Begegnungen07_Litvan
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:33–37.
GYÖRGY LITVÁN
Die Sozialdemokratie in der Ungarischen Revolution von 1956
Als Ausgangspunkt habe ich die These des ungarischen Soziologen András Kovács gewählt: die Sozialdemokratie als Partei spielte 1956 nur eine geringe und verspätete Rolle, aber ihre Ideen und Persönlichkeiten haben in dem Revolutionsprozess eine bedeutende Rolle gehabt. Ich möchte ganz kurz über die beiden Seiten etwas sagen.
Die führenden sozialdemokratischen Politiker von allen Schattierungen wurden in den stalinistischen „fünfziger Jahren” eingekerkert, vielleicht auch in größerem Maße als die Repräsentanten anderer nichtkommunistischer Parteien – oder die Kommunisten selbst, die auch ihrem eigenen Regime in großen Zahlen zum Opfer fielen.
Ihre Freilassung wurde, nach Stalins Tod, 1954 angefangen, dauerte aber bis März 1956. Ironischerweise wurde die sogenannte Rechtssozialistin Anna Kéthly, die höchste Autorität der ungarischen Sozialdemokratie, dank der britischen Intervention bei Chruschtschow, als erste freigelassen, während der sogenannte „linke Sozialdemokrat” – besser Kryptokommunist – György Marosán, der Hauptverräter der SDP, bis zum Frühjahr 1956 sitzen musste.
Die freigelassenen Sozialdemokraten fanden nach ihren ungeheuren Erlebnissen dasselbe Regime, aber eine völlig neue Situation vor. Schon 1953, nach einer starken Kritik seitens Stalins Nachfolger an der ungarischen Parteileitung, wurde die Regierung von Imre Nagy übernommen.
Zwei Jahre später wurde er infolge seiner antistalinistischen Reformen als Rechtsopportunist abgestempelt und abgelöst, aber die Rückkehr des Diktators Mátyás Rákosi konnte die alten Verhältnisse nicht wiederherstellen. Imre Nagy blieb weiterhin der Held und die Hoffnung des Volkes, und um seine Person und sein Programm ist eine immer stärkere reformistische Strömung und eine Oppositionsgruppe innerhalb der Partei entstanden. Diese Strömung begab sich allmählich in volle Offensive.
Was für eine Opposition war das, mit den Augen von Anna Kéthly und ihrer Genossen gesehen? Mit dieser Frage kommen wir zum Verhältnis der Sozialdemokraten und der Reformkommunisten der Imre Nagy-Gruppe. Obzwar diese Opposition, diese Gruppe, die später die offizielle Bezeichnung „Revisionisten” verdiente, sich in ideologischer Hinsicht an die Sozialdemokratie näherte, war sie von ihrer kommunistischen Tradition aus eher antisozialdemokratisch eingestellt.
Imre Nagys Anhänger haben zu dieser Zeit das Prinzip des Mehrparteiensystems noch gar nicht angenommen. Sie wollten bis zur Koalitionsperiode der Nachkriegsjahre nicht zurückkehren und, was vielleicht noch schlimmer war, sie hatten persönliche oder politische Kontakte eher mit den sog. linken Sozialisten, wie Zoltán Horváth, Sándor Szalai, Pál Ignotus. Sie waren im Aufschwung, waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, und kümmerten sich wenig um die noch immer gelähmten Opfer des Einparteiensystems.
Oder kümmerten sie sich doch? Es gibt einige Legenden in verschiedenen Memoiren – und auch in den Polizeiaufzeichnungen – über die vorrevolutionären persönlichen Kontakte zwischen Kéthly und Nagy. Wenn wir aber die relativ zuverlässigen Quellen, Erinnerungen, Verhörprotokolle und Anna Kéthlys Korrespondenz benützen, können wir nur ein einziges Treffen zwischen Kéthly und den Mitgliedern der Nagy-Gruppe, und zwar Géza Losonczy und Sándor Haraszti feststellen. Das geschah im Frühherbst 1956 in der Wohnung des Schriftstellers Lajos Hatvany, und hatte kaum ein Ergebnis.
Mit Nagy selbst hatte Kéthly zu dieser Zeit unseres Wissens nach keine persönlichen Kontakte, obzwar sie einander kannten und seit 1945 sogar miteinander sympathisierten. Derzeit wurden aber die beiden überwacht, und, was noch wichtiger ist, sie hatten verschiedene Zielsetzungen.
Kéthly und ihre Genossen stellten für ihre politische Reaktivierung die klare Bedingung einer wiederhergestellten SDP, innerhalb eines pluralistischen parlamentarischen Systems. Daran scheiterte schon früher ein offizieller Versuch der MDP (d.h. der Kommunistischen Partei und deren Vertreter Károly Kiss) ihr eine Scheinposition und -rolle in der Patriotischen Volksfront anzubieten. Anna Kéthly hat das eindeutig zurückgewiesen. Etwas ähnliches geschah – obzwar in einer freundlicheren Atmosphäre – mit den Freunden und Anhängern von Imre Nagy, und das war im Wesentlichen unvermeidlich, da diese Gruppe natürlich keine revolutionäre Perspektive hatte. Was Anna Kéthly wie auch kein anderer nicht ahnen konnte, war die Fähigkeit von Nagy und seiner Gruppe, ihre Schatten überspringen zu können. Bis 1956 waren sie Reformer, kämpften für die Liberalisierung und Humanisierung des Einparteiensystems. Sie stellten sich eine Nagy-Regierung vor, mit einer beschränkten Einbeziehung einiger Repräsentanten der ehemaligen Koalitionspartner: der Kleinlandwirte, der Populisten, der Sozialdemokraten.
Vor dem 23. Oktober waren also Anna Kéthly und die anderen wahren Sozialdemokraten in das politische Leben nicht einbezogen, während der ehemalige Linkssozialist, der rehabilitierte Zoltán Horváth zum Chefredakteur von Népszava, dem traditionellen Zentralorgan der SDP, ernannt wurde. Die treuen Sozialdemokraten fühlten also, dass es nicht um ihre Sache, ihre Angelegenheit geht, sie müssen die neuen Entwicklungen abwarten. Der 23. Oktober bedeutete eine große Überraschung für sie, sowie für alle anderen im Lande und in der ganzen Welt.
Anna Kéthly und ihre Genossen waren also auf eine aktive politische Rolle in und mit der Partei und der Regierung nicht vorbereitet. Trotzdem schafften sie in einigen Tagen die Reorganisierung der Sozialdemokratischen Partei in ihrem traditionellen Gebäude (Conti Gasse), mit ihrem traditionellen Zentralorgan Népszava. Die alten Partei- und Kerkergenossen sammelten sich begeistert und waren auch darin einig, dass sie mit den Verrätern der Partei nichts zu tun haben (siehe Kéthlys Leitartikel im neugeborenen Népszava, 1. November 1956: Wir sind Sozialdemokraten!).
Bei ihrer Teilnahme in der Regierungstätigkeit stellte sich aber wieder eine Verspätung ein. Während einige Führer der Kleinlandwirtepartei (Zoltán Tildy, Béla Kovács) und der Nationalen Bauernpartei (Ferenc Erdei) schon ab 30. Oktober in der erweiterten Regierung von Imre Nagy einen Platz hatten – und das war auch den Sozialdemokraten vorbehalten – traten Kéthly und die zwei anderen Kandidaten der Partei (Gyula Kelemen und József Fischer) noch nicht ein. Sie warteten erstens auf ein besser begründetes Mehrparteisystem, zweitens auf eine demokratische Entscheidung ihrer Partei, und drittens auf die Bewilligung der Sozialistischen Internationale. Und erst am 3. November, am letzten Tag der Freiheit, wurden die drei Sozialdemokraten als Staatsminister in Imre Nagys Koalitionskabinett integriert. Sie gehörten also, zusammen mit den Kleinlandwirten, zu den vermutlich großen Parteien, während die Bauern (Petőfi Partei) und die Ex-Kommunisten (MSZMP–USAP) nur je zwei Stellen im Kabinett hatten.
Anna Kéthly konnte aber auch in diesen letzten Tagen nicht aktiv am politischen Leben und den Entscheidungen teilnehmen. Diese Tage verbrachte sie in Wien, auf der Sitzung des Büros der Sozialistischen Internationale. Sie wollte das Büro über die ungarischen Ereignisse informieren, und das Interesse war so groß, dass sie die Büro-Mitglieder kaum überzeugen konnte, die Sitzung in Budapest fortzusetzen. Kéthly sah die Lage in Ungarn gar nicht konsolidiert. Einerseits, konnte sie eine neue sowjetische Intervention nicht ausschließen, sah aber gleichzeitig auch die Gefahr einer weißen konterrevolutionären Strömung. Als Mitglied der alten Generation die 1919 den weißen Terror erlebte, war sie jetzt die erste, die ihre Stimme in dieser Sache erhob, in Budapest und auch in Wien.
Sie betonte auch die hervorragende Rolle der Arbeiterräte, und vereinbarte sich mit Oscar Pollack, Herbert Wehner und Bruno Kreisky über die Notwendigkeit, eine dringende Wirtschaftshilfe für Ungarn von den Westmächten zu erzwingen. Kreisky, als Staatssekretär im Österreichischen Außenministerium, erklärte schon früher den Wiener Botschaftern der Großmächte die Gefahr, die daraus stammt, dass die Führung in Ungarn in die Hände erfahrungsloser junger Leute übergeht.
Anna Kéthly konnte nie mehr in ihre Heimat zurückkehren. Sie versuchte es mit der Hilfe und der persönlichen Begleitung des österreichischen Innenministers Helmer. Sie mussten aber kurz nach dem Grenzübertritt wegen der massiven sowjetischen Truppenbewegungen zurückkehren. Sie wurde Emigrant, und zwar die leitende Persönlichkeit der ungarischen 56-er Emigration, Vorsitzende des ungarischen Revolutionsrates in Brüssel. So hat Anna Kéthly die Kontinuität und die Tradition der ungarischen Revolution mit der Kontinuität und Tradition der wieder erdrückten ungarischen Sozialdemokratie zusammengeknüpft.
Die beiden Traditionen waren in der Tat nicht weit voneinander entfernt. Wie schon erwähnt, hatte die Sozialdemokratie als Gedankengut und Richtung der Gesellschaftsorganisation, eine bedeutende oder sogar dominierende Rolle in der ungarischen Revolution. Diese Volksbewegung war natürlich einerseits vielfarbig, andererseits unbeendet, man kann also über ihren Charakter kaum etwas Eindeutiges und Endgültiges feststellen. Jedoch die meisten und sogar die wichtigsten gesellschaftlichen Forderungen, Zielsetzungen und Losungen kann man ruhig von sozialdemokratischer Prägung halten, wenn auch diese Quelle den Studenten oder sogar den jungen Arbeitern nicht bewusst war.
Dies galt für die Selbstbestimmung, die soziale Gerechtigkeit, die führende Rolle der Arbeiterräte, die Beibehaltung der Verstaatlichung der Großindustrie, und den demokratischen Sozialismus.
Selbst nach der sowjetischen Invasion am 4. November versuchte die SDP weiter zu wirken und zu einer Lösung der Lage für einen gegenseitigen Kompromiss einzutreten. Deshalb trat sie der Fortsetzung des allgemeinen Streiks entgegen. Alle die bedeutenden Führer der Partei – mit der Ausnahme von Anna Kéthly, blieben im Lande, so die Kabinettminister Kelemen und Fischer, und der stellvertretende Generalsekretär András Révész. Sie suchten und fanden einige Kontakte mit anderen demokratischen Politikern, z.B. István Bibó, mit anderen früheren Genossen, zogen sich aber allmählich von der politischen Aktivität zurück.
Es ist zu bemerken dass in ihrer Richtung die Vergeltung relativ mild war. János Kádár brauchte die Unterstützung der Gewerkschaften und aller Art von Sozialdemokraten die dazu bereit und willig waren. Einige ehemalige Sozialdemokraten (Marosán, Rónai, Szurdi) wurden in die oberste Parteileitung, (das Zentralkomitee, den Ministerrat) aufgenommen, andere, wie Vas-Witteg oder Kisházi, in den Gewerkschaften eingesetzt.
Dementsprechend wurden verhältnismäßig wenige Sozialdemokraten nach 1956 verhaftet und verurteilt. Selbst diesen Intellektuellen, die an der Revolution oder an den Nachhutkämpfen teilnahmen, wie Sándor Szalai oder Pál Justus, und einigen Führern der Arbeiterräte wurde erspart, für ihre Tätigkeit zahlen zu müssen. Die kleineren, im Westen unbekannten Sünder aus der Provinz aber mussten zahlen.
Zusammenfassend können wir behaupten, dass 1956 eine kurze, aber schöne und ehrwürdige Auferstehung der ungarischen Sozialdemokratie brachte. Bis zum 4. November war es zu erwarten, dass die SDP als eine der größten und einflussreichsten Parteien und als eine Stütze der Imre Nagy-Regierung eine bedeutende Rolle haben sollte.
Die nächste Gelegenheit kam 32 Jahre später. 1988–89 hat der Drang zum Mehrparteiensystem mit dem Erwecken der Sozialdemokratie begonnen, und von allen Seiten wurde eine neue Auferstehung erwartet. Was aber folgte, war eher ein Trauerspiel und die SDP – weit entfernt davon, eine der bedeutenden Parteien der Wende zu sein – konnte nicht einmal ins Parlament gewählt werden. Zwar haben mehrere Parteien Anspruch auf ihr Erbe angemeldet, doch hat sie bis heute keinen Nachfolger.
Begegnungen07_Kovacs
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:95–102.
ATTILA KOVÁCS
Ungarn und die Europäische Union
Bericht über ein Kooperationsprojekt
„Europa stellt die Weichen für seine Zukunft” – schreibt Werner Weidenfeld in seinem Europa-Taschenbuch.1 Im Zuge dieser Weichenstellung nimmt die Osterweiterung der Europäischen Union zweifelsohne eine Schlüsselposition ein. Zu einer erfolgreichen Durchführung des erweiterten Integrationsprozesses sollten unzählige Informationen über die Beitrittskandidaten aufgetrieben und vernünftig analysiert werden. Ohne die Heranziehung osteuropäischer Experten ist das Ausklügeln plausibler Erweiterungsszenarien kaum vorstellbar.
Auch diese Erkenntnis muss bei der Programmplanung der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung (Gütersloh) mitgespielt haben, auf deren Initiative im Januar 1996 ein Kooperationsprojekt mit der Federführung der Forschungsgruppe Europa (München) und unter aktiver Mitwirkung des Europa Instituts Budapest ins Leben gerufen wurde. Im Rahmen des Vorhabens sollten durch systematische Zusammenarbeit der Projektpartner Berichte und Analysen über die Vorbereitung der Visegrád-Staaten auf einen EU-Beitritt erstellt werden. An dem Projekt sind folgende Institutionen beteiligt:
– Forschungsgruppe Europa (beim Geschwister-Scholl-Institut an der
Ludwig-Maximilians-Universität, München)
– Center for Economic and Social Analyses (Preßburg)
– Europa Institut (Budapest)
– Institut für Weltwirtschaft (Budapest)
– Institute for International Relations (Prag)
– Zentrum für Forschung und europäische Bildung (Posen)
Das Europa Institut legt im Rahmen des Unterfangens Monatsberichte und Quartalexpertisen zu verschiedenen politischen Integrationsfragen vor. Im Zuge des seit über 2 Jahren laufenden Kooperationsprojektes wurden in den Monatsberichten u.a. Themen wie Sicherheitspolitik, sozialpolitische Probleme, Verhältnis der politischen Parteien zum europäischen Integrationsprozess, Angleichung der ungarischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik usw. behandelt.
Auf einer Arbeitssitzung im September 1996 in München wurde von den Projektpartnern eine vierteljährliche Erstellung von ausführlicheren Analysen zu den folgenden Problembereichen vereinbart:
– Stand der Rechtsangleichung, Strategie zur Beschleunigung des Prozesses;
– Bankensystem, Kapitalmarkt, Finanzsektor;
– Gesundheits-, Renten- und Erziehungswesen, Beschäftigungspolitik,
Soziale Sicherheit;
– Agrarsektor: Subventionen und Protektion, Entwicklungskonzepte;
– Wettbewerbsfähigkeit, struktureller Wandel, Industriepolitik;
– politischer Wille zum Souveränitätsverzicht, nationale Beitrittsstrategie, Interessengruppen.
Zur Festlegung aktueller Schwerpunkte innerhalb des gemeinsamen Vorhabens fanden sich die Vertreter der beteiligten Institutionen im Juli 1997 in Posen zu einer weiteren Tagung zusammen. Die nunmehr zur Tradition gewordene Jahresbesprechung findet demnächst im Juni 1998 in Budapest statt, wo die Bestimmung mittelfristiger Aufgaben auf der Tagesordnung steht.
Der nachstehende (in leicht gekürzter Fassung präsentierte) Monatsbericht wurde im Rahmen des Kooperationsvorhabens im März 1996 erstellt. Zu berücksichtigen ist daher, dass die im Text angegebenen Daten und Fakten an manchen Stellen nicht mehr dem aktuellsten Stand entsprechen.
Formen der grenzüberschreitenden Kooperation in Mittel- und Osteuropa aus ungarischer Sicht
Nach dem Umbruch ergaben sich in Mittel- und Osteuropa – so auch für Ungarn – neue Möglichkeiten zur regionalen Kooperation. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und des RGW entstand in der Region ein sicherheitspolitisches und wirtschaftliches Vakuum: Es entstanden neue Staaten, welche bald auch – nach der Herausbildung ihrer parlamentarischen Demokratien und der Verhältnisse der eigenen Marktwirtschaft – ihre außenpolitischen- und wirtschaftlichen Prioritäten deutlich zum Ausdruck brachten. Es stellte sich klar heraus, daß diese Länder selbst nach dem Scheitern des früheren, von der Sowjetunion gesteuerten Kooperationsmodus einer politisch-wirtschaftliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit unter gar keinen Umständen entbehren können. Nunmehr galt es, das auf demokratischer Basis umgestaltete Kontaktsystem mit neuen Inhalten zu füllen. Im Vordergrund steht zwischen den einzelnen Staaten der Region die Erweiterung der Wirtschaftskontakte, die nach der Auflösung des RGW ihren Tiefpunkt erreichten. Die aktuellen Annäherungsversuche werden zwar häufig durch heftige Debatten begleitet, doch mögen bestimmte Faktoren zur Lösung verhelfen, wie etwa die geopolitische Zusammengehörigkeit, die daraus folgende gemeinsame Vergangenheit und ihr kulturelles Erbe, und nicht zuletzt die ähnlich klingenden Zielformulierungen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses. Wie schon angedeutet, unterscheidet sich das neue System der mitteleuropäischen regionalen Zusammenarbeit in einem wesentlichen Charakterzug vom Vorgängermodell: Diesem liegt nämlich kein einheitlicher politischer Block zugrunde.
Die regionale Zusammenarbeit wird dadurch beeinträchtigt, dass die Länder der Region auf den internationalen Märkten – aufgrund der Vorgängerwirtschaftsstrukturen – eher konkurrierend als ergänzend agieren. Einen negativen Einfluss können auf ein erfolgreiches Zusammenwirken auch die – vermeintlichen oder realen – Probleme und Interessen rein örtlichen Charakters, Misstrauen, Minderheitenkonflikte und die unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen über eine mögliche Kooperation nehmen. Zur Beseitigung der stabilitätsschwächenden Risiken – wirtschaftliche und soziale Spannungen, Migration, Fremdenhass, Nationalismus, Umweltprobleme oder unentwickelte Infrastruktur – sollten die Staaten der Region gemeinsame Lösungsalternativen entwickeln und bei der praktischen Umsetzung im Einvernehmen agieren.
Für Ungarn erweist sich die Problematik des Regionalismus nach wie vor als lebenswichtig. Mit Recht stellt sich jedoch die Frage: Warum bedarf man einer engeren regionalen Zusammenarbeit, wenn alle Ex-Blockländer ohnehin einen EU-Beitritt anstreben? Die ungarische politische Führung ist der Auffassung, dass das regionale Zusammenwirken unter gar keinen Umständen mit einer möglichen EU-Mitgliedschaft alternieren sollte. Ungarn setzte sich in puncto EU langfristige, strategische Ziele, so werden diese im gewissen Sinne den regionalen Bestrebungen vorgezogen. Doch in Wirklichkeit wird der doppelte Anspruch auf eine Eingliederung ins gemeinschaftliche Europa einerseits und ein (multilateralen Regionalbeziehungen andererseits erhoben. Der Regionalismus könnte durch seine stabilisierende Komponente dem europäischen Integrationsprozess zugutekommen. Den regionalen Zusammenschlüssen sollte man allerdings keine überdimensionierte Bedeutung zuschreiben oder jene sozusagen als einen „EU-Ersatz” betrachten.
In Ostmitteleuropa handelt es sich aus ungarischer Sicht im Wesentlichen um drei – einander in mehreren Punkten überlappende – Kontaktebenen der regionalen Zusammenarbeit:
a) Die von Regierungen der Regionsländer ins Leben gerufene Mitteleuropäische Initiative (CEI, Central European Initiative), als eine umfassende Kooperationsform
b) Die Visegrád-Staaten und die CEFTA (Central European Free Trade Agreement), eine sich auf der Basis ähnlicher Entwicklungsgrade und Zielsetzungen zusammengeschlossene engere Gruppierung
c) Die Modalitäten der regierungsunabhängigen, subregionalen Zusammenarbeit (Arbeitsgemeinschaft Alpen–Adria /Alps–Adriatic Working Community/, Euroregion Karpaten /Carpathian Euroregion/)
a) Die CEI
Der Vorläufer der Mitteleuropäischen Initiative, die sog. Quadragonale wurde 1989 gegründet, von dem NATO-Mitglied Italien, dem Warschauer Pakt-Mitglied Ungarn, dem neutralen Österreich und dem unabhängigen Jugoslawien. Dabei war natürlich in erster Linie von wirtschaftlichen Kontakterweiterungen die Rede. Doch bald setzten in der Region solche historischen Ereignisse ein, die diese seltsame – doch beispielhafte – Kooperation neugestalteten: Seit der Auflösung der Bundesstaaten Jugoslawien und Tschechoslowakei, ferner nach dem Beitritt Polens zählt die Organisation 10 Mitglieder (Italien, Österreich, Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn).
Von ungarischer Seite wird die möglichst baldige Aufnahme der assoziierten Länder (Rumänien, Bulgarien, Albanien, die Ukraine und Weißrussland) befürwortet. Ungarn betrachtet die CEI als Forum der Erörterung grenzüberschreitender politischer Probleme und der Verwirklichung auf gegenseitigen Vorteilen beruhender Wirtschaftsprojekte. Man hat sich mit der Hauptzielsetzung der CEI identifiziert; einer Stellungnahme der Organisation nach kommt es darauf an, sich auf die Integration optimal vorzubereiten und die eigenen Aktivitäten „eurokonform” zu gestalten. Zu einer höheren Effizienz der Vereinigung wird auch eine vor kurzem eingerichtete Zentrale beigetragen haben: Seit dem 15. März 1996 betreibt die CEI ein eigenes Informations- und Dokumentationszentrum in Triest (CEI Information and Documentation Centre).
In den folgenden Bereichen wurden – unter besonderer Berücksichtigung der EU-Integrationspläne – bereits zahlreiche Projekte und Sonderprogramme initiiert: Infrastrukturentwicklung, Umweltschutz, Energetik, Informatik, Landwirtschaft und Rechtsangleichung. Auf ungarischen Vorschlag wurden weitere Vorhaben in Gang gesetzt, wie etwa ein umfassendes Entwicklungsprogramm der CEI-Region (CEI 2010), ein verkehrsstatistisches Projekt (CETIR, Central European Transport Information Reporting), Programme zur Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen ferner ein Fachausbildungsprogramm. Immer häufiger finden sich Vertreter der zuständigen Fachministerien zu Koordinierungsgesprächen zusammen, es werden Expertenpools gebildet, unter Heranziehung von Sachverständigen aus der EU-Kommission, der OECD und großen europäischen Geldinstituten. Zur Vorbereitung und Betreuung von Einzelprojekten nahm das EBRD–CEI-Projektsekretariat seine Arbeit – aufgrund einer bis heute gültigen Vereinbarung zwischen CEI und EBRD – bereits 1992 in London auf.
Auch die „humane Dimension” der CEI (Minderheitenrechtschutz, Jugendpolitik, kulturelle Beziehungen) sollte besser ausgebaut werden. 1994 wurde auf die Initiative von Italien und Ungarn das CEI-Dokument für Minderheitenschutz erarbeitet, das auch mit den Normen des Europarates im Einklang steht. Auch Themen wie Bekämpfung von Fremdenhass oder die Lösung der Roma-Frage sind regelmäßig auf der Tagesordnung zu halten. In die zuständigen Arbeitsgruppen sollten dem ungarischen Standpunkt nach auch die Experten der assoziierten Länder (so auch Rumäniens) eingeladen werden. Die sich unter ungarischem Vorsitz betätigende Arbeitsgruppe Migration unterhält stetige Kontakte zu den entsprechenden internationalen Organisationen. Von CEI werden über internationale Regierungsprojekte hinaus auch grenzüberschreitende Kontaktierungsvorhaben von kommunalen Selbstverwaltungen und Zivilorganisationen gefördert.
Ungarn nimmt aktiv an der Arbeit der parlamentarischen Dimension der CEI teil, wo sich für den Meinungsaustausch der Gesetzgeber nach wie vor gute Gelegenheiten ergeben.
Die Zusammenarbeit der Vorsitzenden der Handels- und Wirtschaftskammern wird von einem in Triest eingerichteten Zentralbüro koordiniert (CEI Chambers of Commerce Secretariat).
Für die Hilfsaktionen zum Wiederaufbau in Kroatien und Bosnien-Herzegowina wurde mit der Teilnahme Ungarns eine ständige CEI-Arbeitsgruppe gebildet.
b) Die Visegrád-Staaten und das CEFTA
Auf dem 1991er Gipfeltreffen in Visegrád (Ungarn) einigten sich die Regierungen Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei auf eine neugesinnte regionale Zusammenarbeit. Als Ziel der Teilnehmer wurde formuliert, einander bei der demokratischen Umgestaltung, der Einführung der Marktwirtschaft, der Vorbereitung auf die europäische Integration gegenseitige Hilfe zu leisten. Die seit der Gründung der beiden Nachfolgestaaten der ehemaligen Tschechoslowakei und dem Beitritt Sloweniens fünf Mitglieder zählende „Visegrád-Gruppe” hat trotz einiger interner Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten beachtliche Ergebnisse zu verzeichnen, wie etwa auf dem Bereich der außen- und sicherheitspolitischen Koordination und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Letztere wird auch durch die 1992 in Krakau angenommene Gründungsurkunde des CEFTA gekennzeichnet.
Für Ungarn stellt das Mitteleuropäische Handelsabkommen (CEFTA) ein entsprechendes Forum zur Handelsliberalisierung und zum freien Kapitalverkehr dar, wobei jedoch seiner Einschätzung nach die Voraussetzungen für die freie Bewegung der Arbeitskräfte vorerst nicht gesichert sind. Ungarn befreite zugunsten seiner Partner ca. 80 % der Industrieerzeugnisse von der Zollpflicht – vereinbarungsgemäß – ab dem 1. Januar 1996. Auf Gegenseitigkeitsbasis ist es ferner bereit, die Zollsätze einzelner Produkte stufenweise zu vermindern und – laut Vereinbarung – bis zum Jahre 2001 völlig abzubauen. Man hat darüber hinaus im Rahmen eines Abkommens über die Liberalisierung der Agrarmärkte seit dem 1. Januar 1996 die adäquaten Zölle um 50 % verringert.
Ungarn ist zufrieden mit den Ergebnissen innerhalb des CEFTA, sein Warenhandelsvolumen mit CEFTA-Partnern zeigt höhere Zuwachsraten als jenes in sonstigen Relationen. In diesem Zusammenhang konnten seine Handelspassiva den Abkommensländern gegenüber verringert werden (1994: 330 Mio. $). Der Anteil der Partnerstaaten an seinen Gesamtaußenhandelsaktivitäten erreichte im Vorjahr ein Niveau von 6 %, und seine Ausfuhr in CEFTA-Länder erhöhte sich im ersten Halbjahr von 1995 um 33 %.
Die ungarische Regierung befürwortet die Erweiterung des CEFTA und setzt sich für die Schaffung der dazu erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen – z.B. durch bestimmte Änderungen des Abkommens – ein. 1994 wurde auf dem Posener Gipfel über die Aufnahme Sloweniens entschieden, und es wurde nach der Erfüllung der vereinbarten Kriterien am 1. Januar 1996 als Vollmitglied anerkannt. Als mögliche Anwärter auf eine CEFTA-Mitgliedschaft sind zurzeit die baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien im Gespräch.
Auf die Initiative Ungarns trafen die Finanzminister der CEFTA-Mitgliedstaaten am 13.–14. Januar 1996 in Budapest zusammen, wo Gespräche über die Beziehungen zu OECD und verschiedenen internationalen Geldinstituten stattfanden, und auch die aktuellen Fragen der EU-Eingliederung erörtert wurden.
Es wird, wie erwähnt, von ungarischen Regierungskreisen immer wieder betont, dass für Ungarn seine CEFTA-Mitgliedschaft keineswegs als Alternative zur EU-Integration anzusehen sei und jegliche Form der Institutionalisierung seiner Handels- und Wirtschaftsbeziehungen strikt abgelehnt werde.
Eine fruchtbare Zusammenarbeit verspricht die Vereinbarung zwischen zwei Visegrád-Ländern und einem frischgebackenen EU-Mitglied: Im Juni 1995 unterzeichneten die Regierungschefs der Slowakei, Ungarns und Österreichs eine gemeinsame Erklärung über regionale Kooperation, die in ihren Schwerpunkten (Wirtschaft, Außen- und Sicherheitspolitik, innere Sicherheit) der EU-Praxis naheliegt. Im Rahmen des Abkommens sollten u.a. Wirtschaftsprojekte unter Hinzuziehung von Vertretern der Kommunen und Zivilorganisationen ausgeführt werden. Besondere Priorität genießt die umfassende regionale Entwicklung des Dreiecks Wien–Bratislava–Győr. Es wurden bereits Expertengruppen gebildet: Als erste von denen tagte die Arbeitsgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik in Budapest. Bei dem Gründungstreffen des Expertenpools für innere Sicherheit wurden die Themen der trilateralen Zusammenarbeit wie folgt skizziert: Kontrolle und Sicherheit der Staatsgrenzen, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Zivilschutz und Katastrophenabwehr. Bald setzt sich auch das für die Wirtschaftsfragen zuständige Team zusammen.
c) Regierungsunabhängige, subregionale Initiativen
Die Verfassung Ungarns und das Selbstverwaltungsgesetz schufen den Kommunen einen weiten Spielraum im Hinblick auf die subregionale Kooperation. 1994 wurde vom ungarischen Parlament die Europaratskonvention von Madrid über die grenzüberschreitende Kooperation ratifiziert (European Outline Convention on Transfrontier Cooperation between Territorial Communities or Authorities). Die neuen Kontakte (Fachprojekte der kurz- und mittelfristigen Zusammenarbeit, Partnerschaften von Gemeinden) kommen der Lösung von Minderheitenproblemen, der Spiritualisierung von Staatsgrenzen, der Belebung des örtlichen wirtschaftlichen Kreislaufs – kurzum: dem Integrationsprozeß2 – zugute. Dabei hat man jedoch gleichzeitig einigen, den reibungslosen Kontaktausbau hemmenden Problemen ins Auge zu sehen: Bei manchen Partnern wird nicht einmal die Minimalvoraussetzung der Interessenabstimmung zwischen Regierungs- und örtlichen Instanzen erfüllt; bestimmte alteingefleischte politische Reflexe sind vielerorts schwer aus der Welt zu schaffen; auch der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsgrad – so notwendigerweise auch das verschiedenartige Verständnis komparativer Vorteile – und Projektfinanzierungsengpässe3 sind als typische Schwachpunkte zu betrachten.
In Form von örtlichen Initiativen – 14 der ungarischen Komitate liegen in Grenzgebieten – beteiligt sich Ungarn an der Euroregion Karpaten4 und der Arbeitsgemeinschaft Alpen–Adria. Im Rahmen des letzteren Vorhabens entstanden eine Reihe von Städte- und Komitatspartnerschaften zwischen (zumeist west-) ungarischen und meistens deutschen, österreichischen, italienischen und französischen Gemeinden (nicht zu vergessen wäre jedoch, dass selbst vor dem politischen Umbruch zahlreiche partnerschaftliche Kontakte mit westeuropäischen Kommunen geknüpft wurden, was unter anderem auch den verwandtschaftlichen Beziehungen der Ungarndeutschen zu verdanken war).
Als Folge der Balkankrise wurden die Beziehungen zur Vojvodina (Jugoslawien) auch auf Selbstverwaltungsebene abgebrochen. Zurzeit bemüht man sich um die Wiederbelebung einer einst fruchtbaren subregionalen Zusammenarbeit. Zwischen rumänischen und serbischen Selbstverwaltungen wurden mit Verhandlungen über die Möglichkeiten einer regionalen Kooperation des Donau–Mieresch–Theiß-Gebietes angefangen. An dem Projekt nähmen voraussichtlich die Vertreter der Komitate Békés, Bács-Kiskun, Csongrád und Szolnok (Ungarn); Arad und Temes (Rumänien) und des Autonomen Gebietes Vojvodina teil. Am 28. Februar 1996 fand in Szeged über das D-M-T-Vorhaben eine internationale Tagung statt, wo auch der Entwurf der Gründungsurkunde angenommen wurde.
Die immer wichtigere Rolle der Zivilorganisationen bei der subregionalen Kooperation bezeugt das ungarisch-slowakische Projekt über den Wiederaufbau der Donaubrücke „Mária-Valéria” zwischen Esztergom und Šturovo (ung.: Párkány), an dem sich auch die regierungsunabhängige ungarische Stiftung für Regionale Zusammenarbeit (Foundation for Regional Cooperation) beteiligt. Es wurde aus den Vertretern von örtlichen Gemeinden ein slowakisch–ungarisches Beratungsgremium einberufen, dessen Tätigkeit laufend vom Europarat begutachtet wird. Die Unterzeichnung des Europäischen Stabilitätspaktes (Pact on Stability in Europe) bot auch dem obengenannten Unterfangen neue Finanzierungschancen: Dank dieses Abkommens bekamen die Slowakei und Ungarn zum Brückenbau eine PHARE-Förderung bewilligt, und darüber hinaus wurden auch einem slowakisch–ukrainisch–ungarischen subregionalen Kooperationsvorhaben und anderen kleineren Programmen Mittel zur Verfügung gestellt.
Auf dem OSZE-Wirtschaftsforum in Prag wurden auf ungarischen Vorschlag auch die aktuellen Fragen der regierungsunabhängigen internationalen Kooperation auf die Tagesordnung genommen: Die Organisation sprach sich da erstmals für die Förderung und Weiterentwicklung diesbezüglicher Kontakte aus.
Schlussbemerkungen
Die ungarische Außenpolitik rechnet, wie auch aus der vorangehenden Bestandaufnahme hervorgeht, über grenzübergreifende regionale Zusammenarbeit auf Regierungsebene hinaus auch mit der unverkennbaren integrationsfördernden Rolle der internationalen Kooperationsvorhaben der Selbstverwaltungen. Diese könnten von dem jeweiligen Kabinett durch Schaffung der für die Zusammenarbeit elementaren Bedingungen, Vermittlung von Informationen, Fachberatung und nicht zuletzt durch Erschließung neuer Finanzierungsquellen gefördert werden. Dabei sollten insbesondere die mangelnden oder relativ geringeren Erfahrungen und eingeschränkten Möglichkeiten der ostungarischen Regionen (im Verhältnis zu den weiter entwickelten Westkomitaten) auf dem Gebiet der internationalen Kooperation berücksichtigt werden.
Die mit den Nachbarn abgeschlossenen bilateralen Wirtschafts-, Handels-, Finanz- und Grundlagenverträge können dem Regionalismus gute Dienste leisten. Sowohl im slowakisch–ungarischen Grundlagenvertrag als auch im Rahmen der Verhandlungen mit Rumänien kommt der Subsidiarität als Leitprinzip der zwischenstaatlichen Kooperation in den gemeinsamen Grenzregionen wichtige Bedeutung zu.
Anmerkungen
1
Europa von A–Z. Taschenbuch der europäischen Integration. Hrsg. von W. Weidenfeld und W. Wessels. 5. Aufl. Bonn 1995. S. 9
2
Im Hinblick auf die interregionale Komponente kam es zur Kontaktaufnahme und Kooperation auch mit anderen Regionen (wie z.B. der Regio Basiliensis, der Euroregion Maas-Rhein oder nicht zuletzt der Versammlung der Euroregionen).
3
Ein positives Element stellt angesichts der Schwierigkeiten bei der Erschließung neuer Finanzierungsquellen dar, dass durch die EU-Mitgliedschaft Österreichs bei entsprechenden Projekten Mittel der PHARE/CBC (Cross-Border Cooperation) beansprucht werden können. Das sich in seiner Vorbereitungsphase befindende PHARE-PHARE-Programm der EU wird sicherlich bessere Finanzierungschancen für Vorhaben zwischen EU-assoziierten Ländern bieten.
4
Die Euroregion Karpaten wurde 1993 nach den Plänen des Europarates mit ungarischer Teilnahme gebildet. In Uschgorod (Ukraine) wurde ein Informationsbüro eingerichtet.
Begegnungen07_Hajdu
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:27–32.
TIBOR HAJDU
Beziehungen zwischen der sowjetischen und der ungarischen Führungsspitze nach 1945
Die Lage Ungarns nach dem zweiten Weltkrieg wurde für mehr als vierzig Jahre dadurch vorbestimmt, dass das Land im Krieg auf die Seite der späteren Verlierer rückte, sein Gebiet durch die sowjetische Armee erobert wurde und es die faschistische Koalition selbst zu dem Zeitpunkt nicht zu verlassen vermochte, als die Rote Armee seine Grenzen überschritt. Es spielten dabei natürlich auch außen- wie innenpolitische Faktoren mit, doch gab es darunter keine solchen, die auf die Beziehungen der einen oder anderen Großmacht zu Ungarn einen bedeutenden Einfluss genommen hätten. Zu erheblichen Änderungen kam es erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der darauffolgenden Umstrukturierung der Machtverhältnisse. Ungarn wurde als Teil der sowjetischen Zone eingestuft, und daran änderten weder die linken Phrasen der „Brüderlichkeit” noch die „Befreiungsrhetorik” und das Mitgefühl der westlichen Presse und Regierungen etwas, wobei das letztere selten durch konkretes Handeln begleitet war. Demzufolge gelten die Kontakte und das Verhältnis zwischen den ungarischen und sowjetischen (vor allem politischen) Führungsschichten als entscheidende Faktoren für das Schicksal Ungarns in diesem Zeitraum. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die zahlreichen Unterschiede zwischen den einzelnen Abschnitten der untersuchten Zeit als bedeutungslos anzusehen wären; es muss lediglich betont werden, dass diese die wichtigsten Ereignisse nicht beeinflussten. Wenn der Ungarnaufenthalt der Roten Armee in politische (-chronologische) Phasen eingeordnet werden sollte, erweist sich meiner Meinung nach die folgende Periodisierung als sinnvoll:
Periode 1: Bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags (April 1947)
Periode 2: Von der Einführung der stalinistischen Diktatur bis zu ihrer Beseitigung (1947–1956)
Periode 3: Die Diktatur nach der Niederwerfung der Revolution von 1956 (von Ende 1956 bis Ende 1959)
Periode 4: Die liberale Diktatur des János Kádár (1960–1988)
Bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags
Die erste Periode ist sehr widersprüchlich, was auch durch die Paradoxa veranschaulicht werden kann, dass einerseits Ungarn bis zum Friedensvertrag seine Souveränität einbüßte und die Sowjetarmee rechtlich als Besatzungsmacht auf seinem Boden stand andererseits aber die Sowjetunion nur vage Vorstellungen über die Zukunft des Landes hatte (die Westmächte waren an der Frage noch weniger interessiert). Dementsprechend wurden in der zu dieser Zeit geschaffenen Mehrparteidemokratie verschiedene Zukunftsbilder entworfen, genährt durch die Illusion, als ob die ungarische Demokratie ihre eigene Zukunft mitgestalten könnte.
Eigentümlicher Weise bekannte sich keine der Parteien dazu, dass ein sozialistisches Lager geschaffen wird, dem sich auch Ungarn anschließt, noch dazu auf die Art und Weise, dass es auf die eigene Souveränität praktisch verzichtet. Die wenigen Quellen weisen darauf hin, dass die KP kein konkretes Zukunftsbild von der sowjetischen Führung vermittelt bekam, so nahm sie selbst eine abwartende Haltung ein. Mátyás Rákosi, der Generalsekretär der Partei, erkannte, dass die persönlichen Kontakte mit der Stalinschen Führung von entscheidender Bedeutung sind, und er war bemüht, diese zu seinen eigenen Zwecken zu nutzen, obwohl in der Führung der KP Agenten der MVD und auch Emigranten mit guten Beziehungen in Moskau gegenwärtig waren. Dieser Umstand war nur insoweit wichtig, dass demzufolge Rákosi vorsichtiger wurde. Von der Führungsspitze der KP traute sich keiner, sich zu Stalins Lebzeiten mit Rákosi als Rivale anzulegen. Unseres Wissens gab es bloß einen Oberst im Amt für Staatssicherheit (namens Szűcs), der 1945–50 in Moskau gegen Rákosi intrigierte; es erwischte ihn dann ähnlich wie das Eisen: er wurde „bearbeitet”, solange er „heiß” war. Potentiell konnten nur diejenigen in der Führung der KP eine Zukunft haben (Gerő, Nagy, Münnich), die auch in Moskau wohlbekannt waren. Vergeblich genossen Rajk oder Kádár große Popularität im Kreise der ungarischen Kommunisten, der Jugend und der Arbeiter, ohne Moskauer Kontakte (danach hat damals keiner von den beiden gestrebt) war das für sie eher gefährlich als nützlich. Die beiden Leiter der KP (Nagy und Révai), die Beziehungen zu Moskau pflegten und von der von Rákosi abweichende Konzeption hätten aufweisen können, wollten ihre „schlafenden” Kontakte nicht aktivieren.
Rákosi war sich über die Machtverhältnisse in Moskau im Klaren, so begnügte er sich nicht damit, sich irgendeinen „Vizepatron” aufzutreiben, wie zum Bespiel Marschall Woroschilow, anstatt dessen forcierte er einen persönlichen Kontakt mit Stalin, der ihn selten empfing, aber Rákosi war das genügend. Er folgte nämlich selbst zu seiner Amtszeit als Ministerpräsident der Methode, allein, ohne Begleitung nach Moskau zu reisen, so konnte nicht einmal die Botschaft erfahren, ob er von Stalin empfangen worden war, geschweige denn was dort zur Sprache kam. Er konnte also bluffen, und er tat das auch.
1944–47 war Marschall Woroschilow der Präsident des Alliierten Kontrollrats in Ungarn, mit großem äußerlichem Prestige, doch seit seinem Misserfolg von 1941 bei Leningrad ohne jeden wirklichen Einfluss. Dazu müsste er gut gewesen sein, die rohen Sowjetgeneräle zu zügeln; und dafür konnte man ihn, den großen Lebemann, mit Schmeicheleien und Geschenken auch gewinnen. Zu Kriegszeiten legte Woroschilow großen Wert darauf, zu den Generälen, die sich gegen die Deutschen wandten und 1944–45 Regierungsmitglieder waren, gute Beziehungen zu pflegen. Er mischte sich in ihre Positionskämpfe ein, er muss willig gewesen sein, ihre Anhänger zu unterstützen, ihre Gegner (Oberst Kéri, Stephan Graf von Bethlen) verhaften zu lassen. Nach dem Kriegsende jedoch wurden diese Generäle beiseitegeschoben. Die Zivilpolitiker interessierten Woroschilow und seine Berater nicht, umso mehr die Gesellschaft von Künstlern und Künstlerinnen.
Woroschilow wusste nicht, was nach dem Friedensschluss kommt. Darum flog Rákosi einige Tage zur Unterzeichnung des Friedensvertrags nach Moskau, wo er mit Suslows Hilfe – den er als wichtige Person betrachtete und mit ihm im Kontakt stand – Stalin um eine Audienz bat. Stalin, der weder Ungarn noch Rákosi besonders hochschätzte, nahm sich keine Zeit, um ihn davon zu informieren, was er (Rákosi) wissen wollte: ob die sowjetischen Streitkräfte nämlich, in Ungarn bleiben würden. Er wurde stattdessen zu Molotow bestellt. Molotow teilte ihm mit: „Solange unsere Truppen in Österreich stationiert sind, werden sie auch in Ungarn und Rumänien stationiert sein.” Rákosi hatte dagegen nichts einzuwenden, er erlaubte sich nur die Bemerkung, dass die Unterhaltung der sowjetischen Streitmacht unheimlich viel koste, worauf er von Molotow beruhigt wurde: Die sowjetischen Truppen gelten als keine Besatzungsmacht mehr und sie werden auch nicht als solche agieren.
Von der Einführung der stalinistischen Diktatur bis zu ihrer Beseitigung
Während 1947–48 die Fronten des Kalten Krieges erstarrten, baute Rákosi binnen einem Jahr das Einparteisystem und seine Alleinherrschaft aus. Er hielt es weiterhin für eminent wichtig, Stalins Vertrauen zu gewinnen, und andere aus diesem Privileg hinauszudrängen. Dies entsprach dem Geschmack Stalins und seiner Nachfolger, und die relevantesten Fragen konnten auch des Weiteren in keinem anderen Rahmen erörtert werden als bei dem persönlichen Treffen des ungarischen Parteichefs mit Chruschtschow, dann später mit Breschnew. Da es aber zu solchen Treffen selten kam, blieben enorm viele Fragen lange ungelöst. Das Land wurde von sowjetischen Beratern überschwemmt, die erhebliche Schäden verursachten, insbesondere in der Landwirtschaft. Man durfte sie nicht kritisieren, doch beanspruchte die Führungsspitze ihre Vermittlerrolle nicht, den sowjetischen Botschaftern musste sogar nach dem Friedensschluss eine Bedeutung zugekommen sein, die im Vergleich zur Mehrheit der Volksdemokratien eher formal war, von der DDR ganz zu schweigen; in Ungarn war es unvorstellbar, dass der sowjetische Botschafter oder Bevollmächtigte an den Sitzungen der Parteiführung teilnimmt. Darum fühlten sich die sowjetischen Botschafter auch beleidigt, allen voran Kiselew, der die Sowjetunion in der ersten Hälfte der 50er Jahre vertrat. In seinen Berichten sind zahlreiche kritische Elemente zu finden, denen schenkten jedoch weder Rákosi noch Molotow und Wischinsky eine besondere Aufmerksamkeit.
Als Beispiel sollte das Kontaktsystem von drei wichtigen Gebieten hervorgehoben werden. Der Staatssicherheitsdienst (ÁVH) und die Armee wurden im Ganzen einer sowjetischen Fachleitung unterstellt, ihre Führungskräfte wurden in der Sowjetunion ausgebildet. Der Staatssicherheitsdienst wurde nach der Entlassung von Rajk aus dem Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums herausgehoben: An seiner Spitze standen sowjetische Agenten, obwohl die politische Führung in den Händen von Rákosi blieb. Er konsultierte häufig mit den sowjetischen Beratern und dem Osteuroparesidenten des MVD, General Belkin.
In die Armeeangelegenheiten mischte sich Rákosi jedoch nicht ein, und in diesem Punkt stimmte seine Praxis mit der von Kádár überein. Die beiden hielten die Armee für eine nutzlose, aber doch notwendige Institution; sie brachten den sowjetischen Besatzungstruppen mehr Vertrauen entgegen, und Rákosi fand die Möglichkeit eines europäischen Krieges unwahrscheinlich. Rákosi wie Kádár hielten eines für wichtig: Man brauchte ohnehin einen solchen Rüstungsminister, der zur Sowjetarmee und später zum Generalstab des Warschauer Paktes reibungslose und gute Kontakte pflegt. Als solcher erwies sich Mihály Farkas (1948–1953), der beinahe 20 Jahre in Moskau lebte, aber als Soldat diente er selbst zu Kriegszeiten nicht. Seine Inkompetenz erleichterte nur, die Reibungen zu vermeiden, und dies sah auch die sowjetische Militärführung, die sich über die Brauchbarkeit der ungarischen Volksarmee keine Illusionen machte. Das bestätigt auch, dass zum Nachfolger des Farkas ein nicht nur ungebildeter, sondern auch dummer einstiger Straßenbahnschaffner ernannt wurde, doch waren die Russen auch mit ihm zufrieden.
Eine ganz andere Situation herrschte auf dem Gebiet der Kultur – hier setzte der führende Ideologe, Révai, den Akzent vor allen Dingen formal auf die Nachahmung des „sowjetischen Beispiels” und die Präferenz des „sozialistischen Realismus”, obwohl er die Methoden der sowjetischen „Kulturpolitik” nicht im ganzen übernehmen wollte und er bemühte sich, die Werte der Hochkultur nach Möglichkeit zu bewahren. Das tat auch Kádárs Kulturpolitiker, Aczél, und lange glaubte man, dass Révai Moskau besser diente als Aczél. Seitdem aber die Meldungen der sowjetischen Botschafter bekannt sind, weiß man schon, wie böse man mit ihm (Révai) war. Am 23. Juni 1952 berichtet Kiselew, er habe sich bei Rákosi beschwert, dass Révai verhindere, die Schädlinge, Narodniki und den „bürgerlichen Nationalisten” Georg Lukács aus der Literatur rauszuschmeißen. Rákosi räumte ein, es erschwere die Lage, dass „Révai lange Lukács Schüler gewesen wäre”. Er ließ aber Révai auch nach weiteren Denunziationen in seinem Amt. Nach Stalins Tod versuchte die neue sowjetische Führung mit ihren eigenen Mitteln, die Lage und das Leben des Volkes auch in Ungarn zu normalisieren. Ausschließlich zu dieser Zeit (1953–56) kam es zu gemeinsamen Sitzungen des ungarischen und sowjetischen Politbüros und relativ häufigen Besuchen der sowjetischen Führungsspitze. Im Juli 1956 kam es das erste und letzte Mal vor, dass ein sowjetischer Leiter auf einer Sitzung des Budapester ZK erschien und auch eine Rede hielt: Mikojan kam nur, um Rákosi zu entlassen.
Die Diktatur nach der Niederwerfung der Revolution von 1956
Bekanntlich wurden sowohl Rákosi wie auch seine Nachfolger, Gerő, Imre Nagy, dann später Kádár und Münnich in Moskau ausgewählt. Der Unterschied besteht darin, dass im Falle von Nagy und Kádár auch die ungarische öffentliche Meinung und andere Stellungnahmen (z. B. die von Tito) berücksichtigt wurden. Im Oktober 1956 gingen die Moskauer Führung und der ambitiöse neue Botschafter, Andropow, in den Tagen der Krise, der Revolution und ihrer Niederwerfung zur direkten „Handsteuerung” über und mischten sich in die ungarischen inneren Angelegenheiten bis auf die Einzelheiten ein. Die sowjetische Steuerung kam mittels Berater, Botschaft und anderer Kanäle auch auf mittleren Ebenen zur Geltung, wo so etwas zuvor beispiellos war. Einige Monate lang intervenierten auch Militärbefehlshaber ins Leben der Städte und Komitate, indem sie die gesetzlichen Formalitäten außer Acht ließen, ähnlich wie 1944–45.
Kádár befand sich 1956 und noch jahrelang danach – bis 1959 – in einer heiklen Situation. Das Schicksal hatte ihn ausgewählt, für drei Jahrzehnte der Budapester Statthalter von Moskau zu bleiben, obwohl er nie in der Sowjetunion gelebt und nie Russisch gelernt hatte (andere Sprachen auch nicht). So verstand er auch das für einen Europäer wohl eigentümliche Wesen der russischen Menschen und ihrer Leiter nicht leicht. Dabei waren ihm seine Mitarbeiter, alte „Moskowiten”, behilflich: Nemes, Szerényi, Szilágyi, Frisch und Münnich selbst. Die ersten zwei-drei Jahre der Kádár-Herrschaft kennzeichnete ein interessantes Duumvirat; Chruschtschow kannte Münnich und vertraute ihm, der nicht nur als alter Moskowit sondern, auch als alter Tschekist galt. Münnich war zwar ein typisches Mitglied dieser Zunft, doch charakterisierten ihn viel Nüchternheit und wenig Machtgier. Er nahm zur Kenntnis, dass Kádár 26 Jahre jünger als er war, und er selbst assistierte dabei, Kádár in den Vordergrund zu schieben, während er zu den Russen viel intensivere Beziehungen als zu ihm hatte, und das war auch auf den von ihm überwachten Gebieten – innere und auswärtige Angelegenheiten, Rüstung und Justiz – zu spüren. Während Kádár schrittweise und umsichtig der Situation Herr wurde, baute er genauso schrittweise und umsichtig das übergroße sowjetische Beratungsnetz ab. In der Außenpolitik, Parteipolitik und den Äußerlichkeiten entsprach er zwar völlig den sowjetischen Ansprüchen, doch strebte er gleichzeitig danach, dass sich die Sowjets ins Leben der Ungarn immer weniger einmischen. Es gelang ihm, mit Chruschtschow persönliche Freundschaft zu schließen – das war an sich mehr als was Rákosi je erreichte –, er erkannte aber daran, dass er außerstande ist, die Lebensauffassung des ungarischen Menschen zu verstehen. Als Chruschtschow auf dem Parteikongress im November 1959 sein ganzes Vertrauen Kádár entgegenbrachte, konnte dieser das Verhältnis zu Moskau realisieren, das er für das beste hielt.
Die liberale Diktatur des János Kádár
Während Münnich und andere Moskowiten, wie z. B. der Rüstungsminister Révész, der Außenminister Horváth die Führung verließen, beschränkte Kádár seine sowjetischen Kontakte auf die Führungsspitze, und er erteilte anderen Leitern ungern und selten die Erlaubnis, damit diese mit ihren Problemen nach Moskau oder zur sowjetischen Botschaft rasen können. Diese Methode Kádárs gefiel Chruschtschow, Breschnew und Suslow nicht besonders, sie wurde von ihnen nur darum akzeptiert, weil für sie Kádárs Person dafür bürgte, dass sich 1956 nicht mehr wiederholt. Kádár war dazu noch berechenbar, von ihm aus konnte man ruhig schlafen, und dies war für die sowjetische Gerontokratie äußerst behaglich. Aus diesem Prozess sollten zwei Leistungen Kádárs hervorgehoben werden. Die eine: Anfang 1960 forderte er Chruschtschow auf, dass er ihn von dem sowjetischen Botschafter in Budapest befreien sollte, da dieser hinter seinem Rücken dem Landwirtschaftsminister Ratschläge gab – der letztere wurde gleich gefeuert. Die andere: Er tat nach Chruschtschows Entlassung 10 Jahre lang so, als ob er nicht bemerkt hätte, dass sich in Moskau seit der Chruschtschow-ära vieles änderte. Die Kontinuität verkörperten für ihn Andropow und Suslow, aber selbst mit Breschnew hatte er keinen Konflikt, da dieser Kádár als Angewöhntes duldete. Und wenn Breschnew auf irgendetwas bestand, akzeptierte er das auch. Dazu gilt als bestes Beispiel der Einbruch in die Tschechoslowakei 1968, wogegen er sich offen aussprach, er nahm es jedoch zur Kenntnis und beteiligte sich an der Aggression selbst.
Ab Mitte der 70er Jahre mischte sich Moskau in die ungarischen Angelegenheiten immer massiver ein, und die Widerstandskraft des alternden Kádárs wurde zwar immer geringer, doch konnte er, wenn auch nur formal, seine Sonderstellung behalten; er räumte der sowjetischen Beratung und Botschaft weiterhin eine Minimalbedeutung ein. Er duldete natürlich die Gegenwart der sicherlich unzähligen ungarischen KGB- und sonstigen Agenten, er fühlte sich jedoch des Öfteren stark genug, solche Führungskräfte zu entlassen, die seiner Politik gegenüber den Moskauer Kurs favorisierten, so den ZK-Sekretär Béla Biszku 1978 oder den Stellvertretenden Ministerpräsidenten Gyula Szekér 1980. Ab 1974 wurde seine verhältnismäßig unabhängige Politik immer mehr illusorisch, und er versuchte selbst nach Breschnews Tod nicht, die ungarisch-sowjetischen Beziehungen umzugestalten. Zu seinen der Öffnung dienenden Schritten (z. B. Anschluss an die IMF) bat er weiterhin um die Zustimmung von Moskau.
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:9–25.
FERENC GLATZ
Vergleichende Untersuchung der Länder der sowjetischen Zone
Vorschlag zur Thematik einer Konferenzreihe
Erster Themenbereich
Von der Besatzungszone zum „System des Sozialismus”
a) Importiertes politisches Modell. Die von 1948 bis 1990 bestehende, als „sozialistische Länder Europas” bezeichnete staatliche und politische Gemeinschaft wies ein charakteristisches Spezifikum auf: in den von der Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg befreiten und besetzten Gebieten hat man ein auf derselben ideologischen Einstellung basierendes Politsystem eingeführt. Eine weitere Eigenheit des Systems: seine Herausbildung war nicht das Ergebnis einer organischen Entwicklung der einzelnen Länder bzw. der Region, sondern es handelte sich um ein aus der Sowjetunion importiertes politisches Modell. Und das System wird von der lokalen Gesellschaft bis zum Schluss als ein von der Sowjetunion im Ostblock eingeführtes Herrschaftssystem angesehen.
Frage: inwiefern hat das Spezifikum dieses Politsystems – dass es nämlich als Besatzungszone und eine historische Anerkennung wünschende Gesellschaftsformation funktionierte – die Geschichte des Blockes als Gesamtheit determiniert?
b) Das Verhältnis der Sowjetunion zu den einzelnen Staaten. Der Standpunkt der Sowjetunion hat grundlegend die in den einzelnen Staaten vor sich gehenden Entwicklungen sowohl in politischen Institutionen als auch in der Wirtschaft oder auf weiteren Ebenen des gesellschaftlichen Lebens beeinflusst, was sogar derzeit allgemein bekannt war. Nicht detailliert bekannt jedoch sind die Beziehungen der Sowjetunion zu den einzelnen sozialistischen Ländern. Anfängliche chronologische Datenaufarbeitungen weisen nur akzidentiell nach, auf welchen Gebieten und in Aktionen welchen politischen Charakters die Moskauer „Handsteuerung” zur Geltung kam. Ebenfalls nur vage bekannt ist, in welchem Maße sich die unmittelbare Führungsrolle Moskaus zwischen 1945 und 1990 wandelte.
Die direkte Anleitung kann wahrscheinlich auch für die Jahrzehnte nach 1949 in Etappen unterteilt werden, denn sie war abhängig von der internen Entwicklung in der Sowjetunion (die Periode von 1949–1968 zum Beispiel weist ungezwungenere Führungsformen auf, für 1968–1958 ist die Politik des Status quo charakteristisch, und der Abschnitt von 1985–1990 führt zur Lockerung der Fesseln direkter Anweisungen).
Wir haben keine präzisen Kenntnisse, in welchem Lande und auf welchen Verwaltungsgebieten die Politik der Direktlenkung zur Geltung kam. (Anfängliche vergleichende Forschungen weisen darauf hin, dass sie sich in gewissen Perioden nicht allein auf das politische Institutionssystem auf totalitäre Weise erstreckte, sondern dasselbe außerdem für Gebiete der Wirtschaft und kultureller Propaganda galt (1949–1953). Teilweise verdrängt wurde sie nach 1968 zur Zeit der Politik des Status quo aus dem kulturell-wissenschaftlichen und dem ideologischen Leben, ebenso wie aus der Wirtschaftsführung. Betreffs einiger Länder (so Polen, Ungarn, Rumänien) ließ die Sowjetunion während bestimmter Perioden hinsichtlich der „externen Abschottung” Nachsicht walten.)
Frage: inwiefern sind einzelne Aktionen des lokalen gesellschaftlich-politischen Lebens der direkten Anleitung der Sowjetunion zuzuschreiben? (Z. B. Tempo der Kollektivierung, Prozesse, Gesetzwidrigkeiten, kulturell-ideologische „Übereinstimmungen” usw.)
c) Internationaler und innenpolitischer Spielraum der einzelnen Staaten. Anfängliche Vergleiche weisen auf folgendes hin: zur Zeit der Lockerung der direkten Führungsrolle der Sowjetunion (nach 1961) hat man eventuelle souveräne politische Spielräume einzelner Staaten und Parteien gemäß der regionalen Lage der Staaten und ihrer Bedeutung für die militärisch-strategischen Pläne der Sowjetunion festgelegt. (Voraussichtlich stand innerhalb dieses Blockes den Frontländern wie Polen, Tschechoslowakei und Ungarn ein außenpolitisch eingeschränkterer Spielraum zu, als zum Beispiel Rumänien, das keine Grenze zum Westen aufwies. Erste Vergleiche weisen nach: die Konflikte zwischen den beiden Globalsystemen bzw. Entspannungsperioden haben die Bestrebungen nach Selbständigkeit einzelner osteuropäischer Staaten und Parteien bestimmt und beeinflusst (unterstützt oder behindert). Unter anderem hat sich die Neutralität Österreichs und später die Entfaltung der neuen Ostpolitik Westdeutschlands (1970) auf die Nachbarn in Richtung Lockerung der Gebundenheit ausgewirkt. Im selben Maße bestimmend waren für die einzelnen Länder – so z.B. Ungarn und Bulgarien – und ihren Spielraum Spannung oder Entspannung in den Beziehungen Jugoslawien–Sowjetunion, China–Sowjetunion.
Einer gesonderten Überprüfung bedarf der Problembereich außen- oder innenpolitischer Souveränität. Oftmals fällt auf, dass während einzelne Länder – wie z.B. Rumänien – eine umfassendere Selbständigkeit als andere Staaten in der Außenpolitik erringen, sie dem innenpolitischen Modell der Sowjetunion weiterhin nahestehen. Andere Länder dagegen, wie Ungarn oder Polen nach 1980, erkämpfen sich neben der praktisch vollkommenen Aufgabe außenpolitischer Souveränität eine relativ bedeutende innenpolitische Selbständigkeit. Ein ganz spezifischer Fall ist die Situation der DDR. Der Spielraum der deutschen politischen Elite und Staatsführung ist stark eingeschränkt durch jenen Fakt, dass die DDR die Folgen des Erbes der Kriegsverantwortung zu tragen hatte. Darüber hinaus war sie das am meisten exponierte Frontland an der Grenze zum stärksten westeuropäischen Staat, der BRD. Außerdem verstärkte sich die jahrhundertealte Antipathie dem „Deutschtum” gegenüber, und das nicht allein in Russland sondern gleichfalls in anderen slawischen Gesellschaften (Polen, Slowakei).
Frage: wovon hing der Spielraum einzelner Staaten im Rahmen des Sowjetsystems ab? In welchem Maße haben strategische Gesichtspunkte der Besatzungszone diesen Spielraum bestimmt? In welchem Umfange hat die politische Elite der jeweiligen Länder sich bietende Möglichkeiten zur Ausweitung des Spielraumes genutzt? Inwiefern war man „freiwillig” oder aus Gemeinschaftsinteresse der Führung in Moskau gegenüber liniengetreu?
d) Regionale Integration und das sowjetische Lager. Regelmäßig gab es in der ostmitteleuropäischen Region ab dem 14. Jahrhundert politische bzw. wirtschaftliche oder strategische Integrationsbestrebungen. (Wir schließen selbst die Nachweisbarkeit jener Tatsache nicht aus, dass ein Grund für den langfristigen Bestand des Habsburgerreiches der Fakt war: das Territorium wurde von aus ökonomischen und strategischen Gesichtspunkten aufeinander angewiesenen Mikroregionen gebildet.) Integrationsbestrebungen in zwei Richtungen können nachgewiesen werden. Zum einen die Integration deutscher Territorien mit den östlichen Randgebieten der westlichen Kultur und zum anderen die Herausbildung eines Nord-Süd-Blockes ohne das Deutsche Reich. Im Verlaufe der 45-jährigen Geschichte der sowjetischen Besatzungszone ist man darum bemüht, eine von den vorangehenden diametral abweichende Integrationstendenz dritten Typs zu gestalten, die Randgebiete der westlichen christlichen Kultur dem Kulturbereich der Sowjetunion bzw. des russischen Pravoslawismus unterzuordnen. Auch von diesem Gesichtspunkt her ist also die Geschichte der verschiedensten Integrationsorgane (Warschauer Vertrag, RGW usw.) bzw. die Methode „neuen Typs” der Integration unter die Lupe zu nehmen. Mittels der zentralistischen Leitungstechnik der Sowjetunion nämlich wurden mit der Integration vorrangig politische und ideologische Ziele verfolgt. (Mit anderen Worten: es wurden im Vergleich zu in anderen Teilen der Welt dort gleichzeitig erfolgenden Integrationsprozessen vollkommen entgegengesetzte Integrationstechniken angewandt.) Außerdem kam noch hinzu, dass mit Hilfe der wirtschaftlichen und militärischen Integration die unmittelbare Abhängigkeit von der Sowjetunion gesichert wurde (Rohstoffe, Rüstungsindustrie).
Frage: inwiefern stimmten die von der Sowjetunion erzwungenen Integrationsbestrebungen mit den tatsächlichen Integrationsinteressen der in dieser Region existierenden Gesellschaften überein und in welchem Maße konnten im Rahmen dieser Integration wirtschaftliche Interessen der einzelnen Staaten zutage kommen?
Zweiter Themenbereich
Nationale Traditionen und proletarischer Internationalismus
a) Der Ostblock, das „sozialistische System” und traditionsgemäße nationale Konflikte. Die sowjetische Integrationseinheit kam in einer solchen Region Europas zustande, in der bereits vom lo. Jahrhundert an eine in ethnischer Hinsicht gemischte Gesellschaft lebte. Darüber hinaus war diese Region ab dem 13. Jahrhundert Schauplatz kontinuierlicher in den Osten und Westen gerichteter ethnischer Migrationen. Die sich hier herausbildenden regionalverwaltungsmäßigen (staatlichen) Formationen haben nicht jene entnationalisierenden Programme verwirklicht, welche bei den bedeutenden europäischen Staaten auf der Tagesordnung standen. Einzelne ethnische Gruppierungen haben sowohl in individueller als auch kultureller Hinsicht bis ins 20. Jahrhundert ihre ethnische Autonomie beibehalten. Diese Region war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Brandherd des Ausbruches zweier Weltkriege, wobei den ethnischen Gegensätzen die entscheidende Bedeutung zukam.
Die Sowjetunion wünschte dieses von ethnischen Feindlichkeiten durchdrungene Territorium in einem über den Nationen stehenden, genauer gesagt in einem „brüderlichen Völkerverband” im Zeichen der sozialistischen Ideologie nationenlos zu vereinen. Das von der Sowjetunion eingeführte „sozialistische System” erschien den Gesellschaften als eine Ablehnung nationaler Traditionen.
Ein Spezifikum der sowjetischen Integrationspolitik war auf dem Gebiet der Staatsverwaltung die Festigung nationalstaatlicher Grenzen. Im Westen Europas hat die ökonomisch-technische bzw. kulturelle Integration eine Lockerung der Staatsgrenzen sowie die Bewegungsfreiheit der Staatsbürger mit sich gebracht, damit sozusagen einen „sanften Kosmopolitismus”. Gleichzeitig führte innerhalb des sozialistischen Lagers die Befolgung des Staatsaufbaus sowjetischen Typs zur Kräftigung des nationalstaatlichen Systems und zur Isolierung. Der Import dieses „Staates sowjetischen Typs” konservierte traditionelle nationale Vorurteile und Stereotypien.
Frage: inwiefern trug der „sozialistische Internationalismus” dazu bei, dass gerade in diesem Kriegsherd es den hier lebenden Völkern nicht gelungen war, nationale Gegensätze aufzuarbeiten?
b) Verstärkung der Schutzfunktionen des Nationalismus. Bei der Geschichte der kleinen Nationen Ostmitteleuropas handelt es sich auch kontinuierlich um einen Kampf für nationale Unabhängigkeit von den in die Region vorstoßenden Großmächten (Deutsches Reich, Osmanisches Reich, Russland). Obwohl die Sowjetunion als Befreier in dieser Region erschien, hat sie sich doch als Besatzermacht aufgeführt und damit bei den hiesigen Völkern den sich seit Jahrhunderten herausbildenden Schutzmachtnationalismus verstärkt. Er wurde zu einem der dominanten Faktoren im Allgemeindenken. Während der Periode des Kalten Krieges (1947–1961) war auch die sowjetische Propaganda darum bemüht, Traditionen der Nationalbewegung „fremden Unterdrückern” gegenüber für sich zu nutzen. Unter „fremden Unterdrückern” verstand man in erster Linie den „deutschen Imperialismus” und das Osmanische Reich sowie in übertragenem Sinne die Einmischungsbestrebungen des amerikanischen Imperialismus. Es trat der gewisse Bumerang-Effekt auf: der traditionelle Unabhängigkeitskampf erhielt nach 1948 tatsächlich eine sowjetfeindliche Auslegung. Nationale Gepflogenheiten der Besatzung gegenüber kamen in praktisch sämtlichen politischen Konflikten der Region zur Geltung (1956: Polen und Ungarn, 1968: Tschechoslowakei, 1980: Polen).
Frage: inwiefern haben militärische Besatzung und Beibehaltung des direkten Moskauer Führungssystems in der Region dazu beigetragen, dass beim Zerfall des Lagers jahrhundertealter Nationalismus als eine „moderne” Ideologie in Erscheinung treten konnte?
c) Die Epoche neuer Nationalismen. 1961–1990. Gleichzeitig mit der Lockerung der direkten Moskauer Anleitung des sozialistischen Lagers sowie der relativen innenpolitischen Selbständigkeit einiger Länder erwachten gewisse Elemente des nationalen Identitätsbewusstseins aus der Zeit vor 1945 erneut zum Leben. Jene traten als Kritik an der unverhohlenen Diktatur des Proletariats in Erscheinung. Die Deklaration nationaler Souveränität zeigte sich jedoch nicht auf dem Gebiet der politischen Ideologie, sondern in der Geschichte reflektiert, in historisierender Manie. Es konnte keine Formulierung auf dem Schauplatz der Alltagspolitik erfolgen, damit ergab sich die „Einnistung” in den nationalen Mythos. Dies sind jene Jahrzehnte, da von Polen bis Bulgarien eine Neueinschätzung der nationalen Geschichte vorgenommen wird und neu formuliert hat man atavistisch nationalistische Schlagworte, bis hin zur Urgeschichte oder mit Gültigkeit für die Jahrhunderte des frühen Mittelalters. (Das Sarmaten-Frage in Polen, der Mythos des Mährischen Reiches in der Slowakei, die Verwandtschaft von Hunnen und Magyaren und die mittelalterliche Großmacht der Magyaren in Ungarn, die dakorumänische Theorie in Rumänien, die Thraker-Theorie in Bulgarien).
Eine weitere, ständig wiederkehrende Thematik dieses neugeborenen nationalen Kultus ist das ungelöste Minderheitenproblem und jener Konflikt, der auf die Grenzfestlegungen von 1919/20 bzw. 1946 zurückzuführen ist. Das Sowjetsystem war nicht dazu in der Lage, umfassende Konflikte der Region zu lösen, jenen Fakt, dass nationale Siedlungsgebiete und regional-verwaltungsmäßige (Staats-)Grenzen nie übereinstimmten. Gefordert jedoch wurde eine internationalistische Ideologie, bestehende Probleme hat man unter den Teppich gekehrt und damit das historisierende national-politische Denken gefördert.
Frage: in welchem Maße hatten die Neonationalismen zur Folge, dass die sich in den 80er Jahren in der Region bemerkbar machenden Oppositionsbewegungen sich unter anderem zum Ziel stellten, nationale Traditionssysteme aus der Zeit vor 1945 neu zu beleben und teilweise die Grenzen von 1946 zu überprüfen?
Dritter Themenbereich
Das sozialistische Lager, strategische Kräfteverhältnisse und die Verlagerung der Zentren der Weltwirtschaft
a) Rüstungswettbewerb und politische Ideologie.
Im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den Westmächten sind zwei Perioden markant voneinander zu unterscheiden – jene des Kalten Krieges von 1947–1961 sowie die Periode des friedlichen Nebeneinanders der beiden Globalsysteme von 1961–1990. Bibliotheken könnten mit jener historischen Literatur gefüllt werden, die in erster Linie auf die Zeit des Kalten Krieges eingeht (wobei hinsichtlich der Frage der Periodengrenzen nicht einmal annähernd Übereinstimmung herrscht). Für die Geschichte der sozialistischen Länder scheint das Jahr 1961 das entscheidende zu sein, zum einen wegen des Manifestes des 22. Parteitages der KPdSU über das friedliche Nebeneinander eben der beiden Weltsysteme sowie aufgrund der gleichzeitigen Verdrängung des chinesischen Einflusses auf den Kalten Krieg.
Zeitweise ist die Sowjetunion in der Weltraumforschung und Raketentechnik den Westmächten überlegen, die (wie sogar der Vatikan) eine neue Strategie ausarbeiten und sich auf einen langfristigen Status quo einrichten. In der Sowjetunion und in den meisten sozialistischen Ländern setzt die Kritik an den unverhohlen diktatorischen Methoden ein.
Zur selben Zeit erstarken die Positionen der Sowjetunion auf den antikolonialistische Gefechte führenden Kontinenten, vor allem aber in Afrika. Es hat den Anschein, als würde der Sozialismus sowjetischen Typs sich zum Globalsystem ausweiten.
Diese zweite Periode gewährt einigen Staaten die Gelegenheit, in gewissen Bereichen eine souveräne Politik auszuüben. Anfängliche Vergleiche weisen bereits Differenzen nach: ein jedes Land interpretiert die in den geopolitischen Positionen der Sowjetunion eintretenden Veränderungen anders. Die DDR und die Tschechoslowakei üben eine rege außereuropäische Politik aus. Polen und Ungarn richten ihre Aufmerksamkeit auf interne Reformen und den Ausbau des wirtschaftlich-kulturellen Beziehungssystems zu den kapitalistischen Ländern.
Frage: inwiefern sind in der Geschichte der einzelnen Länder die Spuren des weltweiten Kalten Krieges nachzuweisen und welche sind diese? (Konzentration auf Schwer- und Waffenindustrie; Vorherrschaft zentralisierter Staatsverwaltungsmethoden; Abschottung vom Ausland; innenpolitische „Wachsamkeit” usw.)
b) Ökonomisch-technischer Wettbewerb und Ideologie. Der Aufschwung der Weltwirtschaft 1949–1973 ließ seine Auswirkungen auch in dieser Region Europas verspüren. Die Sowjetunion – und mit ihr die sozialistischen Länder – halten den Konsum in Schranken, forcieren mittels des absoluten Staatseigentums die Entwicklung des militärischen und schwerindustriellen Potentials. Im Ergebnis dessen kommt es zwischen 1957 und 1961 zum militärischen Gleichgewicht und zur vorläufigen Überlegenheit in der Weltraumforschung. Es scheint zwischen 1961 und 1973, als würden die sozialistischen Länder dem technisch-ökonomischen Wettbewerb standhalten können. Wenn auch auf niedrigerem Niveau, so werden doch die notwendigsten Gebrauchsartikel produziert. Im letzten Abschnitt der „Eisenepoche” hat das auf der zentralisierten Staatsverwaltung basierende Sowjetsystem sich in gewissen Bereichen der liberalen Marktwirtschaft gegenüber sogar als wettbewerbsfähig erwiesen.
Die Ölkrisen von 1973 und 1979 dann zerschmettern das Kräftegleichgewicht und mit der Revolution auf dem Gebiet der Informatik gelangt die westliche Marktwirtschaft zu einem uneinholbaren Vorsprung in den Bereichen Produktionsorganisation, Markterschaffung, Weltraumforschung und Waffentechnik.
Frage: in welchem Maße haben die einzelnen Länder die technisch-wirtschaftliche und wissenschaftliche Blockade des Ostblocks durchbrochen? In welchem Umfange ist es im letzten Jahrzehnt des Bestehens des Systems gelungen, mit den in der Welt voranschreitenden technisch-wissenschaftlichen Umwälzungen Schritt zu halten und sich auf die ökonomisch-technische Modernisierung vorzubereiten? (Computersysteme, Landwirtschaft, erneute Mechanisierung, Umorganisierung der Produktionslenkung usw.)
c) Die Umgruppierung der Zentren des Weltmarktes. Die internationale historische Literatur erachtet die Umlagerung der Weltmarktzentren als einen der Gründe für den Zerfall das Sowjetsystems.
Der mit den Ölkrisen einsetzenden Rezession versuchen die osteuropäischen sozialistischen Länder (ebenso wie in anderen Gegenden der Welt zustande kommende staatssozialistische Systeme) mittels der Aufnahme von Krediten zu begegnen. Das Ziel ist die Beibehaltung der Stabilität des politischen Systems, die Aufrechterhaltung der Idee eines krisenfreien sozialistischen Systems. Anlässlich der ersten Ölkrise 1973 schienen noch die umfassenden Rohstoffvorräte der Sowjetunion das Gleichgewicht gewährleisten zu können. Nach der zweiten Energiekrise von 1979 jedoch erschien die Beibehaltung des Systems allein mit Hilfe einer Umgestaltung möglich (Perestroika). Die starre politische Struktur jedoch war nicht in der Lage, Normen der Marktwirtschaft zu integrieren. (Davon zumindest zeugen erste Studien über die Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion und einzelner Länder.) Weniger bekannt ist uns, welche entscheidenden Veränderungen die Umwälzungen auf den Gebieten der Informatik und Mikroelektronik im Rahmen der westlichen Gesellschaften hinsichtlich des Lebensgefühls und der Mentalität mit sich brachten. Immer öfter ist davon die Rede, dass die Revolution der Informatik und des Arsenals der Kenntnisvermittlung einen neuen Individualismus zur Folge hatte, welcher in der Denkweise der aktivsten Generationen zur Konfrontation mit dem Ideengut des Kollektivismus führte.
Frage: Inwiefern haben die erneute technische Revolution und das Vordringen der daraus folgenden neuen Weltanschauung auch in den sozialistischen Ländern die noch unversehrten Brückenpfeiler der politischen Ideologie unterspült? Welche Differenzen können hinsichtlich der Adaptation von Errungenschaften der Revolution der Informatik bezüglich der einzelnen sozialistischen Länder nachgewiesen werden?
Vierter Themenbereich
Das Staatssystem der Diktatur des Proletariats
a) Das Erbe der bürgerlichen Demokratie. Die sich in den ersten Jahren der Sowjetbesatzung (1945–1948) herausbildenden bürgerlichen Demokratien basierten, wie bekannt, auf den heimischen traditionell demokratischen Kräften. Sich auf antifaschistische politische Kräfte stützend und in erster Linie Moskauer kommunistische Tendenzen unterstützend hat man aber bereits ab 1945 bürgerliche demokratische Kräfte in den Hintergrund gedrängt. Es mangelt an einem Vergleich dahingehend, über welche Macht die lokalen traditionellen demokratischen Parteien verfügten (bürgerliche, bäuerliche bzw. sozialdemokratische), und in welchem Maße dies die sowjetische „Salamitaktik” hemmte oder überhaupt beeinflusste. (Man bildet ein sogenanntes linkes (Koalitions-)Bündnis der „antifaschistischen” und „demokratischen” Parteien, in dem die noch in der Minderheit befindliche Kommunistische Partei mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht seine Koalitionspartner aufreibt.) Diese Salamitaktik hat zur Folge, dass bis 1949 schrittweise (Scheibchen für Scheibchen) bürgerlich-demokratische Politkräfte beseitigt (abgeschnitten) werden. Nach und nach werden einzelne Elemente des Sozialismus sowjetischen Typs übernommen. (Erhöhte Bedeutung des Staatseigentums, ideologisch-kulturelle Kontrollinstitutionen, kontinuierliche Minderung der Rolle des Parlamentes usw.)
Frage: Kann für den Prozess der Aufhebung bürgerlicher Demokratien ein „gemeinsames Rezept”, ein gemeinsamer „Etappenplan” nachgewiesen werden? Welche bedeutende Rolle spielten, in welchem Lande, die Moskowiter Kommunisten bzw. das Kontrollorgan der Verbündeten? (Welches sich wie bekannt in einigen Ländern direkt in parteipolitische Rivalitäten einmischte.)
b) Die Grundprinzipien der Diktatur. Das Herrschaftssystem der Diktatur des Proletariats wurde 1948/49 eingeführt. In sämtlichen Staaten der Region verbirgt sie sich hinter unterschiedlichen Bezeichnungen – Volksrepublik oder später dann Sozialistische Republik oder im Falle Deutschlands hinter der Benennung Demokratische Republik. Von da an sprechen wir zu recht von der Proletardiktatur. Gewisse Merkmale des Herrschaftssystems wurden bereits derzeit von den Ideologen der Diktatur selbst formuliert, andere nach 1953 von den Politikern der sogenannten Reformländer, und zwar als Kritik des Stalinismus.
(1. Die Übermacht der Exekutive innerhalb des Staates u.a. auf dem Gebiet der Gesetzgebung und damit die Unterordnung parlamentarischer demokratischer Institutionen gegenüber der Exekutivmacht bzw. der einzigen Partei. 2. Abbau der parlamentarischen Demokratie, Gestaltung des Einparteiensystems. 3. Besitzmonopol des Staates bzw. etatistische Wirtschaftspolitik der Plananweisung. 4. Abschottung von den Produktions- und Politsystemen außerhalb der Besatzungszone auf der Grundlage antikapitalistischer und nationalstaatlicher Prinzipien. 5. Einschränkung der Meinungsfreiheit, politische Kontrolle der Institutionen des geistigen Lebens, in erster Linie der Medien und des Bildungswesens, nationalstaatliche Kontrolle der Bewegungsfreiheit der Bürger.)
Frage: inwiefern beruht dieses politische Herrschaftssystem auf in der Region seit zwei Jahrhunderten immer wiederkehrenden etatistischen politischen Traditionen?
c) Abbau des Herrschaftssystems der Diktatur des Proletariats. Hin und Her. In der Entwicklung der Staatsorganisation des Ostblocks können wir grob vier Abschnitte unterscheiden: 1. 1945–1949, Bürgerliche Demokratien und ihr Abbau 2. 1949–1961, Ausbau der Diktatur des Proletariats 3. 1961–1984, Versuch zum Ausbau des sozialistischen Weltsystems 4. 1985–1991, Umgestaltungsversuch (Perestroika) und der Zerfall.
In Anbetracht der immanenten Entwicklung des Systems bieten die 45 Jahre Geschichte aber auch andere chronologische Grenzlinien. Nach dem Tode Stalins 1953 setzt nämlich in der Sowjetunion ein interner Machtkampf ein, so wie in allen Staaten des sozialistischen Lagers. Der Machtkampf basierte wahrscheinlich auf konzeptionellen Konfrontationen. Auf der einen Seite standen – grob formuliert – die Verfechter der Basisinstitutionen der Proletardiktatur, auf der anderen Seite die Anhänger eines „humanen Sozialismus”. Die Geschichte der sozialistischen Länder 1953–1990 kann als ein ständiges Hin und Her bezeichnet werden. Die einzelnen Etappen: 1953–1956 Sieg der Reformkräfte. 1957–1961 Überhandnahme der Strömung der Diktatur des Proletariats und der Anhänger Chinas. 1961–1968 Erneuter Sieg der Reformkräfte. 1968–1984 Erstarrter Dualismus. 1985–1991 Reformkräfte setzen sich durch.
Frage: Welche Rolle spielte in den einzelnen Ländern das Hin und Her und inwieweit haben sich die Veränderungen bei den internationalen Kräfteverhältnissen dabei auf lokaler Ebene ausgewirkt? (Die Abschnitte des Hin und Her weisen nach 1961 je nach Land Differenzen auf. So ist 1980 für Polen, 1974 für Ungarn, 1965 für Rumänien ein Meilenstein.) Weitere Fragen: Hätte man das System tatsächlich reformieren können? Hat im sowjetischen Einflussgebiet die Konzeption des „humanen Sozialismus” eine reale Alternative dargestellt? Waren beide miteinander vereinbar? Inwiefern war der Zerfall das Ergebnis interner Zwistigkeiten und der Reformunfähigkeit und in welchem Maße Folge der geopolitisch-wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse?
d) Das System der politischen Vertretung. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Forschung in allen Ländern nun bereits der „einzigen Partei”, die im Institutionssystem der Diktatur des Proletariats die herausragende Rolle spielte. (In den einzelnen Ländern mit jeweils unterschiedlicher Intensität. In den Reformländern Polen und Ungarn ist ein Spezifikum, dass die Partei bemüht ist, ihre führende Rolle mit außerparteiischen, das System jedoch anerkennenden anderen Kräften zu teilen.) Ziemlich viel ist uns über die organisatorische Entwicklung der Parteien bekannt, wenn auch nicht auf dem Niveau des Vergleiches, ebenso betreffs der anderen Vertretungsorgane – der Gewerkschaften, der Volksfront usw.. Wenig wissen wir darüber, wie sich diese Parteien nach 1961 zumindest in den Reformländern Polen, Ungarn sowie teilweise in der Tschechoslowakei und Bulgarien zu pluralistischen Institutionen, sogenannten Sammelparteien gestalten. Und in welchem Maße sind in jenen schon die Strömungen oder Keime des späteren Mehrparteiensystems ab den 80er Jahren enthalten, wie z.B. sozialdemokratische, bürgerlich-radikale, christlich-konservative usw.?
Gesondert einzugehen ist auf die Entwicklung der Nomenklatur, die nach 1961 nicht unbedingt mit der Parteielite übereinstimmte. (Welche Rolle spielten die „außerparteiischen Bolschewiken”? Wie entfalten sich innerhalb der Partei die Tendenzen der Kommunisten, Reformkommunisten, liniengetreuen Sozialisten, Reformsozialisten und Pragmatiker?)
Frage: Welche Entwicklung geht im Einparteiensystem und überhaupt innerhalb der Interessenvertretung in den einzelnen Staaten vor sich? In welchem Zusammenhang steht diese Entwicklung mit dem im gesamten politischen Lager und auch in den einzelnen Ländern ablaufenden Hin und Her.
e) Siedlungsstruktur und Staatsverwaltung. Die sich in der Sowjetunion herausbildende Technik der Staatsorganisation ging von politischen Erwägungen der Diktatur aus. Aufgrund dieser politischen und sicherheitstechnischen Überlegungen – interne und externe Sicherheit ebenso betreffend – hat man den Organen der Staatsverwaltung herausragende politische Bedeutung zugemessen, dem Regionalnetz und den Zentralen gleichermaßen. Im Verlaufe von 45 Jahren hat dies das Organ der Orts- und Regionalverwaltung bestimmend beeinflusst.
Mit Ausnahme von Deutschland weist die jahrhundertealte Tradition der Region die monozentrische, d.h. auf die Hauptstadt orientierte Siedlungsstruktur auf. Der Sozialismus sowjetischen Typs hat diese Hauptstadtzentralisation zum Teil verstärkt und zum anderen bereits bestehende regionale mikroökonomische und mikrokulturelle Zentren verkümmern lassen.
Frage: In welchem Maße haben Siedlungs- und Verwaltungspolitik dazu beigetragen, dass selbst geringfügige Traditionen demokratischer Selbstverwaltungen beseitigt werden? Inwiefern ist diese Tradition ein Hindernis für ab den 80-er Jahren erstarkende regionale Wirtschafts- und Kulturorganisationen?
Fünfter Themenbereich
Gemeinschaftsbesitz und Plandirektive
a) Staatseigentum, genossenschaftliches Eigentum, Privateigentum. In allen Ländern des sozialistischen Lagers wurden die Besitzverhältnisse dem politisch- ideologischen Willen unterworfen. Es war Bestandteil politischer Stellungnahmen einzelner Parteien, welchen Standpunkt man hinsichtlich der Definition der Besitzhierarchie bezog. (Staatseigentum und genossenschaftliches Eigentum – beide als Gemeinschaftsbesitz, oder privates und persönliches Eigentum.)
In Ungarn zum Beispiel war eine Folge des Sieges der Reformkräfte, dass man deklarierte: das genossenschaftliche Eigentum bedeutet einen ebensolchen Besitz sozialistischen Inhaltes, wie das Staatseigentum (1971). Zu den Grundprinzipien der Diktatur des Proletariats gehörte es, dass Vorrang bzw. Hochwertigkeit des Staatseigentums betont wurden. Bekräftigt wird dieser Fakt dadurch, dass nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa die Verstaatlichung einiger Sektoren der Wirtschaft erfolgt. (Tatsache ist derzeit weiterhin, dass an der Peripherie der Weltwirtschaft ab 1960 unabhängig werdende Staaten mittels der Staatsmacht auf dem Gebiet der Ökonomie ihren Rückstand von mehreren Jahrzehnten einzuholen versuchten.)
Frage: Wie gestaltete sich in den einzelnen sozialistischen Ländern die Eigentumshierarchie? In welchem Zusammenhang stand sie mit der Auffassung der heimischen Elite über das politische Herrschaftssystem?
b) Präferenzen der einzelnen Produktionszweige. Aus der historischen Literatur ist bekannt, welche Rolle für die Entwicklung der Sowjetunion nach 1922 die wirtschaftliche Isolation spielte, der Ausbau einer eigenen Basis der Schwerindustrie, die Vernachlässigung des Versorgungssektors (Leichtindustrie, Landwirtschaft). Bekannt ist weiterhin in groben Zügen: die Sowjetunion hat dieses den eigenen Gegebenheiten angepasste Modell als ein „sozialistisches Modell” auch in die besetzten Staaten exportiert.
Frage: In welchem Umfange waren die Staatsmänner der einzelnen Länder in der Periode der relativen Erringung der Selbständigkeit (nach 1961) in der Lage, diese sowjetischen Präferenzen abzulösen bzw. sie zu ergänzen mit wirtschaftlich-strategischen Interessen, die den heimischen Gegebenheiten auf dem eigenen Territorium entsprachen? (Wie z.B. in Bulgarien, Ungarn, Polen die Landwirtschaft, die Konservenindustrie usw.)
c) Wirtschaftspolitische Führungstechnik. Die Fachliteratur hat bereits exakt den Mechanismus der Plandirektiven dargelegt.
Frage: In welchem Gegensatz stehen wirtschaftsgeographische, klimatische und Produktionsbedingungen einzelner Länder zu dem der Politik unterworfenen Produktionssystem, zu dem den Interessen der Sowjetunion untergeordneten Erzeugnisprofil? Wie wirkte sich der Bruch mit dem Weltmarkt auf die Gestaltung der Produktstruktur der einzelnen Länder aus?
d) Gesellschaftliche Auswirkungen der ökonomischen Veränderungen. Das ausschließliche Staatseigentum trug dazu bei, dass Kleingewerbe und Einzelhandel zum Teil nicht mehr existierten. Überhaupt wurden die Zweige der Versorgung vernachlässigt. (Daran änderte die gleichberechtigte Anerkennung des genossenschaftlichen Besitzes kaum etwas.) Die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft beseitigte mittel- und kleinbäuerliches Eigentum. Die Rezession dieser Sektoren hatte die Vernichtung des städtischen und dörflichen Bürgertums zur Folge. Da in diesen Bereichen die qualifiziertesten und besten Kräfte der Werktätigen, der Bauern und Händler tätig waren, ging dieser Prozess selbstverständlich mit einem Niedergang der Arbeitskultur der Arbeiter- und Bauerngesellschaft einher. (Im Vergleich dazu ein ähnlicher Ablauf in der westlichen Wirtschaft: infolge der Automatisierung und Massenproduktion geht auch hier ein gewisser Bereich der Kleinproduzenten bankrott, doch passen sich jene organisch anderen Betriebsorganen der betreffenden Branche an. Es geht dort also um einen wirtschaftsinternen Prozess, während in den sozialistischen Ländern ein außerökonomischer, ein politischer Zwang die Ursache ist. Einher ging all dies darüber hinaus mit ebenfalls politische Ziele verfolgenden Kampagnen dem Kleinbürger bzw. auf dem Dorfe den Kulaken gegenüber. In den Industriebetrieben diente die Arbeiteraristokratie – d.h. in politischem Sinne die Sozialdemokratie – als Zielscheibe dieser Kampagnen.)
Frage: Welche gesellschaftlichen Veränderungen brachte in der städtischen bzw. ländlichen Gesellschaft die Abwanderung infolge der Industriekampagnen mit sich? Welche Erschütterungen hatte der eigentliche Wechsel von Agrar- zu Industriegesellschaften für die Siedlungsstruktur und das Gepflogenheitensystem der Klassen der Gesellschaft zur Folge?
e) Sozialistisches Eigentum kontra Unternehmermentalität.
Als eine der Folgen der Eigentumshierarchie der Diktatur des Proletariats bildete sich eine verzerrte und widersprüchliche Mentalität in der Gesellschaft dem bürgerlichen (individuellen) Besitz und Unternehmen gegenüber heraus. Teilweise wurde die allgemeine bürger- und privatbesitzfeindliche Stimmung entfesselt, die in dieser Region in früheren starken sozialen Spannungen verwurzelt lag und den Wunsch nach Gleichstellung zum gesellschaftlichen Reflex gestaltete. Hinter jedem Unternehmen, jedem Gewinn vermutete man ausbeutende und unmenschliche Aktionen. Als Bumerangeffekt aber kam es zur heimlichen Überbewertung des Wirtschaftsgeistes im zügellosen Kapitalismus. (Und das zu einer Zeit, da im Westen selbst die konservativen Parteien schon von der sozialen Marktwirtschaft sprechen.)
Nach 1961 setzte in einigen sozialistischen Ländern die Wirtschaftsreform ein. Die Tschechoslowakei (1965), dann Ungarn und Polen waren darum bemüht, den Marktmechanismus in die Wirtschaftslenkung einzubeziehen und ihm auch bei privatwirtschaftlichen Unternehmungen einen gewissen (minimalen) Raum zu gewähren. Diese zu den Reformprogrammen gehörenden Aktionen hatten zur Folge, dass in den Reformstaaten die Herausbildung einer Unternehmerschicht neuen Typs sowie eines Unternehmergeistes neuen Typs einsetzte. (Oftmals interne Betriebsformen des staatlichen Sektors in Form von wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften usw.). Gegenwärtig wissen wir nur wenig über deren Geschichte. Wahrscheinlich bildeten diese gesellschaftlichen Elemente und jener Unternehmergeist die Basis für die politische Elite und ihre Reformpolitik sowie den Abbau des Sowjetsystems. (Die Auswirkungen sind ebenso bei den Integrationsprozessen nach 1990 zu verspüren: die Reformstaaten vermögen viel leichter die Sphäre der Mikroökonomie kompatibel zum Weltmarkt zu gestalten, als die Gesellschaften der anderen ehemals sozialistischen Staaten.)
Frage: In welchem Maße vernichtete das sowjetische sozialistische System die in der Region an sich schon schwache Mentalität der Bürger und Unternehmer und inwiefern hat es die traditionell stark paternalistische Anschauung gekräftigt?
Sechster Themenbereich
Der Bürger und sein Staat
a) Die umfassende soziale Betreuung. Das auf dem totalen staatlichen (gemeinschaftlichen) Eigentum basierende sozialistische System nahm die Sorgen der finanziellen und gesundheitlichen Sicherheit des „Werktätigen” auf sich. Die das System kritisierende westliche sowie die heimische oppositionelle Literatur haben die diesbezüglichen Merkmale dargelegt. (Vollbeschäftigung in Betrieben in staatlichem Besitz, vom Arbeitgeber übernommene Renten- und Krankenversicherung, Gratisbetreuung im Gesundheitswesen unabhängig von Arbeitsplatz und gesellschaftlicher Stellung, das Recht auf Wohnung.) Die Literatur hat ebenso jenen Fakt aufgearbeitet, dass der Staat als Gegenleistung für diese „totale” Sicherheit die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Bürgers (und damit der Auslandsreisen) beanspruchte. Weniger wissen wir darüber, in welchem gesundheitlich-biologischen Zustand sich die Gesellschaften dieser Region im Vergleich zu den weiter entwickelten westlichen Gesellschaften noch vor 1945 befanden. Ebenso wenig ist uns bekannt, in welchem Maße sich die aus dem Etat gesicherten kostenfreien Dienstleistungen des Gesundheitswesens auf die Beseitigung von Massenerkrankungen in der Region auswirkten (TBC, Karies, ansteckende Krankheiten usw.).
Frage: Stimmt die Behauptung, wonach auf dem Gebiet der gesundheitlichen Massenbetreuung das staatssozialistische System eine „Revolution des Gesundheitswesens” in den einzelnen Ländern des Lagers ausführten? Gab es eine Möglichkeit, diese zweifelsohne guten Ergebnisse mittels eines etatexternen oder anderen Versicherungssystems auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zu erreichen? Welche Stellung kommt der Beschäftigungspolitik des staatssozialistischen Systems in Vergleich zu anderen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts zu?
b) Politische Zielstellungen, Geschlechter und Altersklassen. Das Politsystem sowjetischen Typs hat seine gesellschaftlichen Zielsetzungen in einem einheitlichen ideologischen Rahmen zusammengefasst und die aufgrund dieser Ideologie auch auf die Privatsphären des Lebens ausgeweitet. Auf ideologischer Basis war man Verfechter der weiblichen Emanzipation, die Frauen wurden in den Produktionsablauf mit einbezogen und damit aus patriarchalischen Verhältnissen befreit. Nun aber wurde die Stellung der Frau in der Gesellschaft aus praktischen Beweggründen mit ökonomischen Mitteln festgelegt. Auf bekannte Art und Weise hat man mittels der staatlichen Lohnnomenklatur Berufe sogenannter Zweitverdiener praktisch als „Frauenressort” angesehen.
Die umfassende staatliche Betreuung hat das Netz von Kinderkrippen und -gärten geschaffen, in einigen Fällen die Institution der Beihilfe zur Kinderversorgung. Die Frauen, Kinder und Jugendlichen der Gesellschaft hat man im Rahmen staatlich subventionierter Massenbewegungen organisiert. Und mit diesen Organisationen hat man sie gleichzeitig den politischen Zielsetzungen untergeordnet.
Frage: Was brachte in dieser Region das staatssozialistische System hinsichtlich der Befreiung der Geschlechter und im Interesse verschiedener Generationen mit sich? Welcher tatsächliche Fortschritt war neben der Geltendmachung ideologischer und politischer Ziele des politischen Systems im Vergleich zu den Verhältnissen der Zeit vor 1948 zu verzeichnen?
c) Das staatliche Institutionssystem der Kultur. Die Verstaatlichung des Schulsystems (d.h. das staatliche Monopol der Schulgründung), das Verkümmern von Vereins- und Zivilorganisationen ging auf die bekannte Art und Weise mit dem Ausbau eines einheitlichen staatlichen Schulsystems einher. Dasselbe trifft auf die Wissenschaft (Akademien), die Künste (staatliche Kunstvereine) und die Allgemeinbildung (staatliche Kulturhäuser), Buch- und Zeitschriftenverlage und Zentralorgane von Rundfunk und Fernsehen zu. Die Qualifizierung erfolgt gratis oder billig, aber die Informationen sind festgelegt. (Russisch als Pflichtsprache, Verkündung des sozialistischen Realismus und des Marxismus-Leninismus in Form des Katechismus, Einschränkung von Forschung und Informationsfluss usw.) So charakterisiert die Fachliteratur das geistige Leben der sozialistischen Staaten.
Wenig ist uns dahingehend bekannt, welchen tatsächlichen Fortschritt die Alphabetisierungskampagnen (z.B. in Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn) für die ärmeren Schichten bedeuten. Wenig wissen wir auch darüber, wie in den Rahmen der kulturellen Institutionen – initiiert eben von der Intelligenz – die Reformbewegungen einsetzten. Welche Widersprüche ergaben sich zwischen den sogenannten „Reformparteien” und traditionellen Parteien ausgerechnet in den Bereichen von Ideologie und Kultur? (Bekannt sind die Fehden der liniengetreuen Kulturpolitik der DDR und der Tschechoslowakei mit der ungarischen und polnischen Parteiführung.)
Frage: Auf welchen Gebieten brachte das verstaatlichte kulturelle Institutionssystem im Vergleich zu der Zeit vor 1945 eine tatsächliche Hebung des Niveaus auf kultureller Massenbasis mit sich? In welchen Bereichen gestattete man eine teilweise Entfaltung der Elitekultur? Welche internationalen politischen Ziele verfolgte die Propaganda der elitären Kultur nach 1961?
d) Sport, Körperkultur und ideologische Ziele. Eine der am meisten kritisierten Eigenheiten der einstigen sozialistischen Länder ist die vollkommene Verstaatlichung des Sportes und innerhalb dessen des Vereinslebens. Das System wurde von der Literatur der Sportgeschichte nur zum Teil erörtert: der Staat übernahm die Finanzierung des Sports in den Schulen, die des Massensportes und des Wettkampfsports. Gleichzeitig aber galt der internationale Auftritt bereits ab 1949 als politische Prestigefrage. Den politisch-ideologischen Zielen entsprechend wurden auch ganze Sportzweige und Vereine umorganisiert. (Bevorteilt hat man selbstverständlich Sportvereine der Armee und des Innenministeriums, die den unmittelbaren Zwecken der Staatsmacht dienten, ebenso wie jene von politischen Institutionen und Gewerkschaften.)
Frage: Welchen Fortschritt brachte das Sowjetsystem für die sich in dieser Region bereits vor 1945 ausweitende, jedoch noch zurückgebliebene und sich nur auf eine dünne Bürgerschicht beschränkende Körperkultur mit sich? Hätte das schwach entwickelte bürgerliche und Vereinsleben ohne hervorstechende Subventionen des Etats ebenfalls die im Zustand des Gesundheitswesens der Gesellschaft eintretende Verbesserung mit sich gebracht?
Siebter Themenbereich
Modernisierung mit staatssozialistischen Mitteln?
a) Das sozialistische System und die Modernisierung der Produktionsorganisation. Aus der Fachliteratur ist bekannt: sowohl in Industrie als auch Landwirtschaft sowie in der Handelsbranche erfolgte eine Umgestaltung der Betriebsorgane nach zuvor erwähnten ideologischen Gesichtspunkten (Eigentumshierarchie, Wirtschaftspolitik der Plandirektiven, zentralisiertes Verwaltungssystem, Präferieren von Großmachtinteressen der Sowjetunion usw.). Auch das ist in der Fachliteratur nachzulesen, zu welchen Widersprüchen dies bezüglich der Effektivität der Produktion führte. Weniger wissen wir darüber, in welchem Wirtschaftszweig die Betriebsorganisation sowjetischen Typs „zeitgenössisch” modern war, inwiefern die Branchenpräferenzen übereinstimmten (z. B. Chemieindustrie, Leichtindustrie usw.) mit denen westlicher Betriebsorganisationsprozesse (s. Liquidierung von Kleinst -und Kleinbetrieben als organisatorische Einheit in der Landwirtschaft). In welchem Maß ergaben sich diese Formen der Betriebsorganisation als Kopien der Praxis auf nationalstaatlichen Märkten riesigen Umfanges (Sowjetunion bzw. paradoxerweise Vereinigte Staaten)?
Frage: Handelte es sich bei den betriebsorganisatorischen Veränderungen allein um die Anwendung von Methoden im Zusammenhang mit der politischen Ideologie und unabhängig von der Wirtschaft? Oder konnten die einzelnen Länder der Region bei der Modernisierung der Produktionsorganisation auch andere Wege gehen?
b) Die Infrastruktur des Zivillebens. Die Auswirkungen der in den sozialistischen Ländern erfolgenden Industrialisierung auf die Entwicklung der alltäglichen Lebensbedingungen sind in unserer historischen Literatur noch nicht aufgeführt. Anfängliche Forschungen in Ungarn weisen nach: die massenhafte Verbreitung der Errungenschaften der dritten Industrierevolution (Elektrizität, Verbrennungsmotor usw.) ist zum Teil der sozialistischen Industriealisierung „zu verdanken”. Die Elektrifizierung der Dörfer, die Wasser- und Abwasserversorgung, der Ausbau von Gasleitungen – all dies waren Voraussetzungen für die nach 1960 einsetzende explosionsartige Mechanisierung der Haushalte. Beschleunigt wurde die um 1880 einsetzende Modernisierung und der Abstand zum Vorsprung des Westens ist verringert worden. Derzeit erfährt die Melioration einen erneuten Aufschwung, ebenso wie allgemeine Programme der Landschaftsgestaltung (wie bekannt belastet mit zahlreichen Spezifika des sowjetischen Gigantismus). Der Verbrennungsmotor kommt verspätet und einseitig zu Ehren: zunächst ist er ein ernsthafter Faktor in Produktion und Massentransport (als Zugkraft, bei Lasten- und Massenbeförderung), nach 1970 dann im Personenverkehr. Das Fiasko des Pkw-Programmes scheint zu beweisen, dass dieses System nicht reformierbar ist.
Frage: Wäre wohl der Ausbau der Infrastruktur in der Zivilsphäre in diesem Ausmaße ohne staatliche Investitionen (d.h. des Etats) möglich gewesen? Inwiefern kann man Modernisierungsaktionen unter staatlicher Anleitung sowjetischen Typs mit westeuropäischen Verstaatlichungen vergleichen, die nach 1945 in denselben Sektoren vorgenommen wurden?
c) Informatik und der Zerfall des Politsystems. Die internationale Literatur formulierte bereits die eine Ursache für den Zerfall des sozialistischen Systems sowjetischen Typs: man vermochte nicht Schritt zu halten mit der sogenannten fünften Industrierevolution, d.h. mit der Entfaltung der neuen Informationssysteme. Mittels dieser Systeme wurden derartig neue Techniken der Produktionsorganisation und -lenkung gestaltet, bei denen die sozialistischen Länder weder hinsichtlich Erzeugung noch Waffenarsenal wettbewerbsfähig waren.
Wir wissen wenig darüber, warum wohl die Staaten des Ostblocks keine größeren Anstrengungen zur schnellen Entwicklung der neuen Informationssysteme unternahmen. Stimmt es, dass die Elite dieser Region in technischer Hinsicht unfähig war, die Kultur von Telefon, Computer und Fernsehen weiterzuentwickeln? Oder hatten die Cocom-Listen tatsächlich so große Auswirkungen? Überhaupt: wir wissen kaum etwas darüber, welchen Einfluss diese neue Informationskultur auf das Wandeln des Denkens ausübte. Es kam zu einer Revolution auf dem Gebiet der Beziehungen, gesellschaftliche Anschauungen erreichten globale Ausmaße („neuer Individualismus”).
Frage: Inwiefern ist der Grund für den Zerfall des sozialistischen Systems im Mangel an Elastizität des Systems an sich zu suchen? War das System unfähig, die neue Kultur von Technik und Arbeitsorganisation zu adaptieren? Konnte der Anspruch der Epoche der Informatik nicht mit den Prinzipien der als sozialistisch bezeichneten Gemeinschaftsorganisation in Einklang gebracht werden? (Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft hätte neu formuliert werden müssen.)
d) Außereuropäische staatssozialistische Systeme. Die internationale wirtschaftshistorische Literatur hat bereits einen Vergleich der sozialistischen Länder Europas mit staatssozialistischen Systemen Afrikas und Südamerikas (1961– 1991) in Angriff genommen. Übereinstimmungen: Mangel an Kapital (oder Kapitalentzug), infolgedessen wünscht man mit Hilfe der staatlichen Verwaltung unterentwickelte Regionen zu modernisieren. (Entwicklungsdiktatur).
Weiterhin mangelt es in diesen Gebieten an einem starken heimischen Bürgertum und der Tradition bürgerlicher Demokratie. Die Fachliteratur erwähnt weiterhin: während der Konjunktur der Weltwirtschaft erzielt man in diesen „Randgebieten” äußerst rasch Ergebnisse, vor allem was die Hebung der untersten gesellschaftlichen Schichten angeht oder auch das Erreichen eines gewissen Minimalniveaus der Modernisierung.
Frage: Kann wohl aus der Geschichte der sozialistischen Länder die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die staatssozialistischen Systeme übergangsweise zur Fundierung einer Modernisierung umfassender Produktionssysteme zurückgebliebener Regionen geeignet sind? Sind sie jedoch außerstande, den durch die Revolution der Informatik mit sich gebrachten neuen Systemen und deren Anforderungen zu entsprechen? Inwiefern wirkt sich all das auf den Zerfall der sozialistischen Systeme und die Umgruppierung der Zentren des Weltmarktes – und damit voraussichtlich dann der Kulturzentren der Welt – aus?
Begegnungen07_Czibere
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:87–93.
KÁROLY CZIBERE
The Hungarian Pension System*
The first Hungarian pension system was created in 1912. After World War II the system was financed on a pay-as-you-go basis. Laws in connection with the old age security were unified in 1975. At present these articles – II/1975 – determine fundamental features of the Hungarian pension system.
Insurance and solidarity are the basic principles of the system. Saving and income smoothing on the one hand, poverty alleviation on the other. The difficult and very complex task of balancing between these objectives is performed by the government. The most important device of the government to balance is the social security system. The Hungarian social security system is strongly associated with the Bismarckian model, based primarily on maintenance of workers’ status through earnings-related social insurance.
The pensions are financed on a pay-as-you-go (PAYG) principle. This means that workers today pay pensions to retirees today, expecting that their pensions will be paid by future workers. Current revenues of the old age security plan cover its current obligations. There is no stock of savings to pay future pensions.
The pension system is unified for all sectors of the economy. The retirement age is 60 for men and 55 for women. Special parts of the system are the retirement with advantage of age (in case of possibility of dismissal), early retirement (for the unemployed). Retirement pensions are earnings-related and require a minimum contribution period. The condition of the full pension is to be at work and to pay contribution for 20 years. The payroll tax for pensions is 6% of gross wage (for worker) and 24.5% (for employer). The formula determining the amount of pension shows the redistributive character of the system since there is a minimum pension (HUF 9600 in 1996) and the rate of the growth of the pension decrease the in case of increase of years and wage covered by contribution.
Current problems of the pension scheme
The simplest way to examine problems of the pension system in Hungary is to observe trends and structure of the expenditure on retirement pensions. Table 1 shows national expenditure on pensions, percentage of GDP and rate of growth of expenditure in Hungary between 1970 and 1994.
Table 1
Expenditure on pensions 1975-1994 (HUF billions, %)
Year Expenditure Percentage Rate of growth
of GDP
1970 13.0 3.5 11.0
1975 27.1 5.1 15.9
1980 56.0 7.1 15.6
1985 91.7 8.1 10.4
1990 202.1 9.0 17.1
1991 262.8 10.6 30.0
1992 288.7 10.0 22.5
1993 344.4 9.8 19.3
1994 436.9 10.1 26.9
1995 478.1 9.9 9.4
Expenditure on pensions considerably increased in the 90s. Previously expenditure was doubled every 5 years, but between 1990 and 1994 it grew by 25 per cent on average every year. There are a lot of reasons for this phenomenon. This is why we have to investigate the data in Table 1 in detail, examining those factors which basically determine the expenditures and the main reasons for changes. These factors are as follows:
POP(EMP) – number of workers actively contributing to retirement scheme
POP(PEN) – number of older people receiving pension
POP(18-60) – number of people between age of 18 and 60
POP(60+) – number of people over 60 years old
AVE(EMP) – average wage
AVE(PEN) – average pension
The first is the ‘title-ratio’. This ratio shows the maturity of the pension scheme. The second factor is the dependency ratio, which gives information about the demographic conditions. The third one is the employment ratio. This index shows proportion of people paying contributions to working age people. A fourth one is the replacement rate: the average value of a pension as a proportion of workers’ wage during base period. Finally, the fifth index shows the value of annual GDP produced by 1 HUF of wage. Now we have to examine how these rates changed in the past years. (Table 2)
We can see that the Hungarian pension system has reached a high degree of maturation since the number of pensioners exceeds the number of people
Table 2
Factors explaining change of expenditures on pensions 1970–1995 (%)
Year EXP/GDP Fact. 1 Fact. 2 Fact. 3 Fact. 4 Fact. 5
1970 3.5 66.7 38.7 91.2 37.5 299.1
1975 5.1 82.1 37.3 87.8 45.4 309.1
1980 7.1 93.0 38.2 87.3 54.7 314.1
1985 8.1 100.0 40.4 86.9 61.2 351.6
1990 9.0 109.9 41.8 86.4 66.2 390.6
1991 10.6 114.1 41.9 81.3 64.6 357.8
1992 10.0 111.6 41.7 73.7 60.1 379.5
1993 9.8 113.7 41.4 68.1 59.8 420.7
1994 10.1 115.7 41.1 65.4 59.7 430.5
1995 9.9 118.0 40.0 61.0 59.0 460.0
over 60 years. This strange fact is due to the labour market programmes that have been developed in the beginning of 90s. These programmes were launched to answer hard and difficult questions of the unemployment that appeared in 1989 and grew over the next years. These programmes – and the increasing black part of the economy – made possible to survive for people who were sacked. Retirement with advantage of age is possible if the worker lives to the age of 55 years and she/he is threatened with unemployment. Early retirement can be paid for people over 57 years old. Beyond these programmes there are other instruments as well: partial pension, pension for political rehabilitation etc. Finally we have to mention the most interesting one: the disability pension. The number of people retiring due to physical incapability of work has substantially increased. While at the end of the 80s the ratio of people gaining disability pension to the number of people retired in the year was around 30%, in 1995 it increased to 37%. It is likely that the reason for this shocking fact is not the bad health condition of Hungarian society, but it was too easy to get this pension.
The old age dependency ratio (the ratio of persons aged 60 and above to those aged 18-59) increased over the last three decades. The index proves the aging character of the Hungarian society. In 1990 slightly more than 19 % of the Hungarian population were over 60 years old. By 2000 the number will increase to 21, by 2010 to 23, and by 2020 to 26.7. (Analogous indexes of other Eastern European countries are lower than Hungarian ones.) In the long run increase of life expectancy and decrease of the birth rate lead to a change of the old age dependency ratio. As we can see, the increase of the dependency ratio slowed down: in 1990 the number of people over 60 years old was 2.287 million, in 1995 2.293 million. The number of people aged 18-60 was 5.956 million in 1990 and 6.082 million in 1995. These changes are due to the fact that people at the highest point of the population bulge entered work these years.
The employment ratio (Factor 3) has considerably decreased in the last years. In 1989 the number of the employees was about 5 millions, in 1993 only 3.9 million persons worked. More than 1 million people fell out of the labour force of the formal economy. A considerable part of them became unemployed, many retired (in the forms of retirement mentioned above), and a large number withdrew entirely from the labour force or escaped to the informal economy. Meanwhile the number of people retired increased from 2.5 million (in 1989) to 3.1 million (1995). These significant changes broke down and overturned the intergenerational contract. This overturn led to an increase of the budget deficit and later, when it was set up, to a deficit of the Pension Insurance Fund.
The replacement rate (Factor 4) compares average level of pensions to average level of wages. The reduction in the average replacement rate was largely due to the manipulation of three key indexation parameters in the determination of pension benefits. First, the lack of full actualisation of past contributions in the benefit formula resulted in an erosion of real entry pensions. (Since 1988 the annual wage history is taken into account for the determination of new pensions, but the wages in the last three years before retirement are not adjusted for wage growth or inflation.) Second, wage brackets in the redistributive benefit formula were not fully adjusted for wage growth, leading to a ‘reverse bracket creeping’ effect. These two factors resulted in a sharp drop of entry level pensions, both in real terms and in relation to the average wage in the economy. Third, less than full indexation of pensions to gross wages also contributed to the reduction in the ratio of the average pension to the average gross wage. During this period, pensions were indexed to movements in the expected net average wage during the upcoming calendar year. As it happened, the average pension failed to fully adjust to changes in net wages, ex-post, and fell even more relative to gross wages during the same period, because of the increase in average personal income tax rates.
Factor 5 characterises the productivity of Hungary’s economy because the index shows the amount of GDP produced by HUF 1 of wage. Dynamic increase of this index contributed to the moderation of growth of expenditures on pensions. Behind these changes we can find the transformation of the economy which is due to the constraint originating from the opening towards the world market. Hence it is probable that this index will increase during the next years.
The Hungarian pension system is characterised by high dependency ratios, large expenditures relative to GDP, high contribution rates and an unstable financial situation. Under current policies, this demographic pressure will lead to a situation in which one worker will have to support one pensioner by the year 2035. It is essential to examine the potential impact of such deterioration in fundamentals on the finances of the Hungarian pension system.
A scenario of no reforms has been elaborated under a number of assumptions. First age and gender specific, formal labour force participation rates are held constant at 1995 levels. This may be considered pessimistic. However, an exogenous recovery in formal sector participation rates is rather improbable in the absence of a well-designed package of reforms (lower pay-roll taxes, disability reform). Second, unemployment rates are assumed to fall from around 10 % in 1996 to 7 % after the year 2000. Third, contribution rates accruing to the pension fund are assumed constant. Fourth, the simulations assume backward indexation of pensions to net wages, a rule adopted in 1996. Fifth, inflation rates are assumed to decline gradually, and real GDP is assumed to grow.
Under these conditions, the PAYG system would generate growing deficits which rise to more than 6 % of GDP by the year 2050. This result is essentially due to the assumption of a declining rate of inflation, and to adverse demographic trends. The decline in the rate of inflation implies increasing real average pension benefits because of the backward indexation rule, and also increasing real entry pension benefits because of the smaller inflation-related losses built into benefit formula. This is a scenario of large and increasing pension deficits. In the absence of offsetting increases in private savings, these deficits would imply much lower national savings or extremely high contribution rates.
Attempts to reform the system
The pressures on expenditures resulting from Hungary’s economic transformation led to a progressive recognition that the pension system needed to be reformed. However, reaching an agreement on the type of reform needed has proven very difficult. The National Pension Insurance Fund (PIF) proposal comprised two publicly-managed tiers plus a small, voluntary private tier. The first tier would play a redistributive role by establishing a minimum pension of 30 % of the average net wage without relation to earnings or contribution history, and financed by raising the income tax. The second tier would be modelled on the German point system, in which benefits are calculated on the basis of the number of years of contribution, weighted by the ratio of the worker’s covered wage to the average covered wage.
The Ministry of Welfare proposal was based on the view that the Hungarian pension system contained excessive elements of solidarity – a very redistributive formula establishing higher replacement rates for lower income individuals. The proposal reflected an attempt to tighten the link between contributions and benefits within the PAYG, and deal with redistribution outside the pension system through a minimum income guarantee provided on a means-tested basis and financed from increases in the income tax. The second tier would consist of a point system closely resembling the German system.
The Ministry of Finance proposal contained a means-tested minimum income guarantee of 25 % of the average net wage. This guarantee would top up the first pillar, which would remain redistributive and PAYG. The second pillar of the proposal differed fundamentally from the other two proposals, as it consisted of a fully-funded, defined-contribution scheme managed by the private sector. The Government proposal at the time of writing would give workers the choice to stay in a reformed PAYG or to switch to a new, three pillar pension system. New entrants in the labour force would be automatically shifted to the new pension system after 1998. Workers would be given approximately one year to exercise their option to switch to the new pension system.
The reformed PAYG would include a higher retirement age of 62 for both, men and women, stricter eligibility criteria, several changes in the benefit formula designed to tighten the link between contributions and benefits. The first step was taken in the summer of 1996 when the Parliament passed a law gradually increasing the normal retirement age to 62 years and minimum years of service for early retirement by about 10 years.
The tightening of eligibility criteria would be achieved by eliminating credits for non- contributory years, such as university and technical training, and by tightening the criteria for a disability pension. The changes in the formula aimed at tightening the link between contributions and benefits include reducing the progressivity in the benefit formula and full adjustment of covered wages before retirement.
Workers remaining in the PAYG would initially pay a contribution rate of 30.5 % (later expected to be reduced by 2-3 percentage points), and the average income worker could expect to obtain a replacement ratio of around 60 % of the net average wage. Workers staying in the reformed PAYG could also obtain additional coverage from the voluntary, third pillar, which has been in existence since 1993, encouraged by generous tax incentives.
Workers opting for the new system would initially pay 20.5 % of wages to the first pillar (also expected to be reduced by 2-3 percentage points), and a contribution of 10 % to the second mandatory pillar. Additional coverage could be obtained by the voluntary, third pillar. The first pillar of the new system would contain the same rules as the reformed PAYG, including higher retirement age and minimum years of service, tighter eligibility criteria. The benefit formula would also contain the same rules as the formula of the reformed PAYG, but would be scaled down by a 2/3 factor in proportion with the size of the contribution rates. Therefore, a full career average income worker opting for the new system could expect a replacement ratio in the first pillar amounting to about 40 % of the net average wage.
The mandatory contributions to the second pillar would be placed in pension funds legally structured along the lines of the existing third pillar-mutual benefit funds managed exclusively by their members. A young average income worker opting for the new system could expect a replacement ratio of 25-30 % in the second pillar. That would make the new system particularly attractive for young workers. The worker would be subject to some risks, raising the issue of guarantees for fraud, theft and negligence.
The Government’s original proposal involved a mandatory cut-off age of 40 years. Workers below that age would be forced to switch to the new system, whereas older workers would remain in the reformed PAYG. However, a mandatory cut-off age could spark a constitutional debate over accrued rights and prove too costly to implement. These problems led the Government to make the reform mandatory for new entrants to the labour market and voluntary for anyone with a contribution history under the old scheme.
Hungary has been finalising preparations for a comprehensive pension reform, and will probably become the first Central European country to implement a three pillar system.
References
MTA VKI (1995): Changes in Expenditures on Pensions and in Pension System in Hungary. OECD (1995): Social and Labour Market Policies in Hungary.
Rocha, R.–Palacios, R. (1996): The Hungarian Pension System in Transition.
World Bank (1994): Averting the Old Age Crisis, Oxford University Press, New York.
As of spring 1996, when this paper was written.