschiedlichster Art (sprachliche und außersprachliche) und trägt zur Konfliktanalyse und -lösung bei (H. Goebl, P. H. Nelde e.a., Kontaktlinguistik I, 1996).

Vier kontaktlinguistische Voraussetzungen scheinen uns bei der Behandlung von Sprachkonflikten und deren Neutralisierung von Bedeutung:

Es gibt keinen Kontakt zwischen Sprachen, sondern nur zwischen Sprechern und Sprachgemeinschaften (H. Haarmann 1980, E. Oksaar 1980). Dadurch wird die Vergleichbarkeit von ein und derselben Sprache in unterschiedlichen Kontexten (z. B. Italienisch in Slowenien und in der Schweiz) weitgehend eingeschränkt. Sicherlich tragen diese multikausalen Konflikte unterschiedlichste Formen – vom offenen Ausbruch von Feindseligkeiten (Kosovo 1998) bis zur Sublimierung subkutaner Konflikte in nach Harmonie strebenden sozialen Gruppen (Skandinavien). Eine der Hauptursachen für die Konfliktträchtigkeit aller Arten sprachlicher Gemeinschaften liegt in der Asymmetrie jeglicher Form von Mehrsprachigkeit. Es gibt auf dieser Welt keine kongruenten Sprachgemeinschaften, die die gleiche Zahl von Sprechern haben, deren Sprachen das gleiche Prestige aufweisen, deren Sozialprodukt identisch und deren Lebensqualität vergleichbar ist. Deshalb ist Kontakt ohne Konflikt nur schwer nachzuweisen.

Auch wenn die Aussage, es gäbe keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt („Nelde’s Law”: K. de Bot, Recent Studies in Contact Linguistics, 1997) übertrieben erscheinen mag, so ist im Bereich der europäischen Sprachen gegenwärtig keine Kontaktsituation denkbar, die sich nicht auch als Sprachkonflikt beschreiben ließe. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch Mattheiers Aussage zu Sprachkonflikten unter monolingualen Sprechern (K. Mattheier 1984).

Die Kontaktlinguistik sieht Sprache gewöhnlich als wesentliches Sekundarsymbol für zugrundeliegende (primäre) Konfliktursachen sozioökonomischer, politischer, religiöser oder historischer Art. Hierdurch erscheint der Sprachkonflikt gewissermaßen als das „kleinere Übel”, da sich in vielen Fällen Sprachkonflikte offensichtlich leichter korrigieren und neutralisieren lassen als primär sozioökonomische, soziopolitische und andere, außersprachlich bestimmte Konflikte. Politisierung und Ideologisierung des Faktors Sprache führen zu zahlreichen Konflikten, bei denen Sprache oft als nebensächlich erscheint, jedoch leicht als Sekundarsymbol eingesetzt werden kann. Die Reihe der Beispiele im gegenwärtigen Ost- und Südosteuropa ist endlos: Bosnien-Herzegowina: Wird neben dem erst 1992 aufgegebenen Serbokroatisch und den Nachfolgesprachen Serbisch und Kroatisch eine Sprache „Bosnisch” oder – im gegenwärtigen Jugoslawien – „Montenegrinisch” entstehen? Moldawien: Ist die Einheit eines Staates aufrecht zu erhalten, wenn das Land durch die gleiche Sprache getrennt wird und zwar in unterschiedliche Alphabete (lateinisch und kyrillisch) und eine (noch) unterschiedliche Lexik? Weißrussland: Kann eine Sprache wie Weißrussisch in einem jungen Staat überleben, wenn nur noch 10 Prozent der Schuljugend auf Weißrussisch unterrichtet wird?

Die Kontaktlinguistik macht nicht nur deutlich, dass Konflikte nicht ausschließlich negativ beurteilt werden sollten, sondern weist zugleich nach, dass aus Konflikten neue Strukturen entstehen können, die – gerade im Falle der Minderheitssprecher – günstiger sein können als die vorhergehenden.

 

Zweite These:
Sprachkonflikte in Europa haben nicht nur historischen Charakter, sondern werden von europäischen Sprachpolitikern bereits für die Zukunft vorprogrammiert

Es gibt neben den traditionellen Sprachkonflikten mit historischen Bezügen die gegenwärtigen – häufig sozioökonomisch bestimmten – Konflikte zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung, zwischen Autochthonen und Allochthonen, die für oder gegen ihre Assimilation, Integration etc. kämpfen. Hier handelt es sich um „natürliche” Konflikte, die ich von den „künstlichen” und durch die Schaffung neuer (sprach)politischer Strukturen selbst erzeugten Konflikten unterscheiden möchte. Gerade letztere führen zu einem Vergleich des alten Babel mit dem modernen Brüssel: 4000 Übersetzer und Dolmetscher, die im Europa der Europäischen Union in – augenblicklich – elf Amts- und Arbeitssprachen arbeiten, häufig beeinflusst und bedrängt von ein paar Dutzend Minderheitssprachen, von denen viele verschwinden, aber auch neue entstehen werden (Tornedal, Kroatisch), die um ihr Überleben kämpfen. Fast ein Zahlenspiel: Wenn es zehn Möglichkeiten gibt, elf Sprachen zu verwenden, dann ergeben sich daraus 110 Kombinationen, eine Vielzahl, die der flämische Maler Pieter Breughel bei der Anfertigung seines berühmten Gemäldes „Der Turmbau zu Babel” (Wien, Kunsthistorisches Museum) wohl noch nicht berücksichtigen konnte, da sein Gebäude nicht die ausreichende Zahl von Simultandolmetscherkabinen (auf dem Gemälde als Fensterhöhlen dargestellt) enthält, die die gegenwärtige EU-Kommission bei der Berücksichtigung aller Amtssprachen benötigt. Es dürfte deutlich sein, dass auch die Schaffung eines einheitlichen Europas keine Lösung für natürlich gewachsene oder künstlich geschaffene Konflikte garantiert.

Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich demnach an, da Alternativen zurzeit kaum diskutiert werden?

Die Einführung einer Plansprache (Esperanto, Gebärdensprache) etc.,

– die Übernahme einer starken internationalen Verkehrssprache als Lingua franca (Englisch),

– die Bevorzugung von wenigen Hauptsprachen (z. B. Deutsch, Französisch und Englisch),

– die Beibehaltung des Status quo (11 Amts- und Arbeitssprachen).

Kann der gegenwärtige Zustand (Lösungsmöglichkeit 4), d.h. die Akzeptanz der Sprachenvielfalt weiter ausgebaut und fortgesetzt werden? Zur Vermeidung babylonischer Verhältnisse werden sicherlich Einschränkungen der Sprachenfreiheit im Blick auf die zu erwartende Ausdehnung gen Osten in Kauf genommen werden müssen. Die Erweiterung der EU wird das Schema der fast automatischen Anerkennung von Nationalsprachen als Gemeinschaftssprachen durchbrechen und statt der vierten Lösung die dritte oder eine weitere ins Gespräch bringen müssen.

Die Schwierigkeiten bei der Förderung und Betreuung von Minderheitssprachen durch die eingangs erwähnte Stelle der Europäischen Kommission, bei der Sprachenpolitik für die kleineren Sprachen und mit den europäischen Minderheiten bereits betrieben wird, zeigt, wie delikat und hindernisreich jegliches Engagement einer politischen Instanz sich gestaltet.

Es gibt weder eine Einigung über die Zahl der Minderheitssprachen und -sprecher in der Europäischen Union (40–50 Minderheiten in Abhängigkeit von unterschiedlichen kontaktlinguistischen Definitionen mit 20 bis 60 Millionen Sprechern bei 380 Millionen Einwohnern – Schätzungen und Berechnungen sprachpolitischer Instanzen der EU zufolge), noch über ihre Bezeichnung (etwas hilflos und künstlich klingt der Terminus lesser used languages), die allerdings im Französischen zu den terminologisch keineswegs deckungsgleichen langues moins répandues mutieren), noch über gemeinsame sprachpolitische Richtlinien dieser – wegen ihrer historisch gewachsenen Sozialstrukturen wohl unvergleichlichen – Sprachgemeinschaften. Ohne die beispielhafte Zurückhaltung der meisten Minderheitensprachpolitiker wären neue „künstliche” Konflikte kaum vermeidbar.

 

Dritte These:
Das neue Millennium stellt erhöhte Anforderungen an die Sprecher, sich stärker als in der Vergangenheit in Richtung einer „neuen Mehrsprachigkeit” zu bewegen.

Das Experiment der Europäischen Union, elf Amts- und Arbeitssprachen anzuerkennen und einzusetzen ist in der Geschichte der Menschheit einmalig und hat bereits seit der Einführung dieser Elfsprachenstruktur 1995 Früchte abgetragen. Sprachliche und kulturelle Diskriminierung hat im Bereich der Union seither eher ab- als zugenommen.

Zu den fehlenden politischen Vorbildern eines neuen Europa kommt eine Reihe von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungstendenzen, die die Notwendigkeit einer „Neuen Mehrsprachigkeit” im Blick auf das kommende Jahrhundert noch unterstreichen:

1. Die Bedeutung der Nationalstaaten und die Souveränität ihrer Regierungen hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Nationalstaatliche Befugnisse in den meisten gesellschaftlichen Domänen wurden von Brüssel bzw. Straßburg oder Luxemburg übernommen, wodurch die Zuständigkeiten der EU-Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen reduziert wurden.

2. Neoliberalismus und Internationalisierung begünstigten Tendenzen der Globalisierung, die die spezifisch nationalen wirtschaftlichen und kulturellen gesetzgeberischen Möglichkeiten der Einzelstaaten weiterhin aushöhlten und ihre Wirksamkeit verringerten.

3.Dabei zeigt ein Blick auf die sprachlich-kulturelle Entwicklung in Asien und Afrika, dass sich dort aufgrund der schnelleren Verjüngung – im Vergleich zu Europa und den USA – der demographischen Bevölkerungspyramide, aber auch des hohen Grades der Selbstverständlichkeit des Mit- und Nebeneinanders mehrerer Sprachen und Kulturen die Mehrsprachigkeit weltweit als „Normalfall” darstellt und Einsprachigkeit zur Ausnahme wird.

Demnach lässt sich die Neue Mehrsprachigkeit unter 7 Stichworten zusammenfassen:

1. Internationalisierung (grenzübergreifend)

2. Telekommunikation/Neue Medien/Telematik (Chancen für kleine Sprachen)

3. Neoliberalismus (Firmensitze sind nationalstaatlich schwer zuzuordnen; das Mercedes-Benz-Fahrzeug Smart wird im zweisprachigen Lothringen, nicht mehr in Deutschland hergestellt; made by Siemens, made by Bosch etc. ersetzt das ehemalige Qualitätssignum made in Germany)

4. Glokalisierung (Multiidentität der Europäer: domänenhafte Zuordnung zu regionalen und überregionalen Identitäten – beispielsweise vom Wiener über den Niederösterreicher zum Österreicher und Europäer; Spannung zwischen regional- und suprastaatlichen Organisationen innerhalb der EU)

5. Bildungspolitik (Sprachpolitik als trennendes und Wirtschaftspolitik als vereinendes Element; Sprachpolitik entpuppt sich stets mehr als Bildungspolitik)

6. Subsidiaritätstendenz (sprachpolitische Entscheidungen auf der untersten möglichen politischen oder kulturellen Ebene)

7. Reduktion der nationalstaatlichen Macht durch Wirtschafts- und Politikzwänge (erhebliche Machteinbuße der Regierungsverantwortlichen in den EU-Ländern und Machtübertragung auf supranationale Instanzen wie die Europäische Kommission)

Die Neue Mehrsprachigkeit Europas lässt sich mithilfe einiger Fakten wie folgt einteilen: Gesamteuropa spricht mehr als 100 Sprachen (Europa I); in der Europäischen Union werden neben den elf Amts- und Arbeitssprachen noch ca. 45 Minderheitssprachen gesprochen, also insgesamt mindestens 56 autochthone Sprachen (Europa II); nach der voraussichtlichen Erweiterung in Richtung Osten und Südosten wird die EU vermutlich mehr als 70 autochthone Amts- und Minderheitssprachen umfassen (Europa III).

Wenn überhaupt, dann kann ein solch unübersichtliches Knäuel von Sprachen und Kulturen, bei dessen zahlenmäßiger Schätzung die millionenstarken allochthonen Gruppen für diesen Fall unberücksichtigt bleiben, nur von einer ausgereiften Sprachenplanung und Sprachenpolitik administrativ – stets im Einvernehmen mit dem europäischen Bürger – bewältigt werden. Zu diesem Zweck müssen jedoch erst einmal zwei sprach- und kulturpolitische Hindernisse beiseite geräumt werden, die sonst zu interkulturellen Missverständnissen führen könnten:

1. Terminologie

Das Englische unterscheidet zwischen language planning, language policy und language politics wie im übrigen auch einige andere europäische Sprachen (vgl. die Dreiteilung im Niederländischen taalplanning, taalbeleid und taalpolitiek), wobei der mittlere und für eine europäische Sprachenpolitik wohl entscheidende Begriff keine Entsprechung im Deutschen hat, das neben der Sprachplanung nur die Sprachpolitik kennt. Das Französische hat das hierarchische Element (planification linguistique) zur Seite geschoben und befleißigt sich eines überzeugenden Begriffes (l’aménagement linguistique), der in Anlehnung an moderne demokratische, aber auch ökolinguistische Ideen den sprachlichen Haushalt zum Inhalt hat. Da jedoch Englisch, Französisch und Deutsch innerhalb der EU-Mehrsprachigkeit primi inter pares und entscheidend für den Ausbau einer zukünftigen gemeinsamen Sprachenpolitik sind, fallen die Diskrepanzen in der Benennung unserer Thematik besonders ins Auge.

2. Konzeptualisierung

Die beiden ersten kontaktlinguistischen Analysen kleiner Sprachgemeinschaften in der EU (Euromosaic I, 1995; Euromosaic II, 1998; die sich noch im Planungsstadium befindliche Analyse Euromosaic III voraussichtlich 2001) haben uns deutlich vor Augen geführt, dass es bis heute kein gesamteuropäisches Konzept, nicht einmal eine gesamteuropäische Vision in Bezug auf das sprachlich-kulturelle Zusammenleben der 15 Unionsländer gibt, ja eigentlich auch nicht geben kann, da einer einheitlichen Sichtweise zwei unterschiedliche Konzeptualisierungen im Wege stehen, die sich nur schwer miteinander verbinden oder gar verschmelzen lassen: Während eine Gruppe von Staaten sprachpolitisch einem zentralistischen Konzept (Beispiel: Frankreich) zuzuordnen sind, haben sich einige föderal regierte Staaten für das Subsidiaritätsprinzip (Beispiel: Deutschland) entschieden, während wiederum andere Staaten (Beispiel: Großbritannien mit neuerdings einer Tendenz zur Subsidiarität) Mischformen beider Prinzipien kennen.

Diese unterschiedliche Konzeptualisierung ist von großer Bedeutung, weil sprachpolitische Entscheidungen bei Anwendung des zentralistischen Prinzips, – erstens – abhängig sind von der Existenz einer nationalen (Sprach-)Gesetzgebung, die – zweitens – hierarchisch, auf dem Verwaltungswege, von „oben” nach „unten” durchgeführt wird.

Beim Subsidiaritätsprinzip fehlt dagegen häufig die „obere” Gesetzgebungsebene (Beispiel: Deutschland und Belgien haben keine nationalen Kultusminister) und damit auch die entsprechenden nationalen Gesetze und Erlässe, stattdessen werden sprach- und kulturpolitische Entscheidungen auf der untersten möglichen Ebene getroffen (Gemeinde, Region, Land).

Aufgrund dieser beinahe gegenläufigen Konzeptualisierung ist eine zentrale Sprachenpolitik der EU aus Brüsseler Sicht, die die Besonderheiten der historisch begründeten und gewachsenen Strukturen nicht berücksichtigt, kaum denkbar.

 

Vierte These:
Erfolgreiche subsidiäre Sprachenpolitik in der Europäischen Union im Blick auf eine Konfliktneutralisierung muss „europäisiert” werden, das heißt integraler Teil einer europäischen Sprachenpolitik werden

Welche Konzepte haben mehrsprachige Staaten in Europa entwickelt und welche von ihnen haben in mehrsprachigen Sprachgemeinschaften zu einem friedlicheren Miteinander geführt? Trotz einer zum Teil völlig unterschiedlichen Ausgangslage lassen sich einige gemeinsame Konzepte herausarbeiten, zu denen Länder wie Belgien, Luxemburg aber auch die Schweiz und die in diesen Ländern verwendeten Konfliktvermeidungsstrategien in besonderer Weise beigetragen haben.

1. Das Territorialprinzip

Die Anwendung des Territorialprinzips (beispielsweise in der Schweiz und in Belgien) wurde von Ländern mit einer staatlich sanktionierten Nationalsprache gleichzeitig mit Ablehnung und Bewunderung aufgenommen, da dieses Prinzip offenbar kleinen mehrsprachigen Nationen das Überleben erleichtern konnte. Die Konsequenzen für den einzelnen Sprecher – so im Falle Belgiens – sind indes groß: während sozialer Aufstieg vor der Einführung dieses Konzeptes unabdingbar mit der Beherrschung zweier Sprachen (zumindest im Fall der flämischen und deutschen Bevölkerungsgruppen) verbunden war, kann das Alltagsleben heute in vielen Bereichen in einer Sprache verlaufen, nämlich der Sprache des jeweiligen Gebiets, ohne dass die Mehrsprachigkeit der Bürger aufgegeben werden müsste.

Der belgische Staat ist sehr sensibel, was die Beachtung der Rechte der einzelnen Sprachgruppen im Land angeht. Selbst sehr kleinen Minderheiten wird ein gleichberechtigter Status eingeräumt. Ein Teil der deutschsprachigen Minderheit in Ostbelgien, die weniger als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, profitiert von der Sprachenregelung zwischen den beiden großen Landesteilen und wird ähnlich behandelt, wie die Niederländisch- und Französischsprachigen, was zur Folge hat, dass Deutsch zur dritten Nationalsprache landesweit aufgestiegen ist. So sind z. B. alle Hinweisschilder auf dem Brüsseler Flughafen viersprachig – die drei offiziellen Sprachen Niederländisch, Französisch, Deutsch und obendrein – als internationale Luftverkehrssprache – Englisch und zwar konsequent in dieser Reihenfolge, um jede Hintansetzung einer Sprachgemeinschaft zu vermeiden. Auch die belgische Autobahnpolizei berücksichtigt entsprechend alle drei nationalen Sprachen und wird bei der Verhängung einer Verkehrsstrafe dem Autofahrer zuerst die Möglichkeit geben, sich für eine der drei nationalen Sprachen zu entscheiden, um Widerspruch oder Zustimmung zu protokollieren.

Natürlich ist ein solches Vorgehen aufwendig, aber anscheinend im Rahmen von Sprachkonfliktvermeidungsstrategien doch sinnvoll. Wie viel andere Länder gestehen einer Sprache mit so wenigen Sprechern einen solchen Status zu? Ohne Zuerkennung eines solchen Status ergäben sich aus dieser sprachlichen Asymmetrie jedoch auf lange Sicht wohl noch größere Konflikte und zwar sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich. Die belgische Konfliktregelung kann mit einigen Einschränkungen somit in sprachplanerischer Hinsicht als vorbildlich für die Europäische Union gelten.

2. Entemotionalisierung

Ein anderes positives Ergebnis des Sprachenstreites in Belgien ist eine gewisse Entemotionalisierung der Sprachenfrage. Es ist jedoch nicht leicht, Sprach- und Kulturkonflikten die Emotionen zu „entziehen” und diese Konfliktthematik zu versachlichen. Mit der Einführung des Territorialprinzips hoffte der belgische Gesetzgeber, dass eine strenge Sprachenregelung in wenigen grundsätzlichen Lebensbereichen genug Raum für die größtmögliche Freiheit des Sprachgebrauchs auf anderen Gebieten lassen würde. Während die durch das Territorialprinzip geforderte Einsprachigkeit in den meisten mehrsprachigen Ländern mindestens zwei Domänen betrifft (das Bildungssystem und die öffentliche Verwaltung), kommt in Belgien die „Betriebssprachendomäne” hinzu. Wie bereits angedeutet, muss die Sprache des Territoriums in allen formellen Vereinbarungen und Verträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verwendet werden. Spannungen, die sich aus sozial determinierter Sprachwahl (wenn z. B. ein Manager eine andere Sprache als die Gewerkschaftsvertreter gebraucht) ergeben können, werden dadurch reduziert.

Zusammen mit der Sprachgesetzgebung wurde ein Plan zur Föderalisierung und Regionalisierung entwickelt, der eine zentralisierte Sprachplanung nach dem Vorbild Frankreichs verhindern sollte. Da solch regionalisierte Sprachplanung (in Belgien kommunalisiert genannt) innerhalb der verschiedenen Sprachgruppen nur in einigen wenigen, aber nichtsdestoweniger entscheidenden Lebensbereichen angewendet wird, verhält sich der Staat in den übrigen Domänen überwiegend permissiv und kompensiert Gesetzesstrenge im sprachlich-kulturellen Bereich mit Liberalität und Toleranz.

3. Sprachenzählungen

Statt dem Vorbild Nordamerikas und Russlands zu folgen, die ihre Einwohner in großangelegten Sprachenzählungen („Zensus”) den vorhandenen Mehr- und Minderheitensprachen zuordnen, hat Belgien in der zahlenmäßigen Erfassung von Minderheiten seinen eigenen Weg eingeschlagen, ausgehend von dem Prinzip, dass die Rechte und Pflichten einer Mehrheit oder Minderheit nicht ausschließlich von ihrer zahlenmäßigen Stärke abhängig seien. Dass die Größe einer Sprachgemeinschaft nicht länger mehr der entscheidende Faktor im Bereich der Sprachplanung ist, bedeutet, dass Überlegungen zum Schutz einer Sprachgemeinschaft von der Annahme ausgehen, dass eine numerische und sozioökonomisch benachteiligte Minderheit mehr Unterstützung als die mit ihr konfrontierte Mehrheit benötigt, um Gleichberechtigung zu erlangen. Demzufolge hat der belgische Staat die Sprachenzählung als Teil der Volkszählung abgeschafft und damit sicher auch beachtlich zu einer Entemotionalisierung beigetragen.

Da Belgien sich in dieser Hinsicht von den meisten anderen mehrsprachigen Nationen unterscheidet, wollen wir die besonders konfliktträchtige Frage der Sprachenzählung etwas genauer betrachten. Wir haben hervorgehoben, dass Zweisprachigkeit stets asymmetrisch ist, bilinguale Sprecher werden immer aus dem einen oder anderen Grund in Abhängigkeit von ihrem sozioökonomischen Status, der kulturellen Identität, etc. – eine Sprache bevorzugen. Deswegen kann die Datensammlung über Bi- oder Multilingualität in einer Region in Form einer zahlenmäßigen Erfassung der Sprecher kaum sozial zuverlässige Informationen liefern. So gaben in der Zählung von 1933 in Martelingen, einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Luxemburg und Belgien, 93 Prozent der Einwohner an, deutschsprachig zu sein, und nur 7 Prozent behaupteten, sie seien frankophon (Nelde, 1979). 1947, bei der letzten amtlichen Volkszählung in Belgien, schien sich die Situation umgekehrt zu haben: 93 Prozent der Sprecher behaupteten, sie seien Frankophone, und nur 7 Prozent sahen sich selbst als Deutschsprachige. Der Grund für diesen Unterschied liegt auf der Hand: die meisten Dorfbewohner waren zu Zeiten beider Zählungen zweisprachig, jedoch wurde 1933 Deutsch aus weltanschaulicher Perspektive (Zeit des Faschismus) eher bevorzugt, während die gleiche Sprache 1947 – nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg – wenig beliebt war, und es folglich wünschenswert erschien, mehr Französisch zu sprechen. Deshalb sollten quantitative Daten einer Sprachenzählung in mehrsprachigen Konfliktsituationen mit Skepsis behandelt werden, da die Informationen, die sie über Mehrsprachigkeit zu geben scheinen, oft durch außersprachliche Faktoren verzerrt sind.

4. Positive Diskriminierung

Als logische Konsequenz aus den Vorüberlegungen zur Entemotionalisierung und zur Sprachenzählung soll die positive Diskriminierung von Sprachminderheiten in den Mittelpunkt gerückt werden, ein Aspekt, der von großem Nutzen für die sprachlichen Minderheiten im zukünftigen Europa sein könnte. Positive Diskriminierung heißt, dass die Minderheit mehr Rechte und Vorteile bekommt, als ihr zahlenmäßig nach dem Proporzsystem zustünde, um ein vergleichbares sprachliches Reproduktionspotential wie die Mehrheit entwickeln zu können.

Im Falle der hier besprochenen asymmetrischen und insbesondere der institutionalisierten Mehrsprachigkeit sollte, wenn nötig, die Struktur des Bildungssystems die Minorität explizit fördern, um zu entsprechenden Ergebnissen wie die Mehrheit zu gelangen. In der Praxis kann das z. B. bedeuten, im Schulunterricht kleinere Klassenstärken für kleinere Sprachgruppen zu akzeptieren, sowie für bessere Bezahlung der Lehrkräfte, an die besondere Anforderungen gestellt werden, zu sorgen. Minderheitsschüler sollten mehr Rechte und Vorteile haben, gerade weil sie vom Sozialprestige her und auch zahlenmäßig oft die schwächere Gruppe sind, damit sie auf lange Sicht die gleichen sozialen Aufstiegschancen haben.

Eine andere Form positiver Diskriminierung ist eine Belohnung aller derjenigen, die in einer zweisprachigen Situation ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. So könnte z. B. ein Briefträger in einer mehrsprachigen Stadt wegen des erhöhten Arbeitsaufwandes mehr verdienen als sein einsprachiger Arbeitskollege. Offensichtlich würde das – so jedenfalls zeigen Brüsseler Beispiele aus dem Dienstleistungsbereich der vergangenen Jahrzehnte – auch zu einer Hebung des Prestiges und des Status von Mehrsprachigen führen.

5. Marktwirtschaft und Sprache

Im Gefolge der Entemotionalisierung des Sprachendisputes in Belgien haben sich noch andere Wege zur Konfliktvermeidung und -lösung entwickelt. Heute kann die belgische multilinguale Situation als besonders liberal in Bezug auf die drei Landessprachen ebenso wie die wichtigsten Europa- und Nachbarsprachen charakterisiert werden. Es ist jetzt viel leichter für die einzelnen Sprecher, die Sprache zu wählen, die sie in Übereinstimmung mit ihren persönlichen und beruflichen Plänen benötigen. Individuelles Sprachverhalten und individueller Spracherwerb korrespondieren größtenteils mit dem freien Markt. Auf diesem Wege konnte sich die Mehrsprachigkeit im Lande, einmal von zahlreichen historischen und sozialen Vorurteilen, Stereotypen und Emotionen befreit, an Angebot und Nachfrage anpassen. Dazu kommt ein rein ökonomischer Gesichtspunkt: die Funktion der Hauptstadt Brüssel – faktisch Hauptstadt Europas – hat die Bereitschaft der Bevölkerung zum Mehrsprachenerwerb gefördert, da sich die Beherrschung weiterer Sprachen nachweislich auszahlt (F. Grin, 1996). Somit zeigt das belgische Beispiel, dass eine ökonomisch, durch Angebot und Nachfrage bestimmte Sprachwahl bei der Motivierung zur Mehrsprachigkeit erfolgreicher ist, als eine zentralisierte Sprachplanung, die – statisch und somit wenig flexibel – sich nur schwer dem sich ständig ändernden Sprachbedarf anpassen kann.

 

Fünfte These:
Der Anteil europäischer Sprachen an den gegenwärtigen Sprachkonflikten ist unterschiedlich.
Deutsch als größte EU-Sprache spielt hierbei eine Sonderrolle

Obwohl Deutsch mit 95–100 Millionen Sprechern in Europa sicherlich – neben Russisch – die größte Sprache ist, fällt ihre Zweit- und Drittrolle als Fremdsprache im Unterricht, als Originalsprache für Ausschreibungen und Erlässe der EU, als Verhandlungssprache in multinationalen Gipfelgesprächen, als Umgangssprache in den europäischen Institutionen, kurz als internationale Sprache besonders ins Auge. Dafür mag unter anderem das erhöhte Konfliktpotential des Deutschen ausschlaggebend sein. Dies sollen einige Beispiele erläutern:

Das Deutsche weist einen hohen Grad von Konfliktgefährdung auf, da seine Kontaktfrequenz höher ist als die anderer Staaten. Das heutige Deutschland grenzt an neun Nachbarstaaten; in den meisten Nachbarländern wird Deutsch (als Minderheits- oder Mehrheitssprache) gesprochen; in wenigstens fünfzehn Staaten (Europa I und II) wird deutsch gesprochen.

Deutschland kennt im Bereich der allochthonen Minderheiten eine besonders breite Konfliktdiversifizierung. Man möge sich nur einmal das Spektrum an Zuwanderern vor Augen führen, die sich in den letzten zwanzig Jahren um Aufnahme und Integration bemühten. Für den nicht Eingeweihten ist es sicherlich nicht ganz einfach, die Bezeichnungen für diese Zuwanderer zu unterscheiden und, falls sie bedeutungsgleich sind, den unterschiedlichen ideologischen Blickwinkel zu erkennen, der sich hinter dieser umfassenden Terminologie verbirgt: Fremdarbeiter, Gastarbeiter, ausländischer Arbeitnehmer, Arbeitsimmigrant, Arbeitsemigrant, Umsiedler, Aussiedler, Spätaussiedler, Rücksiedler, Asylant, Asylsucher, Wirtschaftsflüchtling, Migrant, Remigrant – um nur einige herauszugreifen. Für die interkulturelle Kommunikation innerhalb von Europa II kommt als weiteres Missverständnis bzw. als weiterer Konflikt die Tatsache hinzu, dass die anderen Mitgliedsländer (mit der Ausnahme Luxemburgs) keinen vergleichbaren Zuwandererschub kennen und deshalb in Ermangelung eines ähnlichen sachlichen und ideologischen Hintergrunds viele Begriffe in ihren eigenen sprachlichen Kontext nicht übertragen können.

Ideologien spielen beim Sprachkontakt mit dem Deutschen offensichtlich eine besondere Rolle. So kann die Vergangenheit Deutschlands – und hier vor allem das Dritte Reich mit dem Zweiten Weltkrieg – als Konflikthypothek gesehen werden. Die „Bildformung” – wie der ins Deutsche übertragene niederländische Terminus lautet – oder Stereotypbildung (R. Breitenstein, Der hässliche Deutsche, 1968) ist zur Genüge aus der medialen Unterhaltungsindustrie bekannt. Seit den fünfziger Jahren (!) erfolgreiche Fernsehserien und Sitcoms wie Hogan’s Hero’s/Ein Käfig voller Helden (USA, in Zentraleuropa 1999 werktags noch stets auf Kabel 1) oder jüngst Allo, allo (Großbritannien, 2001 auf verschiedenen westeuropäischen Sendern) sind hervorragende Beispiele einseitiger Schwarzweißdarstellungen, in denen die deutschen die „tumben Tore” abgeben – naive, plumpe Verbrecher, eingefangen mit einem Hauch folkloristisch untermauerter Sympathie: ein gefundenes Fressen für Attitüden- und Vorurteilsforscher. Die Folge dieser „Vergangenheitsbewältigung” ist – zumindest für Deutschlerner – ein Spracherwerb, der eine außersprachliche Hypothek mit einschließt und damit wohl den Zugang zum Deutschen erschwert.

Deutsch ist die größte Minderheitssprache in Europa I, II und III, wird mit völlig unterschiedlichen Staatsauffassungen und politischen Konzepten, Strukturen und somit Minderheitskonflikten konfrontiert. Weltanschauliche Symbiosen zwischen der Eigenkultur und der Gastlandkultur zu finden, zwischen früheren sozialistischen und auf der anderen Seite westlichen Demokratien, zwischen sozioökonomisch benachteiligten und am neoliberalen Aufschwung teilhabenden Staatsmehrheiten dürfte den Deutschen außerhalb der traditionell deutschsprachigen Staaten nicht immer leicht gefallen sein, wie ein Blick auf die Liste der wichtigsten Länder beweist, in denen Deutsch auch heute noch als Minderheitssprache gesprochen wird – Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien, Slowenien, Kroatien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Russland, Polen.

Als Vorurteilskonflikt macht sich ein Lernkonflikt bemerkbar, der davon ausgeht, dass Deutsch eine besonders schwere Sprache sei. Argumentativ werden dabei objektive linguistische Kriterien und subjektive Kriterien vermischt, wie Herbert Christ (1980 und 1992) überzeugend nachgewiesen hat.

Obendrein werden sowohl der Erwerb wie die Beherrschung einer deutschen Standardsprache durch einen Plurizentrikkonflikt erschwert. Butcher (engl.) und boucher (frz.) haben eben nicht eine, sondern zahlreiche Entsprechungen, die von allen Deutschsprachigen offensichtlich verstanden werden, von denen aber nur jeweils eine Entsprechung zum jeweiligen – aktiv verwendeten – Ideolekt gehört (‘Schlachter’, ‘Schlächter’, ‘Fleischer’, ‘Metzger’ etc.).

Schließlich stellt sich das Deutsche als eine potentielle europäische Konfliktsprache dar, da die qualitative und quantitative internationale Unterrepräsentierung (vgl. den Gebrauch des Deutschen bei internationalen Organisationen wie UNO, UNESCO, aber auch bei der EU) im Falle einer sozioökonomischen oder politischen Benachteiligung aufgrund des relativ eingeschränkten Mitspracherechts der Deutschen gegebenenfalls zu Spannungen führen kann. Allerdings legen die Deutschen zurzeit eine relativ große Disziplin an den Tag, das heißt, sie leiten aus der Förderung und Finanzierung internationaler Institutionen keine Machtansprüche ab und vermeiden alle aus einer sprachlichen Hintanstellung eventuell resultierenden Konflikte.

Es wäre wünschenswert, wenn die hier angedeutete „Deutsch im Konflikt"-Problematik einmal in einer multidisziplinären Gesamtdarstellung analysiert würde. Daraus ließen sich sicherlich Konfliktvermeidungsstrategien ableiten. Im europäischen Kontext, der durch zahlreiche Spannungen und Konflikte, in deren Mittelpunkt häufig unterdrückte, benachteiligte oder einfach kleine Sprachgemeinschaften (Minderheiten) stehen, soll nunmehr versucht werden, einige der Strategien, die zur Konfliktneutralisierung beigetragen haben, zu überprüfen.

Schlussfolgerungen

Nachdem wir die Lösungen diskutiert haben, die Europa, insbesondere auch Belgien zu einigen der Probleme gefunden hat, die sich aus der bestehenden Mehrsprachigkeitssituation ergeben, muss hervorgehoben werden, dass es demzufolge kein allgemeingültiges Mehrsprachigkeitsmodell gibt, das in allen Kulturen, Ländern und unter allen Umständen angewandt werden kann. Der spezifische Kontext einer jeden multilingualen Situation muss sich in der regionalen und der überregionalen Sprachpolitik eines jeden Landes widerspiegeln und maßgeschneidert auf die jeweilige Sprachgemeinschaft ausgerichtet sein, um mit den realen ökonomischen Bedürfnissen korrespondieren zu können. Unsere unterschiedlichen Beispiele zeigen deutlich, dass ein einziger sprachenpolitischer Plan zur Lösung der Sprachenprobleme im vereinten Europa nur fehlschlagen könnte. Es gibt keine verallgemeinernden und pauschalen Lösungen, sondern nur eine fallweise bestimmte, situativ und kontextuell definierte Sprachenpolitik.

Trotz der Tatsache, dass allochthone und autochthone Gruppen überwiegend ein relativ geringes Prestige ihrer Sprachen und Kulturen als gemeinsamen Nachteil gegenüber der dominanten Gruppe aufweisen, ist zu beobachten, dass es bis heute in Bezug auf die Einforderung von Sprachrechten in Europa nur wenig oder gar keine Kooperation zwischen diesen beiden Gruppen gibt. Diese Kooperation wäre jedoch naheliegend, da vergleichbare Benachteiligungen auch gemeinsame Lösungen erheischen. Ohne Zweifel haben sich die neuen, oft sozial definierten Minderheiten, wie die Migranten, Gastarbeiter, Rück-, Aus- und Umsiedler, Flüchtlinge, Emigranten, Remigranten und Transmigranten in den Vordergrund des europäischen politischen Geschehens geschoben. Alle diese Gruppen haben ein neues Bewusstsein unter den Mehrheitsbevölkerungen hervorgebracht, das statt einer Zurückdrängung der einheimischen Minderheiten eher ihre Förderung zum Ergebnis hatte. Auch sie wurden von den neuen Tendenzen, wie einer Renaissance der Dialekte und Minderheitensprachen, mitgetragen. Ein neues, an kleineren Einheiten orientiertes, regionales Bewusstsein – wie die „small is beautiful”-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre – hat in immer stärkerem Maße die Aufmerksamkeit von Forschung, Politik und Kultur auf Minderheiten gelenkt, deren soziokulturelle und jetzt auch wirtschaftspolitische Bedeutung in einem kulturell lebensfähigen Europa nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann.

Dennoch reagieren Mehrheitsgruppen in ihrer Einstellung zu Sprach- und Kulturminoritäten gegenüber allochthonen Gruppen bedeutend negativer als gegenüber autochthonen Minderheiten. Die Konfrontationen zwischen bodenständigen Minderheiten und den dominanten Mehrheiten einerseits und zugewanderten Migranten und den dominanten Mehrheiten andererseits finden auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen statt (sozial, politisch, ökonomisch, kulturell), obwohl die Formen der Diskriminierung seitens der Mehrheit oft die gleichen sind.

In der Kontaktlinguistik haben nur wenige Forscher beide Minderheitengruppen parallel untersucht, trotz des Nutzens, der sich aus einer gemeinsamen Vorgehensweise ergeben könnte. In den Niederlanden, der Schweiz und Frankreich werden autochthone und allochthone Gruppen aus wissenschaftsimmanenten oder ideologischen Gründen sehr unterschiedlich beschrieben und analysiert. Demgegenüber fehlen in Großbritannien wiederum die Kontakte zwischen den Linguisten einerseits, die sich mit den sogenannten „entkolonisierten" Sprachen beschäftigen, und den Forschern in Schottland und Wales andererseits, die sich mit keltischen Sprachen beschäftigen. Sicherlich sind die nur scheinbar grundverschiedenen Konfliktsituationen ein Grund für die fehlende Kooperation. So ist es nicht verwunderlich, wenn es kaum Vorschläge zur Konfliktlösung gibt, die versuchen, die vergleichbaren Sprachkonflikte beider Gruppen zu neutralisieren.

Neubewertung der Situation

Dieser Bereich der kontaktlinguistischen Forschung im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Integration und nationalstaatlichem Eigeninteresse wächst und verändert sich ständig. Die Gründe hierfür sind überdeutlich: Erstens lagen die dörflichen Gemeinschaften, die die Sprache und andere Identitätsmarker ihrer Minderheit konservierten, oft in der Peripherie der verschiedenen europäischen Staaten, und aus diesem Grunde wurden sie in der Vergangenheit häufig als marginal betrachtet. Wenn sie am Wohlstand und ökonomischen Fortschritt teilhaben wollten, mussten sie sich in den Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung integrieren. Sie verloren während dieses Prozesses in vielen Fällen ihre Besonderheiten, einschließlich ihrer Sprache. Nun finden sich eine Reihe dieser Gemeinschaften im Herzen des neuen Europa wieder, da sie entlang der Grenzen und damit in neuen Kontaktachsen liegen. Geographisch und geopolitisch sind sie somit nicht länger marginal. Weiterhin scheint sich abzuzeichnen, dass ein übernationales Europa Regionalismus eher toleriert als die früheren Nationalstaaten. Das bedeutet, dass sich diese Gemeinschaften in einem Umschichtungsprozess befinden. Es ist notwendig, diesen veränderten Diskurs zu analysieren. Um zu verstehen, was in einigen dieser Gemeinschaften bereits passiert ist und wie sie sich in Zukunft entwickeln werden, müssen wir uns vor allem mit den Sprechergruppen beschäftigen, denen es gelungen ist, ihre Sprache und Tradition zu erhalten. Minderheitsgruppen wie die Katalanen geben beispielsweise Aufschluss darüber, was zur Erhaltung und Förderung einer Minderheitengruppe beitragen kann. Hier verdient die lokale und regionale Entwicklung mehr Aufmerksamkeit.

Zweitens ist die Mehrsprachigkeit in europäischen Großstädten ein relativ junges Phänomen. In einigen Fällen wurde sie bereits genauer – empirisch – unter die Lupe genommen, in anderen Fällen bleibt noch eine Menge zu tun, um die kontaktlinguistische Entwicklung besser zu verstehen. Es betrifft hier ein Gebiet, in dem sich Vorurteilsforschung und Linguistik oft berühren und wo sich Probleme und Konflikte aus multilingualem und multikulturellem Kontakt ergeben können. Diese erklären sich soziologisch aus Versuchen der dominanten Gruppe, sozialen Aufstieg für ihre Mitglieder zu sichern (oft gegenüber Allochthonen), aber auch aus einem Gefühl der Bedrohung (Autochthone), da sich durch den Zuzug anderer Gruppen die eigene Identität zu verwischen scheint.

Drittens bleibt das Problem der Sprachen in der Europäischen Union weitgehend undiskutiert und deshalb ungelöst. Was immer die Lösung sein wird – drei, vier, elf oder mehr Arbeitssprachen – das Europa der Zukunft wird nicht einsprachig sein. Der Beitritt der skandinavischen Nachbarn – Länder, die traditionell Englisch als Zweitsprache bevorzugen – und Österreichs zur Union konnte – so glaube ich – das bisherige sprachliche Machtgleichgewicht in Brüssel, Luxemburg und Straßburg infrage stellen und hat bereits die Debatte neu belebt (so Österreichs und Deutschlands Weigerung, an nicht-deutschen Konferenzen der EU teilzunehmen).

Viertens müssen wir uns mit den Sprachkonflikten entlang der Grenzen der EU mit den früheren Ostblockstaaten auseinandersetzen, wo Sprache mehr und mehr zu einem Symbol wiedererwachenden Nationalismus zu werden scheint. Hier muss zwischen Konflikten mit historischen Wurzeln und solchen, die künstlich – aus Gründen der Grenzverschiebung, der Staatsneugründung oder einfach aus ideologischen Motiven – entfacht wurden, unterschieden werden.

Mögliche Ursachen für Sprachkonflikte existieren demnach überall in der Welt wie auch in Europa, die sich häufig als polarisierende Tendenzen bemerkbar machen: Neben länderübergreifenden Zusammenschlüssen (NAFTA in Nord- und Mittelamerika, die Europäische Union) nehmen gleichzeitig Nationalismus und Regionalismus zu (Euregio, Alpen-Adria-Regio, Neugründungen wie Slowenien, Estland u.v.a.). Aus der Geschichte kennen wir die möglichen Konsequenzen der Unterdrückung von Konflikten. Deshalb sollten wir als Linguisten sinnvolle Beiträge zur Konfliktanalyse, Beschreibung und Kontrolle komplexer linguistischer Situationen leisten, wie sie sich vor den Augen des Forschers welt- und europaweit tagtäglich abspielen.

Eine breit angelegte und nicht durch modisch eingeengte Definitionswut erschlossene kontaktlinguistische Perspektive bewahrt den europäischen Linguisten einerseits vor nationalphilologischer und monolingualer Borniertheit, andererseits vor luftigen Theoriekonstruktionen fern jeder empirischen und historischen Fachkenntnis – womit die Kontaktlinguistik sich als eine der geeigneten Wissenschaftsdisziplinen erweist, die gerüstet ist, der zunehmenden Bedeutung von Sprache im zukünftigen Europa Rechnung zu tragen.

Und Ungarn? Gilt das hier Gesagte nicht auch in besonderem Maße für die sprachpolitische Zukunft Ungarns? Ein kleines Land wie Kuwait rückte einst in den Mittelpunkt des Weltgeschehens wegen seiner Erdölreserven, einer natürlichen Wirtschaftsressource. Ungarn verfügt keineswegs über ausreichende Bodenschätze, die das Land für die übrige Welt ökonomisch interessant machen könnten. Allerdings verfügt Ungarn für sich selbst und für Europa über andere natürliche Ressourcen, die noch nicht in vollem Maße genutzt werden, nämlich über Sprachen, die von zahlreichen Minderheiten, die alle auch gleichzeitig in genügendem Maße des Ungarischen als Staatssprache mächtig sind, als Nachbarsprachen (so Slowakisch, Slowenisch, Kroatisch, Rumänisch) und als Weltsprache (Deutsch) muttersprachlich erlernt und in Ungarn seit langem beheimatet sind.

Inzwischen gehört die jüngst verabschiedete Minderheitengesetzgebung der Ungarn zu einer der fortschrittlichsten weltweit und steht der noch stets nicht von allen EU-Mitgliedern ratifizierten Minderheitencharta kaum nach. Ihre konsequente Umsetzung in die alltägliche Sprachpraxis bei gleichzeitiger Förderung wichtiger internationaler Sprachen aus West und Ost im Bildungssystem würde Ungarn vermutlich im friedlichen Wettkampf mit den übrigen „Erweiterungskandidaten” der EU einen Vorsprung gewähren, dessen Folgen sich nicht nur im kulturellen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich positiv bemerkbar machen würden.

Die Ergebnisse der Forschung von „Ökonolinguisten” und Sprachplanern wie Grin und Vaillancourt lassen sich in mancher Hinsicht auf Ungarn übertragen. Das hieße, dass sich wohl auch für die Ungarn jeglicher Muttersprache Mehrsprachigkeit auf der Basis dieser nationalen Sprachen lohnen und bezahlt machen würde. In Abwandlung einer weisen Voraussage des Reformers Gorbatschows – wer zu spät mehrsprachig wird, den bestraft der Sprachenmarkt – wird sich in einem europäischen Partnerland Ungarn die bislang so gehegte, weltanschaulich und historisch begreifliche Einsprachigkeit in einem neuen Verständnis der Interdependenz von Sprache, Kultur, Wirtschaft und politischen Einfluss endgültig verabschieden.

 

Literatur

de Bot, Kees: ‘Nelde’s Law’ Revisited: Dutch as a Diaspora Language. In: W. Wölck/A. de Houwer (Hgs.), Recent Studies in Contact Linguistics (Plurilingua XVIII), Dümmler, Bonn 1997, 51–59.

Breitenstein, Rudolf: Der hässliche Deutsche? Beck, München 1968.

Christ, Herbert: Fremdsprachenunterricht und Sprachenpolitik, Klett-Cotta, Stuttgart 1980.

Christ, Herbert: Fremdsprachenunterricht für das Jahr 2000, Klett-Cotta, Stuttgart 1992.

Goebl, Hans/Nelde, Peter e.a. (Hgs.): Kontaktlinguistik I, de Gruyter, Berlin und New York 1996.

Goebl, Hans: Die altösterreichische Sprachenvielfalt und -politik als Modellfall von heute und morgen. In: U. Rinaldi/R. Rindler-Schjerve/M.Metzeltin (Hgs.), Sprache und Politik, Istituto Italiano di Cultura, Wien 1997, 103–121.

Grin, François: The Economics of Language: Survey, Assessment and Prospects. In: International Journal of the Sociology of Language 121 (1996), 17–44.

Haarmann, Harald: Multilingualismus I, II, G. Narr, Tübingen 1980.

Mattheier, Klaus: Sprachkonflikte in einsprachigen Ortsgemeinschaften. Versuch einer Typologie. In: E. Oksaar (Hg.), Spracherwerb, Sprachkontakt, Sprachkonflikt, de Gruyter, Berlin und New-York 1984, 197–204.

Nelde, Peter: Volkssprache und Kultursprache, Steiner 1979, Wiesbaden.

Nelde, Peter/Strubell Miquel/Williams Glyn: Euromosaic (I) – Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprachgemeinschaften in der Europäischen Union, Amt für amtliche Veröffentlichungen der EG 1995, Luxemburg.

Nelde, Peter/Strubell Miquel/Williams Glyn: Euromosaic (II), 1998.

Oksaar Els: Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt, Sprachkonflikt. In: P. Nelde (Hg.), Sprachkontakt und Sprachkonflikt, Steiner, Wiesbaden 1980, 43–52.

Begegnungen14_Mattheier

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:131–141.

KLAUS J. MATTHEIER

Sprachinseln als Arbeitsfelder

Zu den zentralen Forschungsdimensionen der Erforschung deutscher Sprachinseln

 

Verehrter Jubilar, lieber Herr Manherz,

 

Sie wissen sicherlich nicht, dass Sie derjenige gewesen sind, der als erster mein wissenschaftliches Interesse an den ungarisch-deutschen Sprachinseln und an der Sprachinselforschung überhaupt geweckt hat. Bei unserem ersten Treffen in Budapest, an dem ich als Dekan der Neuphilologischen Fakultät und offizieller Repräsentant der Heidelberger Partneruniversität der ELTE anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Gründung des Germanistischen Seminars teilnehmen durfte, legten Sie persönlich durch einen Vortrag und in einer Reihe von interessanten Gesprächen den Grundstein für mein Interesse an ungarischen Sprachinseln und an Sprachinseln im allgemeinen. Dafür möchte ich mich bedanken, indem ich Ihnen einige Überlegungen zu den unterschiedlichen Dimensionen der Erforschung von Sprachinseln und der vielfältigen Verknüpfung mit vielen verschiedenen Teilbereichen der Germanistischen Linguistik und der Sprachwissenschaft überhaupt widme.

Das sprachsoziologische Phänomen „Sprachinsel“ ist weltweit in den verschiedensten Konstellationen in der Vergangenheit und in der Gegenwart verbreitet. Immer dann, wenn irgendwo in der Welt eine Kommunikationsgemeinschaft als Sprachminderheit von ihrem eigentlichen Sprachmutterland geographisch getrennt ist und von einer sprachlich differenten Kontaktgesellschaft umschlossen bzw. überdacht wird, sprechen wir von einer Sprachinselkonstellation (Mattheier 1994). Von einer Sprachminderheit unterscheidet sich eine Sprachinsel durch eben die Existenz eines Sprachmutterlandes, durch dessen Einflussnahme die Sprachinsel zusätzlich geprägt wird. Das gilt für die Hindi sprechenden Siedlungen auf Mauritius und Fidji (Moag 1977) ebenso wie für die mittelbairisch sprechenden Sprachinseln im ungarischen Bergland, die das Forschungsgebiet unseres Jubilars sind.

Sprachinseln sind jedoch nicht nur heute in allen Weltregionen verbreitet, und man hat fast den Eindruck, dass viele Sprachinseln durch die vielfältigen Migrationsbewegungen und Vertreibungen derzeit neu im Entstehen sind. Wir müssen damit rechnen, dass auch in früheren Zeiten immer wieder überall Sprachinseln von der gerade erwähnten Art entstanden sind, von denen die meisten inzwischen von umgebenden Kontaktgesellschaften assimiliert worden sind. Dabei hat es – wenn man die zentralen Sprachinselbereiche überblickt – nur vordergründig den Anschein, dass Sprachinseln an bestimmte gesellschaftliche Strukturen gebunden sind, etwa an eine eher ländliche Produktionsweise. Sicherlich sind ländliche Regionen ganz allgemein nicht den zentralen Prozessen gesellschaftlichen Wandelns mit der gleichen Intensität ausgesetzt wie städtische Regionen. Doch zeigen die chinesischen und italienischen Sprachinseln in Manhattan, ebenso wie die türkische Sprachinsel in Berlin-Kreuzberg, dass beim Vorliegen von ausreichend starken „maintenance-Faktoren“ auch städtische Sprachinseln über viele Generationen hinweg Stabilität aufweisen können.

Und auch in der Vergangenheit haben die zahlreichen niederdeutschen Sprachinseln, die über Jahrhunderte den Ost- und Nordseeraum geprägt haben, ebenso wie italienische Sprachinseln etwa in den süddeutschen Handelsstädten, einen städtischen Charakter.

Die hier erkennbar werdende weite Verbreitung des sprachsoziologischen Phänomens „Sprachinsel“ hat nun keinesfalls eine intensive internationale wissenschaftliche Beschäftigung damit ausgelöst. Sprachinselforschung wird international nicht einmal als ein gesonderter Forschungsbereich angesehen. Sie wird in der Regel im Rahmen der Sprachminoritätenforschung mitbehandelt, obgleich Sprachminoritäten sowohl soziolinguistisch als auch linguistisch und dialektologisch unter völlig anderen Rahmenbedingungen stehen. Das zeigt sich daran, dass Sprachinselvarietäten häufig von den Sprachentwicklungen des Mutterlandes beeinflusst werden, oder dass es sprachenpolitische Einflüsse des Mutterlandes, etwa durch Unterhaltung eines Minderheitenschulsystems, gibt. Bei eigentlichen Sprachminoritäten, wie dem Sorbischen oder dem Bretonischen, sind derartige Einflüsse nicht möglich, weil der Bezug zu einem Sprachmutterland fehlt.

Eine spezielle wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen „Sprachinsel“ gibt es, soweit ich sehe, ausschließlich in bezug auf deutschstämmige Sprachinseln und in der deutschen Forschungstradition. Hier aber lässt sich das Forschungsinteresse an Sprachinselphänomenen zurückführen auf einen der Gründerväter geisteswissenschaftlichen Denkens überhaupt. Kein geringerer als Wilhelm Gottfried Leibniz äußert im Zusammenhang mit seinen Plänen zum Ausbau einer deutschen Fach- und Wissenschaftssprache am Ende des 17. Jahrhunderts in einem Brief an Professor Potesta den Wunsch nach einem „Specimen vokabulorum et modorum loquendi Saxonibus Transsylvaniae”. Obwohl schon zwei Jahrhunderte früher Georg Reicherstorffer auf eine Reihe von sprachlichen Ähnlichkeiten zwischen dem Siebenbürgischen und dem Kölnischen hinwies, kann man mit Leibniz den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Sprache von Sprachinseln ansetzen. Dabei geht es hier um den ältesten heute noch bestehenden deutschstämmigen Sprachinselbereich, das durch den ungarischen König Géza der II. (1141–1162) gegründete Siebenbürgen (Klein 1966; Scheiner 1896).

Von einer intensiven und systematischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit deutschstämmigen Sprachinseln kann man jedoch erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der sog. „Heimatbestimmungsmethode’, durch die anhand von Vergleichen zwischen Mundart in der Sprachinsel und im Mutterland fundierte Informationen über die historische Heimat der Siedler erwartet wurden.

Die Erforschung von Sprachinseln hat in den letzten etwa 125 Jahren einmal reiche Informationen über den Gegenstand selbst ergeben. Hinzu kommt, dass die Sprachinselforschung für die verschiedensten Bereiche der Germanistischen Linguistik und der Sprachwissenschaft generell wichtige Forschungsergebnisse erbracht hat. Zwar stieß man mit der Heimatbestimmung auf erhebliche methodische Schwierigkeiten, aber im Bereich der Soziolinguistik und auch der Kontaktlinguistik sowie der Sprachwandelforschung erweist sich dieser Wissenschaftsbereich als ein geradezu ideales Feldlabor. So hat schon der „Vater der Sprachinselforschung’, Viktor Schirmunski, darauf verwiesen, dass Entwicklungen, die im Mutterland wegen der stabilen gesellschaftlichen Strukturen Jahrhunderte in Anspruch nehmen, in Sprachinseln so schnell ablaufen, dass sie direkt beobachtbar werden. So hat er die Koineisierung in den russlanddeutschen Mundarten etwa 150 Jahre nach ihrer Gründung schon beobachten und beschreiben können.

Ich werde in diesem Beitrag die reizvolle Aufgabe, eine Geschichte der deutschen Sprachinselforschung zu skizzieren, beiseite stellen. Nicht unter historischer Perspektive werde ich die bisherige Sprachinselforschung sichten und strukturieren, sondern in systematisierender Absicht. Dadurch sollen in erster Linie jüngeren Wissenschaftlern einige Kategorien geliefert werden, anhand derer sie ihr eigenes Forschungsinteresse an der Sprachinselforschung positionieren können.

Unterschieden werden dabei zwei Gegenstandsbereiche, die Varietätenlinguistik und die Kontaktlinguistik, je nachdem, ob die autochthonen Sprachverhältnisse innerhalb einer Sprachinselgemeinschaft untersucht werden sollen, oder ob die Wechselwirkung zwischen der autochthonen Sprache und der Sprachlichkeit der allochthonen Umgebungs- bzw. Überdachungsgesellschaft thematisiert werden soll. Jeder dieser beiden Bereiche kann nun in der Forschung unter statischem Aspekt oder unter dynamischem Aspekt angegangen werden. So erschließt etwa der Atlas der texasdeutschen Mundarten (Gilbert 1972) eine varietätenlinguistische Fragestellung innerhalb der texasdeutschen Sprachinselbereiche unter statischem Gesichtspunkt, indem er den gegenwärtigen Stand des Deutschen fixiert. Die Zurückdrängung der deutschen Varietäten aus einer ursprünglich niederdeutschen Sprachinsel in Iowa, die von Birgit Mertens (1994) untersucht wird, thematisiert den kontaktlinguistischen Bereich, aber unter dynamischerem Aspekt als der derzeit ablaufende Prozess.

Die beiden genannten Gegenstandsbereiche werden weiterhin unterschieden nach der speziellen Fragestellung, die an die Varietäten- bzw. an die Kontaktlinguistik herangetragen wird. Hier geht die Forschung entweder strukturlinguistisch vor, indem die Varietäten und die Kontaktsprache bzw. ihr Einfluss aufeinander (struktur)linguistisch beschrieben wird, oder die Forschungsfragestellung ist sprachsoziologisch ausgerichtet, indem es um die gesellschaftlichen Bindungen und Funktionen des Varietätenkontaktes bzw. der Wechselwirkung zwischen Sprachinsel und Umgebungsgesellschaft geht. Drittens stellt auch die Region eine zentrale Kategorie für die Strukturierung der Sprachinselforschung dar, da viele Sprachinseln eine teilweise große räumliche Erstreckung und dialektgeographische Variationen aufweisen, ebenso wie die umgebenden Kontaktvarietäten. Man denke etwa an den pennsylvaniadeutschen Akzent des Englischen im Umfeld der Sprachinseln (Kopp 1999). Auf eine darüber hinaus mögliche vierte Perspektivierung der Forschungsansätze der deutschen Sprachinselforschung – die Einordnung nach gegenwartsbezogenen vs. historischen Sprachinseln – werde ich hier verzichten. Sicherlich ergeben sich bei der Erforschung historischer Sprachinseln teilweise erhebliche methodische Schwierigkeiten, insbesondere bei der Datenerfassung. Man denke da an niederländische Sprachinseln östlich der Elbe, die im 12./13. Jahrhundert entstanden und heute nur noch an wenigen dialektologischen bzw. namenkundlichen Besonderheiten erahnbar sind. Doch prinzipiell wird man dasselbe theoretisch-methodische Analyseinstrumentarium verwenden, das auch sonst zur Verfügung steht.

Wenn wir diese Faktoren systematisch miteinander in Beziehung setzen, ergeben sich 12 Forschungsansätze, die sich immer wieder in der Forschungsgeschichte und der gegenwärtigen Erforschung von Sprachinseln zeigen. Ich werde im folgenden diese 12 Forschungsansätze der Sprachinselforschung kurz skizzieren und veranschaulichen, und dabei zugleich auch die Frage stellen, wohin der Weg der Sprachinselforschung führen wird. Beginnen werde ich mit Forschungsansätzen, die sich ausschließlich auf die autochthonen Varietäten in einer Sprachinselkonstellation beziehen. Hier kann einmal die linguistische Struktur der einzelnen Sprachinselvarietäten beschrieben werden, also die Phonologie, die Morphologie und die Syntax sowie der Wortschatz. Obgleich das prinzipiell möglich wäre, wird für eine derartige innerlinguistische Beschreibung einer Sprachinselvarietät so gut wie nie ein strukturlinguistischer Ansatz im strengen Sinne gewählt (vgl. Ferré 1994), wie das etwa bei wirklichen Sprachminderheiten mit isolierten Sprachen, wie dem Baskischen, sicherlich der Fall ist. Die Beschreibungen von Sprachinselvarietäten wählen in der Regel, wie auch die Dialektologie, vergleichende Analyseansätze. Dabei kann die Vergleichsvarietät entweder ausschließlich ordnende Funktion haben, wobei sowohl der überdachende autochthone Standard als auch eine historische Vorform, etwa das Mittelhochdeutsche, für den Vokalismus und das Westgermanische für den Konsonantismus gewählt werden. Es ist aber auch möglich, dass das Bezugssystem als eine reale oder postulierte historische Vorform für die belegten Sprachinseldialektformen angesehen wird. Dann erhält der Forschungsansatz einen eher dynamischen Charakter, insofern mit der Varietätenbeschreibung zugleich eine Entwicklung von der Vorform zur jetzigen Form angenommen wird. So vergleicht etwa Damke (1997) die zentralen Lautveränderungsprozesse in der von ihm untersuchten südbrasilianischen Sprachinsel mit den Dialektverhältnissen im Herkunftsgebiet Hunsrück. Und Schirmunski vergleicht die deutschstämmigen Newa-Mundarten auf der Vergleichsfolie des Mittelhochdeutschen (1926/27).

Obgleich schon in diesem Forschungsansatz wegen des vergleichenden Zugriffs in gewisser Weise nicht mehr eine rein statisch beschreibende, sondern eine dynamische, eine mögliche Veränderung widerspiegelnde Entwicklung angenommen wird, sollte man den dynamisch beschreibenden Forschungsansatz doch deutlich davon unterscheiden. Hierbei handelt es sich um sprachliche Entwicklungen, die sich aus dem Miteinander verschiedener autochthoner Varietäten in einer Sprachinselgemeinschaft herausbilden. Wenn, womit sehr häufig zu rechnen ist, in der Anfangsphase einer Sprachinselbildung eine Varietätenmischungskonstellation vorliegt, dann hat man schon früh eine gemeinsame Weiterentwicklung und einen autochthonen Ausgleichsprozess postuliert. Verschiedene Modelle aufnehmend hat Hutterer (1963) für diese Entwicklung ein Modell eines mehrstufigen Ausgleichsprozesses entworfen, durch den raumübergreifende autochthone Ausgleichsvarietäten entstehen. Solche Ausgleichsvarietäten sind etwa das Mennonitenplatt, das Hunsrückisch in Brasilien, das Pennsylvaniadeutsch und wohl auch das Ostfränkische und die beiden Typen der bairischen Ausgleichssprache in Ungarn. Auch diese Ausgleichsvarietäten können, ebenso wie die zwischen den Ausgangsvarietäten und den Ausgleichsvarietäten liegenden Zwischenvarietäten, Gegenstand von Sprachbeschreibungen werden. Daneben muss jedoch auch mit eigenständigen, nicht kontakt-sondern allgemein sprachwandelinduzierten Veränderungen in der Struktur einer Sprachinselvarietät gerechnet werden, etwa mit allgemeinen „drift’-Entwicklungen, die neue formale Eigenschaften der Ausgleichsvarietäten entstehen lassen (vgl. Salmons 1994).

Für die Beschreibung der linguistischen Struktur solcher Abbau- und Ausgleichsprozesse hat Schirmunski schon 1930 ein Entwicklungsmodell vorgeschlagen, das in der Folgezeit immer wieder von der Forschung aufgegriffen worden ist: das Modell der primären und sekundären Merkmale. Dabei geht Schirmunski von der Annahme aus, dass in einem Dialektabbauprozess zuerst die besonders hervorstechenden salienten Merkmale aufgegeben werden und die weniger hervorstechenden sekundären Merkmale in den Ausgleichssprachen häufig erhalten bleiben. Zwar ergab sich schon sehr bald das Problem der eindeutigen Operationalisierung von besonders hervorstechenden vs. weniger hervorstechenden lautlichen Merkmalen. Trotzdem gelang es Schirmunski, mit diesem Entwicklungsmodell mindestens drei russlanddeutsche Ausgleichsvarietäten in ihren lautlichen Strukturen zu beschreiben: das Neufränkische, das Neuhessische und das Neuschwäbische, in denen jeweils die im Verhältnis zur Standardsprache weniger auffälligen Merkmale der fränkischen, schwäbischen bzw. hessischen Dialekte der Siedler erhalten geblieben sind. Aber auch zwischen diesen drei Ausgleichsvarietäten lässt sich anhand des Konzeptes von primären und sekundären Merkmalen eine Gewichtung feststellen, nach der das Neufränkische häufig die Ausgleichsvarietät bildet, die am längsten erhalten bleibt. Alle bisher diskutierten Konzepte der Entwicklungsdynamik innerhalb der linguistischen Struktur von autochthonen Varietätengefügen basieren in sprachwandeltheoretischer Hinsicht ausschließlich auf varietätenkontaktinduzierten Prozessen. Die Neuerungen stammen aus koexistierenden Varietäten.

Soweit die auf die Sprachinselvarietäten bezogenen Forschungsansätze, die unter statischem und dynamischem Gesichtspunkt die jeweilige Varietätenstruktur thematisieren. Wenden wir uns nun der Soziolinguistik des Sprachinselinnenraumes zu und dem Aspekt der Gesellschaftlichkeit der Sprachinsel sowie der Verbreitung, Verwendung und Bewertung der in ihr vorkommenden autochthonen Varietäten. Im Vordergrund der Forschung sollte hier die Beschreibung des autochthonen Kommunikationsprofils einer Sprachinsel stehen, so wie man es durch systematische Beobachtung oder auch durch Fragebogenbefragung erheben kann (Mirk 1997; Gerner 1998). Häufig wird jedoch diese rein statische Darstellung der soziolinguistischen Verhältnisse vermischt mit dynamischen Aspekten, etwa des Varietätenverlustes oder des Varietätenerhalts und der dabei wirksamen Faktoren. Demgegenüber sollte am Anfang jeder Sprachinselanalyse die Erarbeitung eines detaillierten Kommunikationsprofils stehen, in dem zu drei bzw. vier Bereichen Informationen zusammengestellt werden sollten: zur Verbreitung der vorhandenen autochthonen Varietäten innerhalb der Sprachinsel, zum Erwerb dieser Varietäten, zu den Gebrauchssphären und Funktionen der einzelnen Varietäten, und schließlich zur offenen und latenten Bewertung. So ist das „Kirchenhochdeutsch“ unter den Old Order Amish in Big Valley, Pennsylvania, nur unter den Predigern und sonstigen Amtsträgern verbreitet, die diese Kompetenz auf der Grundlage rudimentärer Schulkenntnisse durch Bibellesen aufbauen. Auch die Gebrauchssphäre des Kirchenhochdeutschen ist sehr eng an den Gottesdienst und das Liedersingen gebunden, seine Bewertung ist jedoch, zumindest im offiziellen Wertbereich, als Sprache der Bibel sehr hoch.

Da die Sprachinselbewohner in vielen Fällen jedoch nicht nur über die allochthone Sprachinselvarietäten verfügen, sondern mindestens bilingual sind, weil sie auch über die allochthonen Kontaktvarietäten verfügen, ist es sinnvoll, die Erarbeitung eines Kommunikationsprofils der Sprachinselsprecher zugleich auf die Kontaktsprache auszuweiten, die fast immer in festen Sprachwechselbeziehungen zu den autochthonen Varietäten steht. Konstellationen, in denen die Kontaktsprache nicht zum Spektrum der Ausdrucksmittel in einer Sprachinsel gehört, sind heute selten. So geht man davon aus, dass die einwandernden Deutschen in Ungarn, insbesondere in ländlichen Regionen, verhältnismäßig lange kein Ungarisch gelernt haben, eine Konstellation, die man wohl auch für die ersten 100 Jahre der Sprachinseln in Rußland annehmen kann.

Forschungen zur Soziolinguistik der Entwicklungsdynamik und der Veränderungsprozesse innerhalb einer Sprachinsel hat man schon früh mit dem Konzept der Mutter- und der Tochtersprachinseln erfassen wollen. Tochtersprachinseln sind dabei soziolinguistisch und linguistisch durch Merkmalkonstellationen geprägt, die ihrerseits aus den Muttersprachinseln stammen und keine direkte Verbindung mehr zum Sprachmutterland haben. Innerhalb der einzelnen Sprachinsel, die durch Varietätenmischung geprägt ist, hat man in der Forschung häufig eine Entwicklung beobachtet, die Schirmunski als Koineisierung bezeichnet hat. Da eine überdachende autochthone Standardvarietät fehlt, tritt eine der Ausgleichsvarietäten der Sprachinsel an die Stelle der Standardvarietät. Derartige Koineisierungen haben wir etwa im Plautditsch, dem Mennonitenplatt vor uns (Moelleken 1987), aber wohl auch in dem Predigerdeutsch der Hutterer (Rein 1977). Beides sind Varietäten, die innerhalb der jeweiligen Sprachinsel auch Funktionen erfüllen, die sonst einer Standardvarietät zukommen.

Die dritte Dimension, unter der man in der Forschung die Varietäten einer Sprachinsel betrachtet hat, ist die räumliche Ausdehnung der Sprachinsel. Das zentrale Forschungsmittel hinsichtlich der regionalen Ausdehnung einer Sprachinsel ist die Sprachinselkarte bzw. der Sprachinselatlas. Beispiele dafür sind der Atlas der texasdeutschen Mundarten (Gilbert 1972), der „Word Atlas of Pennsylvania German“ (Seifert 2001) oder auch der Wolgadeutsche Sprachatlas (Berend 1997). Solche Atlanten stehen in der Regel vor dem Problem, dass Sprachinseln selten geschlossene Räume bilden, in denen ausschließlich Siedler der autochthonen Gruppe leben. In Pennsylvania etwa ist die Siedlungsdichte der Pennsylvaniadeutschsprechenden nirgends höher als 25 Prozent, so dass die Pennsylvaniadeutschen in der Regel keine autochthonen, sondern allochthone Nachbarn haben. Trotzdem zeigen alle Sprachatlanten von Sprachinselregionen, dass die Sprachinselvarietät durchaus regionalspezifische Differenzen aufweisen und innerhalb der Sprachinsel „Varietätenräume“ bilden. So zeigen sich etwa in den Karten des „Word Atlas of Pennsylvania German” oft Dialektdifferenzen zwischen dem Pennsylvaniadeutschen von Lancaster County und Berks County (Seifert 2001: 97).

Die Forschungsfrage nach den dynamischen Aspekten der regionalen Verbreitung von Sprachinselvarietäten thematisiert einen Bereich, der seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprachinseln immer wieder im Zentrum des Interesses gestanden hat: die Frage, ob durch einen systematischen Vergleich einer Sprachinselvarietät mit ähnlichen Varietäten im Mutterland Informationen über die ursprüngliche Herkunft der Siedler gewonnen werden können. Der siebenbürgisch-sächsische Wissenschaftler Kisch hat diese These 1927 mustergültig formuliert. Er schreibt:

Ich, der ich siebenbürgische Mundart von (Nieder-)Wallendorf bei Nösen (Niesen) als Muttersprache zu beherrschen glaube, erkläre im Bewusstsein der Tragweite dieser Behauptung, dass ich mich heute, nach 800jähriger Trennung meiner Vorfahren von der urheimatlichen Scholle, mit den Bewohnern von Wallendorf (bei lux. Nösen/Niesen) [...] ohne nennenswerte Schwierigkeiten mindestens ebenso leicht verständigen kann, als z.B. mit den ebenfalls rein siebenbürgisch-sächsisch sprechenden Bewohnern der Gemeinden des Burgenlandes. Das ist doch kein Zufall! (Klein 1966: 4).

Diese These war und ist auch heute noch für die Siedlungsgeschichte, auf die die Sprachinselbildung zurückgeht und damit verbunden auch für die ethnische Verankerung der Sprachinseln im Mutterland, von Bedeutung. Hinzu kommt aber noch ein sprachhistorisch bedeutsamer Aspekt. Wenn etwa die Russlanddeutschen, die seit 1767 aus dem Deutschen Reich nach Russland einwanderten, aus ihrem westmitteldeutschen Heimatgebiet die Passivbildung mit geben mitbringen, so weiß der Sprachhistoriker, dass diese Form mindestens seit der frühen Neuzeit in dem Raum heimisch ist. Dialektmerkmale der Sprachinselmundarten geben Auskunft über die Chronologie von sprachhistorischen Entwicklungen im Herkunftsland. Jedoch ist die Tragfähigkeit der These von der Heimatbestimmung immer wieder mit gewichtigen Argumenten infrage gestellt worden. So hat Veith gezeigt, dass selbst eindeutig scheinende Herkunftsbestimmungen, historisch überprüft, in die Irre führen (Veith 1969).

Wenden wir uns nun dem zweiten Gegenstandsbereich der Sprachinselforschung zu, dem Bereich des Kontaktes zwischen den autochthonen Varietäten und der umgebenden und/oder überdachenden Kontaktsprache. Dieser Bereich ist in der auf den Osten Europas gerichteten Sprachinselforschung lange Zeit nur am Rande behandelt worden. Für den russlanddeutschen Raum finden wir erst nach der Revolution erste Ansätze zur Beschreibung des Einflusses des deutschen Wortschatzes durch den „revolutionären“ russischen Wortschatz. Und systematisch werden die linguistischen Wechselwirkungen zwichen Russisch und Russlanddeutsch in Russland erst nach dem II. Weltkrieg und der Zeit der Wirren in den 60er Jahren untersucht (Berend; Jedig 1991: 167ff.). Das geschieht theoretisch-methodisch durchweg, indem Interferenz- und Transferenztypen zwischen den beiden Sprachen beschrieben und analysiert werden.

Seit dem Erscheinen einer Reihe von einschlägigen Arbeiten zur strukturellen Modellierung von Interferenzprozessen, etwa der Arbeiten von Thomason/Kaufman (1988) und van Coetsem (1988), scheint sich hier insbesondere im Bereich der amerikanischen Sprachinseln ein Neuansatz herauszubilden (Louden 1994). Die strukturelle Beschreibung der Beziehungen zwischen den allochthonen und den autochthonen Varietäten in einer Sprachinsel weist in der Regel auch immer einen dynamischen Aspekt auf, da es sich dabei durchweg um Interferenzprozesse oder durch solche Prozesse ausgelöste systemeigene Entwicklungen handelt. Aber gerade die angemessene Differenzierung zwischen Prozessen innerhalb der Ausgangsvarietäten und Prozessen, die als kontaktinduziert angesehen werden können, stellt ein zentrales und noch weitgehend ungelöstes Problem dar (Huffines 1994; Salmons 1994).

Die Soziolinguistik und die Pragmatik des Kontaktes zwischen Sprachinselvarietät und Kontaktvarietät ist schon lange Zeit und auch heute eines der zentralen Forschungsgebiete der Sprachinselforschung. Unter statischem Gesichtspunkt geht es hier um die Beschreibung und Analyse des Gesamtkommunikationsprofils einer Sprachinsel, wobei nach Timm (1981) häufig sogar sowohl der autochthone als auch der allochthone Bereich verschiedene Varietäten aufweisen: Man denke etwa an Konstellationen, in denen die autochthone Varietät und auch die allochthone jeweils eine oder mehrere H-Varianten und L-Varianten aufweisen. So hat bei Hutterern die autochthone Varietät sowohl eine L-Variante (das Grundhutterisch) als auch eine H-Variante (das Predigthutterisch). In Pennsylvania hat das Amerikanisch eine H-Variante, die in der Schule gelehrt wird, und eine L-Variante, die eine dialektale Akzentfärbung des pennsylvanischen Englisch aufweist (Kopp 2001).

Während die H/L-Analyse Informationen über die Rangverteilung der vorhandenen Varietäten liefert, stellt eine Domänenanalyse die Verteilung der Funktionsbereiche auf die vorhandenen Varietäten beider Sprachen dar. So zeigt etwa eine solche Analyse im ungarndeutschen Bereich, dass das Hochdeutsche innerhalb der Sprachinsel trotz seiner Präsenz in der Schule und im Alltag nur eine sehr isolierte Position hat und ausschließlich zum Medienkonsum sowie im Kontakt mit autochthon Deutschsprachigen verwendet wird.

Interessante Informationen über die soziolinguistische Struktur einer Sprachinsel in ihrer kontaktlinguistischen Umgebung liefert auch eine Diglossieanalyse, die die Systematik des Wechsels (switching) zwischen den verschiedenen Varietäten erfasst. So ist etwa der Wechsel zwischen Brasilianisch und Hunsrückisch in deutschstämmigen Sprachinseln der brasilianischen Provinz Paraná ausschließlich durch die Sprachkompetenz des Kommunikationspartners bestimmt, während die Mennoniten in Paraguay ihr Plautditsch aufgeben, wenn unter Mennoniten ein geschäftliches Thema angesprochen wird.

Von großer Bedeutung, insbesondere für die weitere Entwicklung der Sprachinsel, ist auch die Attitüdenstruktur. Hier muss unterschieden werden zwischen einer ethnisch-emotionalen Attitüde und einer instrumentellen Attitüde. So hat in Ungarn der ungarndeutsche Dialekt durchaus einen hohen ethnisch-emotionalen Wert. Trotzdem ist seine Existenz derzeit sehr gefährdet. Ob die hohe instrumentelle Attitüde des Hochdeutschen, das etwa im ökonomischen Bereich gut verwertbar ist, ausreichend sein wird, um diese Varietät unter den Ungarndeutschen zu erhalten, wird sich noch zeigen müssen.

Analysen des kommunikativen Gesamtprofils einer Sprachinsel sind üblicherweise nicht auf die statische Beschreibung der derzeitigen Verhältnisse beschränkt. In der Regel bildet ein solches Kommunikationsprofil nur die Grundlage für eine „language maintenance/language loss-Analyse’. Auf die Frage nach der Erhaltungswahrscheinlichkeit einer Sprachinsel und nach den Erhaltungs- und Verlustfaktoren, die wirksam sind, konzentrieren sich heute die meisten Sprachinselanalysen. Eine Sprachinsel kann grundsätzlich drei unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen. Einmal, und das ist sicherlich der Weg der meisten Sprachinseln, kann eine Sprachinsel einen verzögerten Assimilationsprozess an die Kontaktsprache durchlaufen. Derartige Entwicklungen haben wir heute in den meisten amerikanischen Sprachinseln. Dann gibt es weitgehend stabile Sprachinseln, wie etwa die Old Order Amish-Sprachinseln in Pennsylvania und anderen Staaten. Auch sieht es so aus, dass die Sprachinseln der Deutschen im Inneren Südbrasiliens relativ stabil sind. Die dritte Entwicklungsrichtung für Sprachinseln, die es gibt, ist ein „language spread’-Prozess. So existierte etwa das Deutschtum in Schlesien im 13. Jahrhundert sicherlich in Form von mhd. Sprachinseln in einem polnisch besiedelten Gebiet. Dann verbreitete sich die deutsche Sprache und drängte die polnischen Siedlungen in eine Sprachinselposition. Durch die Wirkungen des II. Weltkrieges sind schließlich wieder deutsche Sprachinseln in polnischem Kontaktgebiet entstanden.

Die regionale Ausdehnung wird bisher sehr selten in eine Analyse des Beziehungssystems Sprachinsel-/Kontaktsprache einbezogen. Sprachatlanten beschränken sich durchweg auf die autochthonen Aspekte. Dabei ist es durchaus denkbar, dass phonologische Eigenschaften im segmentalen und suprasegmentalen Bereich ihre Wirkungen sprachenübergreifend in dem gesamten Umfeld der Sprachinsel zeigen. Der „dumb dutchman’-Akzent in Pennsylvania ist sowohl im Englischen des Raumes als auch im Pennsylvaniadeutschen ansatzweise erkennbar. Ein einzelsprachenübergreifender Sprachinselatlas könnte sicherlich interessante Einsichten in das praktische Zusammenwirken von Varietäten und Sprachen in einem mehrsprachigen Raum liefern.

Der Versuch einer systematischen Gliederung der Forschungsansätze zur Sprachinselforschung hat gezeigt, dass in den verschiedenen forschungsgeschichtlichen Epochen ganz unterschiedliche Forschungsinteressen mit der Sprachinselforschung verbunden worden sind. Dabei stehen heute ohne Zweifel die soziolinguistischen Fragestellungen im Vordergrund. Und dort ist es besonders die Erfassung der Entwicklungsdynamik von Sprachinseln, also die Frage nach der Spracherhaltung oder dem Sprachverlust, auf die sich das Interesse der Forschung konzentriert. Wünschenswert wäre jedoch, gerade unter dem Eindruck einer „boomenden“ Sprachkontaktforschung, auch der systematische Ausbau der Erforschung von Systemkontakten und sprachlichen Veränderungen unter Sprachinselbedingungen.

 

Literaturverzeichnis

Berend, Nina; Jedig, Hugo 1991: Deutsche Mundarten in der Sowjetunion. Geschichte der Forschung und Bibliographie. Marburg.

Berend, Nina 1997: Wolgadeutscher Sprachatlas. Tübingen/Basel.

Damke, Ciro 1997: Sprachgebrauch und Sprachkontakt in der deutschen Sprachinsel in Südbrasilien. Frankfurt.

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Gilbert, G. G. 1987: Linguistic atlas of Texas German. Austin.

Huffines, Marion Lois 1994: Directionality of language influence: The case of Pennsylvania German and English. In: Berend, N.; Mattheier, K. J. (Hgg.): Sprachinselforschung. Frankfurt, 47–58.

Hutterer, Claus Jürgen 1963: Das ungarische Mittelgebirge als Sprachraum. Halle (Mitteldeutsche Studien 24).

Klein, K. K. 1966: Luxemburg und Siebenbürgen. Köln/Graz.

Kopp, Achim 1999: The phonology of Pennsylvania German English as evidence of language maintenance and shift. Selinsgrove.

Louden, Mark L. 1994: Syntactic change in multilingual speech islands. In: Berend, N.; Mattheier, K. J. (Hgg.): Sprachinselforschung. Frankfurt, 73–92.

Mattheier, Klaus J. 1994: Theorie der Sprachinsel. Voraussetzungen und Strukturierungen. In: Berend, N./Mattheier, K. J. (Hrsg.): Sprachinselforschung. Frankfurt, 333–348.

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Mirk, Maria 1997: Sprachgebrauch in Pilisszentiván/Sanktiwan bei Ofen. In: Manherz, Karl (Hg.): Ungarndeutsches Archiv. Budapest, Bd. 1, 99–235.

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Rein, Kurt 1977: Religiöse Minderheiten als Sprachgemeinschaftsmodelle. Deutsche Sprachinseln täuferischen Ursprungs in den Vereinigten Staaten von Amerika. Hutterer-Schweizermennoniten und Amana/Iowa in den USA. Wiesbaden.

Salmons, Joseph 1994: Naturalness and morphological change in Texas German. In: Berend, N.; Mattheier, K. J. (Hrsg.): Sprachinselforschung. Frankfurt, 59–72.

Scheiner, A. 1896: Die Mundart der siebenbürger Sachsen. Stuttgart. 2. Aufl., Wiesbaden 1971.

Schirmunski, Viktor 1926: Deutsche Mundarten an der Newa. In: Teuthonista 5, 1926/27, 39–62.

Schirmunski, Viktor 1930: Sprachgeschichte und Siedlungsmundarten. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 18, 113–122, 171–188.

Seifert, Lester W. J. 2001: A Word Atlas of Pennsylvania German. Ed. by Mark Louden a.o. Madison.

Thomason, Sarah Grey; Kaufman, Terrence 1988: Language contact, creolization and genetic linguistics. Berkeley.

Timm, L. A. 1981: Diglossia: old and new. In: Anthropoligical linguistics 23, 356–367.

van Coetsem, Frans 1988: Loan phonology and the two transfer types in language contact. Dortrecht.

Veith, Werner H. 1969: Kuseler Mundart am Niederrhein – ein dialektgeographischer Irrtum. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 36, 67–76.

Begegnungen14_Manherz

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:117–119.

KÁROLY MANHERZ

Bemerkungen zur Position der deutschen Sprache im Hochschulbereich*

 

Da das zentrale Thema unserer Tagung Sprachenpolitik war, ist es meines Erachtens angebracht und notwendig, diesbezüglich einige Schlussfolgerungen bzw. Empfehlungen zu konzipieren, die der UDV in Vertretung der Deutschlehrer, Germanisten und Hochschuldozenten in Ungarn an das Ministerium weiterleiten wird.

1. Die Stundenzahl des Fremdsprachenunterrichts sollte in der Allgemeinbildung und auch im Hochschulbereich erhöht werden. Die zuständigen Staatssekretäre drücken zwar – laut Bericht der Kollegen – in Rundbriefen ihr Einverständnis aus, sie können jedoch die erforderlichen Finanzen nicht zur Verfügung stellen.

Gestatten Sie mir dazu einen kurzen Exkurs: 1995 musste man einen Schock im Hochschulbereich erleben, der durch einen relativ starken Personalabbau infolge der Sparmaßnahmen ausgelöst worden war. Das hatte zur Folge, dass die Universitäten und Hochschulen nicht die Lehrkräfte in den Fachbereichen dezimiert haben, sondern eben die in den Sprachbereichen tätigen. Hier wurden relativ viele entlassen bzw. Fremdsprachenzentren und Institute erfuhren eine Umstrukturierung. Eine Konsequenz daraus ist die heute z. T. mangelhafte fremdsprachliche Ausbildung an Hochschulen und Universitäten. Somit besteht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die Absolventen – nämlich dass man in Ungarn kein Diplom bekommen kann, wenn man nicht mindestens über zwei Sprachprüfungen (eine Mittelstufen- und eine Grundstufenprüfung) verfügt – und den tatsächlichen Bedingungen, da die fremdsprachliche Ausbildung an den Universitäten nicht oder nur in ungenügendem Maße gesichert werden kann.

Zur Situation im Mittel- bzw. Grundschulbereich: Das Ministerium sollte zur Kenntnis nehmen, dass – wenn in dem geplanten reformierten Abitur ein B1 und ein B2 Niveau erreicht werden soll – das mit der jetzigen Stundenzahl nicht gesichert werden kann. Die Kollegen sehen auch hier eine riesengroße Kluft zwischen der vorgesehenen Neuregelung und der heutigen Realität.

2. Wir müssen in unserem Fach DaF etwas fachspezifischer werden. Die neuen Abiturregelungen, die bald in Kraft treten, bestimmen auch die Zahl der Abiturfächer und nicht nur dies, sondern auch die Wählbarkeit der Fächer. Nach dem jetzigen System ist es noch so, dass man neben Geschichte, Mathematik und Ungarisch zwei Fremdsprachen als Abiturfach wählen darf, wobei die Fremdsprachen meistens Englisch und Deutsch, seltener Französisch oder Italienisch sind. In der neuen Regelung wird kein fünftes Wahlfach vorgesehen, auch keine Fremdsprache. Nach der Meinung der Kollegen wird dies wahrscheinlich eine Tendenz herbeiführen, bei der die meisten Schüler neben den drei Pflichtfächern Englisch wählen werden und dadurch Deutsch verdrängt wird.

Wir als Fachverband müssen die Gesetzgeber auf die Tatsache aufmerksam machen, dass Deutsch als Abiturfach, bis jetzt als zweite, sehr oft gewählte Fremdsprache – nach der Einführung der Neuregelung – gefährdet sein könnte.

3. Dem Sprachenportfolio liegt ein Konzept zugrunde, das einen relativ einheitlichen, kontinuierlichen Sprachunterricht vorsieht. Was bedeutet das? Einen kontinuierlichen Sprachunterricht von der ersten oder zweiten Klasse an bis zur fünften Klasse, wobei auch ein Wechsel der gelernten Fremdsprache möglich ist und wenn das Kind in die fünfte Klasse oder ins Gymnasium kommt, so sollte es das Fremdsprachenlernen auf Grund der bereits in der Unterstufe erworbenen Sprachkenntnisse fortsetzen.

Ich glaube, man kann mit Recht behaupten, dass zehn oder elf Jahre nach dem Systemwechsel in Ungarn die Bedingungen überhaupt noch nicht vorhanden sind, besonders im Bereich Deutsch, einheitliche Lehrwerke einführen zu können, die den Anforderungen der Rahmenlehrpläne, denen der allgemeinen Bildung sowie des Fremdsprachenunterrichts gewachsen wären.

Nur in Klammern bemerkt: Vor acht oder zehn Jahren gab es Weltbankprojekte für den Fremdsprachenunterricht. (Die neuen Projekte sehen keine Unterstützungen für den Fremdsprachenunterricht vor.) Ungefähr sechs Jahre lang lief ein eigenständiges Programm – nicht nur im Bereich der Lehrerausbildung sondern auch im Mittelschulbereich – das heute nicht mehr existiert.

Unsere Empfehlung an das Ministerium: Es sollte für die Anschaffung einheitlicher Lehrwerke aus zentralen Quellen oder Stiftungsgeldern sorgen.

Wieder nur nebenbei bemerkt: Freilich gibt es in Ungarn Stiftungen, so z. B. die Stiftung Pro Renovanda Cultura Hungariae und innerhalb dieser die Klebelsberg-Stiftung, deren Ziel es ist, den Fremdsprachenunterricht ausschließlich im Hochschulbereich jedes Jahr finanziell zu unterstützen. Das sind jedoch Einzelmaßnahmen, in deren Rahmen man kein komplettes Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache erstellen kann. Das Ministerium wollen wir auch auf diese Tatsache aufmerksam machen.

4. Unsere vierte Empfehlung betrifft die Lehrerausbildung. Das Sprachenportfolio hat schwerwiegende Konsequenzen für die Lehrerausbildung und zwar sowohl für die Deutschlehrerausbildung wie sicherlich auch für die Englischlehrerausbildung. Hier sollten Maßnahmen getroffen werden, durch die wenigstens der praktische Teil der Ausbildung so neu konzipiert werden sollte, wie das vor zehn Jahren bei der Einführung der dreijährigen Lehrerausbildung bereits der Fall war, wodurch eine realitätsangemessene Unterrichtspraxis ermöglicht worden war.

 

* Schlussworte des Präsidenten des Ungarischen Deutschlehrerverbandes

Begegnungen14_Krumm

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:39–46.

HANS-JÜRGEN KRUMM

Die Zukunft von Deutsch im vereinten Europa1

Ein Beitrag zur Feier des 60. Geburtstages von Prof. Dr. K. Manherz

 

Ich möchte, lieber Kollege Manherz, die Gelegenheit zunächst einmal nutzen, Dank zu sagen – als Besitzer beider Pässe erlaube ich mir zu sagen, den Dank vieler österreichischer wie deutscher Germanisten für viele Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit. Und ich möchte betonen, dass diese Zusammenarbeit nicht zuletzt dank Ihrer Arbeit wahrhaftig keine Einbahnstraße war und ist. Die ungarische Germanistik hat der deutschsprachigen immer schon wichtige Impulse vermittelt und ist keinesfalls ein verkleinertes Abbild der deutschen bzw. österreichischen: die kontrastive und im Weiteren die angewandte Linguistik – um bei meinem Fachgebiet zu bleiben – sind ein Paradebeispiel dafür. Unter Ihrer Schirmherrschaft hat die Budapester Germanistik durch ihre Offenheit und Reformorientierung Modelle etwa im Bereich der Deutschlehrerausbildung realisiert, die auch dann, wenn Sie inzwischen auch hier im Lande wieder eingeschränkt werden, ihre Spuren in der europäischen Fachszene hinterlassen werden.

Sie haben früher als viele andere erkannt und realisiert, dass Wissenschaft sich nicht im Elfenbeinturm verstecken darf, dass Sprachenpolitik ein zentraler Bestandteil unseres Faches ist. Sie haben in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen, z.B. im November 2001 in Wien, energische Plädoyers für die Entfaltung einer europäischen Mehrsprachigkeit gehalten und damit zugleich in einer besonderen Weise zum Lehren und Lernen der deutschen Sprache beigetragen.

Damit bin ich bereits mitten in meinem Thema: wie sieht die Zukunft der deutschen Sprache (und in dem Kontext natürlich auch der Germanistik) in einem vereinten Europa aus? Werden Germanisten überhaupt noch gebraucht oder wird das English Only unsere Bemühungen um die deutsche Sprache bald überflüssig machen?

 

1. Eine Währung – eine Sprache?

Mit dem Euro hat sich die EU eine einheitliche Währung gegeben, so dass man versucht ist zu folgern, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch eine einzige Europasprache durchgesetzt wird.

Allerdings zeigt schon die einheitliche Währung, wie viel Wert die EU-Europäer darauf legen, nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede hervorzuheben. So wie die Rückseiten der Euro-Münzen sich national unterscheiden, so gilt auch für die Euro-Briefmarken, dass ihre Motive, ja sogar ihre Gültigkeit nach wie vor national bestimmt sind.

Mobilität und Globalisierung führen nicht, wie manche fürchten, zur Nivellierung sprachlicher und kultureller Unterschiede – ganz im Gegenteil: der Musiksender MTV z.B., der ursprünglich davon ausging, seine PoP-Musik auf einem englischsprachigen Kanal weltweit erfolgreich vertreiben zu können, hat inzwischen 28 regionale Studios eingerichtet, in Europa u.a. in Paris, Barcelona, Warschau, Rom und München: „Ein regionales Programm mit Kultur und Informationen aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit," so die deutsche Programmchefin, „spendet da ein bisschen Nestwärme. ... Die eigene (im Text: deutsche) Sprache ist in dieser komplizierten Welt für manchen eine Art emotionaler Ankerplatz”2

Gleiches lässt sich für das Internet sagen: zu Beginn war das Internet tatsächlich monolingual englischsprachig, doch das hat sich geändert:

Der Anteil von Leitseiten in anderen Sprachen als Englisch ist derart angestiegen, dass der Anteil englischsprachiger Homepages 1999 nur noch 62 % gegenüber 84 % im Jahr 1995 betrug. Der Anteil der Leitseiten auf Deutsch hat sich von 4,5 % auf 13 % (= 24.251.665) nahezu verdreifacht. Der japanischsprachige Anteil hat sich von 3,1 % auf 5 % der französischsprachige von 1,8 % auf 4 % 1999 verdoppelt. Selbst auf Niederländisch gibt es inzwischen knapp 3 Mio Leitseiten.3

Meine einfache Suche unter dem Stichwort Kommunikation erbrachte kürzlich bereits 133 Leitseiten in ungarischer Sprache.

Gerade das Internet hilft, viele Sprachen in die ganze Welt zu transportieren und umgekehrt: mit dem Internet, mit dem Satellitenfernsehen, mit der beruflichen und Freizeit-Mobilität unserer Gesellschaft, begegnen uns allen, auch jüngeren Kindern schon zuhause früh andere Sprachen und Kulturen.

Werfen wir einen genaueren Blick auf die deutsche Sprache, so ergibt sich in den letzten 10 Jahren ein zwiespältiges Bild:

– innerhalb der EU gibt es zwar auch teilweise einen Anstieg der Nachfrage nach Deutsch, vor allem in Sonderfällen wie Griechenland, wo erstmals überhaupt Deutschangebote im Schulbereich einführt wurden, doch ist dieser Anstieg nicht stabil – Frankreich z.B. verzeichnet bis 1995 eine Steigerung, seit 1996 einen deutlichen Rückgang;

– in einigen Fällen innerhalb und außerhalb der EU steht dem Rückgang von Deutsch im Schulbereich eine Zunahme im Bereich der Hochschulen und Erwachsenenbildung gegenüber; eine Tendenz, die sich ja auch im deutschen und österreichischen Bildungswesen findet, wo Sprachen in der Schule vom Englischunterricht verdrängt und in Volkshochschulen und Hochschulen abgedrängt werden;

– besonders aufschlussreich ist der Vergleich zwischen West- und Mittel-/ Osteuropa, z.B. zwischen Portugal und Ungarn, Ländern mit einer etwa gleich großen Einwohnerzahl von ca. 10.2 Millionen: in beiden Ländern hat die Nachfrage nach Deutsch von 1985 bis zum Jahr 2000 zugenommen, in Portugal hat sich die Zahl von ca. 6000 Schülern im Jahr 1985 verfünffacht auf ca. 30.000 Schüler; in Ungarn hat sich die Zahl dagegen verfünfzehnfacht, wobei schon die Ausgangszahl 1985 erheblich höher lag, bei ca. 40.000, aus denen im Jahr 2000 etwa 600.000 Deutschlernende geworden sind.

Regionale Aspekte, die sprachliche Nachbarschaft z.B., die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ländern spielen eine deutliche Rolle: von denjenigen Unternehmen, die Bedarf an Fremdsprachenkenntnissen haben, gaben bei einer Befragung 1998 79 % der befragten ungarischen, aber nur 30 % der befragten portugiesischen Unternehmen an, Kenntnisse in der deutschen Sprache zu benötigen.

Menschen, die eine Sprache lernen, wollen wissen, ob sich der damit verbundene Zeitaufwand, die damit einhergehende Anstrengung lohnt. Dabei muss es nicht nur um wirtschaftliche und berufsbezogene Argumente gehen – aber gerade weil wir wissen, dass Menschen mit Sprachen positive wie auch negative Erfahrungen und Einstellungen verbinden, entwickelt sich Mehrsprachigkeit nur, wenn sie eine bildungspolitische Unterstützung findet, für die sich auch Germanisten einsetzen und Argumente liefern müssen. Die Zertifizierung von Sprachkenntnissen, wie sie hier in Ungarn üblich ist, ist ein in diesem Kontext durchaus zentraler Punkt.

 

2. Deutsch ist keine weltweite Lingua Franca, wohl aber eine europäische Sprache von internationaler Bedeutung.

Auch wenn wir gerne von der Gleichwertigkeit aller Sprachen reden, so wissen wir doch zu genau, dass Sprachen keineswegs gleichwertig sind. Im Unterschied zum Erwerb der englischen Sprache, die sicherlich inzwischen durchweg als ‘lingua franca’ gelöst von einem konkreten kulturellen Kontext gelehrt und gelernt wird, gilt für alle anderen europäischen Sprachen, dass sie nicht zu lösen sind von der jeweiligen politischen und kulturellen Geschichte und Gegenwart ihrer Sprecher. Für die deutsche Sprache zum Beispiel ist bis heute prägend, dass sie – je nach Fokus und Interesse – auch die Sprache der nationalsozialistischen Unterdrückung, die Sprache des Kommunistischen Manifestes, die Sprache Hegels und Einsteins, die Sprache der D-Mark usf., die Sprache der wirtschaftspolitisch in Europa dominierenden Bundesrepublik, die Sprache des historisch eng mit Ungarn verbundenen Nachbarlandes Österreich war und ist.

Es geht also nicht darum, vergeblich zu versuchen, der englischen Sprache den Rang abzulaufen. Im Grunde sollte man Englisch gar nicht mehr zu den zu lernenden Fremdsprachen zählen, sondern zu jenen Kulturtechniken, über die Menschen heute verfügen müssen, so wie den Führerschein oder die Fähigkeit, einen PC zu benutzen. In gewisser Weise befreit das im Hinblick auf die deutsche und andere Sprachen dazu, über die spezifischen Aspekte nachzudenken, die mit gerade dieser Sprache verknüpft sind und unter denen diese Sprache wieder attraktiv wird. Nur dann hat die deutsche Sprache eine tragfähige Zukunft auf dem Sprachenmarkt, wenn diese Spezifika beachtet werden. Ich kann aus Zeitgründen nur drei dieser Spezifika hervorheben, die für die zukünftige Entwicklung der deutschen Sprache konstitutiv sind:

Spezifikum 1: Deutsch hat eine Zukunft als europäische Sprache

Das klingt scheinbar selbstverständlich, ist es aber, wenn wir auf den Deutschunterricht in Schule und Studium, auf die Lehrpläne und Lehrbücher blicken, keineswegs.

Im vorigen Jahr erschien in der Tschechischen Republik eine Broschüre mit Informationen zum Deutschlernen. Auf dem Titelblatt gab es 5 Stichwörter:

Europa – Tschechien – Deutschland – Österreich – Schweiz.

Damit wurde für Interessenten zu Recht deutlich gemacht: Wer Deutsch lernt, lernt eine europäische Sprache, die nicht nur in einem, sondern in vielen Ländern gesprochen wird: in Deutschland ebenso wie in Österreich und der Schweiz, in Liechtenstein, Luxemburg und Belgien, aber auch in Ungarn, Polen und Tschechien.

Zu Deutsch als eine europäische Sprache gehört, dass diese Sprache überall ein wenig anders klingt, dass sich die regionalen und nationalen Varietäten unterscheiden. Was diesen „Geruch und Geschmack der Sprache", wie Harald Weinrich das einmal genannt hat, betrifft, kann man die Lernenden auf Entdeckungsreise schicken: den Klang der Sprache in verschiedenen Regionen zu entdecken, die Lebenswelten der Sprache herauszufinden, zu prüfen, wie europäisch, wie international die neue Sprache ist. Das geht im Internet ebenso wie in literarischen Texten, auf den verschiedenen Fernsehkanälen ebenso wie auf Hörkassetten und im Wörterbuch lässt sich etwas herausfinden über Deutsch als eine plurizentrische und europäische Sprache.

Eine europäische Sprache als europäische Sprache lernen heißt aber auch, dass man dabei Europa neu kennenlernen kann: Deutsch als Nachbarsprache Ungarns ist ein Thema, mit dem die deutsch- bzw. österreichisch-ungarische Vergangenheit und Gegenwart ins Spiel kommen, einschließlich der Veränderungen, die z. B. die deutsche Vereinigung und die Öffnung des Eisernen Vorhangs mit sich gebracht haben und die ein EU-Beitritt Ungarns mit sich bringen wird. Von hier aus lässt sich weiterfragen nach den Grenznachbarschaften des deutschsprachigen Raumes zu Italien, Slowenien, der Slowakei, Tschechien und Polen. Was bedeuten diese (Sprach-)Nachbarschaften politisch, kulturell, wirtschaftlich – und schließlich, was bedeuten sie sprachlich, welche Spuren haben sie in der deutschen, aber auch in der ungarischen Sprache hinterlassen?

Spezifikum 2: Deutsch hat eine Zukunft im Kontext von Mehrsprachigkeit

Das Reinheitsgebot für das deutsche Bier ist bekannt – für Sprachen gibt es kein solches Reinheitsgebot. Diese Erkenntnis gilt in ganz verschiedener Hinsicht: für die Sprache selbst – im Deutschen müssten wir auf den Kaffee ebenso wie auf den Tee, auf den Palatschinken und den Friseur ebenso wie auf das Amüsieren verzichten, würden wir auf einem solchen Reinheitsgebot bestehen. Das gilt aber auch für den individuellen Sprachgebrauch. Wenn Sie heute einen Film oder eine Packung Windeln kaufen, so sind diese in 4–12 Sprachen beschriftet – man kann sich aussuchen, in welcher dieser Sprachen man die Gebrauchsanweisung liest, so wie man im Internet bei vielen Homepages einen Sprachschalter betätigen kann, um die jeweiligen Informationen in einer ganz bestimmten Sprache zu bekommen.

Immer mehr junge Menschen bringen diese sprachliche Vielfalt bereits mit in den Unterricht und das Studium. In einer Sammlung von Sprachbiographien, die ich in den letzten Jahren durchgeführt habe, indem die 10–15jährigen jede Sprache mit einer anderen Farbe in eine Silhouette hineinmalen sollten, weisen viele Schülerinnen und Schüler bereits mit 10 Jahren mehr als 5 Sprachen nach.

„mein Herz ist ungarisch” – so kommentiert ein ungarischer Bub sein Porträt – „die wichtigsten Teile meines Körpers sind ungarisch. Mein Bauch ist italienisch, weil ich gern italienisch esse. Meine Beine sind deutsch, weil ich im deutschen Sprachgebiet lebe. Meine Arme sind englisch, weil ich zum Arbeiten im späteren Leben Englisch brauchen werde.”

Tschechisch, Slowakisch und Französisch kommen bei ihm noch hinzu.

Dieses Miteinander von vielen Sprachen wird glücklicherweise zunehmend auch für das Sprachenlernen in der Schule zum Vorbild. Ungarn orientiert sich wie die meisten europäischen Länder an dem von der Europäischen Kommission in ihrem Weißbuch ‚Lehren und Lernen – auf dem Wege zur kognitiven Gesellschaft’ 1995 formulierten Grundsatz, dass jeder Bürger seine Muttersprache und zwei weitere Fremdsprachen lernen solle. Auf den weiterführenden Schulen und im Studium werden es hoffentlich mehr sein. Das bedeutet aber zugleich, dass der Unterricht auf dieses Miteinanderlernen von Sprachen eingerichtet werden muss: Unterricht in der ersten Fremdsprache muss das Lernen weiterer Sprachen mit vorbereiten, zum Beispiel, indem Lernstrategien für das Lernen von Wörtern, das Verstehen von Texten entwickelt werden und generell die Wahrnehmung von Sprachen trainiert wird: Der Sprachunterricht in der ersten Sprache, so drücken wir das metaphorisch aus, öffnet Fenster auf weitere Sprachen, schafft Sprachaufmerksamkeit, language awareness. Der Unterricht in den weiteren Fremdsprachen muss dann allerdings systematisch aufgreifen, was schon gelernt wurde, kann Synergien nutzen, lernökonomisch vorgehen. Wird Deutsch nach Englisch oder Englisch nach Deutsch gelernt, so sollte der Unterricht nicht so tun, als säßen blutige Anfänger in der Klasse. Die Lernenden, die eine zweite Fremdsprache lernen, wissen schon viel über das Sprachenlernen, z.B. wie man sich Vokabeln einprägt, wie man einen Text versteht, auch wenn einzelne Wörter unbekannt sind. Sie wissen bereits, dass sich Sprachen in Laut und Schrift, in Wortstellung u. ä. von der Muttersprache unterscheiden. Sie wissen meist, was ein Verb ist und was ein Adjektiv. Von all dem kann Unterricht in einer zweiten oder dritten Sprache Gebrauch machen. Niemand muss mit jeder Fremdsprache neu lernen, zur Post zu gehen oder zu frühstücken. Jede weitere Sprache muss helfen, ein Stück mehr Welt zu entdecken; gerade die Nähe zu Englisch, die Tatsache, dass z.B. das Englischlernen schneller geht, wenn man schon Deutsch kann, sollte systematisch für das Sprachenangebot genutzt werden. Das könnte soweit gehen, dass Lernende, die beide Sprachen gleichzeitig lernen, gelegentlich auch gemeinsame Sprachstunden erhalten, in denen die beiden Sprachen auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht werden.

Sprachenlernen sollte als eine Entdeckungsreise in eine mehrsprachige Welt angelegt sein: in Portugal wurde ich von einer aus Deutschland zurückgekehrten Remigrantin gefragt, welches denn nun ihre Muttersprache sei, das Deutsche, mit dem sie 20 Jahre lang aufgewachsen ist, oder das Portugiesische, die Sprache ihrer Eltern und des Landes, in dem sie nun wieder lebe. Die monolingualistische Auffassung von Mensch und Nation führt zu solcher Konfliktzweisprachigkeit – in Zukunft jedoch werden die Menschen in zunehmendem Maße eine mehrsprachige Identität entwickeln, in der man sich nicht mehr nur für eine Sprache entscheiden muss. „Einsprachigkeit ist eine Krankheit”, so hat es Peter Nelde formuliert, „aber sie ist heilbar”.

Die Einführung des Sprachenportfolios des Europarats sehe ich in diesem Zusammenhang als eine wichtige Chance für Kinder und Erwachsene, sich ihres Sprachenreichtums bewusst zu werden, aber auch für die Lehrkräfte, die damit vielleicht erkennen, worauf sie aufbauen können, und nicht zuletzt für eine Gesellschaft, die vor dem vorhandenen Sprachenreichtum bislang die Augen verschließt.

Spezifikum 3: Deutsch hat eine Zukunft als Sprache, die zu interkultureller Kommunikation befähigt.

In seinen autobiographischen „Bekenntnissen” schreibt Ionesco (1984):

„Ich wurde in meiner Jugend sehr durcheinandergebracht. In der französischen Volksschule hatte ich gelernt, dass das Französische die schönste Sprache der Welt ist, dass die Franzosen das tapferste Volk der Welt sind ... In Bukarest lehrte man mich, dass die schönste Sprache der Welt das Rumänische ist, dass die Rumänen ihre Feinde immer besiegt haben ... So lernte ich, dass nicht die Franzosen, sondern die Rumänen die besten und allen überlegen sind. Gott sei Dank kam ich ein Jahr später nicht nach Japan!”

Auch Sprachunterricht bewirkt nicht unbedingt Anerkennung von Mehrsprachigkeit und Verschiedenheit: die Überlegenheit der einen Sprache (und Nation) über die andere oder gar „der Fremde als Feind” kann durchaus zentrales Motiv für das Sprachenlernen sein.

Wenn Deutschunterricht und Germanistik einen Beitrag dazu leisten sollen, dass Lernende sich in einer vielsprachigen Welt zurechtzufinden, Verschiedenheit nicht als Kriterium der Ausgrenzung sehen, sondern es lernen, Sprach- und Kulturgrenzen zu überwinden, dann geht das nur, wenn sich der Sprachunterricht der spezifischen eigensprachlichen Prägung der Lernenden bewusst ist und diese zum Thema macht.

Bereits mit dem Erlernen einer ersten Fremdsprache kann man Distanz zur eigensprachlich geprägten Weltsicht gewinnen, erst recht kann eine zweite Fremdsprache dazu führen, sich die Verschiedenheit der sprachlichen Blicke auf die Welt wie auch der individuellen Möglichkeiten sich zu verständigen, bewusst zu machen. Das Miteinander von verschiedenen Sprachen – und damit kommen ja immer auch verschiedene Lebenswelten, Kulturen ins Spiel – dieses Miteinander schafft neue Formen des Wahrnehmens und Denkens, die Voraussetzung dafür sind, dass sich die Fähigkeit zu interkultureller Kommunikation entwickelt.

In Zeiten der Globalisierung, der Mobilität und der Vernetzung gewinnen interkulturelle Fähigkeiten an Bedeutung. Ziel des Deutschunterrichts ist daher, wie der Europarat es im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen formuliert, der interkulturelle Sprecher. Es geht also nicht nur um die Fähigkeit zu grammatisch korrektem Sprachgebrauch, sondern auch um die Fähigkeit, die mit Sprache verbundenen Wertsysteme einzuschätzen, mit Missverständnissen umgehen zu können. Sprachenlernen für eine mehrsprachige Welt heißt: Sprachenlernen für eine interkulturelle Kommunikation.

Sprachunterricht gewinnt mit einer solchen Zielsetzung eine wichtige pädagogische und gesellschaftspolitische Funktion zurück, indem er seinen Beitrag dazu leistet, mit Vielsprachigkeit, mit Verschiedenheit umzugehen. Hier liegt für mich ein entscheidender Grund, weshalb wir nicht damit zufrieden sein können, dass so viele bei uns Englisch lernen. Sprachen allein dem Markt kommerzieller Sprachanbieter und der Nachfrage überlassen bedeutet, dass gerade diese kulturelle, auf den ersten Blick nicht kommerzielle Seite des Sprachenlernens zu kurz kommt.

Schluss:

Im Hinblick auf das Zusammenwachsen Europas, im Hinblick auf Mobilität und Globalisierung ist die Fähigkeit zu interkultureller Kommunikation, die Bereitschaft zur Verständigung wie auch die Bereitschaft, Vielfalt und Verschiedenheit zu akzeptieren, eine existentielle Grundlage unserer europäischen Gesellschaft. Die Germanistik und der Deutschunterricht können in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag zur Zukunftssicherung leisten.

Mit meinen Glückwünschen zu Ihrem Geburtstag, lieber Kollege Manherz, verbinde ich die Hoffnung, dass wir gemeinsam an dieser Aufgabe weiterarbeiten können.

 

Anmerkungen

1

Der Vortrag greift Gedanken auf, die auch in meinem Beitrag für die Festschrift von Prof. Manherz formuliert sind: „Deutschunterricht in einer mehrsprachigen Welt-Konsequenzen für die Deutschlehrerausbildung” in: M. Erb u.a. (Hg.), „...und Thut ein Gnügen Seinem Ambt”, Budapest 2002, 543–553.

2

„Weltweite Nestwärme”; Beitrag zum Musiksender MTV. DER SPIEGEL Nr. 44, 30. 10. 2000, 234–238.

3

Vgl. U. Ammon: Das Internet und die internationale Stellung der deutschen Sprache. In: H. Hoffmann (Hg.), Deutsch global. DuMont, Köln 2000. 241–260. Zur Stelle S. 251.