Begegnungen09_Nemeskurty
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:133–142.
ISTVÁN NEMESKÜRTY
Die bewahrende Kraft der Sprache
Die Ungarn in einem dreigeteilten Land
Als der deutsche Augustinermönch, Theologe und Universitätsprofessor Martin Luther im Oktober 1517 seine berühmten Thesen ans Portal der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, nahm die ungarische Öffentlichkeit von diesem namhaften Ereignis ohne große Sympathie Kenntnis. Wir waren, wie man zu sagen pflegt, anderweitig beschäftigt.
Aber Luthers Auftritt wurde zu einem der wichtigsten Wendepunkte der Wertgeschichte.
Was dreihundert Jahre früher der heilige Franz von Assisi und seine rebellischen „kleinen Brüder” begannen und was dann der auf dem Scheiterhaufen sterbende Johannes Huss fortsetzte, vollendete sich jetzt. Luther verlangte eine Erneuerung des christlichen Glaubens durch Rückkehr zu den uralten Grundlagen. Er vereinfachte die Liturgie, führte die Gottesdienstordnung in der Muttersprache ein, brachte die theologischen Lehren dem damaligen Denken und dem Stand der Wissenschaft näher. Seine Reform war vernünftig und modern; es lag nicht an ihm, dass sie durch die mit ihren eigenen finsteren Familien- und Machtangelegenheiten beschäftigten Päpste zur konfessionellen Krise vertieft wurde. Europa stand damals an der Schwelle einer stürmischen Entwicklung; beeinflusst von der Verbürgerlichung, vom nationalen Selbstbewusstsein und von der jeweiligen Interessenlage ging auch das religiöse Ideensystem immer häufiger über sich selbst hinaus; Luthers heute evangelisch genannte Lehren entwickelten der Franzose Calvin und nach ihm Schweizer bzw. schottische Theologen mit ihren heute als reformiert bezeichneten Idealen weiter, bis schließlich die in Italien entstandene, die Dreieinigkeit verleugnende oder unitarische Richtung mit ihrem zutiefst puritanischen Radikalismus den Bruch mit allen bisherigen, als Äußerlichkeiten betrachteten Formen der Ritualordnung und Theologie vornahm.
Dass das Christentum als gesamteuropäische Ideologie in den weiteren Jahrhunderten in Geltung und wirksam blieb, ist der Reformation zu danken. Die Reformatoren organisierten die an die Zeitverhältnisse angepassten christlichen Gemeinden ebenso von unten auf neu wie früher die Prämonstratenser, Franziskaner und andere; auf diese Weise hörte die mit dem Materialismus sympathisierende rational humanistische Gesellschaft nicht auf, eine christliche zu bleiben.
Es ist ein Wunder, wie schnell, fast ohne jeden Zeitverlust die ungarische Gesellschaft in ihrem dreigeteilten, halbwegs staatslosen Zustand diese Lehren aufnahm; ebenso schnell, wie sie einst das Christentum übernahm und später die Erneuerungsbestrebungen der Prämonstratenser, Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner. Sollte dies bedeuten, dass diese Gesellschaft um 1530–1550 eben auf höherer Stufe stand, als es die Wirtschaftshistoriker annehmen? Vielleicht auch das, wenn wir die wirkliche Antwort auch anderswo suchen können.
Bevor wir versuchen, die Antwort zu geben, müssen kurz die Fakten der Verbreitung der Reformation (bzw. des Protestantismus, vom Wort protestieren) skizziert werden.
In den dreißiger Jahren schlossen sich vor allem im Landesteil König Johanns überwiegend Franziskanermönche den neuen Lehren an, und von ihnen beeinflusst, schrieben sich auf das Universitätsstudium begierige Jünglinge in Massen an der bisher hier unbekannten Universität Wittenberg ein, an der Luther lehrte.
Seit den vierziger Jahren verbreitete sich der lutherische Zweig der Reformation im ganzen Land, während dann seit den fünfziger Jahren die helvetische (reformierte) Richtung immer mehr Boden gewann. In Siebenbürgen unterstützte Fürst Johann Sigismund, von den italienischen Mitgliedern seines Hofes (Stancaro 1553, Biandrata 1563) beeinflusst, die unitarische Richtung. Mit gewisser vereinfachender Verallgemeinerung ist festzustellen, dass sich in Siebenbürgen alle drei neuen Konfessionen, nur zeitweilig benachteiligt, mehr oder weniger frei entfalten konnten, selbstverständlich auch die die traditionelle römische Liturgie vertretende katholische, vor allem mit Unterstützung durch den Fürsten und polnischen König Stephan Báthori. In der Großen Tiefebene und allgemein im türkenbesetzten Gebiet von Fünfkirchen über Szegedin und Kecskemét bis Debreczin verbreitete sich die helvetische Konfession, während im königlichen Ungarn der Katholizismus amtliche Unterstützung erfuhr, wobei sich aber auch die lutherische Reformation stark verbreitete. Auch viele evangelische Deutsche haben sich damals vor den österreichischen Verfolgungen in Ungarn niedergelassen.
Nach dem Konzil von Trient unternahm Rom mit tatkräftiger Unterstützung der Habsburger und unter Einsatz des neuen Ordens der Jesuiten einen gewaltsamen „Gegenangriff”. Den Jesuitenorden, die Gesellschaft Jesu, hatte der spanische Offizier Ignacio de Loyola mit militärischer Disziplin aufgebaut. Als seine Aufgabe betrachtete er die Verteidigung und Verbreitung der katholischen Religion und Liturgie unter direkter, fast militärischer Oberhoheit des Papstes; praktisch glich er die katholische Religion und Liturgie ohne Aufgabe der Prinzipien geschmeidig den Anforderungen der Zeit an, vom Denken bis zur geistlichen Kleidung. Die Jesuiten spielten eine große Rolle bei der Verbreitung des Christentums in den von Spanien eroberten Weltteilen von Südamerika bis nach Japan.
Die Reformation machte Eroberungen in den entwickeltesten Gesellschaften Europas: in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden, wo Kaiser Karl V. und sein Nachfolger König Philipp in blutigen Kriegen den vergeblichen Versuch unternahmen, sie zu „bremsen” – siehe den Krieg gegen den Schmalkaldischen Bund und die erwähnte Heldentat von Józsa Luka. Ebenso brutal rechnete das französische Königshaus mit der kalvinistischen Reformation (den Hugenotten) ab. England, dieser unaufhaltsam der Weltherrschaft zueilende Staat, unterstützte zur Zeit der Herrschaft Elisabeths I. mit allen verfügbaren Machtmitteln die Reformation, vor allem deren evangelische Variante, die Anglikaner. Die ungarischen protestantischen Pastoren schrieben anerkennend über die englische Königin.
In dem Viertel Europas, das man neuerdings mit übertriebener Klügelei „Ostmitteleuropa” zu nennen pflegt, verbreiteten sich die Lehren der Reformation einheitlich und erfolgreich allein in den von Ungarn bewohnten Gebieten. Die Türkenbesetzung des Balkans begünstigte den Islam, während der christliche Glaube in diesem Gebiet sich zur byzantinisch geprägten, später pravoslawisch oder orthodox genannten Liturgie konserviert hatte. Dalmatien, die vor dem Türken bewahrte Adriaküste, sowie das zur Heiligen Krone gehörende Kroatien-Slawonien blieben katholisch, desgleichen Polen. In Österreich, besonders nach dem Tode des insgeheim mit der Reformation sympathisierenden Kaisers und Königs Maximilian und seines Sohnes Ferdinand (1576), zwang eine konsequente und brutale Rekatholisierung die Bevölkerung zur Rückkehr zur römisch-tridentinischen Liturgie. Bayern war traditionell katholisch geblieben. Die geographisch von Ungarn entfernter liegenden deutschen evangelischen oder reformierten Fürstentümer jedoch blieben mit der ungarischen Bevölkerung in enger Sympathiebeziehung, so sehr, dass die habsburgfeindlichen ungarischen Bewegungen in den deutschen Fürstentümern stets positiven Widerhall fanden, den die siebenbürgischen Fürsten auch ausnutzten.
So hatte sich also im Gebiet des verschwundenen ungarischen Staates, in der ungarischen Gesellschaft als einzigartige Erscheinung in „Ostmitteleuropa” die Reformation verbreitet, und zwar unter der Ungarisch sprechenden Bevölkerung die radikalere helvetische Richtung und in den auch von Deutschen bewohnten Städten des königlichen Ungarns die evangelische.
Die vergangenen Ereignisse – wie die Katastrophe von Mohács, dann der Verlust Ofens an den Türken und die allmähliche Türkenbesetzung des Landes, der tragische Tod und das Schicksal des Kardinals und Politikers Bruder Georg – zwangen die Bevölkerung des Landes, die ungarische Gesellschaft zu der Schlussfolgerung, das alles sei Gottes Strafe:
Doch in Zorn entbranntest du
Über unsere Sünden,
Und du schlugst mit Blitzen zu
Und Gewitterwinden.
Ließest die Mongolen nach
Uns mit Pfeilen jagen,
Auch der Türken Sklavenjoch
Mussten wir ertragen.
(Ferenc Kölcsey: Hymne, 22. Januar 1823.
Übertragen von Annemarie Bostroem)
Der Reformierte Kölcsey, dessen Ahnen bereits im Sathmarer Gebiet gelebt hatten, formulierte zur Zeit der ungarischen Romantik mit unveränderter Gültigkeit die Lehre seiner reformatorischen Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert (András Farkas) neu, die Sebestyén Tinódi dann als Ausdruck der öffentlichen Meinung besungen hatte.
Es ging also darum, die sich in Äußerlichkeiten niederschlagende, innerlich entleerte römische Liturgie aufzugeben und zur urchristlichen Glaubenspraxis zurückzukehren, die Luther und Calvin verkündeten und welche die einzige gottgefällige sei. Dann könnten wir uns vielleicht auch vom Türken befreien.
András Farkas hatte gemeint, und diese Ansicht beschäftigte die Ungarn ein weiteres Jahrhundert lang, dass Gott uns ebenso bestraft wie das jüdische Volk – denn beide Völker seien das erwählte Volk Gottes. Diese jüdisch-ungarische Schicksalsparallele wurde dann durch das gründliche Studium der ungarischen Übersetzungen der Bibel und besonders des Alten Testamentes zum Allgemeinplatz in den Predigten.
Die ungarische Reformation ist folglich in ihrer historischen Kontinuität die erneuerte Fortsetzung des christlichen Ideals des heiligen Stephan: Unsere erste Aufgabe ist, Gottes Gefallen zu erringen, denn wenn wir uns gegen ihn versündigen, bestraft er uns, und zwar besonders streng, weil wir seine Kinder sind. Da der Mensch jener Zeit das Empfinden hatte, die damalige römische Liturgie sei oberflächlich und die Päpste und Prälaten lebten nur der Welt, jagten den Genüssen, den Sünden und dem Reichtum nach, musste er mit Recht annehmen, es sei ein gottgefälliges Werk, zum wahren Glauben zurückzukehren. Die Masse der Gläubigen in den anderen Ländern Europas nahm die neue Glaubenspraxis in Anpassung an den Zeitgeist als Praktizierung der innewohnenden rationalen Vernunft an, in Ungarn dagegen war sie ein vom Sündenbewusstsein ausgelöster Gewissenszwang, im Interesse der Rettung des Vaterlandes. Vaterland und Religion waren also immer noch, seit Stephan dem Heiligen, unverändert einander ergänzende und voraussetzende, ja sozusagen identische Begriffe. Und außerordentlich bedeutsam ist, dass diesen Gewissenszwang, dieses Schuldbewusstsein – mit wenigen Ausnahmen – Aristokrat und Leibeigener, Armer und Reicher gleichermaßen empfanden. Das erklärt, warum auch gewalttätige und gefürchtete Aristokraten kleinlaut die Strafpredigten ihrer Pastoren über sich ergehen ließen, und als Péter Bornemisza, von der Kanzel herabdonnernd, die Sünden der mit Namen genannten Barone aufzählte und auch den König nicht ausnahm, erst recht natürlich nicht den anwesenden Herrn mit dem ihm untertänigen, von ihm abhängigen Volk in den Bänken hinter ihm – da halfen diesem Bornemisza dieselben getadelten Barone, nahmen ihn in ihren Schutz und unterstützten ihn!
Zugleich erfüllte dieser mit Sündenbewusstsein verbundene, gleichsam schon blinde Glaube – dass Gott nämlich gerade uns stärker straft als andere Völker Europas, weil er uns sehr liebt, weil wir ein erwähltes Volk sind – die Ungarn mit einem gewissen besonderen Stolz, ja Hochmut. „Was wisst ihr davon, was Leiden bedeutet” – warfen sie den glücklicheren Völkern Europas vor. Auf der anderen Seite war unsere Auserwähltheit, das Wissen um sie, mit dem gründlichen Studium der jüdischen Glaubenswelt, namentlich des Alten Testamentes verbunden. Viele ungarische Seelsorger damals hatten Elementarkenntnisse des Hebräischen und kannten die Grundbegriffe der mosaischen Religion, und damit waren die Voraussetzungen für eine gesunde Assimilation, ja mehr noch, die Atmosphäre einer verstehenden Toleranz gegenüber den bisher abgesonderten, nicht selten als Ausgestoßene behandelten Juden geschaffen. So ist es auch kein Zufall, dass Gabriel Bethlen die aus Spanien vertriebenen Juden in Siebenbürgen aufnahm und die erste, Freiheitsrechte enthaltende Urkunde in Europa überhaupt ausstellte, und ebenso wenig, dass viele Szekler zu Sabbatariern wurden und selbst der Kanzler des Fürsten, Simon Péchi, ein zu diesem moralisierenden Glauben übergetretener Ungar war.
Die Grundvoraussetzung für den evangelischen und den reformierten Glauben war das Lesen der heiligen Schriften in der eigenen Sprache, weshalb es sich geziemte, dass jeder Gläubige die Kunst des Lesens beherrschte. Infolgedessen nahm der Unterricht der Muttersprache im unter dem Krieg leidenden Ungarn einen staunenswerten Aufschwung. In abgeschiedenen Dörfern gab es Elementarschulen, und zwar nicht nur vom Grundherrn, sondern auch von der Gemeinde unterhaltene, und wenn die Kinder sie verließen, konnten sie lesen, schreiben und rechnen. Die Dorfgemeinden und Städte, die ihre Pastoren selbst wählten (!), bevorzugten jene, die im Ausland, beispielsweise in Wittenberg studiert hatten. Noch bemerkenswerter ist, dass gerade jetzt, als das Land in drei Teile zerrissen war, reihenweise Druckereien entstanden, obwohl doch im reichen Ungarn von König Matthias nie genug Geld oder Wille für eine Druckerei vorhanden gewesen war. Diese Druckereien wurden von reicheren Städten – Klausenburg, Debreczin – und von um ihr Vaterland besorgten Grundherren, von Adligen gegründet und unterhalten. Es ist einfach unglaublich, dass, obwohl man den Türken auf dem Hals und die Söldnerheere der Habsburger im Rücken hatte, so viele Druckereien entstanden, die zu betreiben gewaltige Summen Geldes erforderte! Papier, Lettern, Druckmaschinen, Facharbeiter, Buchbinder und schließlich Händler waren nötig.
Um 1600 gab es im gesamten Land 20 vom Komitatsadel, von Städten oder Aristokratenfamilien unterhaltene oder doch unterstützte Druckereien, die ungarischsprachige Bücher herstellten. Außerdem wurden Bücher in ungarischer Sprache noch in Krakau und Wien herausgegeben, auch diese teils von ungarischen Mäzenen unterstützt. Darüber hinaus gab es Druckereien im Gebiet Ungarns, die nicht in ungarischer Sprache publizierten (Hermannstadt, Kronstadt usw.). Bemerkt sei noch, dass die herausgegebenen Bücher dem die Druckerei unterhaltenden Grundherrn keinerlei finanziellen Gewinn einbrachten. Unter den Mäzenen in Klausenburg (!) findet man des weiteren Herrscher beider unter ungarischer Regierung stehenden Landesteile, König Ferdinand, dann Erzherzog Maximilian und Fürst Johann Sigismund (jeder mit einem gewissen Anteil).
Erfreulicherweise finden sich die Namen großer Herren auf der Liste der Mäzene in so schönem Durcheinander, wie ihre Träger sich selbst auf der Kirchenbank nicht miteinander niedergelassen hätten. Das ist die Demokratie der Literatur.
Der Wille der gesamten Nation schuf demnach die ungarischsprachige Literatur auf der ideellen und glaubensmäßigen Grundlage der Reformation, gerade als die zusammenhaltende Kraft, der einheitliche ungarische Staat, verschwand.
Wie gesehen, finanzierten Herren aus Oberungarn siebenbürgische Buchausgaben und umgekehrt. Grenzen zählten nicht.
Sebestyén Tinódi gab seine Chronik, das erste Autoren-”Lebenswerk” in der Geschichte der ungarischen Literatur, auf Kosten des westtransdanubischen Tamás Nádasdy, mit gewisser Unterstützung König Ferdinands in Klausenburg heraus, obwohl er selbst in Kaschau lebte und bei Sárvár starb.
Mihály Sztárai, evangelischer Pastor in Süd-Baranya, schrieb im türkischen Besetzungsgebiet Schauspiele, die in Klausenburg und Ungarisch-Altenburg gedruckt wurden. Andere Pastoren aus dem Besetzungsgebiet, aus dem Komitat Tolna, sandten ihre Bibelübersetzungen nach Klausenburg, die dann dort erschienen (Imre Eszék und István Tövisi: A Jézus Sirák könyve magyar nyelven [Das Buch Jesus Sirach in ungarischer Sprache], 1551). Bálint Balassi lebte in Oberungarn, folgte dann aber Báthori nach Polen und reiste öfter nach Siebenbürgen; seine Szép magyar komédia (Schöne ungarische Komödie) widmete er den Frauen Siebenbürgens. Den Pastor von Ráckeve im Besetzungsgebiet, István Szegedi Kis kannte und verehrte das ganze Land, seine Werke erschienen in der Schweiz, in Basel und Schaffhausen. Miklós Bogáti Fazekas, nach Balassi der größte Lyriker ungarischer Sprache in der Renaissancezeit, unitarischer Seelsorger in Siebenbürgen, stieß in irgendeiner Bibliothek in Fünfkirchen, im Besetzungsgebiet, auf eine achtsprachige vergleichende Psalmenausgabe, mit deren Hilfe er seine ungarischen Psalmen schrieb; und György Válaszuti, seit 1572 unitarischer Seelsorger in Fünfkirchen, hinterließ der Nachwelt einen Bericht über sein Glaubensstreitgespräch mit dem reformierten Pfarrer von Ráckeve Máté Skarica, der zugleich eine literaturgeschichtliche Prachtleistung ist. Man erfährt aus ihm, dass sie das Streitgespräch beim Warten im Audienzsaal des Ofner Paschas verabredeten, als sowohl die Fünfkirchner als auch die Ráckever und Tolnaer dem Pascha Geschenke brachten, nur damit er sie in Frieden ließe. Die braven Bürger – Kaufleute, Gewerbetreibende und sonstigen Städter – debattierten in Ruhe untereinander ihre Glaubensprobleme und fassten das Wesen beider Doktrinen folgendermaßen zusammen: „Hör mal, mein Herr Máté! Wenn du es mit den vielen Doktoren hältst, halte ich es mit den armen Fischern: wollen wir sehen, welche Wissenschaft stärker sein wird.”
Unser Bürgermeister konnte sich nicht mehr bremsen, stand auf, ergriff die Bibel und reichte sie Herrn Máté in den Predigtstuhl hinauf. Als das János Rácziai sah, welcher der Papist unter uns ist, der Patron von Herrn Máté, eilte er, hinauszulaufen und schnell eine (andere) Bibel hereinzubringen, die er zu Herrn Máté hochhielt und sagte: Aus dieser beweise es, mein Herr Máté! Das ist eine hundertjährige Bibel! Aber Herr Máté wollte keine von beiden aufschlagen...
Als das Streitgespräch dann abgebrochen wurde, begleiteten die Fünfkirchner die Ráckever zu ihrem Wagen, versahen sie mit Proviant und gutem Wein für die Reise. Sie tauschten einen kräftigen Händedruck und verabschiedeten sich voneinander.
Wir verweilten etwas bei diesem 1588 unter türkischer Herrschaft stattgefundenen Ereignis, weil es das Alltagsleben der Ungarn im 16. Jahrhundert besser als jede Abhandlung beleuchtet. Man sieht, auch Händler und Handwerker lesen, sprechen kultiviert miteinander (obgleich wir nicht verleugnen wollen, dass es früher gerade dort in Glaubensfragen zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen war, die mit einem Todesfall endete), jeder ist bestrebt, dem anderen seine Bibel aufzudrängen, sie lesen also zu Hause in ihr. Wenn wir bloß wüssten, was für eine Bibel dieser hundertjährige ungarische Text gewesen sein mag, den der Katholik Herrn Máté auf den Predigtstuhl hinaufreicht. Auch Péter Bornemisza erklärte, er schriebe fürs Volk, für die „in der Heimat wohnenden Landwirte” zwar ungarisch, aber wer nur slowakisch verstünde, „dem solle man es slowakisch vorlesen”. Die Stadt Debreczin konnte gar nicht genug von den für Leser mit schmalem Geldbeutel bestimmten Heften drucken, die anlässlich von Kirchweihen und Märkten von auf der Erde ausgebreiteten Planen oder Blahen verkauft wurden. In solchen „Planen”-Heften (Kolportage-Heften) schmökerte dreihundert Jahre später der junge Mihály Vörösmarty, um anhand des Argirus királyfi (Die Historie vom Prinzen Argirus) sein Werk Csongor és Tünde (Csongor und Tünde) zu schreiben, und das Kind János Arany verwendete Ilosvais Toldi für sein Werk gleichen Namens. Die ungarische klassische Dichtung des vergangenen Jahrhunderts wurzelt also hier, im 16. Jahrhundert.
Niemals hat es eine so plebejisch geprägte ungarische Dichtung und Literatur gegeben wie in dem von Deutschen, Türken und Tataren drangsalierten Jahrhundert der Reformation und Renaissance. Eine Statistik auf der Basis der erhalten gebliebenen Manuskripte oder gedruckten Bücher würde ergeben, dass 80 % der Verfasser Söhne von Leibeigenen oder Häuslern waren. Sie waren das Gewissen der ungarischen Nation. Péter Bornemisza zieht als Waisenkind von einem Hof zum anderen, bis er im Schutz der Familie Balassi Anker wirft; der siebenbürgische Geistliche deutscher Muttersprache Gáspár Heltai, der Luthers Rat annimmt und noch als Erwachsener ungarisch lernt, wird zu einem der bedeutendsten Renaissance-Novellisten; Tinódi und Ilosvai sind wandernde Lautenschläger, Ilosvai dichtet und komponiert mal unter einem Kornelkirschenstrauch und mal im Lärm einer Schmiede seine Gesänge; Péter Melius Juhász ist der Tröster des „Marktvolkes” von Debreczin; Gál Huszár vertreibt sein Glaube aus einer Stadt in die andere; András Szkhárosi Horvát donnert seine Verfluchungen aus einem Dorf der Tokaj-Gegend gegen die das Volk schindenden adligen Herren; Mihály Sztárai spielt in winzigen Baranyaer Dörfern vor den Häusern auf der Geige auf und studiert mit ihren Bauern Schauspiele ein, indessen ist er genau darüber informiert, dort im Winkel zwischen Drau und Donau unter türkischer Herrschaft, dass man den englischen Erzbischof und Kanzler Thomas Cranmer seines evangelischen Glaubens wegen hingerichtet hat, und hält das Ereignis sogleich in einem Gedicht fest. Doch wollen wir nicht die ganze bewundernswert reiche ungarische Renaissance-Literatur Revue passieren lassen. Es genügt, erneut auf Gáspár Heltai zu verweisen, der also seine deutsche mit der ungarischen Sprache vertauschte und in dieser schrieb, was eigentlich ein symbolisch großartiges Ereignis ist. Denn dieser Heltai programmierte nicht aus Zwang und auch nicht des Vorteils halber sein Denken aufs Ungarische um, sondern weil er – wie es den Anschein hat! – in einer solchen ungarischsprachigen Umgebung lebte, dass er sich die Sprechweise seiner Mehrheitsumgebung einfach aneignen musste. Ja er hat dies sogar gern getan, drückt er sich doch so schön und echt ungarisch aus, dass ihn viele geborene Ungarn darum beneiden könnten. Die ungarische Sprache hatte sich also, von der Hülle der lateinischen Wissenschaftlichkeit des Mittelalters befreit, bis 1500 zur Vollkommenheit entwickelt und von dem verschwundenen Staat die Nation erhaltende Funktion übernommen. Das erklärt, dass sich die ungarischen Schriftsteller seither als die Sprecher des öffentlichen Lebens betrachten, ob das der jeweiligen Herrschaft nun passt oder nicht.
Eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache und die Herausbildung des ungarischen begrifflichen Denkens war die Übersetzung der Bibel mit ihrem sehr komplizierten Denkgefüge. Angefangen von der vielleicht schönsten von allen, der Evangelienübersetzung Gábor Pestis von 1536 über Gáspár Heltais sich jahrzehntelang hinziehende, fast vollständige Klausenburger Bibelausgabe bis zu Gáspár Károlyis vollständiger ungarischer Bibel (1590) erschienen Dutzende von Bibelübersetzungen und übten ihre Wirkung im dreigeteilten ungarnbewohnten Gebiet aus; allein durch ihr Vorhandensein vermehrten sie den ungarischen Wortschatz zu unvorstellbarem Reichtum, vor allem aber den des Denkens in abstrakten Begriffen. Der von Bornemisza verwendete Wortschatz umfasste viele tausend Wörter und war erheblich größer als jener der aus der Zeit nach Matthias’ Tod überlieferten Texte.
Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Bereicherung des Wortschatzes, die Möglichkeit, die Gefühlswelt und das komplizierte Denken zum Ausdruck zu bringen, in der Dichtung von Bálint Balassi. Unsere berühmten Schriftsteller und Dichter, von Gábor Pesti über Bornemisza bis Balassi, haben alle mit unermüdlichem Eifer betont:
Wenn ich sehe, dass jeder Mensch, fast jede Nation auf dem Erdenrund über Übersetzungen in wunderbarer Vielfalt verfügt und man sich überall auf der Welt dessen befleißigt, den Ruhm seines Vaterlandes zu verewigen , warum soll es nicht erlaubt sein, frage ich, die Sprache und den Geist der Meinigen meinen Kräften gemäß zu verschönern und mich für mein Vaterland, dessen Schuldner wir auf ewig sind, zu bemühen?
(Gábor Pesti, 1536)
Es ist jedem nüchtern urteilenden Menschen bekannt, dass seit einigen Jahren das Schreiben auch in ungarischer Sprache schon eingesetzt hat, welche wir nach dem Vorbild Ciceros und jeder gebildeteren Nation aus gewichtigen Gründen von Tag zu Tag immer besser und besser, soweit es in unserer Macht steht, pflegen und bereichern müssen.
(Péter Bornemisza, 1558)
Auch ich Wollte deshalb die ungarische Sprache dadurch bereichern, damit alle kennenlernen, dass auch in ungarischer Sprache das möglich wäre, was in den sonstigen Sprachen möglich ist.
(Bálint Balassi, 1588)
Die letzten beiden Verlautbarungen stammen aus zwei Schauspielen. Der geneigte Leser möge würdigen, dass im dreigeteilten Ungarn Jahrzehnte vor Shakespeare ein Meisterwerk wie Elektra erklang und eine derartige dichterische Erfindung wie die Schöne ungarische Komödie.
János Sylvester wurde 1541, im Jahre des Verlustes von Ofen, beim Übersetzen der Bibel darauf aufmerksam, dass sich an die Gleichnisrede der Bibel
unser Volk leicht gewöhnt, weil ihm die Weise dieser Rede nicht fremd ist. Es verwendet solche Rede in seinem täglichen Sprechen. Es verwendet sie in den Liedern, vor allem in den Blumenliedern [Liebesliedern], in denen jedes Volk die Verstandesschärfe des ungarischen Volkes beim Erfinden bewundern kann; was nichts anderes ist als: ungarische Poesie.
(János Sylvester: Újtestamentum magyar nyelven
[Das Neue Testament in ungarischer Sprache])
Diese ungarische Poesie entstand – d. h., sie wurde bewusst – genau zu dem Zeitpunkt, als der mittelalterliche Staat zu existieren aufhörte.
Die Aufgabe, das ungarische geschichtliche Identitätsbewusstsein wachzuhalten und das Selbstgefühl des Ungarseins zu pflegen, übernahm von dieser Zeit an für viele Jahrhunderte die ungarische Sprache.
Wir konnten beobachten, dass für Gábor Pesti, Péter Bornemisza und Bálint Balassi die ungarische Sprache und das Vaterland identische Begriffe sind. Wenn Gábor Pesti die Sprache verschönert, dient er dem Vaterland, dessen ewiger Schuldner er ist.
Dieses Vaterland ist nicht einfach die Gegenwart, es ist auch die lebendige Vergangenheit. Der Strom der im Volke jahrhundertelang mündlich bewahrten Ereignisse ist außerordentlich reich. Der siebenbürgische Tafelrichter András Valkai besingt Az nagyságos Bánk bánnak históriája (Die Historie des adligen Herrn Banus Bánk, 1567) und gibt damit József Katona das Thema. Ambrus Görcsöni, der Lautenschläger von Gáspár Homonnai Drugeth, stellt die Herrschaftszeit von König Matthias in Gedichtform dar, und als dieses Werk vier Auflagen erlebt hat, setzt es Miklós Bogáti Fazakas bis zu König Johann fort.
Zu dieser Zeit schuf Péter Ilosvai Az híres-neves Toldi Miklósnak históriája (Die Historie des hochberühmten Miklós Toldi), jetzt gab Gáspár Heltai seine populärsten historischen Gesänge (Cancionale) heraus und übertrug Bonfinis Geschichtsdarstellung ins Ungarische (1575); auch Sebestyén Tinódi zeichnete zahlreiche alte Historien auf; István Székely schrieb eine „Universalgeschichte” auf Ungarisch, und Ferenc Forgách zeigte, zwar in lateinischer Sprache, aber mit seiner verblüffend modern wirkenden bitteren Ironie die historischen Geschehnisse seiner Zeit:
Wir schreiben fast nicht Geschichte, sondern beweinen eher die in einem einzigen Schicksalsverlauf auf uns niederprasselnden Schläge.
Im 16. Jahrhundert sind demgemäß Muttersprache – Literatur – Religion (Reformation) – Heimatliebe – geschichtliches Identitätsbewusstsein zu einander wechselseitig voraussetzenden Begriffen im Denken und in der Gefühlswelt der ungarischen Gesellschaft verschmolzen.
Begegnungen09_Manherz
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:121–131.
KÁROLY MANHERZ
Das ungarndeutsche Lied in Tradition und Pflege
Die einzelnen Gruppen der Ungarndeutschen sind im Laufe der Geschichte in verschiedenen Wellen und Etappen in ihre neue Heimat gelangt. Als historischer Einschnitt gilt die Türkenzeit beziehungsweise die Befreiung Ungarns von der Türkenherrschaft im ausgehenden 17. Jahrhundert. Die meisten deutschen Siedlungen im heutigen Ungarn sind erst nach den Türkenkriegen entstanden. Vortürkisch sind nur die Siedlungen in Westungarn entlang der österreichischen Grenze und die deutschen Bewohner der ehemaligen Bergstadt (heute Großgemeinde) Deutsch-Pilsen/Nagybörzsöny im Pilsner Gebirge an der slowakischen Grenze. Deutsch-Pilsen ist der südlichste Punkt des mittelslowakischen Haulands.1
Der Großteil der Deutschen fand erst nach der Vertreibung der Türken eine neue Heimat in Ungarn. Während der über 150 Jahre umfassenden Türkenherrschaft war ein bedeutender Teil der Siedlungen Ungarns verwüstet oder entvölkert worden. Die wichtigste Voraussetzung für den Wiederaufbau des Landes war die Rückeroberung der verödeten Gebiete nicht nur von den Türken, sondern auch von der Natur. Die Grundherren taten alles, um möglichst viele Arbeitskräfte zu beschaffen. Da im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seit dem Dreißigjährigen Krieg das Auswanderungsfieber wieder anstieg, konnte die von Agenten ungarischer Grundherrschaften eingeleitete Werbung von Kolonisten im ganzen Reich, besonders aber in Süd- und Mitteldeutschland, mit Erfolg betrieben werden. Die Werbung wurde nicht nur von Privatherren, sondern auch von der katholischen Kirche und sogar von der königlichen Kammer selbst in Angriff genommen.
Nach der Befreiung Ofens, 1686, erschien die königliche Siedlungsverordnung, die Art und Weise der Kolonisation festlegte. Die königliche Neusiedlungskommission (Neoacquistica Commissio) wurde gebildet. Die Kolonisation erfolgte in drei großen Etappen im 18. Jahrhundert. In der ersten Etappe (1686–1740, Karolingische Kolonisation unter Karl VI.) kamen Kolonisten in die Komitate Transdanubiens, ins ungarische Unterland und ins nördliche Mittelgebirge. Die zweite Etappe (Theresianische Kolonisation) ist vor allem durch den Einsatz der königlichen Kammer charakterisiert. Unter Maria Theresia wurde die Ansiedlung durch ein neues Patent beschleunigt. Nach dem Siebenjährigen Krieg kamen neuerlich mit ihrer Lage unzufriedene Bauern ins Land, vor allem aus Elsass-Lothringen, Baden, Luxemburg und der Pfalz. Das Siedlungspatent Josephs II. leitete 1782 die dritte Kolonisation ein. Diesmal kamen die Siedler vor allem aus der Pfalz, dem Saargebiet, der Frankfurter und Mainzer Gegend, aus Hessen und aus Württemberg.
Siedlungsgeographisch ist das Deutschtum in Ungarn ziemlich stark gegliedert. Es gibt größere zusammenhängende Siedlungsgebiete, die ihre Geschlossenheit bis zur Vertreibung nach 1945 größtenteils behalten konnten. Durch verschiedene innere Bevölkerungsbewegungen in Ungarn kann man heute nur mehr von kleineren geschlossenen Einheiten innerhalb der früheren großen Siedlungsräume sprechen; die meisten Dörfer mit früher absoluter deutscher Mehrheit zeigen heute eine Symbiose verschiedener Minderheiten, sind aber vorwiegend zu ungarischen Mehrheitsdörfern geworden.
Die Ungarndeutschen leben heute in Transdanubien, zum Teil in Gruppen verschiedener Größe entlang der Westgrenze, im Ungarischen Mittelgebirge zwischen Donauknie und Plattensee und im Raum Fünfkirchen/Pécs sowie in kleineren Streusiedlungen. Im Westen bilden die deutschen Siedlungen auf dem Heideboden und im Seewinkel (Mosoni síkság) um den Neusiedler See eine relative Einheit. Der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt ist hier Wieselburg mit Ungarisch-Altenburg/Mosonmagyaróvár. Südlich vom Neusiedler See liegt Ödenburg/Sopron mit einer heute noch starken deutschen Minderheit, dem sich einige Kleindörfer der Umgebung anschließen. Eine selbständige Sprachinsel bildet Güns/Kőszeg mit Schwabendorf/Kőszegfalva und einigen Kleindörfern in der Umgebung. Im Südwesten, im Raab-Lafnitztal/Rába-Lapincs köze, liegen die deutschen Dörfer in der Umgebung von St. Gotthard/Szentgotthárd. Östlich von Westungarn stößt man bis zum Ungarischen Mittelgebirge nur auf Streusiedlungen, die sprachlich fast alle entdeutscht sind: Tschanak/ Ménfőcsanak, St. Martin/Pannonhalma, Jahrmarkt/Gyarmat u.a. Der deutsche Siedlungsraum im Ungarischen Mittelgebirge folgt der Landschaftsgliederung: Donauwinkel, Pilischgebirge, Ofner Bergland, Gereschgebirge, Schildgebirge, Welenzer Gebirge, Buchenwald, Wesprimer Hochfläche und Plattensee-Oberland. Dieser Gruppe schließen sich im Norden einige deutsche Dörfer im Börzsönygebirge und im Cserhátgebirge, im Osten die deutschen Siedlungen der Tschepeler Insel/Csepel-sziget und des Pester Vorlandes an. Einige Streusiedlungen an der Grenze des Ungarischen Mittelgebirges sind Berzel/ Ceglédberzel, Hartingen/Újhartyán, Iklad, Martinsmarkt/Martonvásár, Herzogendorf/Mezőfalva und Loischkomorn/Lajoskomárom westlich der Donau. Wichtige Zentren sind noch Schambek/Zsámbék, Werischwar/Pilisvörösvár, Dorog, Zirtz/Zirc, Waitzen/Vác, Komorn/Komárom, Totis/Tata, Pápa, Wesprim/Veszprém und Stuhlweißenburg/Székesfehérvár.
Im südöstlichen Transdanubien bildet seit alters her Fünfkirchen/ Pécs mit dem Mecsekgebirge den Mittelpunkt, dem sich zahlreiche landschaftliche Einheiten anschließen: das Wielandgebirge/Villányi hegység, das Branauer Hügelland/Baranyai dombvidék, das Schellitz/Zselic und die Schomodei/ Somogy, das Tolnauer Hügelland/Hegyhát und der Talboden/Völgység, der Scharbruch/Sárköz und der südliche Wiesengrund/Mezőföld. In der ungarischen Volkssprache wird dieses Gebiet die „Schwäbische Türkei” genannt. Die Fortsetzung dieses Gebietes ist die Batschka, wo es in der Umgebung von Frankenstadt/Baja, im Norden zwischen Donau und Theiß, mehrere deutsche Siedlungen gibt. An der Staatsgrenze im Süden liegen ein paar deutsche Dörfer als nördliche Ausläufer des Banats, im Komitat Bekesch/Békés (in der Umgebung von Jula/Gyula) und südlich von Szeged sowie im Osten im Komitat Sathmar/ Szatmár die Reste des Sathmarschwäbischen (Wallei/Vállaj, Saiten/Zajta).
Nur siedlungsgeschichtlich interessant sind die längst entdeutschten Streusiedlungen im Tokajer Bergland (Karlsdorf/Károlyfalva, Rátka usw.). Im 18. Jahrhundert ließen sich deutsche Handwerker, Kaufleute und Beamte in den Städten Ungarns nieder. Dieses städtische Deutschtum ist aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner ungarischen Umgebung völlig aufgegangen, so dass es nur historisch von Belang ist.
Deutsche Siedler sind vor allem aus dem mittel- und süddeutschen Raum nach Ungarn eingewandert. In alten Matrikeln sind zwar auch niederdeutsche Siedler bezeugt, diese sind aber in der mittel- bzw. süddeutschen Mehrheit untergegangen.
Die Sprache und die Volkskultur der Deutschen in Ungarn sind durch die Ansiedlung bzw. durch den Ausgleich verschiedener Volksgruppen geprägt. Bis zur Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, besonders aber bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war der gesellschaftliche Rahmen zur Ausübung und Pflege ungarndeutscher Kultur gegeben. Vor allem was die Folklore betrifft, können wir über ein reiches Material sprechen. Die Forschung hat sich für das deutsche Lied in Ungarn intensiv interessiert. So wurden besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende Sammlungen – oft mit erzieherischem Charakter – veröffentlicht.
1867 veröffentlichte Remigius Sztachovics die „Brautsprüche und Brautlieder auf dem Heideboden” und schrieb einführend: „Bald werdet Ihr auch Eure alten vollständigen geistlichen Gespiele in den Händen haben, als: das ganze Weihnachtspiel sammt allen Euren Weihnachtliedern, und den Sterngesang mit Frag und Antworten, das letzte Gericht, den reichen Prasser, die vier letzten Dinge und wann möglich auch das schöne Passions-Spiel.2”
Mit der Gründung der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts wird das Interesse der Forschung auch auf das Liedgut der Deutschen in Ungarn ausgeweitet. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind besonders durch die Tätigkeit von Gideon Petz, Jakob Bleyer und Elmar Schwartz gekennzeichnet.
In den von ihnen in ungarischer Sprache herausgegebenen wissenschaftlichen Arbeiten zur deutschen Philologie, Volkskunde und Sprache wurden aus dem Liedgut der Ungarndeutschen bedeutende Sammlungen veröffentlicht. Besonders die Arbeit von Ägidius Hermann über das deutsche Volkslied in Baderseck/Bátaszék in der Schwäbischen Türkei war wegweisend für die Forschung der folgenden Jahrzehnte.
Die sogenannte Sprachinselvolkskunde zeigte auch großes Interesse für das Sammeln und Bearbeiten des deutschen Volksliedgutes. Man meinte, in den Liedern des Siedlungsdeutschtums archaisches deutsches Liedgut entdecken zu können. Spätere Forschungen haben aber gezeigt, dass das Liedgut dieser Volksgruppe sehr stark vom deutschen Lied des 18. und 19. Jahrhunderts aus den zusammenhängenden deutschen Sprachgebieten beeinflusst wurde, dass man wenig über das mitgebrachte Lied sagen kann und dass ebenso wie in der Gestaltung der Dialekte Mischung, Ausgleich und Überdachung die prägenden Tendenzen in der Folklore waren. Ingeborg Weber-Kellermann hat das Liedgut der ungarndeutschen Gemeinde Mösch/Mözs in der Schwäbischen Türkei untersucht und diese Prozesse festgestellt.3
Sicherlich prägte die Neuansiedlung bedeutend die Folklore der Ungarndeutschen, aber das älteste mitgebrachte Lied ist wahrscheinlich jenes aus der Ansiedlungszeit, welches das Schicksal der Siedler charakterisiert:4
Die Donau fließt und wieder fließt
wohl Tag und Nacht zum Meer.
Ein’Well die andere weiterzieht
und keine siehst du mehr.
All’ Frühjahr kehren d’Schwälblein zurück,
der Storch kommt wieder her,
doch die gen Ungarn zogen sind,
die kommen nimmermehr.
Das Ungarland ist’s reichste Land,
dort wächst viel Wein und Treid,
so hat’s in Günzburg man verkünd’t,
die Schiff stehn schon bereit,
dort geits viel Vieh und Fleisch und G’flüg,
und taglang ist die Weid,
wer jetzo zieht ins Ungarland,
dem blüht die goldne Zeit.
Mein Schatz hat auch sein Glück probiert,
doch nicht zum Zeitvertreib,
und eh’ der Holler ‘s drittmal blüht
so hol ich dich als Weib
und sieben, sieben lange Jahr,
die sind jetzt nun hinab,
ich wollt, ich wär bei meinem Schatz,
doch niemand weiß – sein Grab.
Das ungarndeutsche Dorf war Schauplatz für das Singen und Musizieren. Elisabeth Hajdú, eine Mitarbeiterin unseres Germanistischen Institutes, charakterisiert in ihrer Arbeit das Leben in den ungarndeutschen Dörfern folgendermaßen:5 „Das Dorfleben in den ungarndeutschen Gemeinden war durch die Einheit von Arbeit, Kirche und Freizeit geprägt, deren Rahmen die Dorfmundart sowie die gemeinsame Kultur (Wirtschaft, Religion, Brauchtum, Familienleben, Unterhaltung) bildeten. Das Singen, Musizieren und Tanzen waren bei allen sozialen Schichten organische Bestandteile des Alltags. Die im Kalenderjahr mit festen Bräuchen verbundenen Feiertage (Weihnachten, Heilige Drei Könige, Erntedankfest usw.) wären ohne Sprüche, Lieder, instrumentale Musikbegleitung unvorstellbar gewesen. Bei Familienereignissen (Hochzeit, Beerdigung), gemeinsam verrichteten Arbeiten (Maisausschälen, Schweineschlachten, „Federnschleißen”), kirchlichen Anlässen (Fronleichnam, Kirchweih, Ostern, Pfingsten, König-Stephans-Tag) bzw. Unterhaltungen (Fasching, Bälle) wurde die entsprechende Atmosphäre, der erwünschte Seelenzustand, die allgemeine Stimmung der Anwesenden durch Lieder, Musik, eventuell durch Tanz geschaffen.
Von den Ungarndeutschen wird spaßhaft behauptet, dass sie schon singend, tanzend, musizierend zur Welt kommen. Es ist eindeutig festzustellen, dass die ehemaligen Kolonisten eine entwickelte Musiktradition mit sich gebracht haben. Im Ungarn des l8. Jahrhunderts gab es auf dem Lande kaum musikalische Ereignisse. In den Städten existierten Schulkapellen, bei festlichen Anlässen gab es vereinzelt Turmmusik. Erst in den achtziger Jahren fingen die Großgrundbesitzer an, Zigeunerkapellen zu engagieren, während jede deutsche Gemeinschaft bereits eine kleine „Vorkapelle” oder ein „Vororchester” hatte. Blasmusik war in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren schon damals verbreitet. In Ungarn haben erst die Kolonisten diese Art von Musizieren eingeführt. (Östlich von Ungarn sind dörfliche Blaskapellen ebenfalls unbekannt.)
Bei den deutschen Bauern war es Tradition, die Texte (und eventuell die Melodie) der Lieder in sogenannten Liederhandschriften in der Familie von einer Generation an die andere weiterzugeben. In den „Liedertafeln” sang man regelmäßig gemeinsam und zweistimmig. Auch die Kirchenlieder wurden oft mehrstimmig vorgetragen.
Die Zunftvereine in den größeren Ortschaften (z.B. Ödenburg/Sopron) hatten alle ihre eigenen Zunftliedersammlungen, während auf ungarischsprachigen Gebieten kaum Berufslieder zu finden sind.
Die Entfaltung der musikalischen Bildung war bei den Ungarndeutschen traditionsmäßig gesichert. Die Kinder und Jugendlichen konnten sich diese Kultur in allen Lebensbereichen aneignen. In der Familie wuchsen sie mit Wiegenliedern, Reimen, Kinderliedern, Volksliedern, Erzählliedern auf. Auch in der Schule wurde bis 1900 deutsch gesungen. In der Kirche, bei Prozessionen, bei Beerdigungen sang und musizierte man ebenfalls. Burschen und Mädchen zogen sonntags singend durch die Straßen.
Ob Hochzeiten oder Bälle – überall lernten sie neue Lieder, neue Melodien kennen. In den Gesangvereinen beschäftigten sich die Lehrer, die Kapläne, manchmal sogar die Ärzte oder Tierärzte mit der musikalischen Erziehung der Heranwachsenden.
Im 19. Jahrhundert entstand in Ungarn das „deutsche Handwerk” (Maurer, Steinmetz, Dachdecker, Glasbläser, Metallgießer, Erzgießer, Dreher, Klempner u.a.). Die ungarndeutschen Handwerkergesellen gingen in der Monarchie und in Deutschland auf die Wanderung. Durch die deutsche Sprache lernten sie dort eine hohe technische Kultur kennen und wandten diese ebenso wie die handwerklichen Kenntnisse in Ungarn an. Sie brachten aber auch neue Lieder mit, die sie der Dorfjugend weitergaben. Aus den kinderreichen Familien verpflichteten sich viele Mädchen in die Städte als Dienstmädchen. Auch sie erweiterten den Liederschatz der Dorfgemeinschaft mit vielen dort erlernten Liedern.
Instrumentale Musik wurde durch unmittelbare Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben und gepflegt.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Ortschaften mehrere größere oder kleinere Blaskapellen, die bei den kirchlichen festlichen Ereignissen, bei Beerdigungen oder bei Bällen musizierten. Zu den Hochzeiten wurden oft kleine Musikkapellen, die eine sogenannte Schrammelmusik spielten, von den Nachbargemeinden geholt.
Jede soziale Schicht und jede Gasse im Dorf hatten ihre eigenen Wirtshäuser, in denen sich die Gleichgesinnten unterhielten. Das Gemeindewirtshaus mit dem größten Tanzsaal der Ortschaft konnte für zwei bis drei Jahre gepachtet werden. In diesem Saal wurde seit Anfang dieses Jahrhunderts das Lesefest nach ungarischem Muster in madjarisierender Tracht mit Zigeunermusikbegleitung veranstaltet.
In den Wirtshäusern, die von den Handwerkern besucht wurden, spielte oft schon eine Zigeunerkapelle, und hier wurden auch ungarische Lieder (nóta) gesungen.
Da auch der Schulunterricht für die Kinder nach 1900 ausschließlich in ungarischer Sprache ablief (die Ungarndeutschen durften ihre Muttersprache in bloß wöchentlich 2 Stunden erlernen), lernten die Schulkinder ungarische Lieder. Im Ersten Weltkrieg waren die Soldaten gezwungen, die Lieder der jeweils anderen zu erlernen. Kamen Deutsche in ungarische Divisionen, mussten sie ungarische, gerieten Ungarn in deutsche Divisionen, mussten sie deutsche Soldatenlieder mitsingen. Später bei den Übungen der paramilitärischen Organisation „Levente” durfte nur ungarisch gesprochen und gesungen werden.
Wie auch schon Béla Bartók und später Ingeborg Weber-Kellermann darauf hingewiesen haben, übernahmen die Volksgruppen vieles voneinander bzw. beeinflussten einander auch unbewusst. Gezielte diesbezügliche Untersuchungen wurden zwar nicht durchgeführt, aber im Repertoire der meisten Gewährspersonen, die oft 30–40–60 deutsche Lieder auf Tonband singen konnten, hätte man sicher eine Menge ungarischer Lieder finden können. Bei meiner Mutter kam es mehrmals vor, dass sie das gleiche Lied sowohl mit einem deutschen als auch mit einem ungarischen Text singen konnte („Einst ging ich vors Fensterlein” – „Jártam ablakid alatt egy holdvilágos éjjelen” oder „Still ruht der See ...” „Csendes a tó ...”).
Es gab auch Beispiele dafür, dass in den beiden Sprachen dieselbe Melodie mit einem Text völlig anderen Inhalts gesungen wurde.
In Waschkut/Vaskút (Schwäbische Türkei) lebten Deutsche mit Buniewazen (Serben) zusammen, letztere hatten bei ihren Hochzeiten und Festlichkeiten eine kleine Kapelle aus Zithern. Ob diese Volksgruppen Lieder voneinander gelernt haben, wurde noch nicht erforscht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich vieles in Tradition und Pflege. Die Zwangsaussiedlung der Deutschen (mehr als die Hälfte der Ungarndeutschen wurde nach Deutschland ausgesiedelt) bewirkte einen Bruch in der folkloristischen Tradition. Das Dorfleben änderte sich, die Muttersprache konnte nur im engeren, familiären Bereich ausgeübt werden. Auch das Singen und Erzählen in deutscher Sprache haben den öffentlichen Charakter verloren.
In der Vorkriegszeit gehörte die Pflege des ungarndeutschen Liedes zum Gemeinschafts- und Privatleben der Volksgruppe. Die Nachkriegszeit brachte bedeutende Verluste in diesem Prozess mit sich. Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, die Auflösung der Dorfgemeinschaften, die Umsiedlungen und nicht zuletzt die Zugehörigkeit zur zurückgebliebenen deutschen Minderheit, die Angst hatte, ihre angestammte Sprache zu sprechen, prägten das weitere Schicksal des deutschen Liedes. Im familiären Bereich und in den ganz wenigen Gemeinschaften, in denen Ungarndeutsche in größerer Zahl lebten, wurde das ungarndeutsche Lied zu einem Identitätsmerkmal der Nationalität. Man konnte die Jahresbräuche nicht immer vor der Öffentlichkeit, als Teil des Gemeindelebens ausführen. Vieles pflegte man im engeren Kreis, es war nur für sich, für die Familie, für die unsere Umgebung gedacht. Dies führte auch dazu, dass trotz bedeutender Bevölkerungsverluste bei den Zurückgebliebenen das Pflegen und Tradieren der Muttersprache und der deutschen Volkskultur eine erstrangige Aufgabe wurde.
Bis zum Ende der fünfziger Jahre können wir nicht über eine organisierte, bewusste Pflege der Folklore sprechen. Erst nach 1958/59 änderte sich die Situation. In dem damaligen sozialistischen System erkannte die Staatsmacht, dass auch für die in Ungarn lebenden Minderheiten eine Art – von oben gelenkte – Interessensvertretung notwendig ist. Es entstand ein Verband der Ungarndeutschen, der seine Aufgabe vor allem darin sah, die noch vorhandene deutsche Volkskultur, vor allem das Lied, den Volkstanz, die Volkstracht, durch organisierte Verbandsarbeit im ganzen Land wieder lebendig zu machen. Volkstanzgruppen und Chöre etablierten sich, Rundreisen in ungarndeutsche Regionen wurden organisiert, Sammelaktionen staatlich unterstützt. Sogar die damalige DDR dachte in ihrer Kulturpolitik an die Ungarndeutschen. Ethnographen und Volksliedforscher arbeiteten in Ungarn, unterstützt durch bilaterale Kulturabkommen, um an der Rettung ungarndeutschen Kulturgutes teilzunehmen. Unter der Leitung von Kurt Petermann entstand die größte Filmarchivierung ungarndeutscher Tänze und Festbräuche,6 Axel Hesse führte seine großangelegte Volksliedsammlung unter dem Motto „Auf den Spuren von Herder...”7 durch. In den sechziger Jahren kannte man die Ungarndeutschen vor allem als tanzende und singende Minderheit. Schwabenbälle in der Ballsaison in Budapest und auf dem Lande, Kulturrundreisen, Wettbewerbe („Reicht brüderlich die Hand”) in Komitaten und auf Landesebene dienten der Pflege und Bewahrung der Folklore.
Die ehemalige Intention von Remigius Sztachovics und von Bischof Michael Haas, die deutschsprachige Folkloretradition bewusst zu machen, hatte in dieser Zeit Priorität. Es entstanden die ersten Liedersammlungen der Nachkriegszeit. Karl Vargha leitete die Sammlung und Bearbeitung in Fünfkirchen/Pécs ein. Unter dem Titel „Schönster Schatz”8 wurden die ersten ungarndeutschen Liedersammlungen veröffentlicht. Texte von Kinderliedern, Reimen und Sprüchen sollten im Deutschunterricht für Nationalitäten verwendet werden. An den Universitäten wurden immer öfter volkskundliche Themen für Diplomarbeiten oder Dissertationen vergeben. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Liedgut der ungarndeutschen Handwerker gelenkt. Bergmannslieder wurden gesammelt und bearbeitet, die Liederhandschrift-Tradition der westungarischen Deutschen, der Heidebauern, wieder entdeckt.9 In den siebziger Jahren begründeten der damalige Verband der Ungarndeutschen und die Ungarische Ethnographische Gesellschaft eine Reihe zur Volkskunde der ungarländischen Nationalitäten. Unter dem Titel „Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen” erschien 1975 der erste Sammelband (anlässlich der ersten internationalen Konferenz zur Erforschung der Volkskunde der Minderheiten in Ungarn in Békéscsaba), dem bis 1999 weitere vierzehn Bände folgen sollten. Herausgeber und Redakteur der Reihe ist Karl Manherz. Ortsmonographien und Heimatbücher entstanden; sie enthalten reichlich Liedmaterial im Dienste der Identitätsstärkung. Paradoxerweise scheint in diesen Jahren der Gebrauch der Muttersprache, d.h. des Dialektes, zurückzugehen, aber es wird deutsch gesungen, erzählt und getanzt. In den achtziger Jahren normalisierten sich die Kontakte zur BRD, und Forschung und Pflege erhielten vielseitige Impulse von deutschen Institutionen: vom Johannes-Künzig-Institut in Freiburg, von den Verbänden der Heimatvertriebenen. Die vielseitige Forschungstätigkeit unter den in die BRD vertriebenen Deutschen ist besonders in der Tätigkeit eines Alfred Camman, eines Eugen Bonomi, der Südosteuropa-Gesellschaft und anderer mehr zu entdecken. Zahlreiche Publikationen in Ungarn, Bearbeitungen für Chöre und wissenschaftliche Analysen sollten dazu verhelfen, das deutsche Lied in Ungarn wieder lebendig zu machen. Ludwig Hollós bearbeitete die deutschen Balladen in Ungarn mit ihren sämtlichen Varianten.
1984 veröffentlichte der Budapester Europa Verlag eine Sammlung von Axel Hesse und Karl Manherz: „Holzapfels Bäumelein wie bitter ist dein Kern”,10 eine Sammlung von Liedern, Sprüchen, Reimen und Balladen der Ungarndeutschen. Die ungarische Übersetzung stammt von Márton Kalász. Das Buch war in Kürze vergriffen, 1995 erschien die zweite Auflage. Zwei Beispiele aus dieser Sammlung:
Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen
Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen,
er sehnet sich nach seinem Weib und Kind,
er muß durch einen tiefen Wald durch reisen,
so plötzlich stellt ein Räuber ihm den Weg.
Gib mir’s dein Geld, sonst muß i dich ermorden,
mit diesem Dolch durchbohr i’s deine Brust!
Mein Geld, mein Geld, das kann i’s dir nit geben,
ich bring es schon von weit an meiner Brust!
Was tragst du Geld auf deiner nackeder Brust?
Was tragst du Geld auf deiner nackeder Brust?
Ein Bild, ein Bild von meiner Mutter,
ein Bild, ein Bild, das trag ich selber inn’!
Du bist mein Freund, du sollst es auch verbleiben,
zum Bild der Mutter hab i’s keine Lust,
zehn Jahr sind hin, zehn Jahr sind schon vergangen,
verzeich, verzeich, dein Bruder steht vor dir!
Es war einmal ein braver Husar
Es war einmal ein braver Husar,
der liebt’ ein Mädchen ein ganzes Jahr.
Ein ganzes Jahr und noch viel mehr,
die Liebe nahm kein Ende mehr!
Und als ich in die Fremde kam,
da wurde mir mein Liebchen krank.
So krank, so krank bis in den Tod,
drei Tag, drei Nacht spricht sie kein Wort.
Und als ich diese Botschaft hört,
da setzte ich mich auf mein Pferd.
Ich nahm mein Rock und meinen Hut,
Und reiste nach mein Liebchen zu.
Und als er vor die Haustür kam,
da fing er schon zu weinen an.
Wein nicht, wein nicht du braver Husar,
es gibt noch Mädchen viel tausend ja.
Es gibt ja Mädchen viel tausend ja,
aber solche nicht, wie sie mir war.
Es gibt ja Mädchen viel tausend ja,
aber solche nicht, wie sie mir war.
Das Interesse für das deutsche Lied in Ungarn ist also sowohl in der Forschung als auch unter den Ungarndeutschen selbst, aber auch bei anderen Minderheiten vorhanden.
Durch die in den letzten zehn bis zwölf Jahren entstandenen Partnerschaften zwischen deutschen und ungarndeutschen Gemeinden, durch die Förderung des ungarndeutschen wissenschaftlichen Nachwuchses durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (Sitz in Bonn), durch die wachsende Zahl ungarndeutscher Germanistik-Studenten an den Hochschulen und Universitäten scheinen Pflege und Erforschung bzw. Bearbeitung des deutschen Liedes gesichert zu sein.
In einer Dissertation über die Bergmannslieder aus St. Iwan bei Ofen/ Pilisszentiván fasst Katalin Árkossy folgende Zielsetzungen zusammen:11 „Der grundlegende politische, wirtschaftliche, kulturelle und vor allem technologische Umbruch, der von den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg bis heute auch unser Land erfasst hat, hat tiefen Einfluss auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen, jeder Familie und innerhalb der Gesellschaft ausgeübt. Der allgemeine Modernisierungsprozess, die Urbanisierung und Industrialisierung lösen die geschlossenen Dorfgemeinschaften auf. Die Nähe der Stadt fördert das Pendlerwesen oder den Umzug, was die Kontinuität der Vermittlung spezifischer kultureller Werte stört.
Die Informationsflut über die Medien und Entwicklungen in anderen Bereichen haben Einfluss auf das tägliche Miteinander der Menschen, auf die Freizeitentwicklung und Interessenlagen jedes Einzelnen. Dadurch besteht die Gefahr, dass Althergebrachtes, wie Brauchtum und Gepflogenheiten, so zum Beispiel die Ausdrucksformen Volkslied und Volkstanz, nicht mehr innerhalb der Familie oder der Dorfgemeinschaft weitergegeben werden und verlorengehen.
In vollem Maße trifft diese Feststellung auf die Sprache und das Kulturgut der Ungarndeutschen zu, wo es darum geht, die Muttersprache und das kulturelle Erbe der Vorfahren in einer fremdsprachigen Umgebung, weit vom Herkunftsort entfernt, trotz teils erzwungener Assimilationsversuche zu bewahren.
Ich hatte Gelegenheit, durch eigene Beobachtungen über dreißig Jahre hindurch festzustellen, wie stark äußere Einflüsse auf den Gebrauch des Volksliedes und den Charakter des Volksliedgutes eingewirkt haben. Deshalb entstand der Gedanke, eine Dokumentation von Volksliedern anzulegen.
Ziel der Arbeit ist:
1. Durch die Dokumentation von Volksliedern einen kleinen Anteil zur Bewahrung von Brauchtum und Volksgut für die folgende Generation zu leisten. Das soll durch Dokumentation von Volksliedern eines eng begrenzten Territoriums, eben des Dorfes St. Iwan bei Ofen (Pilisszentiván), und speziell der Bergmannslieder erfolgen. Dabei soll untersucht werden:
– welche Lieder den hauptsächlichen Liederschatz in St. Iwan bildeten,
– ob Einflüsse aus anderen Territorien und von anderen Berufsgruppen zu erkennen sind,
– wie das Liedgut weitergegeben und womöglich verändert wurde,
– welche Möglichkeiten sich bieten, den Liedschatz in der Neuzeit lebendig zu halten.
2. Durch Untersuchung, Auswertung und Analyse der Dokumentation einen gesellschaftsübergreifenden Einblick in die Veränderung der Lebenssituation, gesellschaftlichen Werte, Normvorstellungen, ethnischen Identität, Sprache und Kultur der Ungarndeutschen zu geben. In der Untersuchung sollen folgende zentrale Problempunkte behandelt werden:
– Assimilationsprozess der Ungarndeutschen und dessen geschichtliche Ursachen,
– Wechselwirkung zwischen Sprache, Kultur und Identität,
– Volkskultur als Vehikel der Identität der Ungarndeutschen,
– heutige Möglichkeiten der Kulturtradierung ...
Ich denke, diese Ziele sollten die Pflege der Folklore der Ungarndeutschen auch zukünftig bestimmen.
Anmerkungen
1
Claus Jürgen Hutterer: Die deutsche Volksgruppe in Ungarn. In: Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Budapest 1975, S. 11ff.
2
Remigius Sztachovics: Braut-Sprüche und Braut-Lieder auf dem Heideboden in Ungern. Wien 1867.
3
Ingeborg Weber-Kellermann: Der Volksliedbestand in einem deutsch-ungarischen Dorf. Beitrag zu einer volkskundlichen Charakteristik der Donauschwaben. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 13. Wien 1964, S. 98–130.
4
Dokumentation im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.
5
Vortragsmanuskript.
6
Dokumentation im Musikwissenschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest.
7
Sammlung Hesse. Dokumentation im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.
8
Ludwig Hollós und Julius Gottfried Schweighofer (Hg.): „Schönster Schatz ...” Ungarndeutsche Volkslieder. Budapest 1979.
9
Karl Manherz und Marietta Boross: Der St. Johanner Kodex. Budapest 1991.
10
Karl Manherz (Hg.): „Holzapfels Bäumelein wie bitter ist dein Kern”. Aus der Folklore der Ungarndeutschen. Budapest 1984, zweisprachig.
11
Katalin Árkossy: Sprache und Gesellschaft eines ungarndeutschen Bergmannsdorfes im Spiegel seines Liedergutes. In: Ungarndeutsches Archiv 1. Budapest 1997. (Schriften zur Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte der Deutschen in Ungarn). Periodikum des Germanistischen Instituts der Eötvös-Loránd-Universität.
Begegnungen09_Madl
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:117–120.
FERENC MÁDL
Staat und Wirtschaft
Revolution auf rechtlichem Weg in den Staaten von Mittel- und Ost-Europa
Die Auflösung des RGW
Die Revolution in Mittel- und Ost-Europa benötigte auch auf dem Gebiet der außenwirtschaftlichen Beziehungen grundlegende Veränderungen. Dies bedeutete vor allem die Schaffung solcher effektiven marktwirtschaftlichen Strukturen, von denen zu erwarten war, dass sie den Interessen der nationalen Wirtschaften wirksam dienen werden. Das benötigte weiterhin die bessere Teilnahme der erwähnten Länder an der internationalen Arbeitsteilung sowie ihre Integration in die Marktwirtschaft und besonders in die europäischen wirtschaftlichen Prozesse.
Parallel zu allen inneren Bedingungen der besseren Außenwirtschaft (Investitionen, Regelung des Außenhandels, Privatisierung, Banktätigkeit usw.) stellte auch die äußere Seite eine Reihe von Aufgaben, die zu lösen waren. Obwohl die neuen Wirtschaftskonzeptionen die Verminderung der früher überdimensional gestalteten Macht des Staates forderten, benötigten dieselben Konzepte, ähnlich zu den inneren Transformationsprozessen, den entschlossenen Eingriff des Staates während der Anstrengungen zur Neugestaltung der Außenwirtschaft. Dies bedeutete dringende Maßnahmen, die erzielten, dass die Beziehungen zu den Ländern mit einer entwickelten oder sich in Entwicklung befindenden Marktwirtschaft und den internationalen Organisationen, den ehemaligen RGW-Staaten, den Nachbarländern, den neulich entstandenen Staaten, die im Gebiet der früheren Tschechischen und Slowakischen Republik, der früheren Sowjetunion und Jugoslawien zustande kamen, auf neue Grundlage gestellt bzw. verstärkt werden. Das beinhaltete zugleich, dass die früheren, in ihrer Natur und Funktion sich „mit dem Sozialismus verbundenen” RGW-Mechanismen und Institutionen, die diesen Ländern aufgezwungen wurden, abgebaut werden.
Der Abbau des RGW
Der Abbau des Warschauer Vertrages und der Strukturen des RGW–den die Regierungsanstrengungen sowie die politischen und zivilen Kräften erreichen wollten–führte zu Entwicklungen, mit denen die neuen Demokratien sofort konfrontierten. Diese Strukturen wurden mit Recht dafür verurteilt, dass sie sowohl in den Friedens- und Sicherheitsprozessen als auch bezüglich der wirtschaftlichen Effektivität eine kontraproduktive Rolle gespielt haben.
Was die RGW-Strukturen betrifft, erschien diese negative Rolle in verschiedenen Zusammenhängen. Allgemein charakteristisch war für sie, dass sie die staatlich gesteuerten nationalen planwirtschaftlichen Mechanismen auf internationaler Ebene reproduzierten bzw. auf zwischenstaatliche Ebene projizierten: die außenwirtschaftliche Kooperation innerhalb des RGW war ein Außenhandelsmechanismus, der von den Regierungen geschaffen wurde. Diese Mechanismen bestimmten die Preise, die Quantität und Modalitäten des Warenaustausches. Die Firmen wurden gezwungen, die Vereinbarungen der Regierungen vollzuziehen. Die selbständigen, direkten Formen der Kooperation und die vom Staat nicht kontrollierte Präsenz der Unternehmen auf dem Markt erschienen nur langsam in den letzten Jahren und bewirkten keine bedeutenden Veränderungen. Die nationalen Wirtschaften fungierten–wenn man die Struktur und Kompetenzen der Wirtschaftseinheiten in den erwähnten Staaten sowie die sich dort abwickelnden Wirtschaftsprozessen betrachtet–in einem disjunktiven Nebeneinander, ihre Beziehungen wurden voneinander getrennt und grundsätzlich nur durch die Regierung vermittelt.
Dieses allgemeine Bild hatte ernsthafte negative Auswirkungen. Die kleineren Länder waren bezüglich der Energie und der Rohstoffe fast vollkommen von der Sowjetunion abhängig. Das signalisierte trotz einiger früheren Vorteile (z. B.: niedrigere Preislage) unmissverständlich den allgemeinen Zustand, dass die Länder auf die wirtschaftliche Gunst von anderen angewiesen existierten. Dies war ein zu hoher Preis für die früheren niedrigen Preisen. Der Markt der Sowjetunion und anderer RGW-Staaten, der von den Staaten für ihre eigenen Unternehmen organisiert und angeboten wurde, förderte nur gering technologischen Entwicklung dienenden Anstrengungen was wiederum schwache Leistungen auf dem Markt zur Folge hatte, wenn es zu einem tatsächlichen Wettbewerb kam. Das alles hatte verheerende Folgen, die von der Mehrheit der Reformstaaten nicht bewältigt werden konnten und können. Es gab keine realen Preise. Das Preissystem war ein vom Staat geregelter Mechanismus, der den Preisen auf dem Weltmarkt nur von ferne und indirekt folgte. Es gab kein wirksames monetäres und Finanzsystem, es gab kein Geld bzw. keine Währung, die geeignet gewesen wäre, die tatsächlichen Kosten und Nutzen der vertriebenen Waren und Dienstleistungen als Grundlage genommen, deren Wert zu messen. Der transferable Rubel war eigentlich eine Abrechnungseinheit in der Bilanz der bilateralen Clearing-Mechanismen, was nur in der Theorie ein multilaterales Zahlungssystem war. Der Außenhandel innerhalb des RGW war infolgedessen eigentlich ein Barter-Handelssystem.
Als in der letzten Periode des RGW die traditionellen Strukturen aufgelockert wurden (man schuf den Beziehungen zwischen den Unternehmen einen gewissen Spielraum, der Wandel der Preise auf dem Weltmarkt wurde mehr berücksichtigt, der Handel über den zwischen den Regierungen vereinbarten Kontingenten hinaus wurde mit Beschränkungen erlaubt, die Öffnung nach Westen wurde ermutigt), erwiesen sich diese Anstrengungen nur als Surrogate der notwendigen radikalen Reformen und kamen zu spät. „Dank” dem nicht konkurrenzfähigen Export verschuldeten sich fast alle RGW-Länder. Die ausländischen Kredite dienten theoretisch den Zielen der Modernisierungsversuche, viele sind aber der Meinung, dass die Regierungen mit den Krediten eine Politik praktizierten, die im Interesse der Vermeidung der sozialen Unzufriedenheit das minimale akzeptable Lebensniveau zu sichern versuchte. Geld konnte man auf dem internationalen Geldmarkt leicht bekommen. Die Folgen – die ernsthaften Schulden – belasten heute die schwachen Wirtschaften der Länder, die sich jetzt in Umwandlung befinden. Eine andere negative Folge mit langfristigen Auswirkungen war, die einseitige Sowjetorientation der kleineren RGW-Staaten, die sich aber nicht in der engen Zusammenarbeit der nationalen Wirtschaften offenbarte, wie es auch nicht zu einer wirtschaftlichen Kooperation der kleineren Länder auf Unternehmensebene sowie zu einer Marktintegration kam.
Aus dem Obigen konnte man die einzige historische Lehre ziehen, nämlich dass der RGW unvermeidlich beseitigt werden muss. Schon die ungarische Regierung vor der Umwandlung forderte die grundsätzliche Erneuerung des RGW auf dessen 45. Tagung in Sofien am 9. Januar 1990. Die erste freigewählte ungarische Regierung trat ein Jahr später auf der nächsten Sitzung des RGW so auf, dass sie mit konsequenter Entschlossenheit den Standpunkt vertrat, dass die Reform des RGW unmöglich und zugleich sinnlos sei. Wegen seiner schweren Krise ist der RGW nicht mehr imstande, irgendwelche effektive und sinnvolle Funktion zu erfüllen, deshalb muss er baldmöglichst aufgelöst werden, damit man neue Formen der Zusammenarbeit schaffen kann. Die ungarische Regierung ergriff die Initiative und schlug die Auflösung des RGW vor. Der Initiative schlossen sich allmählich alle europäischen RGW-Mitgliedstaaten an.
Der Auflösungsprozess des RGW wurde durch eine ganze Reihe von Treffen zwischen den Vertretern der Regierungen begleitet. Die erste Frage war die Auflösung des RGW selbst, die der Beschluss vom 28. Juni 1991, der auf der 46. Tagung der Vertreter der Regierungen der RGW-Mitgliedstaaten in Budapest gefasst wurde, proklamierte. Der Beschluss trat direkt nach seiner Unterzeichnung in Kraft. Die Institutionen des RGW (das Statut, das Abkommen über die Rechtsfähigkeit, die Immunität und die Privilegien) wurden 90 Tage nach der Unterzeichnung im Sinne des Beschlusses außer Kraft gesetzt. Infolge dessen verloren auch die Ratifikationsgesetze der betroffenen Staaten ihre Rechtsgültigkeit.
Auch die lex mercatoria – Institutionen des RGW wurden aufgelöst. So haben das Kaufabkommen innerhalb des RGW, die Allgemeinen Bedingungen der Spezialisierungs- und Kooperationsverträge von 1979 und die Moskauer Konvention über die innerhalb des RGW obligatorisch gewählte Rechtsprechung von 1970 stufenweise ihre Bedeutung verloren. Da die Verträge nach deren Unterzeichnung diese Institutionen außer Kraft gesetzt wurden, weiterhin gültig blieben und diesbezüglich noch mit Rechtsstreiten zu rechnen war, musste man auch auf diesen Umstand Rücksicht nehmen. Die Antwort darauf war, dass für die vor dem 1. Januar 1991 abgeschlossenen Verträge die Allgemeinen Vertragsbedingungen des RGW weiterhin gültig blieben, es sei denn, dass die Vertragspartner sich anders entschieden haben, da die Rechtsgültigkeit mit dem 1. Januar 1991 aufhörte. Ab diesem Zeitpunkt konnten sie ausschließlich auf Grund einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien angewendet werden, ausgenommen das Zahlungsverfahren, dessen Anwendung bedingungslos eingestellt wurde.
Die oben geschilderten Schritte und Vereinbarungen dienten dem Übergang zu den allgemeinen lex mercatoria-Institutionen (auf die Normenregelung bezüglich der Verträge und der gewählten Rechtsprechung usw.). Dieser Übergang ging reibungslos, ohne Hindernisse vor sich. Die Ursache ist wahrscheinlich im Umstand zu suchen, dass die Unternehmen der früheren sozialistischen Länder in den westlichen Relationen jahrzehntelang die allgemeinen lex mercatoria-Institutionen und Mittel benutzten, im Laufe derer Anwendung geeignete und aktuelle Erfahrungen erwarben und deshalb zu Befürworter des modernen Handelsrechtes wurden.
Begegnungen09_Kosary
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:105–116.
DOMOKOS KOSÁRY
Magyaren und Nachbarnationen, 1848–1849
Das alte, historische Ungarn – Siebenbürgen mit inbegriffen – hat 1848/49 auf spezifische Art und Weise eine Doppelrolle gespielt, war janusköpfig. Einerseits nämlich war es selbstverständlich die Heimat der ungarischen Nationalbewegungen, welche am Rahmen des Habsburgerreiches mit seiner Nationalitätenvielfalt rüttelten. Bisher haben wir uns in erster Linie um eine Analyse der internationalen, außenpolitischen Zusammenhänge und Probleme dieser Kämpfe bemüht. Dieses Ungarn an sich jedoch bildete vom Standpunkt der benachbarten nationalen Bewegungen her gesehen als multinationales Land ebenfalls ein „Reich”, selbst dann, wenn es sich ansonsten betreffs historischer Vergangenheit und geographischen Aufbaus in vielerlei Hinsicht bedeutend vom Habsburgerreich unterschied. Széchenyi beschrieb es als kleineres Gefüge innerhalb eines größeren Gefüges. Bereits im Mittelalter war es ein Aufnahmeland, da machten die Magyaren infolge von Verheerungen und später dann Ansiedlungen in den vergangenen Jahrhunderten nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung aus, obwohl man neben den vielen anderen noch immer das bedeutendste Einzelethnikum neben Kroaten, Serben, Rumänen, Slowaken, Ruthenen (Ukrainern), Deutschen und anderen bildete.1 Diese haben – mit wenigen Ausnahmen – ebenfalls den Weg der nationalen Entwicklung eingeschlagen und sind dem historischen Ungarn gegenüber, dessen Rahmen sie nun zu erschüttern begannen, mit eigenen nationalen Forderungen aufgetreten.
Im Titel ist absichtlich die übliche, jedoch ein wenig einschränkende Bezeichnung Nationalitätenfrage vermieden worden. Das nämlich weist entsprechend dem nationalstaatlichen Blickwinkel unserer Geschichte darauf hin, dass es hier ausschließlich um interne Strukturen des Staates, also Erscheinungen innenpolitischer Natur geht. Tatsächlich aber wiesen auch diese Bewegungen gewisse internationale, außenpolitische Aspekte auf, und nicht nur insofern, als die konterrevolutionäre Politik Verbindung zu ihnen aufnahm und darum bemüht war, sie in den Dienst ihrer eigenen Zwecke zu stellen. Das hat die gleichaltrige ungarische offizielle und sich in vielerlei Hinsicht traditionell gestaltende Auffassung ebenfalls betont, ja man war sogar geneigt, auch solche Übertreibungen zu vertreten, wonach diese Bewegungen in erster Linie oder gar ausschließlich durch die österreichische Politik sowie russische panslawische Unterhöhlungstätigkeit, also auf Einwirkung externer Kräfte angefacht und gegen die Magyaren gerichtet wurden. Außenpolitische, internationale Aspekte dieser Erscheinung sind entschieden vielschichtiger. Derartige Bewegungen gab es nämlich nicht nur innerhalb der Landesgrenzen Ungarns, denn sie erhielten – hauptsächlich in Bezug auf Serbien und teilweise Rumänien – auch Unterstützung seitens der gleichgesinnten Nationalbewegungen und Staatsgebilde sowie von ihren Vertretern außerhalb der Landesgrenzen. Debatten oder Schlichtungsverhandlungen waren mit jenen zu führen, teilweise an Ort und Stelle, direkt, zum Teil aber auch im Ausland, vor allem durch Vermittlung der polnischen Emigrationszentrale in Paris, anlässlich der Treffen der verschiedensten Beauftragten und Emigranten. Letztendlich fanden die nationalen Gegensätze und Konflikte dieser Region – wie zu erfahren war – im Westen und hauptsächlich in Frankreich ein bedeutendes Echo, was sich auch auf die ausländische, internationale Einschätzung der ungarischen Politik stark auswirkte. Ohne einen zumindest skizzenhaften Überblick zu all dem wäre unser Bild betreffs der internationalen Probleme Ungarns ein lückenhaftes sowie einseitiges. Dieser Aufgabe kann man sich trotz jenes Einspruches nicht entziehen, dass es sich dabei nicht um international politisch anerkannte, traditionelle Akteure handele, sondern um interne Bewegungen, Emigrationen oder bestenfalls nur zur Hälfte selbständige, von der Souveränität anderer abhängige Fürstentümer. Internationaler Anerkennung nämlich erfreute sich nicht einmal Ungarn.
Im sich zuspitzenden Wettbewerb der nationalen Bewegungen innerhalb der Habsburgermonarchie gelang es den Ungarn 1848 an die Spitze des breitgefächerten Feldes vorzustoßen. Das bedeutete derzeit die umfassendste interne Herausforderung für Wien. Und das brachte den größten Erfolg mit sich, denn mittels der Gesetze vermochte man diese neue Souveränität, die bürgerlichen Errungenschaften und die Union Siebenbürgens zu untermauern. Die neue Ordnung Ungarns basiert somit auf einem gesetzlichen Fundament.
Vielleicht mit Ausnahme einiger kleinerer radikaler Gruppen wünschte sich die ungarische Bewegung an sich nicht von der Monarchie loszureißen. Es gibt Forscher, die diese auf eine Personalunion ausgerichtete, doppelte (dualistische) Art des Staatsorgans als die eine, spezifische Variante des Föderalismus erachten sowie die „großungarische” Konzeption des ungarischzentrischen Reiches als ungarisches Gegenstück zum Austroslawismus.2 Einmalig hingegen war von ungarischer Seite darüber hinaus, dass eine in vollem Umfange im Rahmen der Monarchie lebende Nation schließlich die umfassende Unabhängigkeit zu erringen versuchte. Besonders beachtenswert ist all das, wenn wir allein den zahlenmäßigen demographischen Anteil der Magyaren in der Monarchie oder auch innerhalb des eigenen historischen Landes betrachten.
Eine im modernen Sinne des Wortes genommene ungarische Nationalbewegung hat sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entfaltet, und zwar unter der Führung einer solchen aufgeklärten Adelselite, welche das bestehende gesellschaftspolitische System zu modernisieren, es dabei aber noch nicht gegen ein neues einzutauschen wünschte. Auch diese aufgeklärte ständische Strömung gelangte über die sprachliche, kulturelle Phase zur Politik. Schon derzeit aber wurde als selbstverständlich erachtet, die eigene Nationalsprache als im gesamten historischen Land geltende und vorherrschende zu gestalten, sie auch durch andere Ethnika anerkennen zu lassen. Diese Bemühungen wurden noch entschiedener nach 1830 von der einen nun schon wahren bürgerlich-nationalen Wandel vorbereitenden liberalen Reformbewegung des Adels fortgesetzt, welcher 1844 die Einführung der offiziellen ungarischen Landessprache an Stelle des bisherigen Latein gelang – eine Ausnahme bildete das autonome Kroatien.3 Derzeit jedoch führte man schon scharfe Debatten zwischen den ungarischen und sich dazu parallel in Wechselwirkung befindlichen, sich gleichermaßen nacheinander entfaltenden anderen heimischen Bewegungen, wobei die Ungarn unter letzteren allein die Bewegungen der über eine eigene ständische und politische Vergangenheit verfügenden Kroaten als nationale anzuerkennen bereit waren, andere vorläufig nicht. Der ungarische Adel bereitete sich darauf vor, das historische Ungarn in eigener Führung in einen eigenen Nationalstaat umzugestalten, d.h. man trat auch mit einem Anspruch der Magyarisierung auf, welcher in den 40er Jahren entschieden erstarkte. Neben der den eigenen, nationalen Fortschritt unterstützenden Funktion der Nationalismen trat also auch hier das anderen gegenüber vorherrschende, expandierende Charakteristikum in Erscheinung. Széchenyi, der Bahnbrecher der Reformbewegung, hat zwar den freiwilligen Anschluss auf natürlichem Wege, für den es hauptsächlich in den Reihen der deutschen urbanen Bürger bereits viele Beispiele gab, selbst auch gutgeheißen, erachtete jedoch ein zwingendes, ungeduldiges Assimilationsbestreben als dermaßen gefährlich, dass er schon zu Beginn der 40er Jahre mehrmals – wenn auch nicht mit großem Erfolg – offen und entschieden dagegen auftrat. Bereits im Kelet Népe (Volk des Ostens) hatte er 1841 seine Landsleute gemahnt: „nicht dass wir wieder der Gesetze der Rückwirkung wegen mit Feuer und Schwert zurückgeschlagen und vernichtet werden”; ja, „schlagen wir nur unseren schwachen Topf gegen alle Töpfe, ja sogar auch gegen das slawische und deutsche Steingut” und „innerhalb kurzer Frist zerfällt der Ungar in Tonscherben”. Die adelige Opposition, die Bewegung und die Mehrzahl ihrer Führungskräfte haben seine Mahnungen nicht beachtet. Ihrer Meinung nach war die traditionelle Position in der Gesellschaft des Landes unter den gegebenen Umständen ausreichend gefestigt, um ihr Ziel zu realisieren und zu legalisieren: den bürgerlichen Nationalstaat nach französischem Vorbild.
Wie wir wissen, haben damals auch in Frankreich viele Einwohner nicht französisch gesprochen und doch ist der Nationalstaat zustande gekommen. Die ungarischen Politiker – adlige Liberale sowie junge Pester Radikale gleichermaßen – haben also geglaubt, oftmals mit voller Überzeugung, dass die Eliminierung des Feudalsystems und der Privilegien, die Erteilung bürgerlicher und individueller Freiheitsrechte, die Einführung der parlamentarischen Verfassungsmäßigkeit, d.h. als Gegenleistung zu diesem bedeutenden Fortschritt der Zivilisation fremdsprachige Bewohner des Landes sich ihnen ebenfalls anschließen würden, so dass sich das multinationale, feudale Land zu einem ungarischen bürgerlichen Nationalstaat entwickeln kann. Das erwies sich in der Weise schon bald als ein Irrtum. Zwar hat die Einführung der bürgerlichen Freiheit zusammen mit dem liberalen Nationenbegriff – welcher nicht simpel in der Definition der Herkunft das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Nation suchte, weil das u.a. ebenso Sache der freiwilligen Wahl sein konnte – ja tatsächlich eine große Anziehungskraft ausgeübt, was dann offensichtliche Ergebnisse zur Folge hatte. Doch konnte nicht jene Erwartung erfüllt werden, gemäß der sich das französische Muster als Allheilmittel auch hier unter den gegebenen Umständen wirkt, was wiederum die Gefahr dramatischer Konfrontationen heraufbeschwor.
Die lokalen Voraussetzungen nämlich wichen wesentlich von jenen ab, die derzeit ermöglicht hatten, dass das französische Modell zustande kam, so nicht nur dahingehend, dass hier ein ganz anderes Zahlenverhältnis bezüglich der Ethniken vorlag, auch nicht allein in jener Hinsicht, dass die anderen heimischen Nationalbewegungen derzeit bereits über eine höher entwickelte, selbstbewusstere politische Führung sowie effektivere Mittel (wie z. B. Presseorgane) verfügten. Ein vielleicht noch wesentlicherer Unterschied bestand darin, dass während sich in Frankreich z.B. hinter den Bretonen der Atlantik erstreckte im Gegensatz dazu den Serben in Südungarn – wenn auch außerhalb der Landesgrenzen und im Rahmen des Osmanischen Reiches – ein separates serbisches Fürstentum folgte. Neben den Rumänen von Siebenbürgen zwei rumänische Fürstentümer – abhängig von den Türken bzw. unter russischem Protektorat – die Ziele ihrer Nation vertreten haben. Und mit einiger Anstrengung konnten auch die Slowaken in Richtung Tschechen gedrängt werden. Nicht zuletzt aber konnte die ungarische Bewegung keinen souveränen Staat ihren eigenen nennen, sondern führte gegenüber der Wiener Regierung selbst auch einen Kampf um die nationale Unabhängigkeit, welche gern auf jene Taktik zurückgriff, der stärkeren Bewegung gegenüber in gewissem Grade die schwächere Opposition zu unterstützen und in dem eigenen Interesse nutzbar zu machen. Wenn dann letztere ebenfalls zu einer derartigen Zusammenarbeit mit der Reichsregierung bereit war, dann hat dies nicht bedeutet, dass ihre nationalen Zielsetzungen restlos mit den konservativen Interessen übereinstimmten, sondern nur so viel, dass diese Bewegungen – da sie sich nicht gleichzeitig gegen beide Widersacher hätten durchsetzen können – die Verbindung zu jenem suchten, von dem sie in der betreffenden Situation den größten taktischen Vorteil erhofften.
Als die ungarische Revolution im Frühjahr 1848 feudale Privilegien und die Leibeigenschaft abschaffte, hat man ohne Rücksicht auf nationale Differenzen jedermann individuell die neuen bürgerlichen Rechte erteilt, damit auch mit dem traditionellen System des feudalen Grundbesitzes brechend sowie ermöglichend, dass stellenweise unvollständige gesellschaftliche Strukturen anderer heimischer Völker sich zu vollkommenen bürgerlichen Nationen entwickelten.4 Der bürgerliche Wandel an sich stieß auch bei der bürgerlichen Intelligenzelite anderer heimischer Nationalbewegungen auf Einverständnis – wenn auch nicht seitens ihrer konservativen Flügel. Trotzdem irrten sowohl das neue ungarische verantwortliche Ministerium als auch die radikale Jugend gewaltig, als man glaubte, dass jenes Problem damit im Wesentlichen gelöst sei und es nun schon genüge, die Nationalitäten zwecks Wahrung der gemeinsam errungenen Freiheit zum Zusammenhalt mit ihnen anzuregen. Auf die Kunde von der Revolution, und vor allem der ungarischen Revolution, wurden dann andere heimische Nationalbewegungen aktiv. Bereits im Laufe des Frühjahrs beeilte man sich mit der Organisation von Sitzungen, da man der Ansicht war, dass nachdem es den Ungarn gelungen war, ihnen zuvorkommend zumindest prinzipiell in die Machtkreise einzudringen, nun auch sie so schnell wie möglich ihre Forderungen vorzutragen hätten. Diese Treffen und deren Deklarationen gingen zunächst positiv auf den großen Umschwung ein, vor allem dort, wo man Vorteile davon hatte und wo die Befreiung der Leibeigenen besonders markante Veränderungen mit sich brachte. Schon bald aber und immer nachdrücklicher wurden weitere Forderungen formuliert, signalisierend, dass das bisher Geschehene nicht genüge. Diese nationalen Bewegungen nämlich beanspruchten über bürgerliche, individuelle Rechte hinaus die kollektive Anerkennung ihrer Nation sowie Gewährung politischer Sonderrechte die kollektive Anerkennung ihrer Nation, ja sogar gewisse eigene Territorien, in welchen sie ihr eigenes Nationalleben und ihre Herrschaft ausbauen könnten, um sie dann künftig nach Möglichkeit mit den eventuell außerhalb der Landesgrenzen existierenden Gebieten der Nation zu vereinen. Géza Herczegh war einer der wenigen Autoren, die bereit waren, die Nationalitätenfrage als Bestandteil der internationalen Politik anzusehen, und er konstatierte korrekt, dass die Nationalitäten „dafür kämpften, was sie im Falle der Magyaren bereits im Prozess der Realisierung sahen”, d.h. für die nationale Einheit und ihre Souveränität.5 Die ungarische Regierung aber – und die politische öffentliche Meinung – waren nicht bereit, diesen Forderungen nachzukommen. Nicht nur und vor allem nicht deshalb, weil in den von den Nationalitäten beanspruchten Gebieten nicht ausschließlich sie lebten, sondern ebenso viele andere, wie z.B. die Magyaren, sondern hauptsächlich aus jenem Grunde, weil das Ziel ja die Erlangung von Einheit und Souveränität der Landesregionen war und nicht eine Aufgabe jener bzw. ihre Liquidierung. Seiner Auffassung nach aber würde die Anerkennung anderer heimischer Völker als „Nation” sowie die Zuerkennung von politischen sowie Gebietsrechten unausweichlich zu einem solchen Verfall führen, denn in einem Land kann nur eine politische Nation existieren. Die Magyaren – schreibt Géza Herczegh – „sahen nicht ein, dass sie ebensolchen Bewegungen gegenüberstanden, welche auch von ihnen selbst betrieben wurden”. Sie haben nur „erkannt, dass die Erfüllung von Forderungen der Nationalitäten zum Zerfall des Landes und dem endgültigen Verlust der Souveränität führt”, denn nach dem Verlorengehen der Randgebiete wäre der verbleibende ungarische Teil innerhalb der Habsburgermonarchie „auf das Niveau eines einfachen Verwaltungsterritoriums gesunken”. Und wenn der nationale Trennungsprozess auch den Zerfall der Habsburgermonarchie zur Folge hat, dann kann in der gegebenen Situation die sich anstelle jener herausbildenden, kleineren politischen Einheiten leicht das Schicksal Polens ereilen, da sie kaum ihre Souveränität zu schützen vermögen und die in der Region expandierende russische Macht mischt sich ein. Eine umfassende Anerkennung von Ansprüchen der Nationalitäten, die Aufteilung des Landes würde also nicht zur Geltendmachung der bürgerlichen Freiheit westlichen Typs beitragen, sondern weitere Erfolge zaristischer Eroberung begünstigen.6
Im Besitze entsprechender Erfahrungen war Mihály Horváth nachträglich der Ansicht, dass ungarische Regierung und Gesetzgebung „einen großen Fehler begingen”, als sie – sich mit der Verkündung des allgemeinen Prinzips von Rechtsgleichheit und Freiheit zufriedengebend – im Lande kein gesondertes, eindeutiges und detailliertes Gesetz zwecks „Sicherung” der im Lande und den dazugehörigen Gebieten lebenden Nationalitäten verabschiedete.7 Das trifft selbst dann zu, wenn man nicht weiß, ob unter dem allgemeinen Begriff „Sicherung” einfach sprachliche und kulturelle Zugeständnisse oder mehr als das zu verstehen war. Der Feststellung stimmte unlängst Zoltán I. Tóth, namhafter Forscher dieses Problems zu, noch hinzufügend, dass die Einheit des Staates damit nicht gefährdet gewesen wäre. „So wie über die Heiducken-Regionen und Landmarken oder Glaubensgemeinschaften Gesetze verabschiedet werden konnten, so hätte man auch ohne Verletzung der Staatseinheit für die Rechte der Nationalitäten sorgen können”.8 Allein schon deshalb, weil die österreichische Pillersdorf-Regierung mit der neuen Verfassung vom 25. April bereits etwas im Interesse der Gewinnung der verschiedenen Nationalitäten für sich tat. Zweifelsohne wäre es richtiger gewesen, wenn man das Nationalitätengesetz vom Juli 1849 nicht im Anschluss an die Kämpfe, sozusagen im letzten Augenblick, sondern sofort im Frühjahr 1848 hätte durchbringen können. Kossuth und die anderen haben zu Beginn, im Augenblick des Erfolges, offensichtlich keine Ahnung gehabt, was für eine Zeitbombe diese anscheinend so unbedeutende Frage unter den gegebenen Bedingungen und Kräfteverhältnissen bedeutete bzw. welch dramatische Ereignisse ihrer Explosion folgen könnten. Neuerdings betont Zoltán Szász, dass es für die Lösung des Nationalitätenproblems kein europäisches Muster gab. Im 1830 von zwei Ethniken gegründeten Belgien wurde die französische Sprache der Wallonen unter Außerachtlassung der Flamen die der Staatsverwaltung. Seiner Meinung nach also ist „jene Anklage gleichermaßen unsinnig wie auch begründbar, wonach sich das ungarische Parlament nicht auf entsprechende Weise mit der Nationalitätenfrage befasst hätte.
Der begeisterten Stimmung im Anfangsstadium der Revolution, dem zunächst positiven Echo der Erringung der „gemeinsamen Freiheit” jedenfalls folgte schon bald die Enttäuschung, die Konfrontation der ungarischen politischen Elite und der Führer der heimischen, nichtungarischen Bewegungen.
Die benachbarten Nationalbewegungen hingegen haben sich, nachdem sie – mit Ausnahme von Kroatien – weder nationale Anerkennung noch politische oder territoriale Sonderrechte erhielten oder gar offensichtlich der aus Feudalzeiten stammenden und Sonderrechte gewährenden Privilegien verlustig gingen – wie im Falle der Serben und der Sachsen in Siebenbürgen – da sie ja nicht zu einem bürgerlichen Staat passten, immer mehr von der neuen ungarischen Regierung abgewandt, suchten am Hofe, bei der Führung des Reiches Unterstützung, welche sie dann auch aus den bereits bekannten taktischen Gründen gegen die Ungarn erhielten. Daraufhin folgten die dramatischen bewaffneten Konflikte. Daraus folgte wiederum die verallgemeinernde Feststellung bzw. das Urteil, dass, während die Magyaren die Sache der Revolution, die benachbarten heimischen Nationen absolut die Konterrevolution vertraten oder gar von vornherein „reaktionäre” Züge aufwiesen. Tatsächlich aber – das soll hier wiederholt werden – handelte es sich dabei um parallel zueinander verlaufende, miteinander konkurrierende nationale Bewegungen, von denen keine einzige aufgrund einer gegebenen politischen Strömung einfach umfassend als negativ eingestuft werden konnte. Die Politik der benachbarten Nationalbewegungen – erneut ein Zitat von Géza Herczegh – „unterschied sich der im Reich eingenommenen, abweichenden Position wegen von jener der Magyaren”. Die ungarische Regierung bestand auf der territorialen Integrität des Landes als „grundlegende Voraussetzung” der Souveränität der Nation, „während die Nationalitäten sich an die Dynastie klammerten, auf welche sich stützend sie gegenüber den sich auf historische Rechte berufenden Magyaren die Aufteilung erkämpfen könnten und die ihre zu bildenden Staaten vereinigt hätte”. Es wäre schwierig, das Vorhandensein revolutionärer Momente im Falle von Nationalbewegungen anzuzweifeln, die sich an die Spitze von bürgerlichen und bäuerlichen Forderungen des eigenen Volkes stellen. Man kann sich darauf berufen, dass vielerorts die Bauern gegen die heimische Art und Weise der Befreiung von Leibeigenen aufbegehrten und sich erhoben, weil den Bauern zwar die von ihnen bis dahin genutzten Urbarialbesitze übergeben wurden, während bezüglich anderer Ländereien aber (Weingärten, Rodeacker usw.) die Besitzrechte der Gutsherren und ihnen zustehende Verbindlichkeiten erhalten blieben, den Kätnern hatte man keinen Acker zugeteilt; bereits zuvor erfolgte – für die Bauern oftmals unvorteilhafte – Aufteilungen von Ländereien wurden als unabänderlich deklariert.9 Das Gleiche war aber auch bei den ungarischen Bauern der Fall, so dass es sich um kein Spezifikum der Nationalitäten handelte, nur als ein solches erschien, wenn es von irgendeiner Bewegung als solches gehandhabt wurde. Es kann ebenso darauf verwiesen werden, dass die Führer der Nationalbewegungen oftmals so taten, als hätte nicht die ungarische Revolution die Befreiung von der Leibeigenschaft erkämpft sondern als handele es sich dabei um eine Gabe des österreichischen Kaisers bzw. als müsse man jene – im Falle des sich später anschließenden Siebenbürgen – dann selbst noch erkämpfen. Es ist sogar möglich, dass während die Ungarn hauptsächlich die zweifelhafte Unterstützung der Konterrevolution betonen, wenn sie auf die einstige Rolle der benachbarten Nationen eingehen, die Historiographie letzterer dies doch manchmal in geringerem Maße als nötig berücksichtigt, wenn – übrigens nicht ohne jedes Motiv – von der 1848er Revolution der eigenen Nation, von den positiven Aspekten die Rede ist. All diese Anmerkungen aber ändern nichts am Wesen der Dinge.
Die Gefahr einer Konfrontation war im Grunde genommen jenes Widerspruches wegen unvermeidbar, welcher sich aus den spezifisch-komplizierten ethnischen sowie politischen Gegebenheiten in dieser Region Europas und den auch hier zur Geltung kommenden Anforderungen des modernen Nationalismus ergab. Laut letzterer nämlich müssten sämtliche Bürger eines Nationalstaates – zumindest theoretisch – ein und derselben Nation angehören. Wenn innerhalb der Landesgrenzen eventuell anderssprachige ethnische Gruppen anderweitiger Identität lebten, konnten jene keine, eine über Sonderrechte, ein eigenes Gebiet verfügende anerkannte Nation bilden. Gleichzeitig jedoch konnten die dieselbe Sprache Sprechenden, über dieselbe Identität Verfügenden – wenn sie innerhalb der Landesgrenzen mehrerer anderer Staaten lebten – als Nation nur dann die als gut und legitim erachtete politische Gestalt annehmen, wenn sie sich in ein und demselben Nationalstaat vereinten. Das den Begriff von Territorium und Nation dermaßen eng verbindende prinzipielle System von Anforderungen vermag – ähnlich wie einst auf religiösem Gebiet das Prinzip der cuius regio, welches das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Konfessionen in einer gegebenen Region als unvorstellbar ansah und die Vorherrschaft nur einer forderte – nicht vollkommen den Erwartungen zu entsprechen, vor allem dort nicht, wo im selben Gebiet oder in der gleichen Ortschaft traditionell mehrere Ethniken gemeinsam leben.
Kaum war aber wohl in einer Art Drehbuch der Geschichte von vornherein exakt vorgezeichnet, wo, wann und in welcher Form die im Verlaufe des komplexen Prozesses unvermeidlich hervorgerufene Spannung zum Vorschein treten würde. Es waren diesbezüglich verschiedene Varianten und Alternativen in Abhängigkeit von politischen Kräfteverhältnissen, eventuellen individuellen Versuchen sowie Aktionen von politischen Debatten bis hin zu blutigen Zusammenstößen vorstellbar, selbst dann, wenn – wie wiederum Géza Herczegh schreibt – die Forderungen der anderen heimischen Nationen mit noch „freigiebigeren” sprachlich-kulturellen Zugeständnissen befriedigt worden wären. Sie hätten zwar gemeinsam mit anderen Gesten ähnlicher Motivation abschwächend gewirkt, was dazu beitragen könnte, dass die Spannungen in abgeschwächter, humaner Form auftreten und Debatten eher auf politischen Schauplätzen als auf Schlachtfeldern ausgetragen werden.
Wenn im Folgenden kurz auf die Gestaltung der Beziehung von Magyaren und den unmittelbaren Nachbarn in dieser fieberhaften Zeit eingegangen wird, ist in erster Linie zu beachten, was wo und wann die auftretenden schweren Konflikte hervorrief bzw. welche Versuche wo und wann zur Minderung der Spannungen unternommen wurden, und zwar im Interesse der gegenseitigen Versöhnung oder auch Aussöhnung, da ja die Gestaltung dieses Wandels immer von sämtlichen Beteiligten, ja manchmal sogar von individuellen Stellungnahmen abhing. Der Konfrontation mit den Magyaren nämlich folgte – vor allem nach dem Olmützer Manifest vom März 1849 und teilweise infolge der ungarischen Erfolge im Frühjahr – die Enttäuschung in Bezug auf die mit der Wiener Politik verbundenen eitlen Hoffnungen bzw. auf der Gegenseite in gewissen Kreisen ein Versuch der Ungarn, doch mit den Nachbarnationen auf irgendeine Art und Weise den Konsens zu erzielen. Das konnte auch vom Gesichtspunkt der Zukunft her von Bedeutung sein. Was nämlich in diesen dramatischen Monaten ablief, zeigte allerseits bleibende Auswirkungen auf das weitere Verhältnis der beteiligten Nationen zueinander, auf den langfristigen Entwicklungsprozess.
Nachdem wir Historiker all dies nachträglich, in Kenntnis der Vergangenheit und der Folgen, niedergeschrieben haben, soll zur Information die Meinung von Ferenc Deák aus einem Privatbrief vom 30. April 1848 zwecks Demonstration dessen folgen, wie einer der hervorragendsten, nüchternsten liberalen Reformpolitiker Ungarns die Situation des Landes einschätzte: „Schmerzhaft und besorgniserregend ist jene anarchische Strömung, welche sich auch im Volke vielerorts zeigt, vor allem jedoch in den Städten zu blutigen Ausbrüchen führt. Die Landarbeiter erobern Weiden und Felder zurück, die Bürger sowie hie und da das Volk verfolgen die Juden, die Beamten genießen nirgendwo Ansehen. Es wäre jedoch nicht unmöglich, diese Übel zu verhindern bzw. zu unterdrücken, wenn wir Soldaten hätten: die ungarische Armee aber ist größtenteils in Italien und Galizien stationiert und man lässt sie trotz allen Drängens oder gar aller Drohungen nicht zurückkehren. Ein noch viel größeres Unheil als das aber stellt die mit dem Ausbruch drohende Bewegung der slawischen Völker dar. Die Kroaten wollen das ungarische Ministerium nicht anerkennen und bereiten sich größtenteils auf eine Lostrennung vor, wobei viele von ihnen die Gründung eines eigenen Slawenlandes planen, zu dem sie auch die slawische Bevölkerung im Süden Ungarns hinzurechnen. Im Banat und in der Batschka haben sich alle Raizen aufgelehnt, den Tod für Ungarn und Deutsche verkündend. Mehrere Morde sind bereits geschehen, so dass ein Kommissar dorthin entsandt werden musste, so wie Militär und auch Kanonen. Bei den Slowaken ist der Ausbruch noch nicht erfolgt, doch schwelt er und das Auflodern eines gegen uns gerichteten unversöhnlichen Hasses ist zu befürchten; und gegen all das stehen uns weder Waffen noch Soldaten oder Geld zur Verfügung. Wien erfreut sich dieser Unbilden, weil man uns zürnt, da wir nicht geneigt sind, ein paar hundert Millionen der Staatsschulden auf uns zu nehmen, was wir gar nicht tun können, denn wir wären zur Zahlung der Zinsen unfähig. Einige Mitglieder der gescheiterten Partei freuen sich ebenfalls – mehr noch, heimlich unterstützen sie vielleicht sogar schon die Bewegungen. Wir sind nahe dran, dass Kroatien und vielleicht Ungarn offen das Banner der Revolte hissen und uns nach Möglichkeit niedertreten. Und womit sollen wir uns dem gegenüberstellen! Zu all dem gesellt sich darüber hinaus hier in Pest die laute aber hohle Deklamation eines Heeres junger und nicht ganz so junger Journalisten, die sich aufführen, als wären sie allein das ganze Volk, und zwar ein starkes Volk; fortlaufend erwähnen sie Kräfte, ein mächtiges starkes Auftreten, nichts ist ihnen genug, sie tadeln und vergessen absichtlich, dass ein lautes Wort zur Unterstützung der Kräfte nicht ausreicht, da sind auch materielle Stärken gefragt, die es aber – bedauerlicherweise – nicht gibt und die unter den gegebenen Umständen kaum aufgebracht werden können”. Eineinhalb Monate später setzt er am 15. Juni seine Ausführungen wie folgt fort: „Wir wissen nicht einmal, ob uns die Raizen aufhängen werden, wenn sie hierher kommen können, oder ob uns Jellasics bzw. das hiesige Volk zerstückeln, weil das alles zu den Dingen zählt, die leicht geschehen können. Der aufgestachelte Feind droht von allen Seiten mit dem bewaffneten Überfall und wir haben keine Kraft, die wir ihnen entgegenstellen könnten, keine Waffen – denn auch für Geld sind die nirgends zu haben; wenn wir sie im Ausland, z.B. in England erwerben, können wir sie auf keinem Wege einführen, weil sie überall beschlagnahmt würden; ... Am bedeutsamsten aber ist, dass wir wahrscheinlich von allen Seiten mit Perfidie umringt sind; der König unterzeichnet alles, wir disponieren dementsprechend, doch stoßen wir weder auf Hilfe, noch Vertrauen oder Gehorsam, schon gar nicht beim Militärkorps; überall wird verkündet, wir hätten den König vertrieben, und im Namen des Kaisers – doch ohne seine Zustimmung – wird gegen uns gehetzt. Hier reizen slawische und deutsche Aufrührer fortlaufend das Volk und wir sind nicht sicher, ob sie wohl nicht jeden Augenblick Unruhen verursachen. Dass unsere Position, unser Ansehen oder gar unsere Person und unser Leben in Gefahr schweben, steht jetzt nicht zur Debatte; aber dem Lande droht Gefahr und es ist leicht möglich, dass wir an der Schwelle eines grässlich blutigen Bürgerkrieges stehen”.
Anmerkungen
1
Bezüglich der ethnischen Aufteilung des gesamtem historischen Ungarn gibt György Spira mittels der Verwendung einstiger statistischer Quellen in seiner Tabelle Die Nationalitätenfrage im Ungarn der 48er Revolution, Bp. 1980, l2., verlässliche zahlenmäßige Angaben
2
Ágnes Deák: A Habsburg Birodalom a nacionalizmus kihívásai között. Tervek és koncepciók a birodalom újjáalakítására (1848–1849). Aetas 1997, 4. sz., 5–44.
3
Gyula Szekfű: Iratok a magyar államnyelv történetéhez, 1790–1844. (Schriften zur Geschichte der ungarischen Staatssprache, 1790–1844.) Bp. 1926
4
I. Zoltán Tóth: Kossuth és a nemzetiségi kérdés, 1848–1849-ben. (Kossuth und die Nationalitätenfrage 1848–1849.) In: Emlékkönyv Kossuth Lajos születésének 150. évfordulójára. (Festschrift zum 150. Jahrestag der Geburt von Lajos Kossuth) II. Bp. 1952 249–340; I. Zoltán Tóth: The Nationality Problem in Hungary in 1848–1849, Acta Historica 1955, 235–277; I. Zoltán Tóth: A nemzetiségi kérdés Magyarországon 1848–1849-ben. (Die Minderheitenfrage in Ungarn 1848–1849.) In: I. Zoltán Tóth: Magyarok és románok. (Magyaren und Rumänen.) Bp. 1966. Endre Arató: A nemzetiségi kérdés története Magyarországon. (Die Geschichte des Nationalitätenproblems in Ungarn.) II. 1840– 1848. Bp. 1960; Endre Arató: A magyar nacionalizmus kettõs arculata a feudalizmusból a kapitalizmusba való átmenet és a polgári forradalom korában. (Das Doppelgesicht des ungarischen Nationalismus zur Zeit des Überganges vom Feudalismus zum Kapitalismus sowie der bürgerlichen Revolution.) In: A magyar nacionalizmus kialakulása és története. (Entstehung und Geschichte des ungarischen Nationalismus.) Bp. 1964. Gyula Mérei: Über die Möglichkeiten eines Zusammenlebens der in Ungarn lebenden Völker in den Jahren 1848–1849. Acta Historica XV. Nr. 3–4. Bp. 1969. National Interests and Cosmopolitan Goals in the Hungarian Revolution of 1848–1849. Austrian History Yearbook XII–XIII. 1976–1977, 3–91/Ausführungen von István Deák und anderen/. Endre Arató: A magyarországi nemzetiségek nemzeti ideológiája (Nationale Ideologien der Völker Ungarns.) Bp. 1983.; Endre Kovács: A forradalom és a nemzetiségek. (Die Revolution und die Nationalitäten.) In: A negyvennyolcas forradalom kérdései (Fragen der 48er Revolution.) Bp. 1971; Endre Kovács: Szemben a történelemmel. A nemzetiségi kérdés a régi Magyarországon. (Vis-á-vis mit der Geschichte. Das Nationalitätenproblem im alten Ungarn.) Bp. 1977.; Hasznos kritikai áttekintés: Spira György, A nemzetiségi kérdés a negyvennyolcas forradalom Magyarországán. (Ein nützlicher kritischer Überblick: György Spira, Die Nationalitätenfrage im Ungarn der 48er Revolution.) Bp. 1980; in englischer Sprache: The Naionality Issue in the Hungary of 1848–1849. Bp. 1992.; Zoltán Szász: A nemzetiségek és az 1848-as magyar forradalom. (Die Nationalitäten und die 48-er ungarische Revolution.) Történelmi Szemle, 1998, Nr. 3–4., 193–202; Zoltán Szász: A nemzetiségek és a magyar forradalom, 1848–1849. (Die Nationalitäten und die ungarische Revolution 1848–1849.) História 1999, Nr. 3, 15–17; Zoltán Szász: A nemzetiségi kérdés és országgyûlési megítélése. (Das Nationalitätenproblem und seine Beurteilung durch das Parlament.) In: György Szabad (Red.), A magyar országgyûlés 1848/49-ben. (Das ungarische Parlament 1848/49.) Bp. 1998, 317–338. Ältere, diesbezügliche Literatur: Eugéne Horváth: La politique du gouvernement hongrois envers les nationalités en 1848–49. Revue de Hongrie, 1930, 149–162, 193–218; derselbe (Jenõ Horváth) A magyar kormány nemzetiségi politikája 1848–49-ben. (Die Nationalitätenpolitik der ungarischen Regierung 1848–49.) Bp. 1930 Háborús felelősség (Kriegsschuld); Jenõ Horváth: Szemere Bertalan emlékirata az 1848–49-i magyar kormány nemzetiségi politikájáról. (Gedenkschrift von Bertalan Szemere zur Nationalitätenpolitik der ungarischen Regierung 1848–49.) Háborús felelősség II. (Kriegsschuld II.) 1931, 291–309, 479–501, 582–600, 675–686. Gyula Szekfû: Magyar történet (Ungarische Geschichte.) V. Bp. 1936, 349–382: Das Zustandekommen des Nationalitätenproblems; 383–438: Revolution und Freiheitskampf. Imre Mikó: Nemzetiségi jog és nemzetiségi politika. (Nationalitätenrecht und Nationalitätenpolitik. Klausenburg 1944
5
Géza Herczegh: Magyarország külpolitikája. Bp. 1987. 249
6
András Gergely: a.a.O. (1977), 963
7
Mihály Horváth: Magyarország függetlenségi harcának története 1848 és 1849-ben. 1971. I., 130–131
8
I. Z. Tóth: a.a.O. (1952), 267–268.; Z. Szász, a.a.O. (1998), 318. 329
9
János Varga: A jobbágyfelszabadítás kivívása 1848-ban. ( Die Erreichung der Befreiung von der Leibeigenschaft im Jahre 1848.) Bp. 1971. Orosz, István: A jobbágyfelszabadítás. (Die Befreiung von der Leibeigenschaft.) Rubicon 1998, Nr. 2. 20–23. Die beiden Deák-Zitate: Kónyi, Manó: Deák Ferenc beszédei. (Die Reden von Ferenc Deák.) II. Bp. 1903, 232–233, 238–240.
Begegnungen09-Jeszenszky
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:99–104.
GÉZA JESZENSZKY
The Lessons of Appeasement
Historia est magistra vitae – in my opinion this saying is more profound and true than Quis quid optat, cito credit (As you wish, so you believe). But perhaps the latter is more valid in today’s post-Communist world. Yet the saying I like to quote most often in these days is: Vincere scis Hannibal, victoriam uti mescis (You know how to win, Hannibal, but not how to utilize your victory). Can the West transform the victory won in the Cold War into lasting achievements, into a safer world?
There is little need to repeat the obvious, how tragic and foolish it was to allow Nazi Germany to rise from the hopeless mess it was in 1933, to allow her in 1939 to make an attempt to gain the mastery of Europe and indeed of the whole world. Historians remember the sad story of appeasement, but many people – I found – tend to believe that it was the Munich conference of 1938 when appeasement had its high tide, and it was perhaps unavoidable to sacrifice Czechoslovakia so as to gain time for Britain to rearm.
When I discuss that story with politicians today, I feel I have to emphasize that the big folly was to allow the first violations of treaties and commitments by Nazi Germany (the creation of an air force and the reintroduction of compulsory national military service in March 1935, the remilitarization of the Rhineland in March 1936, intervention in Spain in 1936 etc.) to take place and go unpunished, or even being rewarded by Britain in the naval treaty of June 1935. In fact each concession was father to a new aggression, and when Italy was allowed to invade and annex Ethiopia it showed the way to Hitler. When the Western democracies awoke it was already too late to discredit Hitler in the eyes of the German people, and in 1938 it was no longer possible to stop him short of war.
To me the most frightening aspect about appeasement is that it looked excellent on paper. Indeed Germany had real grievances and many thought that if that country’s “legitimate” claims (to walk into the Rhineland “backgarden”, to unite all Germans by way of the Anschluss and the occupation of the Sudetenland) were satisfied, Hitler and his nation would be cured”, so both rearmament and war could be averted. This line of thought was not represented by die-hard conservatives, or so-called right-wing people, but by moderate, intelligent, self-confident professionals. As Winston Churchill wrote in his The Second War, Neville Chamberlain’s approach had a “narrow, sharp-edged efficiency within the limits of the policy in which he believed”.
Today, with hindsight, all those mistakes look obvious which could have been averted relatively easily, by concerted action, but since politicians cannot have hindsight, they need foresight, and history may help them to develop the latter.
I am not, however, sure that today people are aware of another appeasement, which began in June 1941 and lasted until 1947, with disastrous consequences for my country and for the entire continent.
This new policy of appeasement was also spearheaded or first announced by The Times of London – the same paper that was so known for advocating an accommodation with Nazi Germany. On August 1 1941, in one of its characteristically thundering leaders, it called for appeasing Stalin and suggested that in Central and Eastern Europe the Soviet Union had special interests.
Obviously, the story of appeasing Stalin is only relevant today as an indication of what happens if the West’s desires for a free and stable continent are not matched by a coherent policy. As the Canadian scholar Bennet Kovrig said in his remarkable 1973 study The Myth of Liberation. East-Central Europe in US Diplomacy and Politics since 1941: “The principal failure of American statesmen was their inability, intellectual or political, to reconcile the operational and declaratory facets of their policies... For, seldom in the history of America’s foreign relations have good intentions reaped such a bitter harvest.” (p.x.)
Following the 1941 Nazi attack on the Soviet Union, it was undoubtedly right for Britain and, later for the US, to make an alliance with Stalin: the West had a strong interest in the survival of the Soviet Union. In my opinion, however, it was a mistake to give Stalin unconditional support, for acquiescing in the annexation of the Baltic states and eastern Poland in December 1941 during Eden’s talks in Moscow encouraged Stalin in his ambition to conquer the rest of the Eastern half of Europe. The entire tenor of the British-American-Soviet discussion from 1941 on led Stalin to believe that he had a free hand at least to resurrect the Soviet frontiers he agreed with Hitler before 1941. President Roosevelt asked at the Teheran conference that Soviet claims to Latvia, Lithuania and Estonia should not be reasserted immediately following re-occupation and that the Baltic peoples should be given an opportunity to express their will through some sort of referendum, although he expressed his confidence that the Baltic peoples would choose to remain part of the U. S. S. R. When Stalin firmly rejected any internationally supervised plebiscite and commented that the Soviet constitution provided ample opportunities for the expression of public will, the President merely asked for “some public declaration in regard to the future elections to which the Marshal had referred” (FRUS, Teheran Conf., p. 595.). Britain as well as the United States clearly accepted the expansion of the Soviet Union, despite Roosevelt’s vision of a new world order and the high sounding phrases of the Atlantic Charter, but for a considerable time, even after 1945, the peoples of Central and Eastern Europe were not informed about such a decision.
Perhaps the Anglo-American line is more obvious if we look not at their attitudes towards Hitler’s satellites but, rather, their attitudes towards Poland, their ally. Both Britain and the United States accepted Soviet policy as a guiding line on Central and Eastern Europe, and the media in these countries accepted and believed the Soviet version about the Katyn Forest murders. Nobody was willing to risk the displeasure of Stalin for the sake of the nations in Central or Eastern Europe.
It may have been easy to sacrifice Germany’s minor partners, but to do so with Poland, a valiant ally, who provided the fourth largest military contingent, was an invitation which Stalin would have been a fool not to seize. The way Poland’s hopes and later complaints were persistently ignored is well documented by a large number of scholarly works. Let me only quote a personal account from Jan Nowak, code name for a courier of the underground Polish state, who escaped via Stockholm to Britain in 1943, and who faced the ugly realities. This young idealistic Pole asked a compatriot at the Polish Legation, Tadeusz Pilch, in Stockholm how it was possible that the Poles, with all their heroic deeds, did not get the support they needed? The reply was as follows: “You are greatly mistaken to think that the British are guided in politics by moral considerations and by the search for objective truth. Even if the Polish side could present not only circumstantial evidence, but witnesses and the most convincing proof of Soviet guilt, [on the Katyn affair] the government and the press would never believe it or would pretend not to believe it. The British want to win the war, and know that they cannot do so without Russia. Moreover, as long as there is no second front in the West, they feel guilty about the Russians, on whom the whole burden of the war and casualties now rests. It would be a dangerous illusion to imagine that the Western Allies will support us against Moscow. That would be suicide from their point of view.” (Jan Nowak: Courier from Warsaw, p. 132.)
Left and right in Britain, particularly in the press, joined in increasingly loud criticism of Polish intransigence on the “practicality” of Polish independence. From the New Statesman to the Tribune and the Evening Standard and, of course, The Times, the case was always the same. Perhaps the most difficult (or most frightening) was still a series of articles in The Times in March 1943, which questioned the idea of “total independence” for “smaller nations” and described the danger of an independent bloc emerging between the Germans and the Russians. When the young Pole I quoted before reached London, he met R. M. Barrington-Ward, the Editor of The Times. It is interesting how he recalls this meeting: “As for the division of Europe into zones of influence, he [Barrington-Ward] pointed out that... what mattered was a realistic understanding of the post-war possibilities of Great Britain. ‘Influence’, he said, was not the same as ‘control’ or ‘domination’. Soviet influence in Eastern Europe after the war would be a logical outcome of geography and the balance of power.”
E. H. Carr, who was the author of these leading articles in The Times, did not mean, according to Barrington-Ward, “that Poland would cease to be an independent country. At most, it would remain like the other East European countries, a junior partner of Russia, tied to its powerful neighbour by treaty. ‘Benes and Czechoslovakia did not fear a partition of Europe into spheres of influence,’ he said.”
The Editor of The Times tried to calm the young Polish representative with a smile: “You Poles remind us of the Irish. You possess too long a historical memory, too many prejudices and attitudes inherited from the past. Under the influence of war, and the alliance with the western nations. Russia is undergoing a tremendous revolution. For the moment there is no reason to disbelieve Stalin when he says he wants a strong and independent Poland. You will see, my friend, that your fears are groundless.”
The Soviet refusal to help or allow others to help in the Warsaw Uprising of August 1944 showed who was ultimately correct. George Kennan, the US diplomat, writer and historian, quite rightly said that the Warsaw Uprising was the moment when there should have been a fully-fledged and realistic showdown with the Soviet leaders: when they should have been confronted with the choice of either changing their policy completely and agreeing to collaborate in the establishment of truly independent countries in Eastern Europe or forfeiting Western-Allied support and sponsorship for the remaining phases of their war effort to the establishment of truly independent countries in Eastern Europe or forfeiting Western allied support. It is just conceivable that Stalin, who still feared an “unholy alliance” between the West and Hitler, would have backed down then. But we know that there were much stronger Western fears of another, really unholy alliance: the revival of the Hitler-Stalin partnership. From there, the so called “percentages agreement” between Churchill and Stalin in October 1944 was a logical conclusion.
Although this agreement was meant to be for a limited period, there is little doubt that Stalin viewed it as a carte blanche to do as he pleased. This is confirmed by Milovan Djilas’ book Conversations with Stalin, where the Soviet dictator asserted that whoever controls a territory would also impose his political system, “it cannot be otherwise”. Subsequent Soviet behaviour certainly proved that, although senior officials at the British Foreign Office did their best to explain it away. Commenting on the insistence of the Soviet head of the Allied Control Commission, former People’s Commissar Vyshinsky in March 1945 that the Romanian government should appoint a “Popular Front” government in which Communists predominated, Sir Orme Sargent minuted: “We had to assume a similar development in Hungary and Poland and, possibly to a lesser extent, in Yugoslavia. We had also to take into account the fundamental disagreement between ourselves and the Russians on the meaning of democracy and to remember that our form of parliamentary democracy with free elections, a free press, and freedom of discussion, had never established itself in central and South-Eastern Europe, except in Czechoslovakia. The population of these areas was now so much exhausted and impoverished – one might say ‘proletarianized’ – by the war that their one wish must be for secure and stable government even at the cost of political and private liberty. They were unlikely to fight for parliamentary institutions which in any case they had never learned to rely on or respect. We might obtain some mitigation of pure totalitarianism in Poland and Yugoslavia, but it seemed useless to try to secure free elections and proper representative governments elsewhere. If we insisted on trying to enforce our own principles, we should endanger our fundamental policy of post-war cooperation with the Soviet Union for an issue which was not vital to our interests in Europe.”
We all know what followed. I would like, however, to add that there is an aftermath: we, Hungarians, believed that 1956 was also clear case of appeasement. I was 15 years old on 4 November 1956 when the second Soviet intervention started and, like many others, did not assume that it was very realistic to expect Western intervention in our aid. But, there were a few days when Hungary was transformed into a democracy with Imre Nagy as Prime Minister and a four-party coalition governing the country, while becoming a neutral state. So, between 29 October and 3 November, 1956, there was a kind of Western appeasement when it could have been possible to prevent the Soviet intervention with a strong US warning or some strong action by the UN.
My conclusion from this historical survey is that there is a very narrow edge between offering genuine friendship (or, if you like, partnership) and inviting disaster by giving too much away without guarantees for proper behaviour. Many still remember Churchill’s words after the Munich conference: England, he said, “had a choice between shame and war, she has chosen shame, and will get war”.
With the changes of 1989–90, the world was given an unprecedented chance to make so many old dreams come true. There is now universal agreement that a security vacuum exists in Central Europe. There is a no- man’s land between NATO and the European Union on the one hand and the Ukraine and Russia on the other. The Visegrád countries of Central Europe had thought that perhaps the best would be for the European Community to accept us, if not necessarily as full members, then at least by really opening their markets and accepting us as partners. Our traditions and history, as well as our behaviour over the last four years justifies it. But, more lately, it became clear that, although membership of the Union was promised at the 1993 Copenhagen Summit, this is still a long way off. People who are fed up with the old communist Five Year Plans cannot accept a Ten Year not to say a Fifteen Year Plan now.
Witnessing the war in the former Yugoslavia made many people think more about immediate security concerns and Central and East Europeans are seeking it within NATO. We know that membership in the European Union or NATO would not offer a solution for all the internal and external problems of Central and Eastern Europe. We also know that most of the work must be done by these countries themselves. But, for putting our economies and our house into order we need stability, protection from threat coming from outside and clear perspectives concerning membership in these institutions. It was not our fault that we did not accede to the Washington Treaty in 1949 which established NATO, or to the Treaty of Rome which established the European Community in 1957. In fact, I am quite sure that if the will of the Hungarian nation had been allowed to prevail at the time, according to the election results of 1945, Hungary would have developed into not only a viable democracy, but would have acceded both to the Washington Treaty and to the 1957 Treaty of Rome.
The people living in the former communist countries suffered very much and today they seek the pledge that they would not be left out in the cold again, abandoned as they were in 1945, 1956, 1968 and 1981. Hungary and the other victims of the communist utopia do not want to join NATO or the WEU and other organizations which represent our common European heritage in order to present a common front against somebody but, rather, in order to work jointly for the European utopia that is emerging as a reality.
Nations in Central and Eastern Europe do not want to become a kind of condominium, guaranteed by our Western and Eastern neighbours. We cannot accept the idea of another “Grand Alliance”, this time between NATO and Russia, the creation of an umbrella under which we all must find cover. That would smack of the attitudes of the Second World War or of the latter phase of the Cold War.
To go back to the lessons of appeasement: we have to be careful. There are dangers which can be avoided but, if the lessons of appeasement are not drawn, then we may well see our hopes dashed again. If the Western institutions do not fill the security vacuum in Central Europe, there would be others only too eager to do so. Videant consules...