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Begegnungen09_Haselsteiner

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:89–97.

HORST HASELSTEINER

Christianisierung Europas zwischen Rom und Byzanz

 

„Römisches Staatswesen, griechische Kultur und christlicher Glaube
sind die Hauptquellen der byzantinischen Entwicklung”.

 

Das ist der Einleitungssatz im grundlegenden Werk des großen europäischen Gelehrten und Kulturwissenschaftlers Georg Ostrogorsky in seiner 1940 erschienenen „Geschichte des byzantinischen Staates”.

Man kann durchaus weiter formulieren und diese Dreiheit für Europa und damit zu einem guten Teil für die moderne Welt reklamieren. Griechische Kultur, griechische Geistigkeit, römisches Recht, römischer Staat, Glaube und Spiritualität des Christentums sind zweifellos Grundlagen Europas und damit unserer Existenz. Dem Christentum in seiner umfassenden Integrationsfunktion der beiden genannten übernommenen und erhöhten Elemente kommt dabei die entscheidende Rolle zu.

Ablauf der Verbreitung des Christentums in Europa und seine historische Folgewirkungen sind Gegenstand dieser kurzen Überlegungen. Das im Titel angesprochene Spannungsverhältnis der Christianisierung Europas zwischen Rom und Byzanz meint das in der Folge des Großen Schismas 1054 aufgetreten Phänomen der scheinbar oder anscheinenden Spaltung zwischen West- und Ostkirche und damit des Kontinents in West- und Osteuropa.

Chronologische Mehrstufigkeit der Christianisierung Europas

Die Verbreitung des Christentums in den verschiedenen Regionen Europas war ein komplexer, keineswegs kontinuierlicher, in mehreren Wellen ablaufender, langandauernder Prozess. Der Ausgangspunkt war das Römische Reich, das „Imperium Romanum”. Zurzeit dieses Imperium Romanum verlief die Christianisierung in einer ersten Phase bis zum Mailänder Edikt Kaiser Konstantins 313 bzw. bis zur Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Theodosius dem Großen 380 bzw. 395 als „private Einzelmissionierung” und gleichläufig mit der schrittweisen Romanisierung der Bevölkerung. Ab dem 4. Jahrhundert nahm sie durch die Unterstützung der Staatsspitze größeren Umfang an und erstreckte sich auf alle Bereiche, auf alle Provinzen des Imperiums. Mit der diokletianischen Reichsreform und vor allem mit der Etablierung eines zweiten imperialen Zentrums in Byzantion/Konstantinopel im Jahre 330 durch Konstantin war – zwar nach außen hin noch nicht so deutlich erkennbar – ein Dualismus eingeleitet worden, der zunächst noch durch den Universalitätsanspruch des Reiches und durch die Stellung des Bischofs von Rom, des Papstes, überlagert wurde.

Vom 4. bis zum 6. Jahrhundert hatte die Christianisierung die germanischen Völker Galliens (hier sind vor allem die Franken mit der Taufe Chlodwigs 498 zu erwähnen) und des Mittelmeerraumes erfasst. Im 4. und 5. Jahrhundert erfolgte die Verbreitung des Christentums bei den Iren, Pikten und Schotten, im 6. und 7. Jahrhundert bei den Angelsachsen. Im Anschluss daran begann die iro-schottische, später dann die angelsächsische Mission auf dem europäischen Festland. Gegen Ende des 8. und am Beginn des 9. Jahrhunderts kam es zur Durchsetzung des Christentums bei den Sachsen durch Karl den Großen. Vom 7. bis zum 10. Jahrhundert erfolgte in mehreren Wellen die Missionierung der Slaven, jener im Alpenbereich und im Dinarischen Gebirge, in Pannonien, in Mähren, in den Böhmischen Ländern, in Südosteuropa, die „karolingisch-ottonische Slavenmission” im Weichselgebiet und schließlich die Christianisierung der Kiewer Rus’. Im 10. Jahrhundert hatten die Magyaren und schließlich im 9. und 10. Jahrhundert die skandinavischen Völker das Christentum angenommen. Soweit ein chronologischer und geographischer Überblick über die Ausbreitung des Christentums in Europa.

Konkurrenz zwischen Rom und Byzanz im 9. Jahrhundert

Differenzen und Spannungen zwischen Rom und Byzanz in der Frage der Missionierung und der neuen und erneuerten Bistumsorganisation hatten eine lange Tradition bis ins 4./5. Jahrhundert. Die Zone der Rivalität umfasste vornehmlich Ostmittel-, Südost- und Osteuropa. Gerade in dieser Großregion sollte der angesprochene Dualismus nach dem Untergang des Weströmischen Reiches, nach dem Kontinuitätsbruch der Völkerwanderung, nach der Einwanderung bzw. nach dem Einsickern der Slaven und nach der Landnahme der Magyaren zur Wirkung kommen. Zwischen Rom und Konstantinopel/Byzanz, zwischen dem Papst und dem Patriarchen kam es in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zu einem Konkurrenzverhältnis im beiderseitigen Bemühen um die Missionierung und Christianisierung in Mähren und Pannonien, bei den Slaven in Südosteuropa, bei den Bulgaren und im Bereich der Kiewer Rus’. Mitte der sechziger Jahre standen einander zwei markante und starke Persönlichkeiten gegenüber: Papst Nikolaus I. als prononcierter Vertreter des römischen Primates und Patriarch Photios von Konstantinopel, der nicht zuletzt auch aus Rivalität um den Missionsanspruch heraus Front gegen Rom bezog und – untermauert mit theologischen, rechtlich-kanonistischen und historischen Argumenten im Sinne der „translatio imperii” – sogar den geistlichen Vorrang von Byzanz ganz vehement anmeldete. Das „Photianische Schisma” eröffnete düstere Aussichten auf das künftige Schicksal der Ökumene der Christenheit. Aber zunächst konnte der endgültige Bruch noch vermieden werden, durch Teilkonzessionen von beiden Seiten. Das wechselseitige Anathema wurde aufgehoben, Photios von Rom anlässlich seiner zweiten Erhebung zum Patriarchen von Konstantinopel anerkannt, in der Missionsfrage fand man einen vorläufigen noch haltbaren Ausgleich. Die Christianisierung erfolgte zwar unter Konkurrenz der beiden Zentren, zeigte zweifellos auch byzantinische Erfolge, aber Rom blieb im Spiel und war als Alternative durchaus präsent.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich Rom, dass sich das „Erste Rom” in Böhmen und Mähren, in Ungarn und in Kroatien/Dalmatien sowie in Bosnien und der Herzegowina durchgesetzt hatte, dass sich Konstantinopel, dass sich das „Zweite Rom” aber in Bulgarien, in Serbien, in den restlichen Balkanbereichen sowie in Russland zu etablieren wusste. Allerdings bleibt festzuhalten, dass durch den Erfolg der beiden Slawenapostel Konstantin/Kyril und Method in Mähren und vor allem durch die erfolgreiche Tätigkeit ihrer Schüler in Bulgarien ab Ende des 9. Jahrhunderts, durch die Übernahme der altkirchenslawischen Schriftlichkeit und Kultur in ihrer glagolitischen, später in ihrer kyrillischen Variante, deren Annahme durch einen Großteil der orthodox orientierten Slaven, vor allem durch Russland, die Anwartschaft des slawischen „Dritten Roms”, die Anwartschaft Moskaus auf Führungsanspruch und Universalität im Rahmen der Christenheit grundgelegt wurde.

So linear und so eindeutig der Gesamtbefund der Christianisierung für den angesprochenen Raum auch aussehen mag, so dürfen doch im Hinblick auf den verzahnten historischen Ablauf der Übernahme des Christentums einige weiterführende und einschränkende Bemerkungen gemacht werden.

Ein Blick zunächst auf den bulgarischen Herrschaftsbereich soll dies verdeutlichen. Zwar hatte der bulgarische Khan Boris auf massiven kirchenpolitischen und militärischen Druck von Konstantinopel sich im Jahre 864/65 für die Taufe unter der Patronanz von Konstantinopel entschlossen. Bei der Taufe nahm er dann den Namen seines kaiserlichen Taufpaten Michael an. Seinem Ersuchen an Kaiser Michael III. und an Patriarch Photios um Entsendung von Priestern und Missionaren aus Konstantinopel wurde zwar Folge geleitstet, sein Wunsch nach Einräumung einer kirchenorganisatorischen Eigenständigkeit, nach einem Metropolitansitz wurde aber strikt abgelehnt. Daraufhin setzte sich der Bulgarenfürst mit Papst Nikolaus I. und mit dem Kaiser im Westen, mit Otto I., in Verbindung und ersuchte um Missionshilfe. Nikolaus I. entsandte zwei Bischöfe und einige Geistliche nach Bulgarien, zeigte sich aber in den kirchenorganisatorischen Fragen keineswegs geneigt, weitere Zugeständnisse zu machen. Daher fiel im Jahre 870 die endgültige Entscheidung. Boris/Michael entschloss sich für die byzantinische Orientierung. Bulgarien nahm allerdings rund 25 Jahre später die Schüler der Slawenapostel auf, die hier die Grundlage für die altkirchenslawische Kultur und Geistigkeit legten.

Auch die Entscheidung in Ungarn, beim Großfürsten Géza und dessen Sohn Vajk/Stephan, dem späteren König Stephan I., dem Heiligen, fiel nicht ganz selbstverständlich für die westliche Spielart des Christentums aus. Hatten doch die Magyaren bereits vor der Landnahme 895/96 in ihren damaligen Siedlungsgebieten nördlich des Schwarzen Meeres Kontakt zum Christentum in seiner östlichen Form. Gegen Mitte des 9. Jahrhunderts hatten einige führende Exponenten des magyarischen Stammesverbandes bereits das Christentum nach byzantinischem Muster angenommen. Rund 100 Jahre später, nach der Landnahme, war der mächtige Lokalpotentat im ostpannonischen Raum, war der sogenannte „Gyula” mit seiner Gefolgschaft auf byzantinische und donaubulgarische Vermittlung hin Christ geworden. Er war immerhin der Schwiegervater der Großfürsten Géza und gleichzeitig sein Rivale. Géza und sein Sohn entschlossen sich aber dann doch für die Übernahme des Christentums aus dem Westen, aus dem Bereich des Heiligen Römischen Reiches, und schickten ihre Abgesandten 872 zu Otto I., auf den Reichstag zu Quedlinburg. Dennoch blieb der Einfluss der „Ostkirche” im ostungarischen Bereich spürbar, wie die Präsenz von Basilianermönchen bis ins 12. Jahrhundert hinein zeigt.

Mitte des 9. Jahrhunderts ergab sich die erste Möglichkeit für Konstantinopel, das Christentum im benachbarten Bereich des Kiewer Rus‘ zu etablieren. 860 wurde die Kaiserstadt am Goldenen Horn erstmals ganz massiv von einem russisch-warägischen Militärunternehmen bedroht. Nach Abwehr der Belagerung versuchte Patriarch Photios zum ersten Mal, die Christianisierung im Bereich der Rus’ voranzutreiben. Aber außer bescheidenen Anfangserfolgen war dies zunächst ein Fehlschlag. Nicht ganz 100 Jahre später nahm die Witwe des Großfürsten Igor, nahm Ol’ga, die für ihren minderjährigen Sohn Svjatoslav die Regierung führte, wahrscheinlich in Konstantinopel mit ihrem Gefolge das Christentum an und ließ sich taufen. Da die politischen Gespräche mit Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit verlaufen waren, erbat sich Großfürstin Ol’ga im Jahre 959 durch eine eigene Gesandtschaft bei Kaiser Otto I. Sukkurs. Sie ersuchte um Entsendung eines Bischofs und von Geistlichen. Im Jahre 961 kam Bischof Adalbert, der spätere Erzbischof von Magdeburg, mit geistlicher Begleitung nach Kiew. Aber der günstige Augenblick, der „kairos” war bereits vorüber. Denn der noch heidnische Sohn Ol’gas und Igors, der Großfürst Svjatoslav hatte bereits die Macht übernommen. Die Taufe von Ol’gas Enkel Vladimir 988/89 rund dreißig Jahre später erfolgte dann unter der Schirmherrschaft von Konstantinopel. Allerdings scherte auch Russland in die altkirchenslawische Orthodoxie ein und erhob rund 450 Jahre später den universellen Führungsanspruch der Christenheit als „Drittes Rom”.

Vielschichtig und interessant ist auch die ambivalente Entwicklung im serbischen Bereich. Die Teilterritorien des mittelalterlichen serbischen Staates lagen nördlich der spätantiken lateinisch-griechischen Sprach-, Kultur-, Reichsteilungs- und Diözesangrenze, nördlich der Linie Lissos/alban. Lezhe, Scupi/Skopje, Serdica/Sofia und des Balkangebirges/des Haemus. Daher ist für die Frühzeit des serbischen Mittelalters das Wirken der Romanitas, insbesondere in den küstennahen Gebieten der Zeta, des späteren Montenegro, nicht zu übersehen. Wesentliche Impulse zur Christianisierung gingen daher auch und vor allem von den romanisierten Küstenstädten aus. Rom selbst hat noch in den späteren Jahrhunderten das neuetablierte Erzbistum Antivari/Bar als Kristallisations- und Ausgangspunkt für die vom Stuhl Petri beanspruchten Gebiete am mittleren Balkan betrachtet: alle jene Regionen, in denen nach römischen Ritus in lateinischer, griechischer oder slawischer Sprache Gottesdienst gefeiert wurde. Für sämtliche in der Folgezeit wirksame Annäherungs-, ja Unionsversuche zwischen Serbien und Rom war Zeta/Montenegro der Ausgangspunkt und das Erzbistum Antivari/Bar die Drehscheibe. Anläufe in diese Richtung hatte es im 11., 12., 13., ja sogar noch im 14. Jahrhundert gegeben. In diesem Zusammenhang ist als Kuriosum zu erwähnen, dass der erste serbische König der Nemanjiden-Dynastie, dass Stefan Uroš der Erstgekrönte, prvovenčani, durch einen Legaten Papst Honorius III. die Königskrone überreicht bekam. Erst mit dem Bruder Stefan Uroš des Erstgekrönten, erst mit dem Mönch Sava, dem späteren Erzbischof verstärkte sich dann ab Mitte des 13. Jahrhunderts die eigenständige, die orthodox-kirchenslawische Prägung des mittelalterlichen serbischen Staates und der serbischen Kirche.

Beweggründe der Christianisierung

Spirituell-religiöse und pastorale Überlegungen haben bei den Motiven zur eingeleiteten Missionierung benachbarter Völker und frühmittelalterlicher Machtbereiche bei den Glaubensvermittlern zweifellos eine große Rolle gespielt, sowohl im Westen wie auch im Osten. Weniger stark ausgeprägt werden derartige Überlegungen weltanschaulich-religiöser Art wohl bei den Rezipienten des neuen Glaubens ausgeprägt gewesen sein, wiewohl die eigenen Chronikberichte und die einschlägigen Viten ein derartiges Bild vermitteln wollen.

Mit Recht wird bei den Vermittlern wie Rezipienten ein Motivbündel als Antrieb für Weitergabe und Übernahme anzusetzen sein. In Rom wie in Byzanz wird man neben der pastoralen Aufgabe der Verbreitung der Heilslehre Jesu Christi gemäß Matthäus 28,19 und Markus 16,15 macht-, außen- und sicherheitspolitische sowie auch wirtschaftliche Motivationselemente nicht übersehen dürfen. Die Beweggründe wurden in erster Linie vom „weltlichen Arm”, von den beiden Souveränen sehr wesentlich mitgetragen. Mit der Missionierung benachbarter, mächtiger, bisher heidnischer Machtgebilde verband man die Erwartung, neben religiös-geistig-kultureller Beeinflussung auch politischen Einfluss und machtpolitische Kontrolle zu übernehmen, bis hin zur Vorstellung der direkten Eroberung und Eingliederung der neuevangelisierten Territorien und Machtbereiche in das eigene Imperium. Mit der Christianisierung war aber auch die Vorstellung von der Pazifizierung und Ruhigstellung verbunden: der durchaus berechtigte sicherheitspolitische Aspekt, aus einem mächtigen, unruhigen und expansiven heidnischen Nachbarn einen berechenbaren Partner zu machen, mit dem man auch Bündnisse eingehen könne. Als Beleg und Beispiel für diese Grundüberlegung genügt der Hinweis auf die diesbezüglichen Vorstellungen von Photios nach der bedrohlichen Belagerung Konstantinopels im Jahre 860 durch das warägisch-russische Heer und die Überlegungen Otto I. in Quendlinburg 872 im Hinblick auf die Missionierung der Magyaren. Mit diesen macht-, außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen waren aber auch – und das sei keineswegs verschwiegen – finanzielle und wirtschaftliche Erwartungen verknüpft, rein profaner, weltlicher Art, aber durchaus auch im innerkirchlichen Bereich.

Motivvielfalt ist aber auch bei der militärischen und politischen Führungsspitze der Christianisierten festzustellen. Bei einem Teil war es die Erkenntnis von der deutlich spürbaren Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses, die militärische Niederlage, wie bei den Magyaren die Schlacht auf dem Lechfeld 955, oder bei Khan Boris der massive Aufmarsch des byzantinischen Heeres in den Jahren 864/65 an der Grenze des bulgarischen Machtbereiches. Bei den Magyaren spielte ebenso die Überzeugung eine Rolle, dass die katastrophale Niederlage bei Augsburg auch transzendentale Ursachen haben müsse. Der Himmelsgott der Christen habe sich dem eigenen gegenüber als deutlich überlegen erwiesen. Sodann gelangt man zum nüchternen Kalkül, dass in der frühmittelalterlichen christlichen Staatengemeinschaft kein Platz für ein heidnisches politisches Gemeinwesen mehr wäre. Daher ist der Entschluss zur Übernahme des Christentums zum Teil auch ein Akt der existentiellen politischen Selbstbehauptung geworden. Géza und Stephan werden wohl das awarische Beispiel der Niederlage, des Niederganges und des Verschwindens aus der Geschichte vor Augen gehabt haben. – Die Führungsschichten der Rezipienten wollten aber auch in die internationale christliche Gemeinschaft der frühmittelalterlichen Staatenwelt als anerkanntes und akzeptiertes Mitglied aufgenommen werden. Sie wollten in diesem Rahmen ebenfalls eine Rolle spielen. Denn ohne Übernahme des Christentums hatte man keine „frühmittelalterliche Völkerrechtssubjektivität” aufzuweisen. Wohl gab es Absprachen und Tribut- und Unterwerfungsverträge mit den christlichen Nachbarn, aber keine durch Eid und Pakt abgesicherte volle Bündnisfähigkeit. Auch die zur Festigung der eigenen Stellung und zum Prestigegewinn nötigen dynastischen Heiratsverbindungen mit christlichen Prinzessinnen ließen einen Übertritt zur Konfession des Heiratspartners ratsam und notwendig erscheinen. Bei Vladimir von Kiew im Hinblick auf Anna Porphyrogennetos und bei Vajk/Stephan von Ungarn in Hinblick auf Gisella von Bayern zweifellos mit ein bedeutsamen Motiv für die Taufe. Mit der Übernahme der im europäischen Umfeld schon lange etablierten Religion war aber auch die Erwartungshaltung verbunden, die geistig-kulturellen Früchte dieser Tradition übernehmen zu können, daran Teil zu haben. Römisches Recht, politische Administration, griechische Kultur und Geistigkeit in der Synthese des Christentums, in der Schriftlichkeit des Kanzleiwesens, in Verbindung mit der magischen Anziehungskraft der höheren, der höherstehenden Kultur sollten mit der Christianisierung auch zur Konsolidierung des eigenen Machtgefüges, des eigenen Staates nach innen und nach außen beitragen. Die Festigung der Fürstengewalt, die angestrebte und versuchte Etablierung der politischen Eigenständigkeit, legitimiert durch den Akt der Krönung sollte eine eigene Staatsidee auf christlicher Basis schaffen. In der Folgezeit wurde in einigen Fällen einen eigene „Reichsidee” entwickelt, entweder nach selbstständiger Konzeption und Legitimation, oder subsidiär und konkurrierend als Sukzessor, Erbe und Nachfolger des Basileus oder des Kaisers.

Mehrschichtigkeit bei der Übernahme des Christentums

Mit der Taufe des jeweiligen Souveräns und seiner unmittelbaren Gefolgschaft war zwar ein spektakulärer und historisch meist fassbarer Beginn der Christianisierung bei den einzelnen Machtbereichen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas gesetzt worden. Dieser Akt der „äußeren Christianisierung” begann an der Machtspitze und wurde durch die oft mit Zwangsmitteln durchgesetzten „Massentaufen” der untertänigen bäuerlichen Bevölkerung nach unten zu tragen versucht. Einschlägige Berichte zeitgenössischer und später verfasster Chroniken vermitteln davon ein recht eindrucksvolles Bild, wie zum Beispiel die Schilderung der Massentaufe der Einwohner Kiews im Dnjepr und in dessen Nebenfluss Počaja im Spätherbst des Jahres 989 in der Schilderung der altrussischen „Nestorchronik”.

In fast allen Bereichen aber blieb neben der neu angenommenen Religion durchaus noch die alte heidnische Tradition lebendig. Es kam zu heidnischen Reaktionen, zu Aufstandsbewegungen, zu blutigen Auseinandersetzungen, die oft um die Nachfolgefrage und die Absicherung der politischen Macht gingen. Dies geschah in mehreren Wellen und wurde durchwegs im Sinne der vollen Etablierung des Christentums und der christlichen Orientierung abgeschlossen.

Dem Prozess der „äußeren Christianisierung” folgte dann ein langer und vielschichtiger Prozess der „inneren Christianisierung” breiterer Bevölkerungskreise, eine echte „innere Mission” mit stärkerer religiöser, aber auch kultureller und wirtschaftlicher Einbindung der Bevölkerung. Daneben blieben aber in beträchtlicher Kontinuität alte, traditionelle, aus der heidnischen Zeit herrührende Anschauungen und Vorstellungen wirksam. Sie wurden zum Teil auch in das neue christliche Weltbild übernommen und integriert. Gerade für die erste Phase dieser „inneren Christianisierung”, mit dem Weiterleben alter Vorstellungen aus heidnischer Zeit, wurde – um ein Beispiel zu nennen – in der Kiewer Rus’ noch lange der Vorwurf der „dvoeverie”, der „Doppelgläubigkeit” erhoben und die innere Missionierung der Bevölkerung verstärkt. Alte Strukturelemente blieben aber dennoch mit einer beachtlichen Langzeitwirkung bei den einzelnen Völkern wirksam. Um an einem Beispiel die Mehr- und Vielschichtigkeit der religiös-weltanschaulichen Komponenten zu zeigen, sei auf die Albaner verwiesen. In chronologischer Reihenfolge sind folgende weltanschaulich-kulturelle sowie religiöse Elemente bei ihnen wirksam geworden und haben bis in die heutige moderne Zeit ihre Kontinuität und Wirksamkeit zum Teil behalten:

– der illyrisch-thrakische Volksglaube,

– die Vorstellungen von der griechischen Götterwelt,

– die verschiedenen Varianten der römischen Reichsreligion,

– die erste, frühe Phase der Christianisierung in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten,

– der slawisch-heidnische Volksglaube,

– die zweite Phase der Christianisierung ab dem 5./6. Jahrhundert, zunächst vom Westen, dann vom Osten her,

– mit dem Vorstoß der Osmanen die Verbreitung und Etablierung des Islam und des „Seriat-Rechtes,

– das Weiterleben der christlichen Konfession in den traditionellen albanischen Stammes- und Sippenverbänden unter Osmanischer Herrschaft,

– das langsame Vordringen des Gedankengutes der neugriechischen und der italienischen Aufklärung und anderer westeuropäischer Einflüsse vom 18. bis zum 20. Jahrhundert,

– und schließlich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach die Übernahme des marxistisch-leninistischen Gesellschaftssystem des Kommunismus mit dem Atheismus als Verfassungsgrundsatz. Durch die jüngsten Änderungen in Albanien wurde dieses repressive, antidemokratische und areligiöse System aufgebrochen.

So ergibt sich für die Albaner, neben der zum Teil fortwirkenden Vielschichtigkeit, heute das bekannte Bild der konfessionellen Zusammensetzung: 2/3 Muslime, 1/4 Orthodoxe und rund 10 % Katholiken.

Die Christianisierung zwischen Rom und Byzanz ergibt ein heute noch bestehendes Bild der Bipolarität und der Vielfalt.

Von einer Einheit des Christentums, von einer Einheit der europäischen Christenheit kann bei weitem noch nicht die Rede sein. Und dies trotz der zahlreichen Anläufe zum ökumenischen Dialog.

Uns bleibt die Hoffnung und der Glaube, dass wir es in Hinkunft zuwege bringen, von der christlichen Solidarität, vom nebeneinander der christlichen Kirchen zu einer echten Gemeinschaft in der Einheit der Heilslehre und der Liebe Christi zu gelangen.

 

Literatur

 

Ernst Benz: Geist und Leben der Ostkirche (Hamburg 1957).

Thomas von Bogyay–János Bak–Gabriel Silagyi (ed.): Die Heiligen Könige (=Ungarns Geschichtsschreiber 1, Graz/Wien/Köln 1976).

Thomas von Bogyay: Stephanus rex (Wien/München 1975).

Karl Bosl: Probleme der Missionierung des böhmisch-mährischen Herrschaftsraumes. In: Cyrillo-Methodiana. Festschrift der Görres-Gesellschaft (Köln 1965).

J. Bujnoch: Zwischen Rom und Byzanz (=Slawische Geschichtsschreiber 1, Graz/Wien/ Köln 1972).

Francis Dvornik: Les Slaves, Byzance et Rome au 9-e siècle (Paris 1926).

Francis Dvornik: The Slaves, Their Early History and Civilization (Boston 1956).

Tausend Jahre Christentum in Russland. Zum Millennium der Taufe der Kiever Rus’. ed. K. Ch. Felmy, G. Kretschmar, F. von Lilienfeld, C.-J. Roepke (Göttingen 1988).

Franz Grivec: Konstantin und Method. Lehrer der Slaven (Wiesbaden 1960).

Stanislaus Hafner: Serbisches Mittelalter. Geschichtsbewusstsein und Nationalität (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Graz/Urania 1992).

Oskar Halecki: Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas (Salzburg 1956).

Christian Hannick: Die byzantinischen Missionen. In: Kirchengeschichte als Missions- geschichte 2. Die Kirche des frühen Mittelalters. 1. Halbband, ed. K. Schäferdieck (München 1978).

Gyula Moravcsik: Byzantium and the Magyars (Amsterdam 1970).

D. Obolensky: Russia and Byzantium in the Mid-Tenth Century: The Problem of the Baptism of Princess Olga. In: Greek Orth. Theol. Review 28 (1983).

Georg Ostrogorksy: Byzanz und die Welt der Slawen (Darmstadt 1974).

Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzantinischen Staates (München 1965).

Werner Seibt: Der historische Hintergrund und die Chronologie der Taufe der Rus’ (989) (unveröffentlichtes Manuskript, Wien 1988).

Georg Stadtmüller: Die Christianisierung Südosteuropas als Forschungsproblem. In: Kyrios 6 (1942/43) 61–102.

Günther Stöckl: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (=Kröners Taschenausgabe 244, Stuttgart 1965).

Manfred Trummer: Die Christianisierung und Einbeziehung Russlands in die kyrillo-methodianische Tradition. Eine historisch-kulturhistorische Skizze anlässlich des 1000-jährigen Jubiläums der Russischen Kirche (unveröffentlichtes Manuskript, Graz 1988).

P. von Váczy: Die Anfänge der päpstlichen Politik bei den Slawen (Budapest 1942).

Franz Zagiba: Zur Geschichte Kyrill und Methods und der bairischen Ostmission. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 9 (1961) 247–276.

Begegnungen09_Hanak

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:77–88.

PÉTER HANÁK

Typen der jüdischen Assimilation in der Habsburgermonarchie

 

Thema und Begriff

Schon das Thema an sich ist mit schwerwiegenden historischen Problemen, Vorurteilen und Leidenschaften durchwoben, so dass es falsch wäre, einen fachlichen Vortrag auch noch mit begrifflichen Ungereimtheiten zu belasten. Der Begriff der Assimilation nämlich ist nicht allein im Allgemeingebrauch sondern selbst in der Fachliteratur überaus ungeklärt. Während der letzten hundert Jahre verstand man darunter zumeist den Anschluss an eine Nation bzw. die Verschmelzung mit jener, obwohl die nationale Assimilation mit anderweitigen gesellschaftlichen und ideellen Prozessen in engem Zusammenhang steht. Ebenso liegt auf der Hand, dass es sich bei jedweder Assimilation um einen langfristigen, komplexen Prozess handelt, dessen Abschnitte und Ebenen nicht unbedingt linear nach vorn weisen oder keine irreversiblen wären. Die Auslegung des Begriffes an sich ist damit Voraussetzung für eine Abhandlung des Themas, ohne uns jedoch auf ein längeres Traktat über die Definition einzulassen.

Eine natürliche Folge des ständigen Wandels der Lebensumstände des Menschen ist die Migration, und ihre Konsequenz die Regelung des Zusammenlebens von „Eingeborenen” und „Fremden” auf irgendeine Art und Weise. Als erste Etappe im Prozess des friedlichen Miteinanders erachten wir die Niederlassung und primäre Anpassung. Die Ankömmlinge respektieren zwecks Sicherung elementarster Existenzbedingungen Ordnung und Regeln der aufnehmenden Gemeinschaft, wahren jedoch ihre Sonderstellung, da noch nicht sicher ist, ob es sich um ihren provisorischen Wohnort oder eine zur Heimat werdende Siedlung handelt. Bei diesem Abschnitt handelt es sich zumeist um jene einer Generation, im Gegensatz zu den nicht aufgenommenen sondern nur geduldeten Immigranten – wie zum Beispiel die Juden im christlichen Europa – die diese Etappe über mehrere Generationen hinweg durchmachten. In solchen Fällen ähnelt das dauerhafte Zusammenleben den unvermischten Symbiosen: selbst in der viel späteren Generation von Nachfahren tritt keine gesellschaftliche und wissentliche Integration ein. In der zweiten Phase lassen sich die Einwanderer endgültig nieder; sie passen sich nicht nur der neuen Umgebung an, sondern sind weiterhin darum bemüht, deren Wertordnung und Traditionskultur zu übernehmen, sie sich zu eigen zu machen. Diese Phase bezeichnet man unter anderem als Akkulturation. Ein charakteristisches Zeichen hierfür ist, dass der Einwanderer bilingual wird, was mit der Doppelheit von Bewusstsein und Kultur, Loyalität sowie Identität einhergeht. Vom ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkt her ist dieser Abschnitt bereits der Beginn der Integration, denn der Immigrant ist um umfassende Harmonie, die Beseitigung der Diskrepanz zweifacher Identität wegen, bemüht. Diese Phase geht kontinuierlich in den Abschnitt der tatsächlichen Assimilation über. Dauer und Intensität des Überganges hängen in großem Maße von Umfeld, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen ab. Bei der folgenden Stufe, der Assimilation, handelt es sich ebenfalls um einen langwierigen Prozess, denn dann entschwinden nicht allein oberflächliche Nachahmungsmanien der Neophyten, sondern zuliebe einer möglichst spurlosen Verschmelzung aufgegebene alte Identitäten. Darum ist gerade in diesem fortgeschrittenen Stadium der Assimilation das sich einordnende Individuum bzw. die Gemeinschaft empfindsamer und verletzlicher abweisenden Gesten der „Ureinwohner” gegenüber, wenn man sie ihre nicht-Vollwertigkeit spüren lässt. Oftmals kann die nationale oder Rassendiskrimination, der Rassismus, zu einer expliziten Dissimilation führen, wie das in unserem Jahrhundert bei Massen des deutschen und ungarischen Judentums der Fall war. Der hier grob skizziert avisierte Prozess war eine Folge und Begleiterscheinung der Modernisierung der Neuzeit. Zweifelsohne haben der Ausbau von Markt und Infrastruktur, die Ideen der Aufklärung sowie die Einführung des Modernen Bildungssystems, die bürgerliche Rechtsgleichheit – mit einem Wort: die Verbürgerlichung – notgedrungen zur Emanzipation des Judentums und damit zu seiner gesellschaftlichen und kulturellen Integration beigetragen.

Der Ausgangspunkt

Das Habsburgerreich erfasste Länder unterschiedlichsten Entwicklungsniveaus und verschiedenster Rechtsstände. Infolgedessen wiesen auch Ansiedlungen und Situationen der Juden je nach Land oder gar Provinzen Differenzen auf. Betrachten wir als Ausgangspunkt die Lage des Judentums Mitte des 18. Jahrhunderts, noch vor der Annektierung Galiziens und der Bukowina (jedoch ohne die Lombardei). In der Monarchie unter Maria Theresia lebten Juden in größerer Anzahl praktisch nur in zwei Ländern, in der Tschechei (Böhmen, Mähren, Schlesien) und in Ungarn (mit Siebenbürgen), doch waren es derzeit nicht einmal 100.000.

Das böhmische Judentum mochte zu jener Zeit 40–50 Tausend Personen zählen. Seine Lage kann seit Leopold I. keinesfalls als aussichtsreich bezeichnet werden. Ihrer tiefen Religiosität wegen – oder auch trotz jener – mochte die biedere Kaiserin sie nicht leiden. Einige Jahre nach ihrer Besteigung des Thrones vertrieb sie Ende 1744 die Juden aus Prag, später dann aus ganz Böhmen. Weder Flehen noch Interventionen vermochten zu helfen: bei klirrender Kälte zogen Tausende Vertriebene im Februar 1745 aus den Straßen Prags in die Dörfer der Provinz, wo man ihnen „ungastliche Unterkunft in Ställen, Schauern und auf Dachbüden” bot. Diese Maßnahme jedoch rächte sich an dem vom schlesischen Krieg gezeichneten Land. Die wirtschaftliche Lage und der Mangel an Krediten zwangen die Herrscherin schließlich zur Aufhebung der Verordnung. Die Juden konnten nach 5 Jahren Verbannung gegen Zahlung von 2,5 Millionen Gulden wieder nach Prag zurückkehren, wo ihre Vorfahren derzeit bereits seit 700 Jahren gelebt hatten – wenn auch nicht immer in Frieden und Sicherheit. Aus all dem geht hervor, wie viel barmherziger doch die österreichische Obrigkeit war, als die deutsche Diktatur zweihundert Jahre später. Eine weitere schwere Last, die das Judentum der Tschechei zu tragen hatte, war das sogenannte Familiantengesetz, welches seine Vermählung regelte. Demgemäß konnte aus jeder Judenfamilie nur ein Mann heiraten, damit sie sich nicht übermäßig vermehren würden. Dagegen wehrten sich die Juden mit heimlichen Eheschließungen und mit der Übersiedlung ins Ausland – vor allem nach Ungarn. Das denkwürdige Toleranzedikt Josefs II. aus dem Jahre 1781 hat eher die Propagierung der Sicherheit und des Geistes der Aufklärung zur Folge gehabt als eine tatsächliche Besserung der Lage des Judentums in der Tschechei. Diskriminierungen wie Verehelichungsgesetz und Ghetto blieben erhalten. Somit wird verständlich, dass die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam einsetzende Akkulturation größtenteils auf die deutsche bürgerliche Mittelklasse und die deutsche Kultur ausgerichtet war.

In Ungarn war die Situation eine andere. Nach der Befreiung von der Türkenherrschaft gab es im Lande nur einige hundert jüdische Familien. Die dann im Jahre 1750 durchgeführte Konskription hat ebenfalls knapp 15.000 Juden aufgeführt. Fakt ist aber auch, dass diese Registrierung der Steuern wegen erfolgte, so dass wahrscheinlich ist, dass die tatsächliche Anzahl das Doppelte betrug. Der Wahrheit näher stand wohl die Volkszählung unter Josef II., laut welcher 1785 in Ungarn 83 Tausend Juden lebten. Ihre Lage unterschied sich wesentlich von jener in den Kronländern. Sie entrichteten zwar eine Toleranzsteuer, konnten sich jedoch in den königlichen Freistädten nicht niederlassen. Ansonsten war es ihnen aber gestattet, frei in den Marktflecken, auf Herrschaftssitzen der Großgrundbesitzer zu leben und zu handeln. Das ungarische Rechtssystem kannte keine Ghettos, Orts- und Bewegungseinschränkungen. Im Gegenteil, ein Großteil der Grundbesitzer begünstigte ausdrücklich die Ansiedlung jüdischer Pächter auf deren Besitz. Das Toleranzedikt von Josef II. blieb in Ungarn nicht einfach ein Papier, denn das Parlament von 1791 gewährte auch gesetzlich die Glaubensfreiheit.

Die zuvor erwähnte Volkszählung hat auf dem Territorium Österreichs (in den Alpenländern) 853 Juden erfasst. Praktisch konnten sich also in dem im engeren Sinne genommenen Österreich Juden nirgendwo niederlassen. Dieser Fakt hatte bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts Bestand, denn auch die Volkszählung von 1857 wies nur 7557 Juden nach, davon etwa 6000 in Wien. Auf diese Weise hat die Judenfrage bis hin zum letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts auf dem Zentralterritorium keine ernsthaften Probleme bereitet.

 

Liberalismus, Emanzipation, Akkulturation

Tschechische Länder

Die Zweisprachigkeit der tschechischen Juden und die gleichzeitig damit einhergehende Herausbildung der Doppelidentität kann mit Josef II., mit der schnellen Verbreitung sozioökonomischer Gesichtspunkte bei der kapitalistischen Modernisierung datiert werden. Letztere führte zur wirtschaftlichen Erstarkung des jüdischen Bürgertums der Händler und Unternehmer, zu einer engen Verflechtung mit der deutschen Bourgeoisie. Die Zweisprachigkeit hatte eine wirksame Weiterführung des von Josef II. angeregten deutschsprachigen Unterrichtes zur Folge und dieser gesamte Prozess eine Verbürgerlichung und den Sieg des Liberalismus, die Erringung der Emanzipation, zum Ergebnis. Die überwiegende Deutschorientierung der Mittelklasse tschechischer Städte war demnach motiviert von der wirtschaftlichen Stärke und der kulturellen Überlegenheit des Deutschtums, von dem größeren Prestige sowie einer wahrscheinlich der Assimilation zu verdankenden höheren Rangeinstufung. Dies war eine allgemeine, man kann sagen gesetzmäßige Erscheinung. Die sich zur Loyalität steigernde Deutschfreundlichkeit jedoch hat einen solchen sozialpsychologischen Kreislauf in Gang gebracht, welcher in der tschechischen Nationalbewegung den traditionell-konfessionellen Judenhass, die sich häufig wiederholenden antijüdischen Bewegungen schürte; diese Atrozitäten wiederum stärkten die Identifikation der Juden mit dem Deutschtum. Mathematisch war diese Formel nahezu durchschaubar, würden nicht zwei Gegenmomente ihre Gültigkeit widerlegen.

Eines dieser Momente ist die Sympathie den Tschechen gegenüber, die spätere gestärkte Loyalität vor allem unter den Ärmsten der Juden, im Kreise der untersten Schichten, in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Zu Beginn der Verfassungsära hat die Mehrheit der jüdischen Wähler den deutschen Liberalen ihre Stimme gegeben. Anlässlich des Zensus von 1890 hat sich nahezu ein Dreiviertel der jüdischen Bevölkerung als deutsch ausgewiesen, 10 Jahre später aber nur noch 45 %! (nota bene: die offizielle Demographie der Monarchie erkannte weder die jüdische Nationalität noch das Jiddische als Sprache an). Wie erwähnt, kann die verstärkte tschechische Orientierung der Juden auf soziale Faktoren zurückgeführt werden, jedoch nur zum Teil. Die Juden haben nämlich unter anderem auch die wie bekannt antisemitische und deutschfeindliche nationalistische Jungtschechische Partei unterstützt. Man kann eventuell diese neue nationale Orientierung mit rationeller Voraussicht erklären, sie auf das in die künftige tschechische Macht gesetzte Vertrauen zurückführen, denn zum Ende des 18. Jahrhunderts machten die Tschechen nur die Hälfte der Prager Bevölkerung aus, 100 Jahre später hingegen 90 %. Als wahrscheinlichsten Faktor erachte ich jedoch, dass hinsichtlich Antisemitismus die deutschen Nationalisten den Tschechen in nichts nachstanden. Um 1900 gründeten die deutschen Beamten, Handwerker und Studenten ihre Verbände und nationalen Turnvereine, zusammengefasst im „Bund der Deutschen in Böhmen”, welcher „an der Rassenfront kämpfen wollte”. Und bei einigen Gruppen tauchte bereits der „Arierparagraph” auf. Dem leidenschaftlichen deutschen Nationalismus vermochte die Zusammenarbeit geschwächter Gruppierungen von Liberalen mit dem jüdischen Bürgertum und prominenten Elementen der Intelligenz nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.

Die drohende Gefahr wird meiner Ansicht nach von jenen Historikern richtig ausgelegt, die nachweisen, dass das tschechische Judentum zur Zeit der Jahrhundertwende in das Kreuzfeuer zweier verblendeter, doch im Antisemitismus vereinter Nationalismen geriet. Diese prekäre Lage hemmte die fortschreitende Akkulturation des Judentums und zahlreiche Gruppierungen wurden in andere Richtungen gedrängt. Die eine Strömung war die internationalistische Sozialdemokratie, der sich gerade zur Jahrhundertwende eine ganze Flut jüdischer kleiner Leute und Arbeiter zuwandte. Der andere Fakt von Bedeutung war die literarische Allianz „Prager Kreis”. Antifaschistische und antikommunistische Schriftsteller und Gelehrte weiten die gesellschaftliche Bedeutung dieses Kreises nachträglich überdimensional aus, denn sie war seinerzeit eine historische geringe. Allein die spätere Entdeckung von Franz Kafka verleiht ihm retrospektiv kulturhistorische Bedeutung. Trotzdem können wir das literarische Schaffen dieses marginalen, sich weder mit den Deutschen noch Tschechen identifizierenden Kreises von Kosmopoliten als symptomatisch für die Suche nach einer neuen Form der jüdischen Identität betrachten, welche in den Jahren vor dem Weltkrieg auch mit der Gründung zionistischer Gruppen in Erscheinung trat.

Zusammenfassend können wir sagen, dass im Verlaufe der liberalen Verbürgerlichung des 19. Jahrhunderts die Akkulturation des Judentums der Tschechei einen bedeutenden Fortschritt zu verzeichnen hatte, wobei es aber nicht gelang, das Stadium der Assimilation zu erreichen. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts spaltete sich die Identität, und der erstarkte Antisemitismus hatte eine Bremswirkung zur Folge. In Prag bildete sich das Lager der eine nationale Assimilation Ablehnenden und sich den sozialistischen Programmen Anschließenden heraus, bzw. es kam zur literarisch-künstlerischen Gruppierung einer neuen jüdischen Orientierung.

Österreich

Aufgrund der Logik der „reinen Vernunft” könnten wir annehmen, dass sich im Österreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ideale Situation für eine verhältnismäßig schnelle sowie erfolgreiche Assimilation des Judentums ergab. Die massenhaften Ansiedlungen entfielen auf die Blütezeit des Liberalismus und schienen äußerst erfolgreich. Die zu Beginn dieser Epoche nur 7000 Personen ausmachenden Juden zählten 5 Jahrzehnte später 191 000 Personen, wobei sich aber 95 % (d. h. 182.000) auf Wien konzentrierten. Begünstigt wurde die Akkulturation dadurch, dass die Mehrzahl der aus den tschechischen Ländern, aus Ungarn und dem Deutschen Reich Kommenden deutsch sprach, die deutsche Kultur kannte und anerkannte. Die spektakulären Erfolge der Akkulturation ließen den Erfolg einer bereits einsetzenden Assimilierung glaubhaft erscheinen. Das österreichische Gemeinschaftsbewusstsein ruhte nämlich nicht auf einer sprachlich-ethnischen, sondern auf einer politischen Basis. Das Judentum hatte demgemäß nicht einen die vollkommene Identifizierung mit einer bestehenden Nation fordernden – oftmals intoleranten – Nationalismus anzuerkennen, sondern den übernationalen Staatspatriotismus der Österreicher.

Die Logik der Geschichte aber ist verwickelter als der rationale Intellekt. Die Assimilation stieß bereits im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts auf starke Gegenströmungen. Egal wie paradox es zu sein scheint – eben der spezifische Protektor gestaltete sich zu einem wunden Punkt: der übernationale Staatspatriotismus nämlich. Jener Patriotismus bot nicht zu unterschätzende Vorteile bezüglich Identität, ebenso traditionellem Antisemitismus gegenüber, doch waren die für eine Verschmelzung erforderlichen Anziehungs- und Bindekräfte nicht ausreichend für eine schnell ablaufende Assimilation. Umso weniger, da gesellschaftliche sowie bewusstseinsmäßige Voraussetzungen größtenteils fehlten. Selbst oberste Schichten der jüdischen Bourgeoisie nämlich wurden von der österreichischen Elite nicht aufgenommen, weder von Grundbesitzern noch der Beamtenaristokratie, der sog. „ersten Gesellschaft”. Möglich gewesen wäre noch eine Verschmelzung mit dem christlichen Bürgertum, was aber beide Seiten zurückwiesen. Skeptisch verfolgte ein Großteil der österreichischen Mittelklasse die stürmische Expansion der jüdischen Bourgeoisie, und die Gegensätze des Konkurrenzkampfes haben praktisch spontan traditionell antisemitische Reflexe bei ihnen ausgelöst. Es ist so, dass selbst zwei Jahrhunderte diese Gepflogenheit nicht vergessen machen konnten, umsonst hat Kaiser Leopold 1670 Wien und die österreichischen Provinzen von Juden „gesäubert”. Mit erneuter Wucht machte sich der Antisemitismus schon zur Zeit des Vormärz, anlässlich der 48er Revolution und während des Neoabsolutismus bemerkbar. Die Bezeichnung „Judenkrieg” stammt nicht von Georg Ritter von Schönerer, sie tauchte bereits während des Wiener Aufruhrs der 60er und radikaler Studentenbewegungen der 70er Jahre auf. Fakt ist trotzdem, dass die Durchdringung des österreichischen Staatspatriotismus mit dem deutschen Nationalismus verbunden ist, mit dem Namen Schönerers, mit dem großdeutschen rassistischen Programm seiner Partei. Es zählte weiterhin nicht zu den Ausnahmen, dass sich ein Teil der österreichischen Liberalen den nationalistischen zeitgenössischen Strömungen anschloss, selbst wenn man den Anschluss ablehnte, in den Leitartikeln der „Neuen Freien Presse” oder in den Ansprachen des Reichsrates den Geist des Staatspatriotismus wahrte, ebenso wie die Kaisertreue. Seine effizienteste Form erlangte der österreichische Antisemitismus zum Ende des Jahrhunderts mit der Ideologie und Propaganda der von Karl Lueger geführten Christlichsozialen Partei.

Der dann zum Ausgang des Jahrhunderts überhandnehmende politische Antisemitismus hat das Wiener Judentum äußerst empfindlich getroffen. Die in den Rang eines Ordnungsprinzips des öffentlichen Lebens erhobene Diskrimination unterbrach den Prozess der Assimilierung und hat die Juden – ebenso wie in Prag – in andere Richtungen geleitet, vor allem was die Identitätssuche der Assimilierten angeht.

Die größte Anziehungskraft übte auch in Wien der Sozialismus aus. Nicht nur Arbeiter, sondern ebenso zahlreiche Angehörige der sozial sensiblen jungen Generation der jüdischen Mittelschicht – erwähnt seien hier nur Viktor Adler, Wilhelm Ellenbogen und Otto Bauer – schlossen sich der Arbeiterbewegung an, im sozialistischen Internationalismus jenes Identitätsideal findend, welches der österreichische Übernationalismus ihnen schon nicht mehr zu bieten vermochte.

Neben der Assimilierung zeigten sich auch innerhalb des Judentums Gegentendenzen. Solche waren der zähe Widerstand der orthodoxen Kultusgemeinde einer Erneuerung der Konfession gegenüber, jener, der sich gegen die Einführung des Deutschen als Sprache der Predigten oder gegen gemischte Ehen richtete. Der Kampf zwischen Orthodoxen und Reformern endete auf österreichische Weise mit einem Kompromiss, was so viel heißt, dass der Einfluss der jüdischen ethnoreligiösen Orthodoxie bestimmend blieb. Die andere Gegenströmung ergab sich aufgrund der zunehmend massenhaften Einwanderung aus Galizien. Der Großteil der Immigranten aus Galizien brachte neben einem flachen Rucksack und den Gewohnheiten des Ghettolebens hassidistische Ideen mit sich. In Wien traf sozusagen der aufgeklärte, emanzipierte Westjude auf den ein starkes, zum Teil mystisches Judenbewusstsein in sich bergenden Ostjuden. Aus diesem Aufeinandertreffen wurde der politische Zionismus geboren. Die Basis bildeten die Organe der gebildeten Jugend der Ostjuden; den Leitgedanken formulierte Theodor Herzl – der aus Budapest nach Wien übersiedelnde Publizist – in seinem Buch „Der Judenstaat” (1896), welches zur Bibel der neuen Bewegung wurde. Die Aufsichnahme der jüdischen nationalen Identität, ein neuer Exodus aber hätten für die kulturell bereits stark assimilierte Elite der Intellektuellen eine dermaßen schmerzliche Selbstaufgabe, einen solchen umfassenden Verlust bedeutet, dass selbst unter den in ihrer österreichischen Identität und in ihrem Judentum Gekränkten sich vor dem ersten Weltkrieg nur wenige für den Zionismus entschieden. Junge Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler suchten andere Auswege aus der Krise des „liberalen Ego”. Sie stimmten dem Rückzug bzw. dem Ausbleiben aus dem Establishment zu und fanden ein Zuhause in der existentiellen Einsamkeit, im Garten einer esoterisch– ästhetischen Kultur – und innerhalb jener in den Tiefen der Seele. Dies ist die Kultur des fin de siècle, die eng verbunden ist mit den Namen Hofmannsthals und Schnitzlers aus dem Kreise „Junges Wien”, mit der psychoanalytischen Schule des Freud, der Sezession des Wagner und Klimt, mit der Musik von Gustav Mahler, Richard Strauss und Arnold Schönberg – d. h. geniale Künstler schufen sie, und nebensächlich war, ob sie Juden oder Nichtjuden waren; entstanden ist das spezifische Produkt der europäischen Dekadenz zur Jahrhundertwende, das mit dem heute üblichen Begriff erwähnte „Wiener Paradigma”.

Ungarn

Für Ungarn trifft eine besondere Erscheinung zu: in diesem zurückgebliebenen feudalen Land setzte zuerst, bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Akkulturation des Judentums ein und erreichte das höchste Stadium. Erwähnt werden können zum Beispiel die Parlamentssitzungen der Reformepoche, wobei die von 1843/44 die Empfehlungen hinsichtlich freier Niederlassung der Juden, der freien Ausübung des Handwerks sowie der Belegung intellektueller Laufbahnen verabschiedete. Wir können József Eötvös, Ferenc Deák oder Lajos Kossuth erwähnen, die bereits zur Zeit des Vormärz Fürsprecher der jüdischen Emanzipation waren. Wir könnten Kossuth zitieren, der klar formulierte: Der Fortschritt Ungarns erfordert die Verbürgerlichung des Adels und eine Magyarisierung des Bürgertums. Die Reformgeneration hat mit aller Kraft die sprachliche und kulturelle Akkulturation des heimischen Judentums unterstützt. Ich wünsche jedoch nicht, hier Fakten des Assimilationsprozesses aufzuführen, sondern möchte die Gründe der Assimilierung des Judentums analysieren. Denn es handelt sich dabei um ein Problem, welches wert ist, es zu analysieren – warum haben denn nun die größtenteils deutschsprechenden Juden, loyale Untergebene der Habsburger, sich für die Identität mit den Ungarn entschieden?

Ich glaube nicht, dass ich dem einfachen Materialismus huldige, wenn ich an erster Stelle die ökonomische Interessengemeinschaft des ungarischen Adels mit Grundbesitz und der jüdischen Händler, des Finanzkapitals hervorhebe. In Ungarn setzte die kapitalistische Modernisierung in der Landwirtschaft, die Kapitalanhäufung mit dem Produktenhandel ein. In diesen Bereichen harmonierten die Interessen der ihre Güter meliorierenden Warenproduzenten/ Grundbesitzer vollkommen mit jenen der jüdischen Unternehmer. Damit erklärt sich die zuvor erwähnte Toleranz, mit der zahlreiche Magnaten – Diskriminationen größtenteils ignorierend – jüdische Händler und Pächter gern auf ihren Gütern ansiedelten. Kredit, Markt und Eisenbahn waren jene Bereiche, in denen der ungarische Adel die konservative, schwerfällige österreichische Regierung übertraf.

Es wäre jedoch eine zu große Vereinfachung, jene spezifische Zusammenarbeit allein auf materielle Interessenmotivationen zurückzuführen. Auf ungarischer Seite handelte es sich bei der Assimilierung der bürgerlichen Mittelschicht – wie bereits erwähnt – um eine nationale Daseinsfrage. Was aber veranlasste die verhältnismäßig rasche Magyarisierung des Judentums? Eingehende Nachforschungen beweisen, dass zum Teil soziale Überlegungen Grund dafür sind: zweifelsohne verfügte im Lande der ungarische Adel über herrschaftliche Ränge und das Privileg zur führenden Rolle in der Politik. Zum Ungar werden und sich dem Adel anpassen – das sicherte der trotz ihrer Besitze sozial minderwertigeren jüdischen Bourgeoisie ein Emporkommen auf der gesellschaftlichen Rangleiter. Von Bedeutung ist die Gleichstellung Ungar = Herr, doch handelte es sich hierbei nicht um den einzigen sozialpsychologischen Stimulus. Dem gesellten sich zur Reformzeit das Freiheitsideal und der Glaube an Liberalismus hinzu. Die Vermählung von romantischem Freiheitsgedanken und rationalem Liberalismus hat eine besondere Anziehungskraft auf die Juden Ungarns und das deutsche Bürgertum ausgeübt. Für sie blieb der josefinische Staatspatriotismus, der die Heimat mit staatsbürgerlicher Loyalität und der Heilsdoktrin vom Gemeinwohl identifizierte, ein gefühlsmäßig nichtssagender Begriff, ein praktisch kaum verwendbares Prinzip. Demgegenüber hat die liberale Nationalbewegung des ungarischen Adels gleichzeitig die Freiheit angeboten, den Abriss ständischer Trennwände, den gesellschaftlichen Aufstieg sowie die Vorteile der gefühlsmäßigen Bindung an eine Nation mit einer großen Vergangenheit. Wenn ein Jude einen Vergleich zog zwischen dem überholten Zunftgeist der deutschen städtischen Bürger, dem antisemitischen Antikapitalismus oder dem fortschrittsfeindlichen Konservatismus der Wiener Regierung bzw. dem Reformprogramm des liberalen Adels, der beispielhaften religiösen Toleranz und seiner rezeptiven Bereitschaft – dann konnte bezüglich seiner Wahl kein Zweifel aufkommen. Die Akkulturation des Judentums Ungarns machte zur Zeit des Dualismus Fortschritte bzw. ging in der Hauptstadt und sich verbürgerlichenden Gegenden in das Stadium der Assimilation über. Gehemmt wurde dieser Prozess zeitweise durch antisemitische Ausbrüche, so u.a. die Ritualmordanklage von Tiszaeszlár 1883, nicht jedoch aufgehalten. Die Anklage endete mit einem Freispruch, der Prozess mit dem Sieg des Liberalismus, ebenso wie der in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführte kirchenpolitische Kampf, im Anschluss an welchen gesetzlich die gleichberechtigte Anerkennung des israelitischen Glaubens deklariert wurde. Diese Erfolge dämpften nicht die aufbrausende Unzufriedenheit der im Kapitalismus deklassierten Adligen und kleinbürgerlichen Elemente, die zunehmende Judenfeindlichkeit und den Antiliberalismus. Zur Zeit der Jahrhundertwende traten in den Reihen der politischen Führungsschicht neokonservative Strömungen auf, in erster Linie in den Agrarinstitutionen, in der katholischen Volkspartei und in Kreisen der Gentry-Beamten. Das Bündnis mit den Juden hat die Mehrheit aus ökonomischem Interesse sowie aus nationalitätspolitischen Überlegungen aufrechterhalten, denn das assimilierte Judentum hat die ungarische Herrschaftsschicht den nationalen Minderheiten gegenüber unterstützt. Gleichzeitig aber hat die wirtschaftliche Expansion des Judentums und dessen Konkurrenz auf Gelehrtenlaufbahnen die Massen konservativer Nationalisten mit unverhohlener Antipathie erfüllt. Politische Prinzipien und vielfältige Interessen bzw. vielzählige Gegeninteressen und Antipathien prallten in der Mentalität der ungarischen Führungsschicht ständig aufeinander. Wir könnten das auch so formulieren, dass es zu einer permanenten Dissonanz zwischen kognitiver und affektiver Sphäre kam, woraus sich wiederum eine ständige Spannung und Ambivalenz hinsichtlich des Problems der Eingliederung der Juden ergab.

Diese Ambivalenz und Dissonanz hat die andere Seite ebenso charakterisiert. Die so erfolgreich scheinende Assimilation hat das Judentum gespaltet. Im Jahre 1910 deklarierten 77 % von ihnen (700 000 Personen), dass sie Ungarn seien und 211 Tausend erklärten das Deutsche – tatsächlich eigentlich Jiddische – für ihre Sprache. Wertordnung und Mentalität der zum Großteil assimilierten jüdischen Mittelschicht entsprachen weiterhin nicht ganz der „herrschaftlichen” Weltanschauung (der Gentrys). Auch hier also die Dissonanz zwischen kognitiver und emotionaler Sphäre. Der geadelte jüdische Großbürger und die ungarische jüdische Bourgeoisie blieben im Geschäftsleben weiterhin Partner der Grundbesitzer, sie haben im öffentlichen Leben die führende Rolle sowie den Nationalgedanken der politischen Elite anerkannt. Gleichzeitig aber hat man bei der wirtschaftlichen Tätigkeit und im Privatleben den Bourgeoisethos beibehalten. In der ungarischen adligen Führungsschicht bzw. der jüdischen Mittelklasse beruhte die Hassliebe auf Gegenseitigkeit – die kognitive Dissonanz zeigte dem anderen sein Spiegelbild. Auf diese Weise bildete sich auf der ungarischen Seite der Monarchie ein raffiniertes System komplementärer Dissonanz heraus, ein empfindliches Gleichgewicht, das mit Rücksicht auf höhere staatliche und nationale Interessen von beiden Parteien fürsorglich eingehalten und bis zum Zusammenbruch aufrechterhalten wurde. In dieser These, die praktisch als Zusammenfassung angesehen werden kann, ist der Erfolg der ungarischen jüdischen Assimilation inbegriffen, denn einzelne Gruppierungen und Individuen erlangten tatsächlich die Verschmelzung. Doch weist die These auch darauf hin, dass es sich bei der Assimilation noch um keine irreversible handelte, da die Wogen des politischen Antisemitismus Ungarn ebenfalls aufwühlten.

Galizien

In Galizien bzw. der Bukowina blieb eine frühere und primitivere Form des Zusammenlebens erhalten: über Jahrhunderte hinweg war die Sonderstellung des Judentums erhalten geblieben, die Ghetto-Lebensweise. Die Reformen Josefs II., die mehreren hundert deutschsprachigen Grundschulen sowie die Gründung zweier Gymnasien, die Kulturpolitik, hätten einen Wandel mit sich bringen können, doch haben die Nachfahren sein Werk nicht fortgesetzt. Gründe dafür waren einerseits die Gleichgültigkeit von Kaiser Franz, andererseits der Widerstand der orthodoxen Rabbiner. In Galizien mangelte es an den Voraussetzungen einer von Oben herbeigeführten Zivilisierung von Gewohnheitskultur und Lebensform. Umso mehr, da ja zur Mitte des vorigen Jahrhunderts die österreichische Regierung das Judentum Galiziens auf eine den liberalen Zeitgeist, ja sogar die legale Emanzipation an sich beschämende Art und Weise diskriminierend behandelte. Über Jahrzehnte hinweg wurde die Toleranzsteuer beibehalten, die Einschränkung von Besitzerwerb und freier Wahl der Laufbahn. Weiterhin legte man keinen Wert auf die Zügelung des Antisemitismus seitens des polnischen und ukrainischen Volkes. Gehemmt wurde eine zeitgemäße Akkulturation des Judentums in Galizien durch die bestehende auffallende Rückständigkeit, die verspätet einsetzende Modernisierung und deren verschlepptes Tempo. In diesen verarmten Ostgebieten blieben selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die traditionellen Agrarverhältnisse bestehen. Unter diesen Umständen errangen jüdische Händler und Pächter große Antipathien. In der polnischen, hauptsächlich aber ukrainischen Bauernschaft fand der Antisemitismus nationalistischer Parteien zur Jahrhundertwende fruchtbaren Boden. In der Klemme zwischen unfreundlicher österreichischer Regierung und feindlicher ukrainischer Gesinnung hat das Judentum Galiziens – sofern es wählen konnte – sich eher für die Polen entschieden. Anlässlich der Volkszählungen hat sich die große Mehrheit – 1910 z.B. 92 % – zur polnischsprachigen erklärt. Sicherlich kamen ähnliche Effekte zur Wirkung, wie im Falle der ungarischen Assimilation: das starke polnische Nationalbewusstsein übte eine größere Anziehungskraft aus, als der abgenutzte, unglaubwürdig gewordene josefinische Staatspatriotismus. Sachlichkeitshalber müssen wir hinzufügen: zur 92 %-igen Polenfreundlichkeit der Mehrheit trug unter anderem bei, dass zur Zeit des Dualismus mindestens eine halbe Million von Juden Galiziens nach Ungarn, Österreich bzw. Amerika emigrierten, was als antipolnisches Votum ausgelegt werden kann. Diese Annahme bestärken Daten des Zensus von 1930 im vereinten Polen. Derzeit, da es möglich war, sich zur jüdischen Nation zu bekennen, haben nur noch 30 % der Juden Galiziens die nationale Gemeinschaft der Polen erwählt. In Galizien kam es also nicht zu einer jüdischen Integration. Die große Mehrheit, rund zwei Drittel, verblieb auch im Laufe des 19. Jahrhunderts im Rahmen der ethnoreligiösen Gemeinschaft und des Ghettolebens. Das verbleibende, sich den Polen hinnähernde Drittel dagegen erreichte ebenfalls nur das Anfangsstadium der Akkulturation. Das Problem einer eventuellen Assimilation im 20. Jahrhundert hat der deutsche Faschismus gelöst...

*

Ich war darum bemüht, die vier Typen der Anpassung, Rezeption und Identifikation des Judentums in der Monarchie darzustellen. Als intensivster, größtenteils tatsächlich assimilierter Typ erwies sich der ungarische, als am geringsten realisierter der polnische. Die österreichische und tschechische Modifikation setzte im 19. Jahrhundert ein, verharrte dann später, und dieser Typ blieb unvollendet. Die ungarische Variante erreichte das Niveau der Rezeption durch die Nation. Ich würde somit den ungarischen Typ als eine faktische, den österreichischen als eine ambivalente, den tschechischen als eine tragische Form und den polnischen Typ als eine traditionelle Form des Ghettoschicksals bezeichnen. In dieser Typologie spiegeln sich gleichzeitig Spezifika der deutschen, polnischen und ungarischen Geschichte wieder. Insofern ist die Typologie der Assimilation des Judentums ein charakteristisches Thema der mitteleuropäischen Geschichte.

Zum Abschluss verbleibt mir eine Frage von historischer Gültigkeit, jedoch literarisch inspiriert: hat es überhaupt einen Sinn, nach dem Holocaust, nach der Vernichtung von mehreren Millionen Juden, nach dem das mitteleuropäische Judentum bis auf einen geringen Bruchteil zusammenschrumpfte, nun über eine Typologie der Assimilation zu diskutieren?

Ich bin mir nicht sicher.

Doch wenn all dies auch vom Gesichtspunkt der tatsächlichen Alltagspolitik her keinen Sinn hätte, so bin ich doch der Meinung, dass dem vom Standpunkt der vergleichenden Literaturgeschichte und einer vielleicht aufrichtigeren nationalen Selbstkenntnis, der Gestaltung einer reellen europäischen Identität große Bedeutung zukommt.

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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:59–76.

FERENC GLATZ

Fragezeichen der europäischen Geschichte

„Rückkehr oder Fortsetzung der Geschichte?”

 

„Die Europäische Union verfügt über kein sicheres Zukunftsbild. – Sie hat ihre Strategie für das 21. Jahrhundert zu formulieren. – Die Europäische Union muss sich vor allem emanzipieren, sie muss sich befreien von den Merkmalen ihrer Entstehung in der Zeit des kalten Krieges, d. h. sie muss ihr Verhältnis gegenüber den außereuropäischen Arbeitszentren (Amerika, Ferner Osten) formulieren. Die Grenzen der Erweiterung der Union müssen festgelegt werden. Es gilt die Frage zu beantworten, ob es ohne eine europäische Identität eine Europäische Union gibt? – Bisher haben wir über die Erweiterung der Union ausschließlich von sicherheitspolitischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten aus gesprochen. Es ist an der Zeit, dass in einer neuen Strategie auch die kulturellen-menschlichen Gesichtspunkte einen Platz erhalten. Zu all dem ist das Neudenken der Geschichte Europas erforderlich. Gibt es überhaupt eine gemeinsame Tradition der Kultur und Bräuche der auf dem Kontinent lebenden Völker? Und wenn ja, was muss unternommen werden, damit diese Grundlagen der Identität sichtbar werden? Die Notwendigkeit des Neudenkens der europäischen Geschichte stellt auch vor die Geschichtsschreibung neue Fragezeichen.”

Dies waren jene Thesen, die wir im Januar dieses Jahres auf einer internationalen Konferenz über die europäische Strategie dem Expertengremium der Europäischen Union vorgelegt haben, das die Osterweiterung untersuchte. Jetzt, während ich mich auf eine neuere Konferenz über ein ähnliches Thema vorbereite, war ich bemüht, meine Gesichtspunkte zu einer Diskussion über die Neubewertung der europäischen Geschichte zusammenzufassen.

I.
Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten

Im Jahre 1990 ist in Europa der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Endlich. Die Sowjetunion hat ihre Truppen aus der 1945 besetzten mitteleuropäischen Zone abgezogen. Deutschland wurde vereinigt, die kleinen mittelosteuropäischen Staaten dürfen frei wählen: in der Innenpolitik und in der Außenpolitik. Ein großer Teil ihrer Bürger genießt zum ersten Mal die Freude der freien Meinungsäußerung. All das geschieht zu einer Zeit, in der sich in Westeuropa die europäische Integration und parallel hierzu die globale Integration beschleunigt. Zu einer Zeit, in der die global werdende Produktionsorganisation einem grausamen Wettbewerb im Weltmaßstab nachkommt. Und es gilt, in diesem globalen Wettbewerb die Wettbewerbsfähigkeit der auf dem Territorium der Europäischen Union lebenden Bürger zu sichern. Doch mit welchen Mitteln?

Neue Herausforderungen treten auf. Erstens: Die EU will sich auf das Grenzgebiet im Osten ausdehnen. Zweitens: Westeuropa muss sein Verhältnis zu den anderen Staatsgebilden des christlich-jüdischen Kulturkreises auf anderen Kontinenten formulieren und herausgestalten: zu den USA, zu Russland, zu Afrika, zu Südamerika und Australien. Und drittens: jetzt muss es seine Strategie des 21. Jahrhunderts zu den Völkern und Staaten anderer Kulturkreise, zum Nahen Osten und zum nicht-christlichen Afrika, zu China, Indien, Japan, zum Fernen Osten herausgestalten.

Die neuen Herausforderungen bringen auch Konflikte neuen Typs mit sich, gegenwärtig muss – unbedingt – über drei derartige Konflikte gesprochen werden. Erstens: über die auf dem Territorium der Beitrittskandidaten ausgebrochenen Konflikte. Zweitens: über die an der gegenwärtigen Grenze der Europäischen Union auftretende soziale und ethnische Krisensituation. Drittens: über den zwischen der Europäischen Union und den USA entstandenen verborgenen Konflikt.

Über diese Konflikte wird mit einer mehr oder weniger großen Offenheit gesprochen. Eine der großen Unterlassungen der europäischen Intelligenz der 90er Jahre ist, dass sie die europäische politische Elite nicht dazu angeregt hat, durch ein gemeinsames Nachdenken die Grundfragen der Zukunft der Europäischen Union heraus zu formulieren. Weder die Ziele, noch die auftretenden Konflikte sind systematisiert worden. Es wurde nicht formuliert, dass die Union als Einheit der territorialen Verwaltung ein einziges wahres Ziel haben kann: die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der auf ihrem Territorium lebenden Bürger. Und zugleich muss untersucht werden, was diese Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen hundert Jahren behindert hat? Warum Europa seine in den früheren Jahrhunderten erkämpfte initiierende Rolle in der Welt verloren hat?

Unsere Vermutung lautet, dass wir uns der Geschichte zuwenden müssen. Wir müssen nicht nur mit administrativen politischen Mitteln gegen die für uns hinderlichen europäischen politischen Erscheinungen kämpfen, sondern wir haben auch die historischen Gründe der Konflikte aufzudecken. Wir müssen nicht nur Brände löschen, sondern wir müssen auch vorbeugen, damit sich keine Krisenherde herausbilden.

Die Konflikte der Osterweiterung

Der jetzt befreite Raum, dieser sich von der Ostsee bis zur Adria erstreckende Raum, ist bemüht, sich in den Prozess der westeuropäischen Integration einzufügen. Die historische Betrachtungsweise des Prozesses der Integration verweist nämlich darauf, dass die östlichen Randgebiete zwischen 1000 und 1945 mehr oder weniger lockerer Bestandteil des sog. Westens waren. Diese Integration war dann rascher (im 11., im 14. und 15. sowie im 19. Jahrhundert), wenn das Randgebiet und das westeuropäische Zentrum wirtschaftlich aufeinander angewiesen waren und in einem politischen Bündnissystem lebten. Das Neuanpassen ist mit Erschütterungen verbunden, weil der Raum von der westlichen Welt ein halbes Jahrhundert hindurch abgeschnitten und aus der Revolution der Informatik und Produktion nach 1945 herausgeblieben war. Dies ist auch aus dem Grund mit Erschütterungen verbunden, weil die hiesigen Lebensprinzipien und die gesamte Arbeitsorganisation sich seit 1000 Jahren in vielem anders organisieren als in Westeuropa.

Die Politiker dieses Raumes sprechen über die vollständige Identität mit dem Westen und nur darüber, dass ihre Völker immer schon Bestandteile der westeuropäischen Kultur waren. Die Historiker aber wissen es, dass dies nur zum Teil zutrifft. Die Gesellschaftsstruktur der Randgebiete stellte – seit 1000 Jahren schon – immer ein „gemischtes Modell” dar.

Von den Phrasen der Politiker geführt, dachte die westliche Welt es sich so, dass die Erweiterung der EU nichts anderes als die Einführung des Mehrparteiensystems, der Marktwirtschaft und der Ausbau des europäischen Sicherheitssystems im mittelosteuropäischen Raum ist. Dann waren sie aber sehr verwundert, als in den neuen Demokratien die ersten gesellschaftlich-politischen Konflikte auftraten. Und zur gleichen Zeit auch den gesamten europäischen Integrationsprozeß gefährdeten.

Sie waren erstaunt, als es in diesem Raum zu ethnisch-religiösen Zusammenstößen kam: zuerst zwischen den in der Minderheit lebenden Ungarn und den in der Mehrheit befindlichen Rumänen und Slowaken (1991–92), dann auf dem Balkan zwischen den Kroaten, Serben, Bosniern und Albanern (1992–99). Damals begannen die Westeuropäer zur Kenntnis zu nehmen, eine Besonderheit dieses Raumes ist, dass hier die Grenzen der Siedlungsgebiete der Nationen und die Verwaltungsgrenzen nie übereinstimmten. (Im Westen begann man deshalb von der „Rückkehr der Geschichte” zu sprechen. Das hatte einen negativen, verurteilenden Gehalt. Dies bedeutete: in der östlichen Hälfte kommt eine ganz veraltete, altmodische Ideologie, der Nationalismus auf, den man mit militärischen, internationalen und politischen Sanktionen verdrängen kann.)

Der Kosovo-Krieg (1999) ließ dann die europäische (und vielleicht die amerikanische) politische Elite bewusst werden, dass man die seit Jahrhunderten ungelösten gesellschaftlich-politischen Spannungen mit Raketen und internationalen Sanktionen nicht lösen kann. Nicht der aus den amerikanischen Westernfilmen und aus den europäischen romantischen Jungmädchenromanen bekannte „Gute „ und „Böse” trägt den Kampf aus. Nicht „gute Albaner” und „böse Serben”, oder „böse Ungarn” und „gute Rumänen” stehen einander gegenüber. Wie es auch sinnlos ist, die Attribute gegen andere auszutauschen. Und auch die westeuropäischen Verwaltungsprinzipien, die politischen Ideologien können nicht angewendet werden, wie dies von den Großmächten im Jahre 1920 und im Jahre 1947 getan wurde. Eine Lösung könnte ausschließlich nur das Finden der örtlich entsprechenden politischen Mittel bedeuten.

Seit einem Jahrzehnt wird immer wieder gesagt, dass in diesem Raum das Verhältnis zwischen Nation und Staat neu durchdacht werden muss. Nicht durch das Hin- und Herschieben der Grenzen, sondern durch das Aufgeben des auf dem Heiligtum der Nationalstaaten beruhenden veralteten Prinzips der Gebietsregelung können die jahrhundertealten Probleme überwunden werden. Die in diesem Raum lebenden Völker müssen sich einigen in Bezug auf die identischen Prinzipien im Verhältnis zwischen der nationalen Mehrheit und der Minderheit innerhalb der Staatsgrenzen.

Konflikt auf dem Territorium der Grenzstaaten

Die andere schockierende Wirkung in den 90er Jahren löste das Auftreten der Fremdenfeindlichkeit aus. Zum ersten Mal auf dem Territorium des auf seinen Beitritt wartenden, dann die gegenwärtige Grenze der EU bildenden Österreich. Und in einem Europa „der offenen Grenzen” kann diese Fremdenfeindlichkeit für Westeuropa mit katastrophalen Folgen verbunden sein. Das Ergebnis der österreichischen Wahlen (Oktober 1999) hat plötzlich den „Kurs” der in diesem ganzen Raum vorhandenen Fremdenfeindlichkeit angehoben. (Wiederum wurde von der „Rückkehr der Geschichte”, von dem Auftreten der faschistischen Ideologien von vor 1945 gesprochen. Obzwar die Geschichte sich auch auf diesem Gebiet nur fortsetzt.)

Eine andere Besonderheit dieses Raumes ist nämlich gerade der Charakter der Pufferzone. Das Aufeinanderstoßen der westeuropäischen, durch die Entwicklung von mehreren Jahrtausenden einheitlich gewordenen Arbeitsorganisation (des Arbeitsmarktes, der Arbeitsmoral, der Lebensprinzipien) mit den östlichen Gesellschaften. (Viele behaupten, dass das Wesen im Zusammenstoßen des „entwickelten urbanen Westeuropas” mit „dem ruralen Osten” besteht.) Aus dem Charakter der Pufferzone gehen seit Jahrhunderten kontinuierlich soziale Konflikte hervor: mit der Arbeitskräfteabwanderung, mit der Migration sind Serien von sozialen, massenpsychischen und ethnischen Gegensätzen verbunden. (Was heutzutage die an der österreichischen Grenze lebenden Wähler der Freiheitlichen Partei formulieren, das wurde im Grunde bereits im 16. und 17. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht. Die Bürger in den ungarischen Städten – übrigens deutschen Ethnikums – wollten die ungarischen, slowakischen und tschechischen und schlechter ausgebildeten und ärmeren Elemente nicht in die Städte hereinlassen. Mit einem Gesetz mussten sie zum Gehorsam gezwungen werden /Gesetzartikel Nr. 13 des Jahres 1608./ Wie das Österreich der Habsburger sein Territorium in einzelnen Perioden des 18. Jahrhunderts vor den Einwanderern aus dem Osten genauso verteidigte, /nun, nicht das Königreich Ungarn, sondern die Erbländer/ genauso wollen dies jetzt die Wähler der Freiheitlichen Partei erreichen. Und so könnte man noch hunderte von Beispielen aufzählen.) Auch hier ist nicht vom Kampf zwischen „Gut” und „Böse”, sondern von der ständigen Präsenz der historischen Spannung aus mehreren Jahrhunderten die Rede. Die lokale Arbeitsorganisation ist nicht imstande, eine Konsolidierung zu schaffen: sie wird immer wieder zugrunde gerichtet von der Reihe der Migrationen aus verschiedenen Richtungen, von den häufigen Veränderungen der internationalen Machtverhältnisse und von den aus diesen resultierenden gesellschaftlichen Bewegungen.

Diese ethnischen und sozialen Spannungen brachen im vergangenen Jahrhundert immer wieder auf. Weil sie keine Auflösung fanden. Sie waren die Ursachen für den Ausbruch von zwei Weltkriegen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese zum Teil vom sowjetischen System, zum Teil von den Siegermächten des Weltkrieges mit administrativen Mitteln zurückgedrängt. Wie die Sanktionen aber auch nach dem ersten Weltkrieg nicht lange anhielten, so konnte das Unterdrücken der historischen Konflikte unter die Oberfläche nicht ewig dauern. Nur dauerte jetzt die Inkubationszeit länger als zwischen 1920 und 1938. 45 Jahre hindurch (1945–1990) war die Besatzungspolitik „erfolgreich”. Jetzt brechen diese im System der neuen Demokratien und durch die Freimütigkeit im Ausdruck einer neuen Generation wiederum an die Oberfläche durch.

Das bedeutet: tatsächlich Jahrhunderte alte europäische gesellschaftlich-ethnische Konflikte wurden von den europäischen Friedensschlüssen im Jahre 1947 nicht gelöst. Die Konflikte wurden mit administrativen politischen Mitteln unterdrückt. Wir, die wir an die edlen europäischen Freiheitsideen glaubten und glauben, und andere, die in den beiden europäischen Kriegen, im Faschismus, im Kommunismus einfach nur eine militärische-politische Frage erblickten, wir haben uns geirrt, sie haben sich geirrt.

(Und jetzt kommt noch die Möglichkeit einer Serie von historischen Katastrophen eines anderen Typs, auf dem Gebiet des Naturschutzes nämlich hinzu. Im östlichen Randgebiet Europas – wie auch in Russland – wurden die industriellen-technischen Revolutionen in der Gesellschaft nicht organisch und systematisch verarbeitet. Dies kann aber schon das Thema einer neueren Diskussion sein...)

 

Neue Wettbewerbssituation zwischen Europa und den USA

Doch schauen wir uns die dritte Konfliktzone an. Von der weniger gesprochen wird, die aber für die Zukunft Europas determinierender sein kann.

Der Abschluss des Zweiten Weltkriegs, die Aufhebung der Teilung Europas und die Beseitigung der Sowjetunion bedeutet auch, dass die Weltordnung mit zwei Polen aufgehört hat zu bestehen, dass die selbständigen Interessen Westeuropas zwischen andere Kraftzentralen geraten sind. Einerseits ist mit dem Ende des kalten Krieges die Europäische Union keine Gegenorganisation (kein Frontstaat) mehr. Die sowjetische ideologisch-militärische Macht als Gegner ist nicht mehr präsent. Andererseits hat sich die Konkurrenz auf dem Gebiet der Produktion und der Kultur mit den amerikanischen und den fernöstlichen Arbeitsmärkten zugespitzt. Vor allem mit den amerikanischen. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand ein Gegner oder ein Konkurrent, ein Wettbewerber ist. Und das ist gut. Damit aber die Europäische Union ihre Möglichkeiten im 21. Jahrhundert real erkennt, muss sie ihre Geschichte innerhalb des christlich-jüdischen Kulturkreis und auf dem wirtschaftlichen und kulturellen Weltmarkt neu werten. (Aber! Auch in diesem Wettbewerbsverhältnis ist die Geschichte aufgetreten, wenn auch wieder in einer verzerrten Form. Die europäische politische Elite spricht – wenn auch leise, hat sie doch wegen der beiden Kriege ein berechtigtes Verantwortungsgefühl – über die „Rückkehr der Geschichte”, wenn die amerikanischen Konkurrenten das Instrument des psychischen Drucks anwenden und plötzlich „darauf kommen”, dass die Vorläufer der europäischen Unternehmen vor einem halben Jahrhundert mit den faschistischen Regimes kollaboriert haben. Diese Firmen verwenden auf zynische Art und Weise den Fakt der Verbrechen, die nicht verjähren können, in einem heutigen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf.)

Die Westeuropäer sprechen also wieder von der „Rückkehr der Geschichte”, obzwar in diesem Falle – so wie im Falle Ostmitteleuropas – hier von der Fortsetzung die Rede ist. Von einer Rückkehr zu sprechen und die Fortsetzung zu leugnen, bedeutet die Relativierung der Geschichte. Als ob dies wirklich nur ein „Bei-den-Haaren-Herbeiziehen”, ein „Hervorkramen” wäre. Und als ob nicht wirklich die Gefahr der Kontinuität bestehen würde. Die Gefahr der rechtsextremistischen Lösungen. Wir haben Angst, die wirkliche Gefahr zu bagatellisieren.

*

Wir müssen uns an die Geschichte wenden, wir müssen wiederum die Geschichte des europäischen Kontinents studieren. Die Ursachen der wahren Konflikte, das Fortleben der wahren Konflikte, ihr Fortleben bis zur Gegenwart. Die Ursachen der Konflikte gilt es zu suchen und aufzulösen. Und nicht nur einen ideologisch-politischen Krieg gilt es gegen die Wähler oder gegen ihre Leiter zu führen. Wenn in Europa neue soziale-nationale Konfliktserien beginnen, dann werden die hier auf dem europäischen Kontinent Lebenden keine konkurrenzfähigen Menschen sein im Wettbewerb der Produktion und der Kultur des 21. Jahrhunderts. Und eben deshalb werden unsere Kinder mit Recht uns dies vorwerfen, und nicht jenen, die an die Spitze dieser sozialen und nationalen Unzufriedenheiten getreten sind. Und wirklich sind wir die Verantwortlichen, wir untätige europäische Intellektuellen, die von der gebauten Umgebung verzaubert sind, die sich aber nicht um die Gesellschaft kümmern. Weder in der Europäischen Union, noch bei uns zu Hause.

Schauen wir uns also einige historische Lehren an. Beginnen wir mit dem Neudenken der europäischen Geschichte.

 

II. Über die Fortsetzung, über die Kontinuität

Was heute in Europa geschieht, ist nicht einfach eine Rückkehr zur Geschichte sondern die Fortsetzung der bereits schon 2500jährigen Geschichte der europäischen Gesellschaft.

Die EU: Eine 2500 Jahre alte Bautätigkeit

Sprechen wir jetzt im Jahre 2000 von den Etappen in der Entwicklung der Europäischen Union. Ziehen wir die chronologischen Grenzen. Die erste Etappe dieser Entwicklung dauerte unserer Auffassung nach von 1951 bis 1999. In dieser Etappe bildete sich die Struktur der einheitlichen territorialen und politischen Verwaltung der Union (Maastricht 1992), die der Verteidigungsorganisation (NATO 1949–1999) und schließlich ihre wirtschaftliche Struktur (Euro 1999) heraus. Vergessen wir aber nicht, alle diese Schritte waren deshalb möglich, weil sie auf einer 2500 Jahre alten kulturellen und moralischen Gemeinschaft, auf der Tradition der griechisch-römischen Gebietsorganisation und auf den Grundlagen der christlich-jüdischen Gemeinschaftsorganisation und Moral beruhen.

Die Geschichte der europäischen Gesellschaften rechnen wir von der sich ab 800 v. Chr. entfaltenden, sogenannten Hallstatt-Kultur an. Damals überwand der auf dem europäischen Kontinent siedelnde Mensch die Lebensform als Sammler und Jäger und begann mit der Anlegung von ständigen Siedlungen, mit der Haltung von Haustieren und mit der Bestellung von Grund und Boden. All das wurde durch den Erzbergbau, die Metallbearbeitung (die Bronze, und dann vor allem durch das Eisen) ermöglicht. Und damals bildete sich auf der Appenninischen Halbinsel, in Italien, der erste Stadtstaat (Rom, 753 v. Chr.) heraus, aus dem das große Römische Imperium entstehen wird. Es fällt auf, dass sich vom 8. Jahrhundert v. Chr. ganz bis zur Gegenwart der politische und wirtschaftliche Wirkungsbereich dieser Kultur auf ein sehr determiniertes geographisches Gebiet erstreckt: vom heutigen Karpatenbecken (genauer gesagt vom östlichen Steppengebiet) bis zu der heutigen Britischen Inselwelt, bzw. bis zum Mittelmeer und bis zur Küste Nordafrikas und im Norden bis zur Skandinavischen Halbinsel. In diesem Raum haben sich die verschiedenen Kulturen und deren Organisationen der Gebietsverwaltung entfaltet.

Jenes Westeuropa, das die wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Grundlage der gegenwärtigen europäischen kontinentalen Integration geworden ist, hat sich allmählich, auf dem Wege einer organischen Entwicklung herausgebildet: es ist auf dem Boden des Römischen Reiches (3. Jahrtausend v. Chr. – 5. Jh. n. Chr.), dann des Fränkischen Reiches (vom 7. bis zum 9. Jh.) und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (10. Jahrhundert bis zum Jahre 1806) entstanden. Mit dieser organischen Entwicklung verband sich außer den „das Reich Schaffenden” das materielle und intellektuelle Erbe von vielen Völkern. Die heutige Europäische Union ist die Fortsetzung eines einheitlichen Staatsaufbaus von griechisch-römischem Typ und dessen gesellschaftlicher Organisation.

Die heutige Europäische Union verfügt aber nicht nur über eine gemeinsame Tradition der Gebietsorganisation, sondern auch über eine gemeinsame Überlieferung der Moral und der Verhaltensweisen sowie der Bräuche. Von dieser gemeinsamen Tradition der Moral und der Bräuche wird noch weniger gesprochen als von den gemeinsamen Traditionen der Verwaltung. Dies ist nichts anderes als der christlich-jüdische Kulturkreis. Und von diesem christlich-jüdischen Kulturkreis werden sehr entschiedene Normen nicht nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mensch und Universum (Mensch und Gott) formuliert, sondern er regelt nach strengen einheitlichen Prinzipien das Gemeinschafts- und Privatleben der Individuen der Gesellschaft. (Denken wir nur an die Bestimmungen der Zehn Gebote in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse, die Familie, die Ehe, auf die Verhaltensweisen /das Erben/.)

Dieser Kulturkreis unterscheidet sich sehr entschieden von den parallel dazu entstandenen anderen großen Kulturkreisen der Welt, vom mohammedanischen, vom buddhistischen Kulturkreis und von den sonstigen Kulturkreisen.

Wenn es so beliebt, war der Aufbau der Europäischen Union bisher leicht, war sie doch die organische Fortsetzung der Erbauung eines 2500 Jahre alten Kulturkreises. Das Schwere an der Arbeit beginnt jetzt.

 

III. Über die Wanderung des christlich-jüdischen Kulturschwerpunktes

Es sei wiederholt: Damit die Europäische Union ihre Möglichkeiten im 21. Jahrhundert realistisch abschätzen kann, muss sie ihre Geschichte neubewerten. Sie muss die Ursachen des Erfolgs und des Untergangs von Westeuropa studieren.

Der Erfolg ist: das heutige Gebiet der Europäischen Union war 1000 Jahre hindurch Mittelpunkt des vorstehend erwähnten christlich-jüdischen Kulturkreises. Der andere Erfolg: dieses Westeuropa stand beinahe 400 Jahre hindurch – vom 16. bis zum 19. Jahrhundert – zweifelsohne auch an der Spitze der technischen und kulturellen Entwicklung der ganzen Welt.

Der Untergang: bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hat Westeuropa diese führende Stellung verloren. Heute steht es – zumindest, was die Leistungen anbelangt, – hinter den USA zurück. Wir müssen uns an die Geschichte, an die Geschichtswissenschaft wenden, damit wir eine Erklärung für die Wanderung dieser Kulturzentren finden. Und noch mehr müssen wir uns an die Geschichte wenden, um aus den Lehren die für unsere Zukunft des 21. Jahrhunderts möglichen Alternativen zu formulieren.

Der Aufstieg Europas

Wenn wir nach den Grundlagen der Blütezeit der in Westeuropa lebenden Völker suchen, müssen wir – prinzipiell formuliert – sofort drei Faktoren aufzählen: Der erste Faktor ist die europäische christliche Tradition von der Wechselseitigkeit, der Solidarität und der Toleranz, die die Bewegung zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten sicherstellte und auch die endgültige Gliederung in Kasten verhinderte. Eine Folge hiervon ist, dass in Europa die Vielsprachigkeit und die kulturelle Diversität auf einem relativ kleinen geographischen Gebiet blieben. Und ihre Folge ist auch, dass diese Kulturen mit unterschiedlicher Muttersprache im 19. Jahrhundert von den entstehenden Verwaltungseinheiten, von den Nationalstaaten mit ihrem Verwaltungs- und Unterrichtssystem in der Muttersprache auf ein hohes literarisches Niveau angehoben wurden. Die westeuropäischen Gesellschaften konnten ihre einzigartige Eliteintelligenz und die unmittelbar hinter dieser stehenden, von ihnen nicht losgerissenen Schichten der Fachleute aufweisen. Deren Grundlage war eine Revolution der Kultur: die Verbreitung der auf dem europäischen lateinischen Abc beruhenden Schreibschrift, dann des Buchdrucks, durch die die Berührungskultur, die Organisation der Produktion und des Publikums der europäischen Völker auf eine neue Grundlage gelegt wurde (14. bis 16. Jahrhundert). (Dies war der zweite Faktor). Auf diese konnte sich der dritte Faktor aufbauen: die industrielle-technische Revolution (im 18. und 19. Jahrhundert), die die Blüte des Maschinenzeitalters, des Eisenhandwerks mit sich brachte.

Die Diskussionen über die Faktoren des Aufstieges gilt es fortzusetzen. Wir sind der Meinung, auch diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der christlich- jüdische Kulturschwerpunkt sich in den vergangenen 1000 Jahren nach Westeuropa verlagert hat. Vom östlichen, griechisch-phönikischen Becken des Mittelmeeres zuerst nach Italien (ich denke an das Römische Reich), dann in den Rahmen der fränkischen, deutschen und englischen Staatsorganisationen. Diese Kultur hatte es den westeuropäischen Gesellschaften zu verdanken, dass sie sich weiter ausbreitete in den Osten (in die Steppengebiete mit slawischer Kultur), dann nach Südamerika und schließlich nach Afrika und Australien. Und diesen Faktoren ist es zu verdanken, dass Westeuropa im 16. bis 20. Jahrhundert auch im Wettbewerb mit den anderen Kulturen an die Spitze der Welt gelangt ist.

Der Untergang Europas

Warum ist der Untergang Europas erfolgt, und warum ist Amerika und sind die USA aufgestiegen? Warum hat sich der Mittelpunkt des christlich-jüdischen Kulturkreises auf den amerikanischen Kontinent verlagert? Ist die Verschiebung des Kräfteverhältnisses eine vorübergehende, oder wird der Gap (der Unterschied), der Rückstand im 21. Jahrhundert weiter zunehmen?

Es gibt Debatten und wird auch in der Zukunft Debatten über diese Frage geben wie auch über den Aufstieg Europas. Die Antwort werden wir meiner Meinung nach aus der Neubewertung der Geschichte des 20. Jahrhunderts erhalten.

Dennoch möchte ich einige Hypothesen, einige Überlegungen über den europäischen Untergang und den amerikanischen Aufstieg vortragen.

Meine erste Hypothese lautet: Die neueren industriellen-technischen Revolutionen haben sich im 20. Jahrhundert nicht in Europa, sondern in den USA (und zum Teil in Russland) entfaltet. Wie dort auch die hohe staatliche (aus Steuermitteln stammende) Investitionen erfordernden physikalisch-chemisch-biologischen und später Informatikbasen ausgebaut wurden, mit denen die USA innerhalb eines Jahrhunderts auch die Heimstätte der wissenschaftlich-kulturellen Revolution wurden. Und genauso auch die Sowjetunion. (Jetzt spreche ich nicht über das außerhalb dieses Kulturkreises liegende Japan).

Warum? Die Antwort besteht in meiner zweiten Hypothese: Die neue Produktionsorganisation (die Serienfabrikation, die Massenproduktion und deren Bedarf an großen Märkten) verlangt große territoriale und Verwaltungseinheiten. Diese Produktionsorganisation kann keine Heimat auf einem Kontinent finden, wo die territoriale und Verwaltungsorganisation nationalstaatliche Dämme (Zölle, Beschränkung der Bewegung der Arbeitskräfte) schafft. Auf dieses System von Hindernissen merkten schon zu Beginn des Jahrhunderts einige führende Denker Europas auf. So formulierten sie das Programm der „Vereinigten Staaten von Europa”. Doch blieben sie in der Minderheit. Das Prinzip des Nationalstaates, das zu zwei Weltkriegen führen sollte, blieb im Vordergrund, und die beiden Weltkriege richteten nicht nur die Produktion, einen Großteil der Bevölkerung, sondern auch die europäische politische und intellektuelle Elite zugrunde. Und diese kriegerischen Zerstörungen steigerten dann den Rückstand Europas hinter dem nordamerikanischen Kontinent noch weiter, der die friedliche Entwicklung erlebte und sich im großen Raum organisierte. Die Sieger stellten sowohl 1920 als auch 1945 jenes Verwaltungssystem wieder her, das in Wirklichkeit doch schon zu Beginn des Jahrhunderts versagt hatte. Hatte das nationalstaatliche Verwaltungs- und Kultursystem im 19. Jahrhundert doch den Höhepunkt des Aufstieges von Europa, den Anstieg des kulturellen Niveaus der Bevölkerung mit sich gebracht, wie es bereits erwähnt wurde. Doch wurde dieses System jetzt schon zum Hindernis der Produktions-, Wissenschafts- und Kulturrevolution des 20. Jahrhunderts.

Meine dritte Schlussfolgerung lautet: Die Besiegelung des Untergangs Europas war die politische Zweiteilung nach dem zweiten Weltkrieg. Es begann zwar endlich der Ausbau des einzigen Weges, der zur Konkurrenzfähigkeit des Kontinents führen konnte, die kontinentale Integration der Verwaltung und der Kultur. Doch gelang die Realisierung dieses Weges zu kurvenreich und zu schwerfällig. Diese politische Zweiteilung des Kontinents bedeutete nämlich auch, dass der Raum Westeuropas zu einer Pufferzone im Wettbewerb zwischen den USA und der Sowjetunion geworden war. Der gesamte europäische Integrationsprozess war notwendigerweise einem antisowjetischen militärisch-strategischen Denken ausgesetzt. (Das erklärt, dass er auch seine integrierende Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisation auf das sich von Westeuropa abweichend organisierende Griechenland, ja sogar (nota bene!) auf die Türkei ausgedehnt hat, die in den mohammedanischen Kulturkreis gehört.) Und so sind notwendigerweise im Integrationsprozess nicht die eigenen Interessen Europas, sondern einseitig die produktionsmäßigen und geopolitischen Gesichtspunkte des neuen Zentrums, der USA zur Geltung gekommen. Diesen entsprechend baute es sich auf.

 

IV. Historische Lehren

Wir kehren also nicht zur Geschichte zurück, sondern die Geschichte setzt sich fort. Die ungelösten Probleme brechen immer wieder auf. Nicht jene sind schuld daran, die die ungelösten Probleme formulieren und sie sogar mit Hilfe der Demokratie zur Regierungskraft heben, sondern jene sind schuld, wir, die wir die Probleme nicht lösen können. Wir Historiker, Soziologen und Politologen sind verantwortlich dafür, dass wir die in der Geschichte verborgenen Alternativen nicht aufdecken und sie für die Gegenwart und die Zukunft nicht klar und deutlich formulieren. Ich hoffe, dass jetzt eine anhaltende, energische und harte Diskussion beginnen kann über die Notwendigkeit, die Möglichkeit der europäischen Emanzipierung. (Oder gerade darüber, wie falsch es war, darüber zu sprechen, und dass alles, was existiert, gut ist, und nur seinen alten Weg gehen soll.)

Jetzt seien aber dennoch als Provokation der Diskussion einige Sätze, einige historische Lehren vorausgeschickt, die sich auf die Zukunft Europas als Kontinent nach dem Jahre 2000 und auf die Zukunft der Europäischen Union als Verwaltungseinheit beziehen.

1. Die Emanzipierung Europas. Seit Jahrzehnten sprechen wir, wenn auch nur wenige an der Zahl, von der Notwendigkeit der Emanzipierung Europas. Wir, die wir zum Teil im östlichen Randgebiet dieses westlichen Kulturkreises, zum Teil in Westeuropa groß geworden sind. Zu der es erst jetzt, in den 90er Jahren, nach dem Ende der Zweigeteiltheit und nach dem erhofften Bewusstwerden kommen kann.

Denn auch das ist die Lehre der Geschichte: die Geschichte enthält mehrere Alternativen. Diese kann man erkennen, oder aber man erkennt sie nicht. Und man kann unter ihnen wählen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erkannten nur wenige die vor Europa stehenden Alternativen, und jene, die die Integration vorschlugen, wurden sowohl von den konservativen als auch von den linksgerichteten politischen Bewegungen zum Schweigen gebracht. Ob nun die Anforderung der Emanzipierung gehört wird oder nicht, das ist wieder die Frage einer Entscheidung.

2. Die EU ist nicht identisch mit Europa. Die Europäische Union und das geographisch-kulturelle Europa werden nie zusammenfallen. In der Angelegenheit der möglichen Grenzen der Union als territorial-verwaltungsmäßiger Einheit muss Stellung bezogen werden. Und es gilt auch Stellung zu nehmen hinsichtlich der den zukünftigen Nachbarn der Union gegenüber zu betreibenden Politik, in Bezug auf das Bündnissystem. Bisher herrschten in der Vorgeschichte der Union die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte vor. Es ist an der Zeit, dass nun, wenn von den Grenzen der erweiterten Union gesprochen wird, auch der dritte Faktor, der menschlich-kulturelle Faktor berücksichtigt wird.

Ich mit vielen anderen zusammen beurteile es so, dass die Grenzen der Union im Grunde genommen auf die seit Jahrtausenden vom westlichen Christentum ausgearbeiteten Gesellschaften erweitert werden müssen. D. h. neben den jetzigen Völkern auch auf die Völker der zehn auf ihre Aufnahme wartenden Staatsgebiete (eventuell auch auf Israel) ausgedehnt. Auch dann, wenn die auf ihre Aufnahme wartenden Länder, was ihr kulturelles Erbe anbelangt, das Territorium einer sehr vielfältigen und gemischten (unter ihnen auch der östlich-orthodoxen) Überlieferung sind. Wie bei der Erweiterung endlich auch die fachlichen rationellen Verwaltungsgesichtspunkte in Betracht gezogen werden müssen: auf ein Gebiet welcher Größe es sich lohnt, in der Zeit der heutigen informatischen Revolution die Grenzen der nach identischen Prinzipien sich aufbauenden Verwaltungseinheiten auszudehnen.

3. Die Osterweiterung. Diese Ausdehnung, diese Erweiterung muss so schnell wie möglich vorgenommen werden. Sowohl das wirtschaftliche Aufeinander-Angewiesensein als auch die politisch-militärische Integration sind wichtig. Das identische wirtschaftlich-gesellschaftliche Niveau ist also nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für die politische Integration. Wie es auch im Falle von Südeuropa nicht so war. Von der Geschichte wird eher die umgekehrte Reihenfolge bestätigt (zuerst die politische, dann die wirtschaftlich-soziale Gemeinschaft.)

4. Die neue weltpolitische Konzeption. Die Europäische Gemeinschaft muss ihre weltpolitische Stellung durchdenken. Sie muss sich nicht nur gegenüber den USA emanzipieren, sondern sie muss sich auch öffnen hin zu den östlichen, russisch-ukrainischen Gebieten. Das Erbe des kalten Krieges muss auch auf diesem Gebiet beseitigt werden, und es gilt aufzumerken auf die Rohstoff- und Marktmöglichkeiten, die das Territorium der ehemaligen Sowjetunion bietet. Die USA und Japan verfügen über eine „Russlandstrategie”, die EU nicht, oder aber ist diese zumindest nicht publik gemacht worden. (Dies ist eine traurige historische Lehre des vergangenen Jahrzehnts, der Jahre zwischen 1989 und 1999.)

Die EU muss weiter ihr in den 1970er Jahren begonnenes Beziehungssystem neuen Typs innerhalb ihres eigenen Kulturkreises und darüber hinaus festigen. Von unseren Wirtschaftswissenschaftlern, Politologen und Strategen ist niedergeschrieben worden, dass im Produktionssystem der Welt und in ihrem geopolitischen System eine Umschichtung vor sich geht. Die EU hat ihre selbständige Wirtschafts- und Kulturpolitik zu festigen, wie dies die USA, Japan und China machen.

5. Der Mangel an europäischer Identität. Es gibt keine lebensfähige EU ohne eine europäische Identität. Es muss angestrebt werden, auch mit finanziellen Mitteln die vorhandenen und anwendbaren Elemente der europäischen Identität zu festigen. Es gilt, die Entstehung von Arbeiten zur europäischen Geschichte zu unterstützen. (Wir in Budapest hoffen zum Beispiel, dass wir innerhalb von zwei bis drei Jahren den Band unter dem Titel „Chronik Europas” fertigstellen werden, als neuen Band der auf der ganzen Welt bekannten Chronik-Serie – übrigens eines Bertelsmann-Unternehmens.) In die Reihe der Fächer zur Gegenwartskunde des Schulsystems (Geschichte, Geographie, Literatur, Künste) ist akzentuiert die europäische Thematik aufzunehmen. (Dies soll eine Voraussetzung für den Beitritt zur EU bilden. Dies ist mindestens so wichtig wie die wirtschaftlichen und militärpolitischen Gesichtspunkte.)

6. Zukunftsorientiertes öffentliches Denken. Mit kulturpolitischen Mitteln ist die Entstehung des selbstkritischen, aber dennoch auf die Zukunft orientierten öffentlichen Denkens zu unterstützen. Es gibt keine Überprüfung, keine Prozesswiederaufnahme in der Angelegenheit der zurückziehenden, negativen Erscheinungen unserer Geschichte. Weder in der Angelegenheit der beiden Weltkriege, noch in der der Massenmorde. Doch kann Europäer zu sein nicht nur ein „kollektives Schuldbewusstsein” bedeuten.

Erstens: Man muss die historischen Grundlagen der auch heute modernen europäischen Identität sehen. Viele können meine Kollegen aufzählen, ich würde jetzt nur drei erwähnen: die Offenheit zur Welt hin – Europa hatte keine Isolationsepochen wie China, Japan und die USA –; die Solidarität und die kulturelle Diversität, die Toleranz (von der bereits vorstehend die Rede war).

Zweitens: Wir müssen unsere Geschichte studieren, weil sie in ihrer Kontinuität in uns, unter uns lebt – doch muss das politische Denken befreit werden von den überlieferten europäischen (überwiegend deutschen) Traditionen des Historisierens. Die EU braucht ein Zukunftsbild. Seit Jahren wird immer wieder gesagt: „Wir sind zum Europa des Kulturpessimismus geworden. Neben der auf die Zukunft orientierten amerikanischen Schwesterkultur oder gegen sie.”

Die Behandlung: die Prävention

Brechen wir hier die Aufzählung der Probleme ab. Jene, die seit Jahrzehnten engagierte Anhänger der Erneuerung des europäischen Gedankens sind, könnten die Aufzählung dieser Fragenkomplexe fortsetzen. Eine für mich selbst niedergeschriebene, abschließende Schlussfolgerung kann ich aber doch nicht weglassen. Als ehrlicher Verehrer der Naturwissenschaften, als eifriger Leser ihrer wissenschaftlicher Produkte.

Von der modernen Medizin wird heute schon für ihre wichtigste Aufgabe die Verhütung der Krankheiten, die Prävention gehalten. Indem sie sich gegen jene Praxis wendet, die die Linderung der ausgebrochenen Krankheit, das Eingreifen für ihre Aufgabe gehalten hat. Die moderne Medizin sieht im Menschen nicht mehr auf technokratische Art und Weise eine biochemische, biophysikalische Einheit, sondern einen lebendigen, ein individuelles psycho- logisches und biologisches Leben lebenden Organismus. Von diesem Denken muss man lernen. Die Gesellschaftswissenschaften müssen heranwachsen. Sie müssen sich festigen. Sie müssen die wirklichen Prozesse der Gesellschaft untersuchen, müssen ständig auf die Konfliktquellen verweisen. Nicht nur hysterisch, durch das Beschwören oder durch militärpolitische Medikamente die Fieberattacken beheben, sondern mit politischen Mitteln die Herde der Entzündung beseitigen. Forscher und Politiker zusammen. Und das neue Studium der Quellen – der Geschichte – muss aufgenommen werden.

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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:45–57.

FERENC FEJTŐ

Jews and Modern Hungarian Culture

 

The modernisation of Hungarian society is to be found more embodied in its culture than has up till now been mentioned. New institutions arose and traditional forms took on a different meaning. The part played in this transformation by the assimilated Jews is significant; it was argued about in the spheres of high culture, in the fin de siècle literature, sciences as well as the arts.

Assimilation in Hungary quickly pulled the proverbial rug from under the feet of Jewish culture in terms of language and intellectual life. Hebrew continued to be the language of active religious participation and the synagogue, being understood in ever diminishing quality by fewer and fewer people. Yiddish did not step beyond the bounds of the orthodox subculture of north-east Hungary, and unlike its Polish or Russian counterpart, was unable to develop into a secular language beyond its confines. Secularisation and the openness towards the West freed Hungarian culture from its ties with the Church and the Academy. With these developments, modernity had found a home, a universal culture spiced with local flavour. A number of stages preceded the Jewish commitment towards modernity.

The exceptions were the writer in Hebrew, Avigdor Hameri and Jozsef Holder, the Yiddish writer. The former nurtured his ties with Hungarian literature, even after his emigration to Palestine. He translated Madách, Petőfi and Ady into ivrit. The latter, according to the Hungarian Jewish Encyclopaedia, “is the only noteworthy Yiddish writer that Hungary has produced”(p.376). He translated Ady, among others, into Yiddish. Within the body of the experimental periodical Múlt és Jövő (Past and Future), József Patai tried to bring about a Hungarian language Jewish culture and literature. Aside from some significant works, this too remained a marginal experiment. As numerous as Jews were in cultural life, so striking was the absence of Jewish themes in Jewish writing. In 1909 the critic Lipót Goldschmeid wrote “I only know of one painter who retains a Jewish religiosity, and even he is a greater Jew than a painter”1. There was no Hungarian Jewish Chagall. However, there were many writers and artists of quality who were Jewish, and had no wish to belong to Jewish culture of any description. They took their place in the fabric of the national culture, or rather they tried to. We will see how many, and on what basis their place in posterity was wrested from them.

The role of assimilated Jews was particularly important in the formation of the new urban mass culture affecting the press, theatre, cinema, cabaret, bar life, club life, coffee houses and the world of sport2. A typically new characteristic of these institutions was that they required investment, and the businesses involved risk.

In Hungary, it was in the 1880’s that sport shifted from being an aristocratic pastime to a middle-class competitive activity, and eventually a lower middle-class passion. At the time it was the generally held view that Jews neglect their bodies. They were depicted as puny, shirking physical challenges and in flight from fresh air and nature. This negative view irritated the generation following the emancipation. They considered it an image left over from the ghetto period and wanted to free themselves from it. They suffered from the accusations of not being manly enough and fighting fit in a society that set great store by feudal virtues, daring and courage. Otto Weininger, a Viennese anti-Semite and masochistic Jewish prototype was a child of the time. In his well-known volume “Nem és Jellem”(Sex and Personality), within the bounds of intellectual argument he expressed his self-disgust and equated the female with Jewishness, only to seek refuge from his torturous obsession in suicide.

When the forerunners of Jewish emancipation laid particular weight on sports for the young and participation in a wide a range as possible, it was only the elimination of injury to self-esteem that egged them on. It is thanks to this that we find Jews not only among the great patrons of sports – as with Alfred Brull, an Auschwitz victim- but also as participants. Among these are Richard Weisz, one of the founders of MTK and an Olympic wrestler, or Dávid Müller gymnast and bookseller, mentioned in the Hungarian Jewish Encyclopaedia as “the man with the most beautifully developed musculature” (p. 907). He has been immortalised in the work of Alajos Stróbl, having modelled for the János Arany sculpture – part of the Miklós Toldi composition in front of the National Museum. In the five Olympic Games held up until WWI, of the eleven gold gained by Hungary, five were won by Jews and a further two went to fencing teams in which there were Jewish members. Furthermore, during that period there were international football matches in which more than half the selected team were Jewish. Perhaps the most talked about example was the outstanding Jewish fencing team. Jenő Fuchs, of the above mentioned golds won four alone. In the generation following we are restricted to mentioning Attila Petschauer, who was killed in the Ukraine by Hungarian forced labour overseers. (Horthy refused his request to be exempted from labour camp). Ilona Elek was Olympic champion three times in a row in foil fencing. In water polo, Béla Komjádi, whose teams brought home countless Olympic golds and after whom a Buda swimming pool was named, was also Jewish3.

Ady, as a Nagyvárad (now Oradea) journalist reported on a duel held between István Gulyás, a highly respected Debrecen professor and a Jewish merchant from Arad. The poet/journalist commented in his inimitable fashion “...another stupid prejudice has bitten the dust, because of which the current Hungarian middle class – if it exists – always keeps at arm’s length the most worthy, those with the most promising future, the Hungarian businessmen”4.

Miklós Vázsonyi, was against the match from the outset. As a university student he had fenced with the Jewish Miksa Márkus, the later illustrious publicist and from 1908 advisor to the court of Franz Joseph.

The Jews had a decisive role in the creation of the press, which the anti-Semites commonly called “Jewish press”. According to these views the “Jewish spirit” influenced the Christian journalists; the Jewish journalists as employees were proportionally fewer than Jews among the newspaper proprietors.

Journalism at the turn of the century was not merely political in content, and if it was then it was in a completely different language and style to that which the readership would have been accustomed in the 1840’s. The press was by now no longer the only forum available to political expression, but lacking concurrent mediums, it was in a monopoly position, where outside of politics in a changing world it could influence the circulation of works of high quality. It also fulfilled an important economic function with its advertisements and commercials. It became the agent of public opinion, much more so than in the early days, simultaneously forming and expressing it. This change can be strongly attributed to Jewish influence. Let us remember such legendary figures as Adolf Ágai, who with his weekly paper Borsszem Jankó – the Hungarian equivalent of Canard Enchaine – created a new genre with its dry social criticism and charicatures, or Simon Tolnai – the father of Tolnai Világlapja. Born in the year of the Habsburg–Hungarian compromise (1867), the Hungarian Jewish Encyclopaedia writes: “the typical self-made man who pulled himself up by his bootstraps to become the owner of one of Hungary’s largest publishing houses. From the age of eight he was independent. He began his career in the coffee houses of Budapest by collecting the used newspapers and reselling them”(p. 901). There was also József Vészi’s Budapesti Napló, both a liberal and an independent; he achieved success by publishing the best of contemporary writings of the time. Finally, Andor Miklós must be remembered with his Est-lapok, beginning in 1910, with a dynamic editorship, reliant on a network of foreign correspondents for up to the hour information, the first American style newspaper in Hungary.

Jewish influence was no less significant in the formation of modern theatre and in the choice available in larger cities. The Vígszínház (the Comedy Theatre), founded in the Millennium year by the Jewish Gábor Faludi, often put on the programme performances of contemporary Scandinavian, German, French and Russian writers, while also putting on what the greater part of the audience preferred – farce and comedy. What would have made it more Jewish than the National Theatre, whose director was the renown Shakespearean expert Sándor Hevesi, the non-practising son of the Jewish Mór Hoffmann and among whose cast were such famous Jewish actors as Oszkár Beregi or Jenő Ivánfi?

Criticism regarding the Vígszínház was expressed first and foremost because it did not take upon itself the rigid norms of national classicism. The same criticism was meted out to the Király Theatre and Endre Nagy’s Cabaret. He introduced numerous genres into Hungary, thus those evenings he gave over the stage to poets, chanteuse and renowned actors were very popular.

Budapest offered enormous variety to those drawn to the night life: coffee houses with music, concert halls, cabarets and a variety of dance halls. And the “red light district” was there too, the life of which, though idealised by the novelist Sándor Hunyadi, was real enough. In what crack-brained way the anti-Semitic lobby accused the Jewish moral decadence of being responsible for all metropolitan features can best be seen in the sphere of prostitution. This was no recent arrival in Hungary either. Neither was it specifically urban, or capitalist, and its participants were drawn from a wide variety of backgrounds. This did not prevent the anti-Semitic classicist Petrassevich to describe these women as ”Hebron’s butterflies flying on the wings of female emancipation”, and to get to the point – a cosmopolitanism foreign to the nation’s morality: “This cosmopolitanism of the Jews (...) conquers territory, it is already to be found in every aspect of Hungarian society, in its morality, in the family, the offices, in public life, in the cultural life; in the salon, on the street, the theatre, in the melodies, in the casino, sports, at the ball – in one word – everywhere5. This list is by no means complete. He forgot to mention the new wonder at the fin de siècle – the film. Barely two years after the Lumière brothers’ discovery in Paris, Gyula Décsi – a Sopron born Jew – founded the first “moving image theatre” and brought the necessary equipment from Paris for the first screenings in Budapest. Within a short space of time, a whole cinema network had been established throughout the country. According to the Hungarian Jewish Encyclopaedia, about 90% of those granted licenses to put on movies were Jewish (p.617) as was film production and distribution. The Jewish founder of the Pannonia Film Studio started the first professional magazine ‘Cinema’ in 1911. After the First World War he became the director of the Hungarian site of the German UFA moving image society. Famous personalities number several Hungarian Jews: son of grocer, Adolf Cukor, born in Zemplén County in 1872, or the Tolcsva born William Fox, 1877 – the founder of 20th Century-Fox, who emigrated to the United States in 1891; he began his career in washing up. Similarly widely acclaimed is the director Sándor Korda, Imre Pressburger or Vilmos Székely, and among the script writes Menyhért Lengyel, Lajos Bíró, Ferenc Molnár, László Bus-Fekete, Lubitsch, and so on. Photography was also considered to be a specifically Jewish, if not a Hungarian Jewish profession.

The situation was similar with the other new artistic branches conquering the masses – in the operetta e.g. Leányvásár, of Victor Jacobi or the Csárdáskirálynő of Imre Kálmán, or in dramas highlighting the complications of village life. These were enormously popular.

The picture would not be complete without mentioning the Jewish role in the modernisation of the Hungarian language, its urbanisation and of the development of the “Pesta speech”. Not least of all Yiddish or Hebrew influences are evident to this day in the spoken language’s expressions and stress. Beside the middle class and industry of Germanic origin having an influence, the German influence in the literature and journalism circulated by the Jews played no small part either. This was evident in the formation of modern literature, if not directly, then more so via the numerous translations, their curiosity, initiative and their receptivity to the new. Plumbing the depths of the strength of expression within a language, the most extreme of rhythms, besides the complicity of feelings as fine as a breath of air – and after significant antecedents, perfect translations were made of the best: Racine, Shakespeare, Dante and Cervantes, Baudelaire and Rilke, Tolstoy, Strindberg and Ibsen. With modernity as an impetus, the greatest Hungarian poets from Ady to Babits, Kosztolányi to Árpád Tóth, translated the major works from the world classics and with Jewish writers included such as the Hungarian language virtuoso Dezső Szomory, Milán Füst or Ernő Szép. This was a fortunate match resulting in the successful rebirth of Hungarian literature.

It is also important to note the Jewish role in the “consumption of high culture”. With the exception of a few subscription lists, there are no statistics about who sat in the theatre, who visited the exhibitions, concerts, who read the new literature, who subscribed to the new scientific and literary periodicals. A number of indicators show that here too, the Jews had an above average presence. In the review Huszadik Század of 1917, the non-Jewish Aladár Körösfői-Kriesch – sceptical about the authentic Hungarianness of Hungarian Jews, linked them to the interpretative rather than to the creative arts. He was forced to conclude that the Jewish intelligentsia had such a “thirst for culture” that in them, Hungarian Genii similar to Ady, Babits, Bartók found an enthusiastic reception.

Yes, this was the circle which protected, distributed and celebrated them.

Above all, this affected the Budapest middle class and those regional cities such as Nagyvárad, Arad, Temesvár, Szabadka, Baja, Kassa, from whence great poets and artists set out.

Budapest with its manifold current Jewish influence became the symbol of ‘being overwhelmed by Jewry’. But more specifically, in 1910 out of the 203,687 Jewish population in Budapest, 93% lived in Pest, mostly in districts VI and VII where they comprised more than half of the total population. However, despite this, the Vth district – the upper middle class Lipótváros, became the symbol of “Jewish capitalism”, whilst Terézváros came to be inhabited by the lower middle class Jews6.

An assimilationist – nationalist period preceded the active part that the Jews played in the fin de siècle literary, artistic and scientific revolution. This was evident particularly in the sciences and in the choice of professions. It is not by chance that Mór Ballagi, the first Jewish member of the Academy, was followed in the field of philology and comparative linguistics by others such as József Balassa or Bernát Munkácsi. Many chose the medical profession. The work of Sándor Korányi led to a baronetcy. In 1885 the Fench government found the outstanding Jewish lawyer, Károly Csemegi’s work in criminal law important enough to want his Csemegi kódex translated.

The contribution that the Jews made to the ‘most Hungarian’ of disciplines, the academic development of modern history, was spectacular; this discipline carried with it, over a number of generations, an awareness of the sense of Hungarian national identity. Pioneers in this field were Henrik Marcali, Ignác Acsády, Vilmos Fraknói or Dávid Angyal. They endeavoured to employ the same methods of research as their European counterparts, the goal being to reconcile the research with this nationalist view and to reinforce the view of the Hungarian people having a cultural calling and their capacity as seemly founders of a nation state in the Carpathian Basin. Beside this, all those involved were interested in becoming part of the traditional institutions – both Academy and University. Of the Academy’s twenty-seven Jewish members between 1849 and 1895, eleven denied their faith, and of the fourteen who were members between 1896 and 1917, eight denied their faith. Their diminished numbers after the Millennium did not mean that their interest in the academic world had waned, merely that official recognition was less important. Evidence of new times showed in the professional profile of these academicians. Whilst the earlier take- up of members showed only three mathematicians among the twenty-seven, the latter take-up showed that eight out of the eleven were involved in the natural sciences7. And as we shall see, those new disciplines established in Hungary due to European influence – such as sociology, philosophy – and psychology, already had a surfeit of Jews.

The nationalist aspirations among those Jews involved in literature and the arts predated the turn of the century vanguard. Fülöp László, a well-known portrait painter at the Viennese court and among Europe’s aristocracy, cut an extremely elegant artistic figure. Ferenc Molnár writes the following of him in his novel of 1910, The Hungry City: “the king lounging against one of the walls was dressed in the ceremonial uniform of a general. Above him hung the Russian czar (...) At this point the portraits of the Jewish women were hidden, because previous to Orsovai, a countess had sat for the famous painter [the novel’s assimilated Jewish hero – F.F.]. After Orsovai would follow the wife of Jakab Schlittauer, Consul of Afghanistan who hailed from the lower Danube region; the artist’s assistants were in the midst of preparing a number of illustrious Jewish portraits. When Orsovai stepped into the studio, the famous artist was preoccupied with creating space for a Jewish woman’s portrait beside those made of every magnate’s wife. The initiated assistants looked askance at the painter when they saw Orsovai. The painter, on thinking that he was dealing with a christianised Jew – and one could never be sure how anti-Semitic these were – with one elegant sweep about faced towards the wall the portrait of a Jewish woman that had just been brought in.”8. The author of The Lily and the Devil did note spare his own fellow travellers his sarcastic jibes.

In the field of sculpture, among the nation’s greats are Ede Telcs and Ede Kallós, whose figures not only populate the capital but other Hungarian cities too. Even more renown was Miklós Ligeti, who aside from creating the figures of Kossuth and Széchenyi, also created those of Franz Joseph, Queen Elizabeth and Rudolf, who was next in line to the throne. We have him to thank for one of the most beautiful statues in Budapest, that of “Anonymous”, the medieval Hungarian chronicler in the Vajdahunyad castle complex in the city park.

A number of Jewish poets at the turn of the last century also deserve attention, either as national classicism assimilationists following Petőfi and Arany, or as modernists. To the former belong József Kiss, Emil Makai, Lajos Palágyi and to the latter we would place Jenő Heltai. In 1875 József Kiss became known nation-wide with Ágnes asszony, the perfect Jewish archetype in Judit Simon. Following on from here he gave voice, with ever increasing originality, to the joys and sorrows of Jewish people, and teir cleaving to Hungary. In his major work – Legends about my grandfather – in its strophes he brings to life with a great deal of humour, the old Galician Reb Litvak’s actions and gestures, his ancestor who “almost” found in Hungary a peaceful home. His poetry vibrates with a particular anxiety which arises from the vacillation and fumbling of a Jew on the verge of being captivated by a new culture. Neither József Kiss nor Jenő Heltai lacked anything of the talent or mastery evident in their non-Jewish contemporaries such as Gyula Reviczky, Jenő Komjáthy, János Vajda, together with whom the sought a voice through which to find new expression.

József Kiss founded a political and literary weekly in 1890 called A Hét, in which first and foremost he gave room to the forerunners of modern literature. His desire to be accepted by the Hungarian establishment remained unfulfilled over a long period of time. His desire was to be accepted as a member of the Kisfaludy Society, which not so long ago had been able to boast the best writers and poets among its members, but by the turn of the century had become rigid with academism and conservatism. Ferenc Molnár penned the following: “The other nominee was an old man, Hungary’s greatest living poet. He was a poor Jew and those in the Kisfaludy did not want to accept that it was no shame to belong to the same race as Jesus Christ. Everyone felt that this old man was one of the clearest of poetic voices, (...) But they did not want him, no, no, no”9. Only when it was very late, was his wish fulfilled, by which time classicism had become an anachronism and had been overtaken by the poets of the Nyugat generation.

At the turn of the last century, Hungarian culture embarked on an outstandingly flourishing route. It became colourful, open to new forms and themes. An artistic revolution took place which could only be compared to the generation of the great romantics of the reform period i.e. Vörösmarty, Petőfi, Arany, Eötvös, Kemény and Jókai. This “spiritual rebirth” can be attributed in part to the participation of a large number of assimilated Jews, in Budapest just as in Prague or Vienna.

In the first half of the previous century, with rare exception, writers and poets rose from the nobility or the peasantry, as these were the two strata as much of society which were native Hungarian speaking. By the end of the century, the artistic profile had undergone significant change. The shift was towards the great numbers of gifted Hungarian Jews, who not only exercised mastery over the language, but having a less rigid approach to tradition, were open to the new influences coming from their western literary and artistic contemporaries.

It may well be that among the artists of significance the non-Jews contributed the most; this should be of no surprise. Those artists who rebelled against conservatism and were liberal and humanist in their thinking inevitably found themselves on the side of their semitic brothers. They were all against the “folk-nationalist” classicism expounded by the epigones supporting Petőfi and Arany. Together they had to suffer the pressure vented on them by the conservative establishment, be it government, the bishopric, the National Casino, the Academy, the university, the Kisfaludy Society and, of course, public opinion. The result was a politicisation of literary life. The battle being fought between the old and new in literature, the arts and the sciences was related to the battle being fought by the aristocrats and the bureaucrats against the emerging middle class and workers in the economic and social sphere. The conservatives exercised a monopoly on what was deemed national in all the above mentioned areas. In their eyes, the primary role of culture was to protect the national spirit, which they understood in limited, chauvinistic terms. Besides this, culture had to have popular support, as the Hungarian language and the true national spirit had been kept alive by those in the provinces over the centuries. Those writers who would not bend to this aesthetic terrorism were branded cosmopolitan. This has come to have a derogatory meaning, to be found in conservative-reactionist dictionaries. Towards the end of the nineteenth century, the above mentioned poets: Vajda, Reviczky, Palágyi and Komjáthy were accused of this, having strayed from the strict classicist norms – accused of flowing with the contemporary philosophical currents, giving expression to human feeling without praising the national virtues. This period gives rise to the view that Budapest is without morality, sinful, a viewpoint popularised with the advent in 1919 of Admiral Horthy’s regime. Part of the punishment meted out to the capital city’s culture was a veiled xenophobia and anti-Semitism. Capitalism was something Jewish. It was decided that modern literature, new art and the avant-garde was also Jewish.

This in no way expressed reality. Even if numerous Jews were to be found among writers, artists, critics, they alone did not fly in the face of this autochthonous attitude. Besides Ignotus, Zoltán Ambrus and Géza Gárdonyi were equally attacked by the conservative-nationalists. The review Nyugat, whose importance in Hungarian culture is equal to that of the Nouvelle Revue Française or the Mercure de France, was founded by three Jews: Ignotus, Baron Lajos Hatvany and Ernő Osvát, but the majority of its contributors were not Jewish. Its ‘front man’ was Ady – a Calvinist of Transylvanian lesser nobility. Whilst he supported political radicalism, Ignotus was an eclectic, temperate, liberal monarchist, a supporter of pluralism in thought and taste. He was also a supporter of the dualist system and of the pro-German foreign policy of Andrássy. Those involved in the Nyugat were from such a widely varied background ethnically as well as in beliefs. But what united them was that they stood for the acceptance of the wide variety of aesthetic values held, originality, perfection in style and the spirit of criticism. This ensured them a respected place in the history of Hungarian literature. “Write what you will, and observe that it is well done!” This was the advice of Ignotus to the young talents who were gathered in by the editorship with missionary zeal. The spirit of free enterprise moved into the literary realm and disowned any protectionism or state interference.

Modern liberalism rejected all differentiation based on race or class. Lajos Kassák, of proletarian background, from the north east found his poetry, prose and paintings a forum as did the catholic Babits, of patrician origin, or Milán Füst, the middle class Jew (who broke off all connections with his Jewish background). They all found a place where their individual talents could flourish, away from the conservative and nationalist criticism that tried to deny them a place. If we take a look at the list of contributors in the first ten years of Nyugat, we are left with a sense of wonder and are dazzled by that generation “the second reform generation” among whom Ady was the first among equals and where Krudy to Füst, Babits to Kosztolányi, Kassák to Karinthy, Bródy to Heltai, Margit Kaffka to Anna Lesznai, Aladár Schöpflin to György Lukács – the list is endless – all had their own world, own style, favourite subjects and personal language. There is no truth in what Taine Hyppolite says: individuality cannot be traced back to race, a time or social group.

It is undeniable that writers of Jewish origin – say, Ferenc Molnár – brought with them in the words of Aladár Komlós “a number of unusual elements”, in truth “something else”. He evaluated this strangeness, the uncommon, the candid criticism as quality enhancing. The fact that the great figures of both Hungarian reform generations withstood the pressures exerted on them to cease ties with Jewish colleagues and friends, plays and played a decisive role in the native Jew’s strong ties to Hungarian culture, despite their many tribulations. The spirit which radiated from this maturing Hungarian culture significantly influenced writers from other minorities within the country.

What differentiated Hungarian culture from its world famous Viennese counterpart was most probably its militant belief in progress. While Viennese writers and artists were plagued by a sense of foreboding about the break-up of the empire, and a refined aestheticism settled upon them, Hungarian modernism was optimistic and carried within it the hopes of a national and democratic renewal. The future of the nation was of real concern to the contributors to the Nyugat, they wanted to free the country from those ills which had beset it; they buried nationalism, but many did not share Ady’s passionate radicalism. For the most part, their political imagination had not gone beyond the middle class progressiveness of the third French republic. Despite their sense of restraint, they couldn’t avoid being stigmatised by the conservative press as subversives against the nation’s interests, against the odds they remained on speaking terms. During the period of dualism, the freedom of the press, the right to self-expression and assembly was respected, provided it did not impinge on topics related to strikes, the demonstrations of minority nationalities or the organisation of the agrarian proletariat; these were at times brutally suppressed.

The revival of political anti-Semitism naturally left its mark on Jewish writers, who would have liked to believe that they had assimilated into Hungarian culture at the deepest level. They suffered most from the attempts at rejection and ostracization which increasingly took on the mantle of racism. It created problems with self-esteem. Doubts troubled them regarding this whole question of assimilation and break with Jewish traditions. We return to this in the Huszadik Század 1917 debate about the Jewish question.

We return at length to Lajos Hatvany, a key figure in Hungarian literature at the turn of the century, who lived through the Viennese emigration and imprisonment and could only continue his career well after the end of the First World War. Hatvany was not only a writer, or important literary figure, he was a generous patron who devoted much of his income to the support of other writers and poets. This type of activity was new as regards culture. Until the middle of the nineteenth century the great patrons of the arts were the noble families such as Esterházy, Festetich, Széchenyi and Grassalkovich. By the middle of the nineteenth century this role was taken over by the Jewish industry and banking interests, Lajos Hatvany being their brightest star. His brother Ferenc, the internationally renowned painter and antiquarian, helped artists. Bertalan, one of their cousins who translated Sanskrit supported the publication Szép Szó as well as Attila József.

Hatvany’s progenitors were merchants who migrated to Hungary from Moravia at the end of the eighteenth century. Under Joseph II they changed their Hebrew name to Deutsch. They were grain merchants over several generations and by the end of the nineteenth century it had made them one of the wealthiest of families owning large mills and sugar factories. Lajos’ father was the economist-factory owner Sándor Deutsch, who in 1922 founded the National Union of Manufacturers and in 1908 was granted a baronetcy by Francis Joseph. In 1897 in his double-barrelled name (Hatvany-Deutsch), he was permitted to use ‘y’ at the end of Hatvany instead of ‘i’. This had been a sign of nobility since the Baroque period. The name Hatvany itself referred to the town where the factory and their castle were located. So it implied Hatvan origin. Lajos left family matters to his brothers and sisters, he chose intellectual pursuits. He continued his studies in Germany in philosophy, writing a doctoral thesis entitled Die Wissenschaft des Nichtwissenswerten causing argument and sensation in academic circles. At home in Hungary he was one of those who ‘discovered’ Endre Ady and was one of his prophets.

Ady merits consideration not only because he was the best of his generation. He had a significant role in the Hungarian Jewish cultural elite’s assimilation; his spirit pervaded the whole of the assimilation process after the turn of the century. He was a pugnacious philosemite who began his journalistic career in Nagyvarad – the most Jewish of cities in the country. His love Léda (anagram for Adel), was a cultivated Jewess who Ady mythologised; there is no doubt that this relationship influenced the young writer and poet in his attitude. Ady totally rejected the clericalism, nationalism and race hatred of his class. On a trip to France just out of the Dreyfus affair, he recognised that anti-Semitism was a powerful political weapon and he never ceased fighting against this in his poetry and prose. This was the direct opposite to his fellow Transylvanian countryman Miklós Bartha, who had nothing but words of loathing and scorn for the oppressed Galicians, or those Romanian Jews in flight from the pogroms. Ady in contrast expressed his empathy towards them. His poem A bélyeges sereg (The stigmatized army) is emblematic of his solidarity with the Jews.

 

“If your blood be foreign a hundred times over

It is still mine, all mine

Your honey sweet women with their blood red lips

Your steadfast youth with their open hearts

Have all been transfused within me

(...)

Eternal planets, eternal forewarners,

Time’s fermenters, I too will accompany you

Stigmatised, star marked.”

 

It would be difficult to underrate the message contained within these lines, their strength of meaning since then and their effect at the time they were written. The repeated waves of anti-Semitic revival and ostracization, reinforced within whole generations of assimilated Jews that what their fore-bearers had done was wise. Erzsébet Vezér refers to a by no means unusual event in her last Ady volume. “Not so long ago a trustworthy witness told me that in one of the German labour camps, in Dornhau, at a ‘cultural event’ Ady verses were spoken, with which they managed to infuse the will to live into the skeletons.”10

Ady did not protect the Hungarian assimilated Jews merely due to his love of humanity or civilised empathy but vociferously attacked anti-Semitism. He was truly convinced that the Jewish contribution was to the benefit of his people whose faults he admonished as much as he felt bound to them. He had very clear views about the growth of a democratic Hungary of which assimilated Jews and the Hungarian-Jewish coexistence was a part; this is the most succinctly expressed in his Korrobori (Corroboree).11

”In Australia there is a tribe whose people are the worlds’ first poets, because they invented the Corroboree. The Corroboree is a great love dance orgy – where the women create the music. (...) What cowardice, not to say that we pursue the corroboree over a number of decades we have danced it along the lands of the Duna-Tisza? Here, two of no race and equally foreign make love with each other according to the rules of the Corroboree. The Jews settled here with musical instruments duplicated from already existing cultures. And we, who call ourselves Hungarians, dance this love dance with a thirst for hatred. Here strangling each other of love we either produce a new people or the deluge will follow. (...). Here the Jews, as with the Australian aboriginal women, are the ones who play the instruments. We the dying male mediums dance with anger and love, with hatred and desire – till we drop. (...) I see before me the prototype of a new people, born of the Corroboree. This would be the solution to all our problems and History’s outstanding event, if it could be true. Culture is created only by those for whose restlessness the whole earth is not enough. (...) The culture and progress of these cross-bred Hungarians wedged between the Balkan races is dependent on a not totally perfect, but useful Jewry.”

Utopia or reality in one? Ady did not foster illusions about the ease with which this could be brought about. His article in 1917, sensing the impending catastrophe only appeared in the Nyugat’s 1924 January edition; the reason for the delay is to date unknown.12 Or, after its first public reading it had “run out of time”, and the text became a kind of testament – after all, what he would have liked could still have been possible in 1917 and in the sixth year of the Horthy regime this utopia became utterly untenable.

Another passage of his is not often quoted from this work: “It is a pity that there are so few of us, such few dancers; there are no Hungarians in Hungary. The explanation would be very political as to the reasons why, but there aren’t any. The burnt out ruling class, a peasantry come late into freedom, in decline because useless mating of types and races has resulted in an asinine citizenry. How in the hell, and from what on earth could we be culturally potent Hungarians? Soon we will no longer be able to dance the corroboree or even enjoy it further”. As if he had weighed up his words of 1902. “There has not yet been and there isn’t a Hungarian society. Allow us the opportunity to create one. At least do not destroy until we can give something into your hands.”13 Let us add to this that the gap continued to close between the greater part of the Jewish middle class and the majority of the non-Jewish Christian middle class, despite the continuing discriminative anti-Semitism. The Jewish laws restricted it, then put obstacles in its path and its choking cannot be talked about by the generations that survived the Soah. With reference to Ady’s with the pathos of one who believes in the future: “if Trianon and Nazism had not happened, then perhaps he might have been proved right.”14

 

Notes

 

 1

Izraelita Magyar Irodalmi Társulat, Évkönyv (The Israeli Hungarian Society Yearbook) 1895, p. 337.

 2

Gyula Zeke: A nagyvárosi kultúra új formái és a zsidóság (The new forms of cultural life in big cities and the Jewry) Budapesti Negyed, no. 8. 1995/2. summer, pp. 90–106

 3

See Andrew Handler regarding this theme: From the Ghetto to Games: Jewish Athletes in Hungary, New York and Boulder, Columbia University Press, 1985.

 4

Ady Endre összes prózai mûvei (The complete prose of Endre Ady.) I. Publ. Gyula Földessy and István Király. Budapest, 1955, pp. 365–366.

 5

Géza Petrássevich: Magyarország és a zsidóság. Budapest, 1899, p. 174.

 6

Gyula Zeke, A budapesti zsidóság lakóhelyi szegregációja a tőkés modernizáció korszakában, 1867–1941 (The segregation of the Hungarian Jewry’s accommodation in the modern capitalist period, 1867-1941). In: Hét évtized a hazai zsidóság életében. I., Budapest, 1990, pp. 162–183.

 7

(Magyar) Zsidó lexikon ([Hungarian] Jewish Encyclopaedia), p. 17.

 8

Ferenc Molnár: Az éhes város (The Hungry City) Budapest, 1900, pp. 93–94.

 9

Op. cit., p. 105

10

Erzsébet Vezér: Ady. Budapest, 1994, p. 80.

11

Ady Endre publicisztikai írásai. III. (Endre Ady’s Political Writings.) III. (Selected and annotated by Erzsebet Vezér.) Budapest, 1977, pp. 520–522.

12

“I should have spoken out about the Jewish question in the twentieth century, but my intentions died in a small article, mutilated and self-protective.” – wrote Ady in the Nyugat August, 1917. No. 16. This small article to which he refers remains untraceable, unlike the Corroboree, written in 1917, and a little after the conference was published in its unpublished version. (Erzsébet Vezér, Ady..., p. 75.

13

Endre Ady Political Writings I. Op. cit., p. 208.

14

Erzsébet Vezér, Op. cit. p. 80.

Begegnungen09_Fata

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:197–214.

MÁRTA FATA

Aus dem Steinlachtal nach Siebenbürgen

Die letzte organisierte deutsche Auswanderung in den habsburgischen Südosten im Spannungsfeld von Anpassung und Beharrung

 

In der Zeit zwischen 1815 und 1870 wanderten aus dem Königreich Württemberg mehr als 400.000 Menschen aus. Einen Höhepunkt erreichte die Massenauswanderung in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als infolge der allgemeinen Krise in der württembergischen Wirtschaft mehrere Tausende Württemberger den Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika nahmen. Einige Hunderte von den Auswanderungswilligen folgten allerdings der Einladung der Siebenbürger Sachsen und wanderten in das Großfürstentum Siebenbürgen in der Habsburgermonarchie aus. Warum entschlossen sich diese Auswanderungswilligen, vom traditionellen Auswanderungsziel abzukommen und nach Osten auszuwandern? Konnten sie dort den von den Organisatoren gestellten Forderungen entsprechen? Und welche Faktoren wirkten sich fördernd, welche hemmend auf die Integration der württembergischen Immigranten in der neuen Heimat aus?

 

Ursachen, Verlauf und Ergebnisse der württembergischen Auswanderung nach Siebenbürgen 1845–1848

Das Einwanderungsland Siebenbürgen

Siebenbürgen lag weit entfernt von den politischen Entscheidungszentren und den wichtigsten Märkten des Habsburgerreiches und hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit großen inneren Spannungen zu kämpfen. Auf dem autonomen Verwaltungsgebiet der Siebenbürger Sachsen zeichnete sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Überbevölkerungskrise ab. Schon die Zeitgenossen waren der Meinung, dass die Ursachen dieser Krise im niedrigen Niveau der Agrarproduktion und in der veralteten Agrarverfassung zu finden seien. Stephan Ludwig Roth, evangelischer Pfarrer in Mediasch, kennzeichnete 1843 die Situation: ,,Die Menschen haben zugenommen, die Hattert können nicht mehr wachsen; die Erweiterungen durch Roden haben ihre Grenzen erreicht. Auf diesem durch die Volksmenge kleiner gewordenen Hattert ist die Arbeit schwieriger, der Ertrag geringer geworden.”1 Die traditionelle Dreifelderwirtschaft, der Flurzwang und die vorherrschende Gewannverfassung der Siebenbürger Sachsen hatten eine extreme Flurzersplitterung zur Folge, die durch das Realerbsystem weiter vorangetrieben wurde. Die Felder waren nicht selten dermaßen zerstückelt, dass die Bauern sechs bis 18 Ackerfelder und ebenso viele Weingärten besaßen, die aber zum Großteil nur wenige Schritte breit waren. Die Arbeit auf diesen winzigen Grundstücken war nicht nur äußerst mühsam, sondern auch fast unerschwinglich teuer.2

Aus der Krise konnte nur die Modernisierung der Landwirtschaft, die Arrondierung der Felder und die Stallviehzucht, herausführen. Roth, der den Widerstand und die Unkenntnis der sächsischen Bauern beklagte, war der Auffassung, dass man die neuen Methoden nicht einfach durch Beschlüsse einführen kann und dass bloß die Einrichtung von Musterwirtschaften in den siebenbürgisch-sächsischen Dörfern zu einem positiven Ergebnis führen wird.3 Der Fogarascher Pfarrer Andreas Wellmann, der ebenfalls die Belehrung der siebenbürgisch-sächsischen Bauern ,,durch Beibringung vernünftiger Ansichten” anstrebte, forderte die siebenbürgisch-sächsischen Beamten, Geistlichen und Lehrer zur Zusammenarbeit auf.4

Dieser Forderung entsprach man auf der zweiten Generalversammlung des Vereins für siebenbürgisch-sächsische Landeskunde in Kronstadt am 9. Juni 1843, als einige Vereinsmitglieder unter der Leitung von Franz Conrad, Hofagent der königlich-siebenbürgischen Hofkanzlei und Bevollmächtigter der sächsischen Territorialverwaltung (Nationsuniversität) in Wien, die Gründung eines Vereins zur Förderung der siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaft beschlossen hatten. Schon bei dieser ersten Beratung und ebenso in dem der Siebenbürgischen Hofkanzlei zur Genehmigung der Vereinssatzung eingereichten Gesuch der siebenbürgisch-sächsischen Territorialverwaltung vom 17. Februar 1845 wollte man das Übel ,,durch Berufung und Aufnahme fremder Einwanderer abwenden, die an mehr Betriebsamkeit gewöhnt, mit den besten Methoden und Werkzeugen der Bodenkultur bekannt und ohnehin zur Veränderung ihrer Wohnsitze geneigt oder genötigt sind”. Man war zuversichtlich, ,,dass solche Einwanderer durch ihr Beispiel auf die übrigen Landbewohner belehrend einwirken, sie zur besseren Kultur des Bodens aneifern und so durch Steigerung des Bodenertrags die Ernährung einer größeren Volkszahl möglich machen, dadurch aber mittelbar auch Industrie und Handel befördern werden.”5

Den Wunsch, deutsche Glaubensgenossen anzusiedeln, hatte die siebenbürgisch-sächsische Elite bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geäußert, um die aus der demographischen Minderheitensituation der Siebenbürger Sachsen resultierende Gefahr abzuwenden. Der Anteil der Siebenbürger Sachsen an Siebenbürgens Bevölkerung ist im Zeitraum von 1794 bis 1844 von 12,5 % auf 10 % zurückgegangen.6 Selbst auf ihrem 195 Quadratmeilen großen und aus drei Teilen bestehenden autonomen Gebiet waren die Sachsen 1839 bereits in der Minderzahl. Die Rumänen, Zigeuner und Ungarn stellten 52,6 % der 378.000 Personen umfassenden Gesamtbevölkerung.7 Nahm die Zahl der Rumänen – unter anderem durch die aufgrund von Mangel an Arbeitskräften (Landarbeitern) erfolgte Einwanderung – rapide zu, so war mit einem beträchtlichen natürlichen Zuwachs der Siebenbürger Sachsen wegen des Ein-Kind-Systems, das sich gerade als Folge der Agrarverfassung immer mehr ausbreitete, nicht zu rechnen. Roth beschwor sogar die Vision des Volkstodes, als er schrieb: ,,Wir Deutsche in Siebenbürgen sind in einer so desperaten Lage, dass wir in hundert Jahren aufhören zu sein.”8

Vor dem Hintergrund des nationalen Erwachens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Merkmale des ethnischen Daseins, insbesondere die Sprache, einen kultischen Charakter annahmen, versuchte die ungarische Mehrheit im Ständestaat Siebenbürgen (der ungarische Adel und die Szekler) auf den Landtagen 1837/38 und 1841–43 dem Ungarischen eine Vorrangstellung zu sichern, indem sie den Wirkungsbereich der lateinischen Amtssprache einschränkte. Die ständische Minderheit (die Siebenbürger Sachsen) reagierte auf die geplante Erweiterung des Verwendungsbereichs des Ungarischen gereizt, weil sie erkannte, dass der Sprachenkampf eigentlich einen Bestandteil des Ausbaus eines ungarischen Nationalstaates bildete, der einerseits die Union Siebenbürgens mit Ungarn, andererseits die Abschaffung der ständischen Privilegien, darunter auch der Territorialautonomie der Siebenbürger Sachsen, beinhalten sollte. Als auch die rumänischen Bischöfe Ioan Lemeni und Vasile Moga die Siebenbürger Sachsen der politisch-kulturellen Diskriminierung der Rumänen bezichtigten und die sächsische Nationsuniversität zur Gleichstellung der rumänischen Mehrheit aufforderten,9 fühlten sich die Siebenbürger Sachsen von allen Seiten bedrängt. Conrad notierte: ,,Wir haben auf den letzten beiden Landtagen gesehn, wie sehnlich unsere Feinde wünschen und bei unserer kleinen Anzahl es auch hoffen, den sächsischen Namen verschwinden zu machen; wir haben gesehn, dass unsre Gegner, zu schwach uns selbst zu verschlingen, uns den Walachen als gute Beute vorgeworfen haben [...].”10

Der befürchteten ,,nationalen” Überfremdung hofften die Siebenbürger Sachsen mit der Einwanderung von deutschen Glaubensgenossen entgegenwirken zu können.11 1844 schien ein günstiger Zeitpunkt für eine deutsche Einwanderung zu sein, als das württembergische Ministerium des Innern die österreichische Regierung ersuchte, die Aufnahme von württembergischen Untertanen in Ungarn und in Siebenbürgen zu genehmigen. Die Komitate im Königreich Ungarn lehnten jedoch eine organisierte deutsche Einwanderung, wie schon Jahre zuvor, einstimmig ab. Die ungarischen Komitate und die Szekler Stühle in Siebenbürgen, wo sich die Stimmen mehrten, die dem Elend der in die Moldau und in die Walachei abgewanderten Ungarn durch Rücksiedlung abzuhelfen wollten,12 lehnten die Aufnahme von fremden Immigranten ebenfalls ab. Dagegen sah die siebenbürgisch-sächsische Elite in der Anfrage der württembergischen Regierung eine günstige Gelegenheit, die von Roth folgendermaßen definierten ethnischen und wirtschaftlichen Ziele der sächsischen Nation auf einen Schlag zu verwirklichen: ,,[Die] Verstärkung unseres Volkes durch Herbeiziehung deutsch-evangelischer Einwanderer zur Emporhebung des Landbaues und gleichzeitiger Einschränkung des Nomadenstandes [der Rumänen M.F.] unter und zwischen uns [...].”13

Am 3. Oktober 1844 erklärte sich die siebenbürgisch-sächsische Territorialverwaltung in ihrer Antwort auf die Umfrage des Guberniums bereit, Württemberger sowohl auf den adligen und mehrheitlich von rumänischen und ungarischen Hörigen bewohnten Gütern der Siebenbürger Sachsen als auch in den freien sächsischen Orten anzusiedeln. Um die Ansiedlung zu fördern, plante die Nationsuniversität, in Hermannstadt eine Zentralstelle für die Koordinierung der Immigration einzurichten.14 Als jedoch die Genehmigung der württembergischen Einwanderung von höchster Regierungsebene Anfang 1845 noch immer auf sich warten ließ, ersuchte Conrad zwei Wochen nach der Gründung des Aktienvereins für die Hebung der siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaft am 5. März 1845 Roth, als Privatmann nach Württemberg zu reisen und dort Einwanderer anzuwerben. Conrad, der mit einer Zuspitzung der ethnisch-nationalen Gegensätze zwischen den Ständen Siebenbürgens und mit dem Widerstand der Ungarn gegenüber einer organisierten deutschen Einwanderung rechnete, wollte noch vor Beginn des nächsten siebenbürgisch-sächsischen Landtags 1846 ein fait accompli schaffen.15 Die württembergische Einwanderung nach Siebenbürgen wurde damit ohne die offizielle Genehmigung der Behörden in Form einer Privatunternehmung begonnen.

Dies war zugleich der Hauptgrund für die mangelhafte Planung und Durchführung der Einwanderungsaktion. Conrad war von Anfang an der Meinung, dass jede Organisation überflüssig sei, weil sich ,,viele Patrioten für die Sache interessieren und den Ankömmlingen gewiss gerne Schutz und Unterkunft gewähren würden [...].”16 Man hätte seiner Meinung nach lediglich einige wenige Familien zur Auswanderung überreden und mit detaillierten Informationen über die siebenbürgisch-sächsischen Verhältnisse vorbereiten müssen, die dann ihre Verwandten und Bekannten nach sich gezogen hätten.17 Roth, der mit der Frage beschäftigt war, wie man die Einwanderer ohne große materielle Belastung der Siebenbürger Sachsen ansiedeln könnte, forderte seine Landsleute in den Zeitungen auf, Anträge für die Ansiedlung von Württembergern mit der genauen Angabe der Größe und Qualität des Bodens und der Bedingungen für die Ansiedlung zu stellen. Auf Grund dieser Kauf- und Pachtverträge wollte er Kontrakte mit den Auswanderern abschließen, die auf diese Art ihr genaues Ziel hätten erfahren können und die gleichzeitig von den Antragstellern nach ihrer Ankunft in Siebenbürgen hätten betreut werden müssen.18

Roth fuhr im Juli 1845 nach Württemberg, bereiste in den folgenden Monaten Altwürttemberg und führte Gespräche mit Beamten, Honoratioren und Auswanderungswilligen. Mit der Zustimmung der österreichischen Botschaft in Stuttgart startete er in den württembergischen Zeitungen eine Werbeaktion für Siebenbürgen. Seine Artikel vermittelten das Bild eines siebenbürgisch-sächsischen Schlaraffenlandes, das auf dem Versprechen beruhte, dass das Sachsenland eine mehr als ausreichende Kompensation für die verlassene Heimat bieten kann: ,,Das Land hat große Ähnlichkeiten mit dem lieben Schwabenland und alles, was hier gebaut wird, gerät dort auf das Vollkommenste; denn der Boden ist fetter und die Witterung etwas milder. [...] Die Abgaben sind mäßig; die Landeskonstitution ist freisinnig: alle sächsischen Beamten sind Ausdruck des Volkswillens, weil sie, die Geistlichen nicht ausgenommen, vom Volke gewählt werden. Diejenigen nun, welche eine neue Heimat suchen, können bei uns mit wenigen Geldkräften ein selbständiges, freies Anwesen sich verschaffen [...].”19

Als Roth Ende November nach Siebenbürgen zurückkehrte, übertrug er die Betreuung der Auswanderer seinem in Tübingen studierenden Landsmann Peter Wolf. Wolfs Auftrag erstreckte sich auf die Auswahl und Betreuung der Auswanderer. Bis zum Sommer 1846 wurde er von Roth, anschließend vom Landwirtschaftsverein über die Einwanderungsbedingungen und über die Zahl der zum Kauf bzw. zur Pacht angemeldeten Besitztümer unterrichtet.20 Anhand dieser Unterlagen stellte er die Auswanderergruppen zusammen, übergab die aus Siebenbürgen zugeschickten Kauf- und Pachtverträge und erteilte genaue Auskunft über die Formalitäten und die Reiseroute.

Das Auswanderungsland Württemberg

Die Aussicht auf billigen Boden und auf sichere Subsistenz in einem 1845/46 von ausgesprochen schlechter Ernte betroffenen Württemberg löste Interesse an der Auswanderung nach Siebenbürgen aus. Nach einem ersten Verzeichnis der württembergischen Regierung, das anhand der Berichte aus den Oberämtern angefertigt wurde, wanderten vom Oktober 1845 bis Ende Januar 1846 insgesamt 69 Familien mit 381 Personen und 31 selbständige Personen legal nach Siebenbürgen aus. Zwischen dem 17. und 24. März 1846 meldeten sich weitere 138 Familien mit 748 Personen bei der siebenbürgischen Hofkanzlei in Wien zur Auswanderung. Sie brachten insgesamt 58.646 Gulden an Vermögen mit. Laut des Berichts des siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsvereins vom 6. Juni 1846 waren bis Ende Mai 1846 63 verwitwete und ledige Personen und 307 Familien mit 1.460 Personen eingewandert, die 62.582 Gulden mitbrachten. In den ersten acht Monaten des Jahres 1847 sind nach der offiziellen württembergischen Statistik 76 Familien mit 406 Personen (7 % der offiziell erfassten Auswanderer) nach Siebenbürgen ausgewandert. Laut einer 1850 erfolgten Erhebung in Siebenbürgen selbst – die allerdings gerade die Angaben jener Hermannstädter und Brooser Bezirke nicht beinhaltet, die bis zum 31. Mai 1846 immerhin mehr als 40 % aller Württemberger aufnahmen – wanderten 1847 weitere 58 Familien mit 244 Personen und mit 16 800 Gulden ein. Im Revolutionsjahr 1848 waren es nur noch sechs Familien mit 22 Personen und 2.300 Gulden.21

Nach der geographischen Verteilung der Auswanderer standen 1846 die Oberämter Balingen mit 518,22 Tübingen mit 383 und Rottenburg mit 32623 Personen an der Spitze der Auswanderungsgebiete. Die Gründe für die starke Beteiligung der Einwohner dieser Oberämter werden in den amtlichen Aufzeichnungen vielfach geschildert. So berichtete das Oberamt Balingen dem Innenministerium am 16. Februar 1846: ,,Die Veranlassung zu dieser in Vergleichung mit den früheren – sehr bedeutenden Auswanderung dürfte darin zu sehen seyn, dass wegen des beinahe allgemein herrschenden Geldmangels und der Schwierigkeit sich einen Verdienst zu verschaffen, die minderbemittelte Volksklasse weniger, als sonst zu verdienen vermag, weil auch der bemittelte seine Bedürfnisse möglichst zu beschränken sucht, und sehr übertriebene Schilderungen von der Wohlfeilheit der Güter, der Wohnungen, des Hofes und anderer Lebensbedürfnisse im Umlauf gekommen sind, wodurch die Sehnsucht nach dem vermeintlich glücklichen Lande je länger je mehr rege gemacht und alle Einladungen gegen die Richtigkeit solcher Nachrichten nur mit großem Misstrauen angehört werden.”24

Die große Sehnsucht der Württemberger nach einem vermeintlich glücklichen Leben in Siebenbürgen hing mit der Krise des auf dem Gebiet der drei württembergischen Oberämter vorherrschenden Lebensmodells der sogenannten Produktionsfamilie zusammen. Die meisten Familien ernährten sich aus einer gleichzeitigen landwirtschaftlichen und kleingewerblichen Warenproduktion für den lokalen Markt.25 Diese gemischte Wirtschaft, die den Vorteil hatte, Krisen in der Agrarwirtschaft oder im Gewerbe durch die andere Einnahmequelle auszugleichen, geriet in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ins Wanken.

In Württemberg ging der Übergang zur modernen Industrieproduktion mit konjunkturellen und strukturellen Rückschlägen vor sich. Zunehmende Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit waren deutliche Symptome einer sich zwischen 1841 und 1848 zuspitzenden Krisensituation. Die mangelhafte Handelspolitik und das Eindringen von billigen englischen Leinwand- und Industrieprodukten führten das württembergische Handwerk und die Heimarbeit in eine Krise. Ein Ausgleich durch die Landwirtschaft war diesmal nicht zu erhoffen, denn schlechte Ernten in den Jahren von 1845 bis 1854 führten zum Anstieg der Lebensmittelpreise und hatten eine allgemeine Teuerung zur Folge. Der Ortvorsteher des Marktfleckens Mössingen im benachbarten Oberamt Rottenburg schilderte die allgemeine Lage: „Die ökonomischen Verhältnisse der Gemeindeangehörigen sind traurig, die Armut greift immer mehr um sich, während sich die Bevölkerung immer mehr vermehrt.”26 Die Agrar- und Handelskrise, verbunden mit einer starken Überbevölkerung der Region und einer Zersplitterung der Bauernbetriebe durch Realteilung, verstärkte die Auswanderung aus Altwürttemberg, die sich in den Jahren 1844 und 1845 im Vergleich zu den Vorjahren 1842 und 1843 verdoppelte.27

Angesichts der steigenden Auswanderungszahlen setzten sich Fachleute, der Reutlinger Finanzdirektor Johann von Werner und der Staatsrechtler Friedrich List, mit den Problemen der Auswanderung auseinander und befürworteten eine staatlich gelenkte Migrationspolitik,28 um so die fehlenden deutschen Rohstoff- und Absatzgebiete zu ersetzen. Werner, der unter anderem einen Katalog der Auswanderungsgebiete erarbeitete, schrieb: ,,Es handelt sich nicht bloß um die Leitung der Auswanderung in ein hierzu geeignetes Land, sondern auch davon, die kommerziellen Beziehungen und Handelsverbindungen, welche andere europäische Staaten durch Kolonien in fremden Welttheilen gegründet haben, auf dem stillen und einfachen Wege der Auswanderung zu erreichen.”29

Wo diese Kolonien zu gewinnen waren, darüber gingen die Meinungen auseinander. Während die meisten Autoren eine Auswanderung nach Amerika propagierten und von der Auswanderung nach Südosteuropa, insbesondere von der Ansiedlung auf den Gütern des ungarischen Adels wegen der dort vorherrschenden feudalen Rechtsverhältnisse abrieten, befürwortete List deutsche Kolonien in den Donauländern (Ungarn, Serbien, die Moldau, die Walachei und Bulgarien) zu errichten. Ungarn sprach er dabei auch eine politische und wirtschaftliche Schlüsselposition bei der Vertretung der gesamtdeutschen Interessen auf dem Balkan zu.30 List argumentierte für die Auswanderung in die unteren Donauländer damit, dass sie besonders reich an fruchtbaren Feldern und Mineralien, jedoch stellenweise unterbevölkert seien. So hätten sie nach seinen Schätzungen mehrere Millionen Auswanderer aufnehmen können.31

Erfreuten sich Lists Schriften und Vorschläge über Ungarns Modernisierung einer allgemeinen Zustimmung, so spalteten seine Ausführungen über die Umleitung der deutschen Auswanderung nach Ungarn die ungarische Reformelite. Die in den vierziger Jahren erschienenen Schriften in den süddeutschen Staaten, deren Autoren über „ein deutsches Ungarland”32 träumten, und die in großer Zahl in die ungarischen Städte einströmenden arbeitslosen Handwerkergesellen – vor allem aus Bayern33 – beunruhigten die Radikalen um Lajos Kossuth. Diese traten gegenüber den Habsburgern gerade für die nationalen Interessen der Ungarn ein und waren keineswegs bereit, die gewünschte wirtschaftliche und kulturelle Autonomie der Ungarn den deutschen Wirtschaftsinteressen unterzuordnen. Umso größer war die Begeisterung bei den Siebenbürger Sachsen, die gern eine deutsche Vorpostenrolle im Osten hätten übernehmen wollen.

Die Ergebnisse der Einwanderung

Doch die Siebenbürger Sachsen waren nicht einmal in der Lage, die württembergischen Einwanderer, deren Zahl sich infolge der Hungerkrise in Württemberg rasch zunahm, aufzunehmen. Vergeblich gab Roth im „Schwäbischen Merkur” am 14. Februar 1846 bekannt, dass alle freien Besitzungen und Pachtungen im Sachsenland bereits vergeben sind. Auch die württembergischen Oberämter versuchten ohne Erfolg, die durch die Werbung in Gang gesetzte Auswanderung nach Siebenbürgen zu unterbinden. So berichtete der Besigheimer Oberamtsmann am 23. Februar 1846: ,,Ich habe mir schon alle Mühe gegeben, diese Leute zu belehren, dass es von ihnen zu gewagt sey, nach Siebenbürgen zu ziehen, ohne sie ihre Aufnahme dort versichert seyn können, allein die wenigsten nehmen Belehrung und Kosten, und glauben den mündlichen Versicherungen des Studenten Peter Wolf in Tübingen unbedingt.”34 Die Auswanderung drohte außer Kontrolle zu geraten. Es gab nicht genügend freie Hofstellen, und nur ein kleiner Teil der Auswanderer konnte eine überlebensfähige und rentable Bauernstelle mit etwa 20 Joch Acker für 1.000 Gulden oder mehr erwerben. So hatten von den bis Juni 1846 eingewanderten 307 Familien nur 33 Eigentume erworben, 60 lebten als Pächter und der größte Teil ernährte sich vom ländlichen Handwerk oder vom Taglohn.35

Der Großteil der Auswanderer kam mit wenig Bargeld, aber mit großen Hoffnungen in Siebenbürgen an. Was die Migranten dort erwartete, war meist ein Leben als Taglöhner oder als Gesinde wie zu Hause. Nicht wenige der Einwanderer gehörten in ihrer alten Heimat zu den Dorfarmen, die von ihren württembergischen Gemeinden mit den nötigen Zeugnissen und dem erforderlichen Reisegeld ausgestattet nach Siebenbürgen geschickt worden waren,36 um die wachsenden sozialen Spannungen zu verringern.

Zwischen Februar und September 1846 zählte man im Kronstädter Distrikt zwölf Einwandererfamilien und zwei ledige Personen. Sechs Familien kamen aus Mössingen im Oberamt Rottenburg, drei aus dem Oberamt Waiblingen, zwei aus dem Oberamt Vaihingen und jeweils eine aus dem Oberamt Sulz und Schorndorf. Untergebracht waren am 1. Dezember nur sechs von ihnen, drei Bauern in einer Gärtnerei, einer als Hirt, ein Bäcker pachtete einen Garten und ein Bauer arbeitete in einer Textilwerkstatt. Dagegen fanden vier Bauern, ein Taglöhner, ein Weingärtner, ein Weber und ein Sägmüller keinen Lebensunterhalt und waren auf die Unterstützung der Einheimischen angewiesen.37

Am 26. Juni 1847 erließ die württembergische Regierung auf Veranlassung der österreichischen Regierung eine Beschränkung der Auswanderung. Es wurden keine Handwerker mehr zur Auswanderung zugelassen und von den Landwirten nur diejenigen, die ein gutes Prädikat von ihrer Gemeinde und den Besitz eines Vermögens von 800 Gulden vorweisen konnten. Es durften auch Einzelpersonen einreisen, die sich im Land umsehen wollten, um dort später als Landwirt zu leben. Unter diesem Vorwand konnten auch nach dem Juni 1847 vermögenslose Württemberger nach Siebenbürgen fahren und sich dort schließlich niederlassen. So kam die württembergische Auswanderung erst im Jahre 1849 infolge des ungarischen Freiheitskampfes endgültig zum Stillstand.

Die Ursachen für die gescheiterte Einwanderungsaktion sah Roth darin, dass viele der württembergischen Einwanderer nicht die erwünschten Musterbauern waren, denn „mancher derselben [war] nicht einmal im Stande, den Pflug zu handhaben, die Jochochsen zu lenken, oder die Kuh zu melken.”38 Deshalb machte auch ihre Integration in die siebenbürgisch-sächsische Gesellschaft nur langsam Fortschritte, woran jedoch die Siebenbürger Sachsen selbst Schuld trugen, bei denen sich, so Roth, „der Unglaube an die Tüchtigkeit der Württemberger festgesetzt hatte.”39 Vor allem aber beschuldigte Roth die Magyaren im Königreich Ungarn, die Kolonisationspläne untergraben zu haben.

Die Integration der Migranten am Beispiel des Ofterdinger Auswanderers Johann Georg Haldenwang

Die Immigration der Württemberger entsprach nicht den Erwartungen der sächsischen Intellektuellen, weil sie sich nicht als die erwünschte innovative Kraft für die veraltete siebenbürgisch-sächsische Wirtschaft erwiesen hatte. Für die Einzelnen endete allerdings die Auswanderung nach Siebenbürgen von Fall zu Fall anders. Der aus Ofterdingen nach Deutsch-Pien ausgewanderte Johann Georg Haldenwang berichtete über seine württembergischen Landsleute in Siebenbürgen: ,,Einige blieben hier, denn sie starben, die meisten aber, unruhigen Geistes, zerstreuten sich nach einigen Jahren in alle Winde. Ich will ein offenes Wort sagen: es war unter ihnen manch lockerer Vogel, der ein leichtes Leben und keinen Ernst in der Arbeit gewöhnt war, es schien ihm nicht – er zog fort; es waren einige mitgekommen, die sich auch zu Hause nicht durch Nüchternheit ausgezeichnet hatten, hier trieben sies ärger denn zuvor – bald war die Tasche geleert – sie mussten fort; wieder andere waren wohl arbeitsam, aber sie fassten die Sache nicht am rechten Ende an – sie versuchten es anderswo; andere hatten Unglück und konnten nicht bleiben; so ging das fort, aber die Ersteren überwogen.”40 Haldenwang gehörte zu jenen wenigen Auswanderern, denen der Neuanfang in der Fremde geglückt war. Als er sich in seinem 76. Lebensjahr an sein Leben zurückblickte, war er der größte Steuerzahler und einer der höchsten Würdenträger seiner Gemeinde.

Absichten und Erwartungen

Der Vater von Johann Georg Haldenwang war ein armer Weber, der wie die meisten Handwerker im Steinlachtal, zugleich Landwirt war. Es gelang ihm ab und zu, Leinen und Hanf in die Schweiz zu liefern, seit den dreißiger Jahren ging es jedoch im Webergewerbe wegen der starken Konkurrenz immer härter zu. So ließ er seinen Sohn Johann Georg die Anfertigung des damals in Mode gekommenen feinen Musselins erlernen. Doch die Weberei trug immer weniger ein und der neunköpfigen Familie ging es materiell immer schlechter. Als auch der Händler Benedikt Baruch in Hechingen, für den Johann Georg Haldenwang zusammen mit etwa 400 Meistern aus der Umgebung webte, in Ermangelung an Nachfrage nach einheimischen Textilien die Abnahme bedeutend einschränken musste, überlegte sich die Familie Haldenwang, eine Existenz außerhalb des Dorfes zu suchen.

Der Auswanderung der Familie ging ein Versuch voraus, nach Oberschwaben zu ziehen, das gegenüber Altwürttemberg wegen des vorherrschenden Anerbenrechts ein vorwiegend groß- und mittelbäuerlich strukturiertes Land war.41 Die Haldenwangs hörten, dass dort billig Grund zu erwerben sei, deshalb machten sich Vater und Sohn auf die Reise nach Ravensburg. Doch der Versuch, sich in der Umgebung von Ravensburg anzukaufen, scheiterte am religiösen und daraus folgenden mentalen Unterschied zwischen den Regionen im Herzogtum Württemberg. Die engere Heimat der Haldenwangs, Altwürttemberg, war ein geschlossenes lutherisch-protestantisches Territorium, die neuen Gebiete im Herzogtum Württemberg wie etwa Oberschwaben waren katholisch. Wie stark die Trennlinien zwischen protestantischem Altwürttemberg und katholischem Oberschwaben waren, erfuhren die Haldenwangs während ihrer Reise: ,,Wir gerieten in große Not, denn man wollte uns nicht beherbergen, als man hörte, wir seien evangelisch. Wir trafen dort einen Evangelischen, der sich auch angekauft hatte. Er sprach zu uns: es soll mit mir genug sein, geht heim, unter diesem Volke könnt ihr nicht leben.”

So beschloss der Vater, den nach Amerika ausgewanderten Freunden zu folgen. Diese hatten im Staat Ohio eine Farm gekauft und berichteten, dass man dort schon um 1.000 Gulden so viel Grund kaufen könne, dass ihn 20 Personen zu bearbeiten nicht imstande seien. Auch im „Schwäbischen Merkur” las die Familie immer wieder über die guten Erwerbsmöglichkeiten in Amerika und war deshalb entschlossen, dorthin auszuwandern. Die Haldenwangs wollten für die neue Heimat vorbereitet sein, so musste Hansjörg auch noch das Schusterhandwerk erlernen, weil es nach den Berichten der Freunden keinen auf dem Lande in Ohio gab, der Schuhe reparieren konnte. Im Herbst 1845, noch bevor die Reisevorbereitungen getroffen wurden, las die Familie im „Schwäbischen Merkur” den Aufruf des evangelischen Pfarrers Stephan Ludwig Roth statt nach Amerika nach Siebenbürgen auszuwandern. Die Nachricht, dass in den von evangelischen Deutschen bewohnten Ortschaften Siebenbürgens fruchtbares Land samt Hof billig zu erwerben sei, ließ die Familie Haldenwang vom ursprünglichen Auswanderungsziel abkommen. Ein persönliches Gespräch mit Roth in Tübingen stimmte sie vollends um. Ausschlaggebend für die Entscheidung für Siebenbürgen war die Tatsache, dass dort die Grundpreise bedeutend niedriger lagen als in Amerika und auch die Reise dahin wesentlich billiger und ungefährlicher war als nach Übersee.

Zuerst wurde der Grund in Ofterdingen verkauft, dann auch Hof und Haus in der Froschgasse veräußert und die Schulden von 1.400 Gulden bezahlt. Am 3. März 1846 machte sich schließlich die neunköpfige Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten (mit Kleidern, Bettzeug, Kochgeschirr, dem Gebetbuch von Stark, der Predigtensammlung von Bratberger und der Bibel) und mit 2 400 Gulden auf den Weg nach Siebenbürgen. Sie fuhr zusammen mit Familien aus der Umgebung, die ebenfalls nach Seligstadt auswandern wollten. Die Reise ging über Reutlingen nach Ulm mit dem Pferdewagen und von Ulm auf der Donau bis Pest mit einem für die kleine Gruppe gezimmerten Schiff und von dort über die Tiefebene, Arad und Broos bis nach Mühlbach wieder mit dem Pferdewagen. Konnte die kleine Auswanderergruppe in Preßburg der Einladung der 1841 dorthin ausgewanderten Bekannten aus Ofterdingen und in Broos der auf württembergische Einwanderer wartenden Siebenbürger Sachsen widerstehen, so war der Empfang in Mühlbach so herzlich, und das Argument, dass man von den hochverschuldeten Rumänen Grund und Boden sehr billig abkaufen könne, so überzeugend, dass sich die Gruppe entschloss, die Reise doch nicht bis zum von Roth empfohlenen Ziel Seligstadt fortzusetzen. Zur Ackerwirtschaft geeignete Felder und eine neue Heimat fand die Familie Haldenwang außerhalb von Mühlbach in Deutsch-Pien.

Fremdheitserfahrung

Die Erfahrung mit der Fremde begann bereits im eigenen Land. Johann Georg Haldenwang nutzte die Reise nach Siebenbürgen, um die Sehenswürdigkeiten zuerst in Ulm, dann auch in der Kaiserstadt Wien und in der Krönungsstadt der ungarischen Könige in Preßburg zu besichtigen. In Ungarn beeindruckten ihn vor allem die Begegnungen mit den Landesbewohnern. In Pest sprach ein Mann – selbst ein Migrant, der aber schon seit Jahren in Ungarn lebte – die Gruppe der Württemberger an, um ihnen zu helfen. Bis nach Arad fuhren die Württemberger mit ungarischen Fuhrleuten, mit denen sie sich zwar in keiner Sprache verständigen konnten, dennoch blieb ihre Freundlichkeit Haldenwang in guter Erinnerung. „[...]Wenn wir manchmal besorgte Mienen machten, traten sie freundlich an uns heran und suchten uns zu beruhigen, wobei sie unter vielen Worten dann die Hand auf die Brust legten.”

Nach mehreren Tagen erreichte schließlich die Gruppe Siebenbürgen. Die Familie Haldenwang aus dem württembergischen Ofterdingen kam in einem Land an, dessen Namen sie früher nicht einmal gehört hatte. „Amerika war für uns kein unbekanntes Land”, berichtete Haldenwang. Aus den Briefen der dorthin ausgewanderten Freunde und Bekannten war die Familie über das Leben in Amerika gut informiert. Dagegen war Siebenbürgen eine terra incognita, mit der sie keine Vorstellungen verbinden konnte. Hansjörg ging deshalb zum Gemeindepfarrer und fragte, ,,[...] ob er etwas von Siebenbürgen wisse, und wo liege dies Land? Er sprach: »Ich habe noch davon gehört, doch scheint es ferne zu liegen«, griff nach einem Buche, gab es mir und sprach: »Da drinnen steht das Land beschrieben«. Ich nahm das Buch mit nach Hause und las darin.” Über die in Siebenbürgen herrschenden Zustände konnte Hansjörg seiner Familie nicht viel vorlesen, denn er musste später mit Staunen feststellen, dass in Siebenbürgen neben den Ungarn, Sachsen und Szeklern auch Rumänen leben.

,,Es war eine andere Welt, in die wir eingetreten waren, als jene, die wir mit unserer Heimat verlassen hatten. Die Verhältnisse waren anders und die Menschen waren anders. Wir fühlten uns lange als Fremdlinge.” Die Württemberger mussten sich in Siebenbürgen mit einer fremdsprachigen Umgebung auseinandersetzen. In Deutsch-Pien lebten viele Rumänen, mit denen sich die Immigranten nur durch Dolmetscher verständigen konnten. Aber selbst die Siebenbürger Sachsen sprachen eine Mundart, die dem Ohr der Württemberger zunächst äußerst fremd klang. Nicht besonders einladend war auch das eher armselige Erscheinungsbild des Dorfes. Deutsch-Pien mit den niedrigen, aus Lehm gestampften und strohgedeckten Häusern ohne Schornsteine, die „wie ein Lager qualmten”, ließen die Sehnsucht nach der alten Heimat erwachen. Auch Tracht und Sitten der Sachsen kamen den Einwanderern altertümlich vor. Die Männer trugen das Haar noch lang, und auf den Köpfen saßen breitkrempige Filzhüte, die nach Haldenwang wie Dächer auf ihren Köpfen saßen. Besonders merkwürdig kam ihm das siebenbürgisch-sächsische Begräbnis vor. Vor allem die Tatsache, dass auch der größte Haustyrann mit „unbändiger Wehklage” verabschiedet wurde, gab ihm zu denken. Die Hochzeiten, die in Siebenbürgen nicht wie in Württemberg im Wirtshaus, sondern in den Privatwohnungen abgehalten wurden, dauerten mehrere Tage, und man aß und trank bei dieser Gelegenheit nach Beobachtung Haldenwangs unmäßig viel. Auch an das Essen konnten sich die Württemberger nur sehr langsam gewöhnen. ,,Mit Schweinefett kochen und den Speck roh essen, das konnte bei uns niemand; wer es hier nicht konnte, hatte es nicht – wir aber entsetzten uns, weil wir an andere Kost gewöhnt waren. Ich muss sagen, bis wir die siebenbürgischen Speisen essen lernten, musste jeder einige Krankheiten durchmachen. Ich selbst habe auch viele Beschwerden und neun Wochen das Fieber gehabt.” Die Württemberger hatten bereits unterwegs in Ungarn und dann in Siebenbürgen viel Neues kennenzulernen, so den Mais und die aus Mais angefertigten Speisen. ,,Da wir nach Ungarn kamen und das erste Maisbrot sahen, sollen einige Frauen gesagt haben: »Hier sind wir im gelobten Lande, sehet da essen die Leute Eierbrot!« Nicht lange blieb uns auch der Palukes [Maisbrei] verborgen; wir konnten uns aber schwer entschließen, davon zu essen.”

Die Familie Haldenwang kaufte gleich nach ihrer Ankunft in Deutsch-Pien von den verschuldeten Rumänen drei Ackerfelder und einen Weingarten ab und konnte bereits im ersten Jahr ernten. Bei der Bestellung der Felder musste sie sich jedoch der in Württemberg längst überwundenen Dreifelderwirtschaft mit Flurzwang anpassen. So konnten die Haldenwangs ihre moderneren landwirtschaftlichen Kenntnisse, die der sächsische Landwirtschaftsverein fördern wollte und weshalb sie eigentlich nach Siebenbürgen eingeladen worden waren, nicht nutzen. Die Familie baute bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts – wie die Sachsen und Rumänen – hauptsächlich Weizen und Mais in Dreifelderwirtschaft an, als es sich endlich durchsetzte, auch die Brache zu bebauen.

Unterstützung vom siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsverein, dessen Ruf die Württemberger gefolgt waren, erhielten die Familien auch in Deutsch-Pien nicht. Auch von der Gemeinde bekamen die Neuankömmlinge keine materielle Hilfe. Wollte oder musste man das Einkommen der Familie verbessern, so konnte man bei reicheren Bauern in Tagelohn arbeiten. Johann Georg Haldenwang ging sechs Jahre lang als Drescher arbeiten. „An diese harte, schwere Lebensschule” erinnerte er sich keineswegs mit Bitterkeit zurück, denn „ich glaube, dass ich durch sie tüchtig gemacht worden bin, mit Erfolg im Leben zu bestehen.” Doch die meisten Einwanderer von insgesamt 18 Familien mit 84 Personen, die unter anderem aus Ofterdingen, Laufen, Heselwangen und Degerloch stammten, gaben auf und wanderten in die alte Heimat zurück oder in andere Länder ab. 1904 lebten nur noch drei württembergische Familien in Deutsch-Pien.

Die Familie Haldenwang hatte Erfolg in der neuen Heimat, weil sie fest entschlossen war, in der Ferne Fuß zu fassen. ,,Wir fanden bald, dass es keinen andern Weg gibt, [das Glück] zu erreichen, als: arbeiten und sparen. Dies ist auch mein Lebensgrundsatz gewesen. Durch diesen Zauberspruch bin ich im Laufe der Zeit der größte Steuerträger dieser Gemeinde geworden.”

Integration

Mit der Einwanderung begann eine schrittweise Anpassung der Familie an die vorgefundenen Verhältnisse, wobei die Anpassung in der Wirtschaftsführung gezwungenermaßen schnell erfolgte. Nicht nur die Dreifelderwirtschaft, sondern auch Arbeitsgeräte der Sachsen wurden übernommen, vor allem wenn sie sich als effektiver als die eigenen erwiesen. So tauschte Haldenwang den württembergischen Flegel gegen einen sächsischen. „Unser Flegel war etwa anders, als der hier gebräuchliche: der Klopfer war viel dicker und kürzer und machte den Arbeiter eher müde, als der sächsische Flegel; darum nahm ich bald den leichtern.”

„Wir sahen hier alles einen vom Herkommen und der Sitte gezeichneten Weg gehen, von dem nicht leicht jemand abwich”, schrieb Haldenwang über seine ersten Eindrücke in Deutsch-Pien. Gerade die Traditionsgemeinschaft und das fest geregelte soziale Leben der sächsischen Gemeinde erleichterten den Neuanfang der Familie Haldenwang. Wie in den Städten war auch in den dörflichen Gemeinden der Siebenbürger Sachsen das soziale Leben in den Rahmen der sogenannten Nachbarschaften eingepasst, in denen die Gesamtheit der Hausbesitzer einer Straße bzw. eines Viertels zusammengefasst waren. Nach der Eheschließung oder nach Vollendung des 24. Lebensjahres trat ein jedes männliches Mitglied einer sächsischen evangelischen Kirchengemeinde der Nachbarschaft bei. Als selbständige Körperschaften übernahmen sie karitative Aufgaben wie die gegenseitige Unterstützung und Hilfe beim Hausbau oder in Unglücksfällen und Aufgaben in der Selbstverwaltung. Die Jugendlichen waren in Bruder- und Schwesterschaften organisiert.42

So suchte Johann Georg schon in den ersten Wochen die Bruderschaft auf und nahm an ihrem Tanzfest teil. Da er besser tanzen konnte als die Einheimischen, drängten sich die Mädchen um ihn. Er lernte von den Sachsen den ungarischen Tanz und lehrte sie im Gegenzug die in Deutsch-Pien noch unbekannte Polka. Johann Georg spielte auch gern Weisen aus der alten Heimat auf seiner Ziehharmonika, die er auf die lange Reise mitgenommen hatte. ,,So hatte die Jugend ein Wohlgefallen an mir und holte mich stets in ihre Mitte, wo sie meinen Tönen lauschten oder darauf tanzten. Oft, wenn ich an der Schusterei arbeitete und zur gewohnten Stunde noch nicht in der Spinnstube war, kamen die Kameraden und zogen mich mit.”

Am 28. November 1849 heiratete Haldenwang eine Siebenbürger Sächsin, Katharina Tenn aus Deutsch-Pien. Mit ihrem elterlichen Erbstück, 500 Quadratklafter Grund, und 20 Gulden, die sie im Dienst ersparte, machte sich das Ehepaar selbständig. Beide „tagelöhnerten” und Hansjörg setzte sich abends noch an die Schusterei. Bald bauten sie ein eigenes kleines Stübchen an das elterliche Haus, kauften einen Kartoffelacker und setzten sich immer neue Ziele, um langsam vorwärtszukommen. Drei Jahre später legte Johann Georg seine württembergische Tracht auf Wunsch seiner Frau ab und zog sächsisches Gewand an. Er kaufte sich auch einen Kirchenpelz, der von Männern und Burschen beim sonntäglichen Gottesdienstbesuch getragen wurde. Das Geld für den reichgeschmückten Pelzmantel erarbeitete er sich als Schuster. Damit paßte er sich auch im äußeren der sächsischen Gemeinschaft an.

1854 schloss er mit den Pflegeeltern seiner Frau einen Leibrentenvertrag. Als die Eltern 1867 starben, wirtschaftete Haldenwang bereits als selbständiger Bauer und konnte seine Wirtschaft mit dem Ererbten erweitern. Er gehörte sogar zu den Bessergestellten, die Ansehen im Dorf genossen. So bat ihn 1863 der Notar der Gemeinde um Mitarbeit. 1873/74 und 1878/79 führte er sogar allein das Notariat. „Oft habe ich in dämmeriger Frühe die Feder, die ich die ganze Nacht führte, mit der Sense vertauscht, die ich dann wiederum den ganzen Tag schwang.” Dennoch dachte er nicht daran, die Leitung seiner immer größer werdenden Wirtschaft aus der Hand zu geben. Als der sächsische Großbauer Schaser, der andere Landwirte mit der Leitung seines Hofes beauftragt hatte, zugrunde ging, fühlte sich Haldenwang in seiner Lebensstrategie bestätigt. 1874 wurde er, inzwischen der größte Steuerzahler der Gemeinde, auch zum Kurator der sächsisch-evangelischen Kirche in Deutsch-Pien gewählt, später zum Kirchenvater. Damit war der einstige Einwanderer zu einem hohen Würdenträger der Gemeinde aufgestiegen.

Johann Georg Haldenwang konnte in seinem 76. Lebensjahr auf ein erfolgreiches Leben zurückblicken. Dabei half ihm eine Wertorientierung, die er in seinem Lebensmotto zum Ausdruck brachte:

 

„Der Held dringt kühn voran, der Schwächling bleibt zurück,

Der Stolze fällt mit lächerlichem Falle,

Der Kluge überholt sie alle.”

 

Haldenwang passte sich der sächsischen Mehrheit an, auch wenn ihm anfangs vieles veraltet oder fremd vorkam. Über sein damaliges Staunen über Bräuche und Sitte sowie über seine Vorurteile konnte er rückblickend nur lachen. So ermöglichte er z.B. allen seinen fünf Kindern eine sächsische Hochzeit, trug selbst die sächsische Tracht, wirtschaftete wie die Sachsen und aß wie sie rohen Speck und Palukes. Er verspürte allerdings ein leises Unbehagen, wenn er an die anderen Auswanderer dachte: „Wenn sie alle geblieben wären, was wäre doch aus dieser Gemeinde geworden!” Mit ihnen zusammen hätte er das von Roth und dem siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsverein erwünschte Ziel, die sächsische Landwirtschaft und somit das sächsische Dorf zu modernisieren, erreicht. Ob das allerdings ein von Haldenwang ausgesprochener Wunsch oder eher der Wunsch des Nacherzählers, des Deutsch-Piener Pfarrers Johann Martini, war, bleibt hingestellt.

Nachtrag

Wie schon der Titel der 1906 in Hermannstadt veröffentlichten Schrift Martinis darauf hinweist, wird hier aus den Lebenserinnerungen eines württembergischen Einwanderers anhand seiner mündlichen Mitteilungen nacherzählt. Mit und in der Erzählung der Lebensbewältigung des Immigranten Haldenwang bringt indes Martini seine eigenen Gedanken über die Geschichte der Siebenbürger Sachsen in der Zeit von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu Papier. Nicht zuletzt ist die Lebensgeschichte eines erfolgreichen Einwanderers ein spätes Plädoyer Martinis für den Organisator der württembergischen Einwanderung, Stephan Ludwig Roth.

Roth, der einstige Mitarbeiter Pestalozzis in Ifferten, wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wegen seiner Reformpläne für das siebenbürgisch-sächsische Schulwesen vom siebenbürgisch-sächsischen Bürgertum angefeindet und vor Gericht gestellt. Er zog sich daraufhin aus dem Schulwesen zurück und arbeitete als evangelischer Pfarrer in Nimesch und Meschen. Hier lernte er die Not der sächsischen Bauern kennen und forderte deshalb in seinen Schriften die notwendige Modernisierung der Landwirtschaft. Die von ihm eingeleitete „schwäbische Kolonisation” wurde jedoch ein Misserfolg, weshalb Roth diesmal nicht nur von sächsischer, sondern auch von ungarischer Seite angegriffen wurde. Der wachsende Nationalismus im Vormärz veranlasste ihn in den vierziger Jahren, sich mit der Sprachen- und Nationalitätenfrage auseinanderzusetzen. In den Revolutionsjahren 1848/49 war er als habsburgtreuer Kommissar tätig und als solcher wurde er vom Regierungskommissar der ungarischen Revolutionsregierung in Siebenbürgen gefangengenommen und zu Tode verurteilt.

Als 1867 Siebenbürgen dem Königreich Ungarn angeschlossen wurde und die ungarische Regierung 1876 die sächsische Territorialautonomie aufhob, machte sich eine tiefe Depression unter den Siebenbürger Sachsen breit. Der Zeitzeuge Friedrich Teutsch beschrieb die Lage: Ein Gefühl der „Heimatlosigkeit auf erbgesessener Scholle, das Gefühl der Verzweiflung übte eine zersetzende Wirkung auf alle aus. Auswandern, auswandern, es bleibt nichts anderes übrig, das war die Empfindung ganzer Volksschichten.”43 In dieser düsteren Zeit, als man nach historischen Vorbildern suchte, stieg Roth zum Heros der Siebenbürger Sachsen auf, wie der Kronstädter Stadtpfarrer Franz Obert in der Einleitung seines 1896 in Wien veröffentlichten Werks über Stephan Ludwig Roth schrieb.44 Martinis Nacherzählung der Lebensgeschichte Haldenwangs, die das Andenken an Roth als „Kolonisator” zu bewahren sucht, gehört somit zugleich in die Reihe der zahlreichen historischen wie literarischen Bearbeitungen über Leben und Wirken des Pfarrers Stephan Ludwig Roth.

 

Anmerkungen

 

 1

Stefan Ludwig Roth: Wünsche und Ratschläge. Eine Bittschrift fürs Landvolk. In: Otto Folberth (Hg.): Stefan Ludwig Roth. Gesammelte Schriften und Briefe. Bd. 4: Die Schriften der Jahre 1842/43. Berlin/Leipzig 1933, S. 219.

 2

Vgl. Georg Adolf Schuller: Aus der Vergangenheit der siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaft. Hermannstadt 1895, S. 47ff.

 3

Roth (wie Anm. 1), S. 231–232.

 4

Andreas Wellmann: Reisebriefe aus dem Lande der Sachsen in Siebenbürgen. Kronstadt 1843, S. 73.

 5

Entstehung, Umgestaltung und Entwicklung des siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsvereins und dessen Wirksamkeit in den Jahren 1845–1895. Hermannstadt 1895, S. 4.

 6

Vgl. Béla Köpeczi (Hg.): Kurze Geschichte Siebenbürgens. Budapest 1990, S. 411.

 7

Errechnet nach den Angaben von Stefan Ludwig Roth: Aufklärungen über die Auswanderung nach Siebenbürgen. Tübingen 1847, S. 36.

 8

Roth an Rosenfeld am 23.7.1845. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 6: Der Schwabenkönig. Briefe, Tagebücher und Reden aus den Jahren 1837–1847, Berlin/Leipzig 1939, S. 172.

 9

Klageschrift der Bischöfe gedruckt bei Johann Karl Schuller: Beleuchtung der Klagschrift gegen die sächsische Nation. Hermannstadt 1844, S. 1–20.

10

Conrads Brief an Roth am 18.3.1845. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 6, S. 52.

11

Vgl. die Stellungnahme des Regierungsrats bei der Staatskonferenz der Monarchie Rosenfeld bei Gottfried Fittbogen: Stephan Ludwig Roths Kolonisationsversuch im zeitgeschichtlichen Zusammenhang. In: Südostforschungen IV (1941), S. 25ff.

12

Stadtarchiv Reutlingen, List-Archiv Nr. 34.51: Aufruf von Johann Jerney im Jahre 1845 an die ungarischen Grundherren wegen des Elends der Csángós.

13

Roth an Pfarrer Kenst am 8.4.1845. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 7: Das Schicksal. Dokumente aus den Jahren 1848/49, S. 255.

14

Karl von Czoernig: Ethnographie der Österreichischen Monarchie. Bd. 3. Wien 1857, S. 89. – Vereinigte Ofner-Pesther Zeitung vom 26.1.1845, S. 1.

15

Conrad (wie Anm. 10), S. 52f.

16

Ebd., S. 57.

17

Ebd., S. 56.

18

Stefan Ludwig Roth: Offner Brief ins Sachsenland. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 5: Der Predigtstuhl der Zeit. Aufsätze aus den Jahren 1842–1848, S. 110–134. – Ders.: Bekanntmachung und freundlicher Antrag zunächst an die hochehrw. Pfarrherrn der evang. Kirche. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 5, S. 125–134.

19

Ders.: Anzeige für Auswanderer. In: Schwäbischer Merkur vom 10.9.1845, S. 990.

20

Hauptstaatsarchiv Stuttgart – (HStA) E 146, Bü 1721, 53: Bericht des Tübinger Stadtdirektors Strählin an das Ministerium des Innern über das Wirken Peter Wolfs am 16.2.1846.

21

Vgl. zu den Angaben HStA E 146, Bü 1721, 55: Verzeichnis der seit dem Oktober 1845 bis Februar 1846 nach Siebenbürgen und Nordamerika ausgewanderten Personen. Czoernig (wie Anm. 14), S. 90. – Peter Wolf: Der Führer und Ratgeber auf der Reise nach Ungarn und Siebenbürgen, S. 39–53. – Entstehung, Umgestaltung und Entwicklung des siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsvereins (wie Anm. 5), S. 22–25.

22

Vgl. HStA E 146 Bü 1721: Oberamtlicher Bericht Balingen vom 16.02.1846

23

Amtliche Kreisbeschreibung Tübingen 1967, S. 322f.

24

Vgl. HStA E 146 Bü 1721,54: Oberamtlicher Bericht Balingen vom 16.02.1846

25

Vgl. Wolfgang Kaschuba: Vom Handwerk zur Fabrik. In: Wilhelm Gfröfer (Hg.): Der Kreis Tübingen. Stuttgart 1988, S. 135ff.

26

Beschreibung Mössingens im Jahre 1844. Zit. nach Martin Haar: Mössinger Heimatbuch. Mössingen 1973, S. 279.

27

Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie für das Jahr 1845. Stuttgart 1847, S. 17f.

28

Wolfgang von Hippel: Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 136.

29

Johann von Werner: Gedanken über Leitung und Regelung der Auswanderung. Reutlingen 1848, S. 6.

30

Friedrich List: Die Ackerverfasung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung. In: Edgar Salin/Arthur Sommer/Otto Stühler (Hg.): Friedrich List. Aufsätze und Abhandlungen aus den Jahren 1831–1844. Bd. V. Berlin o.J., S. 492–530.

31

Die deutschen Auswanderer. Ulm 1844, S. 92.

32

Vgl. u.a. Eduard Süskind: Die Auswanderung und das deutsche Vaterland. Ein Wort an das deutsche Volk. Ulm 1845, S. 39.

33

Márta Fata: Überlegungen zur Geschichte der Gesellenwanderungen im 19. Jahrhundert anhand einer Fallstudie. In: Südostdeutsches Archiv Bd. XXXVI/XXXVII (1993/94), S. 64–83.

34

HStA E 146 Bü 1721, 57.

35

Peter Wolf: Siebenbürgen und die Auswanderung dahin. Heilbronn 1847, S. 42.

36

Ders.: (wie Anm. 21), S. 219.

37

Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Landesarchiv] Budapest. Kormányhatóság F 37: Gubernium. Elnöki iratok, 1746/846. Aufzeichnung des Oberrichters Johann von Wentzel.

38

Roth (wie Anm. 7), S. 6.

39

Roth an Sigerius am 22.2.1848. In: Gesammelte Schriften (wie Anm. 1). Bd. 7, S. 17.

40

Johann Martini: Aus den Lebenserinnerungen des Württemberger Einwanderers Johann Georg Haldenwang 1846. Hermannstadt 1906, S. 3.

41

Vgl. u.a. Hans-Georg Wehling (Hg.): Oberschwaben. Stuttgart et al. 1995.

42

Vgl. u.a. Annemie Schenk: Deutsche in Siebenbürgen. Ihre Geschichte und Kultur. München 1992.

43

Zit. nach Paul Philippi: Nation und Nationalgefühl der Siebenbürger Sachsen 1791–1991. In: Hans Rothe (Hg.): Die Siebenbürger Sachsen in Geschichte und Gegenwart. Köln et al. 1994, S.79.

44

Franz Obert: Stephan Ludwig Roth. Sein Leben und seine Schriften. Bd. 1: Stephan Ludwig Roths Leben. Wien 1896, S. 1.