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Begegnungen26_Muszatov

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:31–40.

WALERI L. MUSATOW

Die Sowjetunion und der österreichische Staatsvertrag

 

Vor einem halben Jahrhundert, am 15. Mai 1955, unterschrieben in Wien Vertreter der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Österreichs den österreichischen Staatsvertrag. Damit gewann Österreich seine Unabhängigkeit und Souveränität zurück.

Die Sowjetunion hatte sich immer zugunsten der Bewahrung eines unabhängigen Österreichs ausgesprochen: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verurteilte sie entschieden die gewaltsame Vereinnahmung Österreichs durch Hitler-Deutschland und rief auch die anderen Staaten dazu auf, gemeinsam zum Schutz der Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs aufzutreten. Eine entsprechende Erklärung gab der sowjetische Volksbeauftragte für Außenpolitik Maxim M. Litwinow am 17. März 1938 ab, also vier Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. Der Volksbeauftragte betonte hierin, dass es mit der deutschen Besetzung zur Anwendung von Gewalt in der Mitte Europas gekommen sei. „Dadurch sind nicht nur die elf Staaten, die eine gemeinsame Grenze mit dem Aggressor haben, in Gefahr geraten, sondern alle europäischen Staaten, ja sogar auch die Länder außerhalb Europas”1.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte nicht verhindert werden. Hierzu trug in nicht geringem Maße die schmachvolle Politik der „Versöhnung mit dem Aggressor” bei. Die Sowjetunion hingegen hielt auch weiterhin an ihren Prinzipien fest, d.h. sie erkannte den sogenannten „Anschluss” nicht an, sondern verurteilte ihn vielmehr. Im Dezember 1941 – also in der für die Sowjetunion besonders schweren Zeit, als die Deutschen vor den Toren Moskaus standen – sprach sich die sowjetische Führung auch bei ihren Unterredungen mit dem britischen Ministerpräsidenten Anthony Eden zugunsten der Wiederherstellung eines unabhängigen österreichischen Staates aus.

In der „Deklaration über Österreich” verkündeten die Außenminister der Staaten der Anti-Hitler-Koalition (Sowjetunion, USA und Großbritannien) während ihrer Moskauer Konferenz im November 1943 folgendes: „Die Vereinigung, die Österreich am 13. März 1938 von Deutschland aufgezwungen wurde, wird als ungeschehen und nicht existent betrachtet. Außerdem werden die Veränderungen, die seitdem in Österreich geschehen sind, nicht anerkannt”. Anschließend brachten sie ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass das freie und unabhängige Österreich wiedererstehe. Tatsache ist aber auch, dass sie die Verantwortung der Österreicher für die Teilnahme am Krieg auf Seiten Hitler-Deutschlands unterstrichen.

Ende März 1945 erreichten die sowjetischen Truppen die Grenzen Österreichs. 1980, 35 Jahre später, schrieb der damalige sowjetische Außenminister Andrej A. Gromyko in diesem Zusammenhang folgendes: „Die sowjetische Armee kam als Befreiungsarmee nach Österreich. Die Geschichte hat mehrere Dutzend Dokumente und Beweise bewahrt, die anschaulich von der gutwilligen Befreiungsmission der sowjetischen bewaffneten Kräfte zeugen. Es geht aus den Dokumenten auch hervor, dass die Sowjetunion nicht die Absicht hatte, sich dafür zu rächen, dass Österreich auf der Seite Deutschlands am Krieg teilnahm. In der Sowjetunion weiß man genau, dass Österreich selbst auch ein Opfer der Aggression war. Es ist wahrscheinlich nicht umsonst, wenn wir uns heute daran erinnern, denn im Westen werden noch immer Verleumdungen über die sowjetische Armee verbreitet.”2 (Wir müssen dieser Analyse von Gromyko zustimmen, die auch noch zur Zeit des 60. Jahrestages des gewaltigen Sieges über den Faschismus aktuell ist.)

In ihrer Erklärung vom 9. April 1945 betonte die sowjetische Regierung, dass sie nicht das Ziel verfolge, österreichische Gebiete zu annektieren oder die Gesellschaftsordnung Österreichs zu verändern. Vielmehr wolle sie die Deklaration der Alliierten aus dem Jahre 1943 durchsetzen.

Die Sowjetunion gewährte dem österreichischen Volk – wie auch den anderen, von der sowjetischen Armee befreiten Völkern – die Freiheit, selbst über die Frage der staatlichen Ordnung zu entscheiden. Am 24. April 1945 unterrichtete die sowjetische Regierung ihre Verbündeten, die Vereinigten Staaten und Großbritannien, dass sich der ehemalige Kanzler der Republik Österreich und Präsident des Österreichischen Nationalrats Karl Renner an das Oberkommando der Roten Armee gewandt habe. Renner erklärte, er sei bereit, den Alliierten jegliche Unterstützung zu geben, die der Befreiung und Wiederherstellung des unabhängigen österreichischen Staates diene.

Am 15. April 1945, als die sowjetischen Truppen in Wien einmarschiert waren, teilte Renner Josef W. Stalin mit, dass er beabsichtige, eine provisorische österreichische Regierung ins Leben zu rufen. Er bedankte sich bei der sowjetischen Führung für die Befreiung und für die humanitäre Hilfe, die die Rote Armee der Bevölkerung des Landes geleistet habe. Dann erklärte er, dass ihm als Präsident des von den Deutschen aufgelösten Österreichischen Nationalrats das gesetzlich verbürgte Recht zur Bildung einer solchen Regierung zustehe. Renner schlug vor, die einstigen Abgeordneten des österreichischen Parlaments, die sich auf dem von der Roten Armee besetzten Territorium Österreichs befanden, einzuberufen und mit ihnen gemeinsam über die Zusammensetzung der künftigen provisorischen Regierung zu entscheiden. An deren Konstituierung müssten die Vertreter aller politischen Parteien sowie auch Persönlichkeiten ohne Parteimitgliedschaft beteiligt werden.

Kurze Zeit später, am 27. April 1945, wurde die provisorische Regierung unter der Führung von Renner gebildet. Kanzler Renner bat nun die Sowjetunion darum, die wiederhergestellte Staatlichkeit seines Landes offiziell anzuerkennen und Wirtschaftshilfe zu leisten. Die sowjetische Regierung zögerte nicht mit der Anerkennung der Renner-Regierung und stellte mehrmals beträchtliche Hilfen, vor allem in Form von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Saatgut, zur Verfügung.

 

Das befreite Land

Auf der Konferenz von Potsdam im Juli/August 1945 beschlossen die Sowjetunion, die USA und Großbritannien ihre gemeinsamen Prinzipien für die Politik gegenüber Österreich. Diese Grundsätze wurden auch von Frankreich, das der Moskauer Deklaration von 1943 und den Potsdamer Beschlüssen zustimmte, akzeptiert.

Auf der Potsdamer Konferenz unterbreiteten die Sowjets den Vorschlag, die Oberhoheit der provisorischen österreichischen Regierung nun auf ganz Österreich auszudehnen. Die drei Großmächte kamen überein, den sowjetischen Vorschlag nach dem Einrücken der amerikanischen und britischen Truppen in Wien (am 17. August 1945) in Erwägung zu ziehen. Die Alliierte Kontrollkommission für Österreich stimmte dem Vorschlag schließlich am 1. Oktober 1945 zu und die Sowjetunion nahm diplomatische Beziehungen zu Österreich auf. (Im Juni 1953 wurden die politischen Vertretungen der Sowjetunion und Österreichs zu regulären Botschaften umgewandelt und beide Staaten ernannten ihre jeweiligen Botschafter.)

Die Alliierten betrachteten Österreich nicht als Feindstaat, sondern als befreites Land. Deshalb schlossen sie mit Österreich keinen Friedensvertrag, sondern einen Staatsvertrag.

Auf der Pariser Außenministerkonferenz der vier Großmächte im Juni 1949, die sich mit der „deutschen Frage” und der Angelegenheit eines Abkommens mit Österreich befasste, wurden mehrere, Österreich betreffende Beschlüsse zu politischen und wirtschaftlichen Fragen verabschiedet. Man kam überein, die Grenzen Österreichs entsprechend dem Stand vom 1. Januar 1938 wiederherzustellen. Außerdem vereinbarte man, dass der österreichische Staatsvertrag den Schutz der Rechte der slowenischen und kroatischen nationalen Minderheiten beinhalten müsse. Zwar sahen die Vereinbarungen keine österreichischen Wiedergutmachungszahlungen vor, Jugoslawien wurde aber berechtigt, österreichisches Eigentum und österreichische Beteiligungen auf jugoslawischem Territorium zu beschlagnahmen, zu behalten bzw. zu löschen. Gemäß den Beschlüssen erhielt die Sowjetunion von Österreich 150 Millionen Dollar in frei konvertibler Valuta, die Moskau innerhalb von sechs Jahren zurückzahlen sollte. Und schließlich beschlossen die Außenminister, Österreich die deutschen Guthaben und das von Deutschland in Österreich erbeutete Eigentum zu übergeben. Ausgenommen davon waren allerdings die Ölvorräte und die Erste Donaudampfschiffgesellschaft AG, die ins Eigentum der Sowjetunion überführt wurden.

Bis Februar 1950 beinhaltete das Dokument allerdings noch immer fünf wichtige Artikel, über die noch diskutiert wurde.

 

Sowjetische Vorbehalte (1950-1954)

Die Differenzen zwischen den Alliierten verschärften sich in Zusammenhang mit der Frage des Freien Territoriums Triest. Dort begannen die Westalliierten nämlich damit, im Widerspruch zu den Bestimmungen des mit Italien abgeschlossenen Friedensabkommens eine britisch-amerikanische Militärbasis einzurichten. Die sowjetische Delegation, die befürchtete, dass sich nach einem Abzug des sowjetischen Militärkontingents aus Österreich auch die dortige Situation nach einem ähnlichen Drehbuch entwickeln könnte, bestand darauf, die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages mit dem Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland sowie mit Garantien, die einen neuen „Anschluss” und den Beitritt Österreichs zu einem Militärbündnis verhindern sollten, zu verknüpfen.

Bis März 1952 fertigten die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs ohne die Sowjetunion den Entwurf eines so genannten „Kleinen Staatsvertrages” an, der mit den Österreichern abgestimmt worden war und von ihnen befürwortet wurde. Dieser Entwurf umging eine Reihe von strittigen Punkten, so z.B. die Frage des ehemaligen deutschen Eigentums in Österreich. Die sowjetische Seite verwarf dieses Konzept als eine Aktion, die ihre im Potsdamer Abkommen niedergeschriebenen Rechte grob verletzte.

Die Verhandlungen über den Staatsvertrag wurden erst 1953, nach dem Tode Stalins, fortgesetzt. 1954 kamen die Großmächte überein, die österreichische Regierung – noch dazu als gleichberechtigte Seite – an den Verhandlungen über den Staatsvertrag teilnehmen zu lassen. Während der Berliner Konferenz im Januar/Februar 1954 bekräftigte die österreichische Delegation (Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky) offiziell, dass Österreich nicht beabsichtige, einem Militärblock beizutreten, und es nicht zulassen werde, dass auf seinem Territorium ausländische Mächte Militärbasen errichten. Die sowjetische Seite hatte sich darum bemüht, einen derartigen Artikel in den Staatsvertrag aufzunehmen. Wegen des Widerstandes der Amerikaner scheiterte allerdings eine Übereinkunft.

Die drei westlichen Großmächte schlugen vor, die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages nicht mit der Regelung anderer europäischer Angelegenheiten zu verknüpfen, insbesondere nicht mit der Unterzeichnung des mit Deutschland abzuschließenden Friedensvertrages, aber auch nicht mit irgendeinem anderen Problem, dass die österreichische Frage nicht unmittelbar berührte.

Um die Jahreswende 1954/1955 wurden die Verhandlungen unterbrochen. Moskau befürchtete damals, dass Österreich zerfallen und sein westlicher Teil in eine militärische Basis der NATO verwandelt würde, die sich das wiederbewaffnete Westdeutschland dann einverleiben könnte.

Sowjetische Vorschläge 1955

Auf der Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR am 8. Februar 1955 erklärte Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow in seinem Redebeitrag „über die internationale Lage und die Außenpolitik der sowjetischen Regierung”, dass die Sowjetunion der Regelung der österreichischen Frage, also der vollständigen Wiederherstellung der Unabhängigkeit eines demokratischen Österreichs, große Bedeutung zuschreibe. All dies stehe in Übereinstimmung mit der Schaffung und Festigung des Friedens in Europa. Molotow zog folgende Schlussfolgerungen hinsichtlich der österreichischen Frage:

„1. Im Falle des Abschlusses des Staatsvertrages, der die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs festlegt, ist ein Beschluss zu fassen, der die Möglichkeit ausschließt, dass Deutschland erneut den Anschluss Österreichs vollzieht. Dies stimmt mit der Verabschiedung der Maßnahmen überein, über die sich die vier Großmächte in der deutschen Frage geeinigt haben. In diesem Falle würde der Abzug der Truppen der vier Großmächte aus Österreich noch vor dem Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland zu verwirklichen sein.

2. Österreich muss sich dazu verpflichten, keiner Koalition und keinem Militärbündnis beizutreten, dass sich gegen diejenigen Großmächte richtet, die mit Waffen am Krieg gegen Hitler-Deutschland und an der Befreiung Österreichs teilgenommen haben. Außerdem lässt Österreich nicht zu, dass auf seinem Territorium ausländische Militärbasen eingerichtet werden.

Die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion verpflichten sich ihrerseits ebenfalls, die obigen Prinzipien zu achten.

3. Im Interesse der möglichst schnellen Regelung der österreichischen Frage ist unverzüglich eine Vier-Mächte-Konferenz einzuberufen, auf der die deutsche Frage sowie die Frage des Staatsvertrages mit Österreich behandelt wird.”

Die neuen Vorschläge der Sowjetunion sahen also vor, die österreichische Frage auf der Grundlage der erhofften Garantie der Neutralität des unabhängigen Österreichs zu lösen. Außerdem fassten diese Vorschläge – abweichend vom sowjetischen Standpunkt auf der Berliner Konferenz des Jahres 1954 – den Abzug der Truppen der vier Großmächte noch vor dem Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland ins Auge.

Die sowjetische Erklärung vom Februar 1955 traf in den österreichischen Regierungskreisen auf lebhaftes Interesse.

 

Österreichische Ansprüche

Am 24. Februar 1955 traf das Zentralkomitee der KPdSU einen Beschluss über die zukünftigen Verhandlungen mit der österreichischen Regierung. Außenminister Molotow wurde damit beauftragt, mit Botschafter Norbert Bischoff über den Standpunkt der österreichischen Regierung zu verhandeln. Diese Interessenabstimmung erfolgte am 25. Februar und 2. März 1955.

Am 14. März 1955 teilte Bischoff den Standpunkt der österreichischen Regierung in einem Memorandum mit. Die österreichische Regierung „begrüßt die faktische Gewährleistung und Garantie der österreichischen Unabhängigkeit und Freiheit im Falle eines äußeren Angriffes bzw. der Gefahr des Anschlusses”.

Hinsichtlich des 2. Punktes des sowjetischen Vorschlags bekräftigte das österreichische Memorandum erneut, dass „Österreich nicht beabsichtigt, einem Militärbündnis beizutreten, und es nicht zulässt, dass auf seinem Territorium Militärbasen eingerichtet werden.”

Die Antwort der sowjetischen Regierung auf das Memorandum vom 14. März wurde Bischoff am 24. März 1955 mit einer begleitenden Einladung übergeben: „Die sowjetische Regierung würde es begrüßen, wenn Kanzler [Julius] Raab und andere österreichische Politiker, deren Anwesenheit die österreichische Regierung als wünschenswert erachtet, in nächster Zukunft nach Moskau reisen würden.”

In gewisser Weise wurde die Position der österreichischen Regierung durch den offenen Druck, den die Regierungen der Westmächte auf Österreich ausübten, bestimmt. Die Westmächte reagierten auf die Einladung von Raab nach Moskau „mit unverheimlichter Beunruhigung”. Am 25. März 1955 bestellte der amerikanische Außenminister Dulles den österreichischen Botschafter Gruber zu sich und skizzierte ihm die Grenzen, die „die österreichische Nachgiebigkeit nicht überschreiten” dürfe.

Am 26. März 1955 äußerte der österreichische Außenminister Figl während seiner Unterredung mit dem sowjetischen Botschaftsrat Timoschenko folgendes: „Wenn die vier Großmächte in Moskau eine fünf- bis zehnjährige Frist für den Abzug ihrer Truppen setzen, dann wird die österreichische Delegation dem nicht zustimmen, denn diese Frist würde eine Wiederholung der Besetzung bedeuten.” Figl erklärte, dass der Abzug der Truppen aus Österreich innerhalb „eines Jahres oder eines ein wenig längeren Zeitraumes” durchgeführt werden müsse. Hinsichtlich der möglichen Moskauer Verhandlungen wünschte die österreichische Regierung allerdings nicht, dass bei diesen schon konkrete Vereinbarungen getroffen würden. Vielmehr sprach sie sich dafür aus, die Annahme eines solchen Abkommens auf die Zeit der regulär folgenden Verhandlungen der vier Besatzungsmächte zu verschieben.

Am 9. April 1955 informierte das sowjetische Außenministerium in einer Note die amerikanische, britische und französische Regierung über den vorab erfolgenden Gedankenaustausch mit der österreichischen Seite und über die Reise der österreichischen Delegation in die Sowjetunion.

 

Sowjetisch-österreichische Verhandlungen in Moskau

Am 11. April 1955 kam die von Kanzler Julius Raab geleitete Regierungsdelegation in Moskau an.

Die Verhandlungen zwischen der von Molotow geführten sowjetischen und der österreichischen Regierungsdelegation unter Raab fanden vom 12. bis zum 15. April 1955 statt. Sie endeten mit der Unterzeichnung des „Memorandums über die Ergebnisse der Unterhandlungen zwischen der sowjetischen und der ungarischen Regierungsdelegation” bzw. mit der Unterzeichnung eines gemeinsamen sowjetisch-österreichischen Kommuniques.

Auf sowjetischer Seite nahmen an den Gesprächen – neben Molotow – Anastas I. Mikojan, Iwan G. Kabanow, Wladimir S. Semjonow, Iwan I. Iljitschow, Sergej G. Lapin und Michail G. Gribanow teil, auf österreichischer Seite – neben Raab – Adolf Schärf, Leopold Figl, Bruno Kreisky, Josef Schöner, Norbert Bischoff und S. Yerosta.

Die Verhandlungen begannen mit einer kurzen sowjetischen Erklärung. Darin wurde festgestellt, dass der Wortlaut des Entwurfes für den Staatsvertrag, der im Wesentlichen zwischen den vier Großmächten abgestimmt worden sei, eine gute Grundlage für die Lösung der österreichischen Frage darstelle. „Die sowjetische Regierung hoffe, dass es im Zuge des Gedankenaustausches mit der österreichischen Regierungsdelegation zu einer Einigung hinsichtlich der erfolgreichen Vorbereitung der Lösung der österreichischen Frage kommen wird” – lautete die Erklärung. „Es muss für uns garantiert sein, dass Österreich nicht zum Objekt militärischer Kombinationen (sic!) wird” – stellte die sowjetische Seite abschließend fest.

Raab unterstrich in seiner Antwort, dass der Entwurf des Abkommens bereits auf der Berliner Konferenz erörtert und dort als Verhandlungsgrundlage akzeptiert worden sei. Auf seine Initiative begannen die Delegationen daraufhin, die Fragen, welche die Sicherheit Österreichs betrafen, zu diskutieren. Raab unternahm anfänglich den Versuch, die Notwendigkeit von besonderen Garantien gegen einen erneuten „Anschluss” in Frage zu stellen. Er hob diesbezüglich hervor, dass es selbst im Friedensvertrag von Saint-Germain nicht für notwendig erachtet worden sei, solche Garantien festzuschreiben. Außerdem berief er sich auf Artikel 17 des Vertragsentwurfes, der es Österreich erlauben werde, eine Armee zu unterhalten.

Trotz alledem erklärte Raab, dass es die österreichische Regierung begrüßen werde, wenn die vier Großmächte sich über Garantien gegen einen Anschluss einigen würden. Ebenfalls auf seine Initiative hin wurde auch die Frage des Truppenabzugs diskutiert. Die Verhandlungspartner kamen schließlich überein, dass „die vier Großmächte ihre Besatzungstruppen nach Inkrafttreten des Staatsvertrages, aber noch vor dem 31. Dezember 1955 abziehen.”

Bei den Verhandlungen spielten diejenigen Fragen eine wichtige Rolle, die in Zusammenhang mit dem Beitritt Österreichs zu irgendeiner Koalition oder irgendeinem Militärbündnis bzw. mit dem Verbot der Einrichtung von Militärbasen standen. Die sowjetische Delegation sah keine Notwendigkeit, diesen Punkt in den Staatsvertrag aufzunehmen. Die sowjetische Regierung begnüge sich damit, dass sich Österreich in einer Deklaration dazu verpflichtet, in den Beziehungen zu anderen Staaten Neutralität zu wahren, in keinerlei Koalition oder Militärbündnis einzutreten und die Einrichtung von Militärbasen fremder Mächte auf seinem Territorium zu verbieten. Eine solche Erklärung „könnte” – wie die sowjetische Delegation bemerkte – „die Unterstützung der vier Großmächte genießen.”

Die Verhandlungsseiten erörterten auch die wirtschaftlichen Fragen, die mit dem Abkommen verbunden waren. Die sowjetische Seite bestätigte ihre auf der Berliner Konferenz 1954 gegebene Zustimmung, dass Österreich für die von der Sowjetunion erhaltenen einstigen deutschen Guthaben die Sowjetunion nicht mit Geld (Dollar) entschädigen solle, sondern mit Warenlieferungen. Die Sowjetunion brachte auch ihre Bereitschaft zum Ausdruck, als stille Entschädigung, die sich in ihrem Eigentum befindliche Schifffahrtsgesellschaft zurückzugeben. Die sowjetische Regierung stimmte auch zu, Österreich – als Gegenleistung für die Lieferung von 10 Millionen Tonnen Rohöl an die Sowjetunion innerhalb der nächsten zehn Jahre – die unter sowjetischer Oberhoheit stehenden Raffinerien und Erdölfelder in Ostösterreich zu überlassen. Die österreichische Regierung müsse allerdings garantieren, dass die rückerstatteten deutschen Güter nicht in das Eigentum von ausländischen natürlichen oder juristischen Personen geraten würden. Sie müsse überdies auch dafür sorgen, dass diejenigen Personen, die in den Unternehmen der einstigen Sowjetischen Vermögensverwaltung in Österreich gearbeitet hätten, keinerlei Benachteiligung erfahren würden.

Während der Moskauer Verhandlungen vereinbarte die sowjetische und die österreichische Delegation auch, ein fünf Jahre geltendes Handelsabkommen zwischen beiden Staaten abzuschließen sowie eine – ebenfalls fünfjährige – Warenverkehrs- und Zahlungsvereinbarung zu unterzeichnen.

Bei den Verhandlungen nahmen beide Seiten auch die übrigen Artikel des Vertragsentwurfes in Augenschein. Gemäß dem Vorschlag der sowjetischen Delegation kamen beide Seiten überein, dass mehrere Artikel veraltert oder überflüssig seien. Diese Artikel betrafen die Einbürgerung der Österreich-Deutschen (Artikel 6), die Kriegsverbrecher (Artikel 11), den Rücktransfer der Archive (Artikel 15), die Aussiedelung von Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft (Artikel 16, 16 b) sowie die österreichische Restitution (Artikel 36).

Die österreichische Delegation warf auch den Gedanken auf, folgende Artikel aus dem Vertrag herauszulassen: Artikel 7 (über die Rechte der slowenischen und kroatischen nationalen Minderheit in Österreich), Artikel 14 (über bilaterale Abkommen), Artikel 16 (über die Umsiedler), Artikel 18 (über das Verbot der Dienstverrichtung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und anderer nazistischer Organisationen im österreichischen Bundesheer), Artikel 21 (über das Verbot der Verwendung einzelner Spezialwaffen), Artikel 38, Absatz 3 (über den Verzicht Österreichs auf Forderungen gegenüber Deutschland), Artikel 39 (über den Verzicht Österreichs auf Forderungen gegenüber den Alliierten) und Artikel 45 (über das österreichische Eigentum auf dem Gebiet der Alliierten und Assoziierten Mächte). Die österreichische Delegation schlug darüber hinaus vor, den Hinweis aus der Präambel des Abkommens zu lösen, dass „Österreich nicht aus der Verantwortung für seine Teilnahme am Krieg entlassen werden” könne.

In Zusammenhang mit diesen Vorschlägen befürchtete die sowjetische Delegation, dass diese als Vorwand dazu dienen könnten, „den Vertragsabschluss mit Österreich zu verzögern. Denn auch andere Staaten… [seien] an diesen Punkten interessiert.” Schließlich traf man aber die Übereinkunft, dass die sowjetische Regierung diesen Veränderungen zustimmen und die österreichische Regierung bei ihren Bemühungen unterstützen werde, weitere Änderungen im Entwurf des österreichischen Staatsvertrags zu erreichen.

Im Zuge der Unterredungen warf Raab auch die Frage der Heimkehr der österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der Sowjetunion auf. Diesbezüglich versprach die sowjetische Seite, dass nach dem Abzug ihrer Truppen kein einziger Kriegsgefangener und keine einzige verhaftete Zivilperson mit österreichischer Staatsbürgerschaft mehr auf dem Territorium der Sowjetunion verbleiben werde.

Am 14. April 1955 traf sich die österreichische Delegation mit Nikita S. Chruschtschow und anderen sowjetischen Führern. Am 15. April fand die Schlusssitzung statt, auf der beide Seiten das Memorandum, das die Verhandlungsergebnisse festhielt, behandelten und unterzeichneten. Im Kommunique über die Ergebnisse der Verhandlungen steht geschrieben, dass beide Seiten „es für notwendig erachten, den Staatsvertrag über die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs, der den nationalen Interessen des österreichischen Volkes und der Sache des Friedens in Europa dient, baldmöglichst zu unterzeichnen.”

 

Der Staatsvertrag 1955

Am 16. April 1955 informierte der österreichische Außenminister Figl die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs über die Ergebnisse der Moskauer Verhandlungen und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass die Westmächte die baldige Weiterführung der Verhandlungen über den österreichischen Staatsvertrag nicht behindern würden.

Am 27./28. April 1955 diskutierte auch das Wiener Parlament die Ergebnisse der Moskauer Verhandlungen. Die Vertreter aller Parteien stellten sich ohne Ausnahme hinter die in Moskau vereinbarten Beschlüsse.

Am 19. April 1955 sandte die sowjetische Regierung eine Note an die drei Westmächte. In dieser empfahl sie, in kürze in Wien eine Konferenz der vier alliierten Außenminister unter Beteiligung der Vertreter Österreichs einzuberufen und über den Staatsvertrag zu diskutieren.

In ihrer Antwortnote schlugen die Regierungen der Westmächte vor, zuerst eine Konferenz der Botschafter abzuhalten.

 

Am 2. Mai 1955 begannen die Verhandlungen der Botschafter und der Repräsentanten Österreichs. Diese erarbeiteten den endgültigen Text des Staatsvertrages unter Berücksichtung der zwischen der Sowjetunion und Österreich ausgehandelten Artikel. Die Konferenz der Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs wurde am 14. Mai 1955 einberufen und der Staatsvertrag am 15. Mai 1955 unterzeichnet.

(Im Mai 2005 wurde das in Russland aufbewahrte Original des Staatsvertrages erstmals auf einer Ausstellung in Österreich der Öffentlichkeit vorgestellt.)

Anmerkungen

1 SSSR – Awstrija. Dokumenti i materiali [UdSSR-Österreich. Dokumente und Materialien], Moskau 1980, S. 14.

2 Ebenda, S. 7.

Begegnungen26_Lengyel

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:151–158.

ZSOLT K. LENGYEL

Hungarologie als interdisziplinäre Regionalwissenschaft

Betrachtungen zu ihren Forschungs- und Lehrziele im Rahmen der deutschsprachigen
Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde*

 

I. Konzeptionelles Selbstverständnis: die Verschiedenartigkeit der Ausgangspunkte, Vorgehensweisen und Zielgebiete

Die „Hungarologie“ wurde im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts inhaltlich und organisatorisch am Ungarischen Institut der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin ausgeprägt. Als graduales und postgraduales Bildungsprogramm sah sie eine fächer- und raumübergreifende wissenschaftliche Ungarnkunde außerhalb Ungarns und mit stetigen Bezügen zu nichtungarischen Themen vor. Interdisziplinarität, Überregionalität und Internationalität gehörten zu ihren wesensbestimmenden Merkmalen. Vor rund dreißig Jahren begann sich jedoch eine betont ungarnbezogene, literatur- und sprachwissenschaftliche sowie ethnographische Auslegung ihrer Konzeption herauszubilden. Heute kennzeichnet sie vor allem Fachvertreter in Ungarn und in den Reihen der ungarischen Minderheiten.

Wenn es folglich richtig ist, für die Hungarologie von einem westlichen und einem ungarländischen bzw. ostmitteleuropäischen Definitionstyp zu sprechen, so vertritt das Ungarische Institut München (UIM) den „westlichen“ – aber nicht ursächlich deshalb, weil es sich im Westen befindet. Bei seiner Gründung 1962 hat es sich in die Tradition der breiten Aufgabenbestimmung gestellt, die es seither zeitgemäß fortzuführen bestrebt ist. Es folgt dem Anspruch, Ungarn als Staat und Nation einerseits immer auch von seinen Nachbarn aus, andererseits nie aus nur einer Bewertungsperspektive zu betrachten. Demnach müssen Ungarn-Studien stets Impulse der Außensicht und der Methodenvielfalt annehmen. Sie müssen aber zugleich in der Lage sein, aus den Quellen auch Innensichten zu entwickeln. Aus diesem konzeptionellen Selbstverständnis folgt die allgemeine Grundaufgabe, unterschiedliche Ausgangspunkte anzusetzen, verschiedene Vorgehensweisen zu wählen und den Blick auf mehrere Zielgebiete zu richten. Mit diesem Gemisch von Anforderungen wappnet sich die Hungarologie dreifach mit einem weiten Horizont, der unerlässlich ist, wenn sie sich als interdisziplinäre Regionalwissenschaft betätigen will.

 

II. Zwei wissenschaftsorganisatorische Ziele: Modernisierung der Hungarologie und Bereicherung der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde

Die Entscheidung, das UIM bereits in seinen Anfängen einer fächer- und raumübergreifenden wissenschaftlichen Ungarnkunde zu verpflichten, stützte sich auf das Hauptargument, dass die universitäre und außeruniversitäre Wissenschaftlichkeit westlich von Ungarn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Regionaldisziplinen Vorrang einräume, deren Zugang zum Reichtum der historischen Überlieferungen nichtslawischer Völker im Osten Europas anlagenbedingt verengt, bisweilen sogar verwehrt sei. Dieser Befund hat seinen Wahrheitsgehalt über die Jahre bewahrt. Die jüngste statistische Erhebung des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker belegt in Deutschland Arbeitsschwerpunkte mit thematisch slawischem bzw. slawistischem Hintergrund. Im außeruniversitären Forschungsbereich ostwissenschaftlicher Ausrichtung werden ungarische Themen zwar vergleichsweise häufiger und eher nichtphilologisch, aber bei weitem nicht kontinuierlich berücksichtigt, und zwar mit Schwergewicht auf politologische Fragestellungen. Mit der Einfügung der breitgefassten Hungarologie in die wissenschaftliche Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde wäre also eine Lücke im deutschlandweiten Forschungs- und Lehrangebot gefüllt.

Ein weiteres Element dieses Angliederungsangebots drängt sich aus den Binnenstrukturen des hier unmittelbar betroffenen Arbeitsgebietes auf. Das Profil der Hungarologie, wie sie von der ungarischen Wissenschaftspolitik der späten 1970er Jahre mit einer bis in unsere Tage andauernden Gültigkeit konzipiert wurde, lässt mit seinen philologisch-ethnographischen Zielsetzungen arbeitsteilige Ausbreitungen auf andere Fächer der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften selten zu. Viele seiner Anhänger begreifen und betreiben die Hungarologie heute noch als Fach der Fremdsprache Ungarisch. Diese einseitige Festbindung der Hungarologie zu lockern, ist deshalb das zweite wissenschaftsorganisatorische Ziel jener Hungarologie, von der hier die Rede ist.

 

III. Beziehungsgeschichtliches Profil eines „Hungaricum“ in Bayern: Motive, Strukturen und Abläufe von innerstaatlichen sowie grenzüberschreitenden Integrationen und Desintegrationen mit ungarischer Beteiligung

Ein mit Forschungs- und Lehrfunktionen ausgestattetes „Hungaricum“ in Bayern hätte also eine doppelte Modernisierungsaufgabe zu bewältigen. Zum einen könnte es mit der nach Sichtweisen, Methoden und Themen vielschichtigen Konzeption die bisher vereinzelten Versuche zur innovativen Selbstgestaltung der Hungarologie fortführen. Zum anderen würde es die deutsche Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde in multidisziplinärer Form und als noch weiter aufzufassende Regionalwissenschaft mitgestalten.

Aus Anlass dieses Vortrags sind die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Initiative mit den Optionen Selbstgestaltung und Mitgestaltung zu beleuchten. Deshalb müssen hier inhaltliche Aspekte im Hinblick auf die beiden Kardinalerwartungen an die Hungarologie, die Interdisziplinarität und die Überregionalität, vertieft werden.

Was vermag verschiedene Disziplinen und unterschiedliche Untersuchungsräume miteinander zu verbinden? Die stabilste Klammer ist die klar formulierte und bearbeitungsfähige Forschungsfrage. Eine solche entspringt für das UIM dem eigenen konzeptionellen Selbstverständnis. Sie bezieht sich auf Motive, Strukturen und Abläufe von innerstaatlichen sowie grenzüberschreitenden Integrationen und Desintegrationen mit ungarischer Beteiligung. Es handelt sich um Beziehungsgeschichten in, mit und um Ungarn von den staatlichen Anfängen, über das mittelalterliche und habsburgerzeitliche Stephansreich bis in die Epoche der Nationalstaaten. Der sachliche Schwerpunkt der Beziehungsgeschichte umfasst auch Literaturen, Künste, Sprachen, Konfessionen, Wirtschaftsräume und Sozialordnungen – Faktoren, die – gemeinsam oder einzeln – mehr oder minder tief in die Kontakte zwischen nationalen Minderheiten und staatsbildenden Mehrheiten hineinwirken. Im Mittelpunkt stehen die deutsch-ungarischen, österreichisch-ungarischen, rumänisch-ungarischen und slawisch-ungarischen Verbindungen auf staatlicher, staatenübergreifender und unterstaatlicher Ebene.

Die Beziehungsgeschichten in, mit und um Ungarn bieten eine Vielzahl von Themen an, in denen der Nutzen von geographisch und disziplinär breit angelegten Untersuchungen augenscheinlich wird. Nachfolgend seien fünf Beispiele skizziert.

1) Siedlungsgeschichte im Árpádenreich. Unerlässlich ist die gemeinsame Auswertung von historischen, archäologischen und linguistischen Quellen für die Aufhellung der Besiedlungsvorgänge im Árpádenreich des 10. bis zum 13. Jahrhundert. Nur in diesem Zusammenhang ist auch die Siedlungsgeschichte benachbarter Großregionen wie der Moldau und der Walachei sowie hierbei etwa die Herkunftsfrage der Moldauer Csángó-Volksgruppe zu klären. Dabei sind neben den gerade erwähnten auch ethnographisch verwertbare Quellen vergleichend heranzuziehen.

2) Romanik und Gotik im Lichte westeuropäischer und byzantinischer Einflüsse. Wie dringend selbst eingefleischte Kunsthistoriker gefordert sind, stilgeschichtliche Periodisierungen im Einklang mit den historischen Quellen vorzunehmen, zeigen Themen der Romanik und Gotik, in denen sich Ungarn nach der Kirchenspaltung im 11. Jahrhundert als eigenwillige Verarbeitungsstätte von Einflüssen aus den beiden christlichen Machtsphären offenbart. Im Mittelalter diente die Kunst immer auch außerkünstlerischen Zwecken. In dieser Eigenschaft nahmen künstlerische Schöpfungen häufig die Authentizität einer historischen Quelle an. Diese beiden Voraussetzungen leiten dazu an, die Methoden der Kunstsoziologie und der historischen Ikonographie anzuwenden, wenn die Frage nach den westlich-lateinischen und den östlich-griechischen Anleihen in der Staats- und Gesellschaftsentwicklung Ungarns geklärt werden soll.

3) Druckerei-, Buch- und Bibliotheksgeschichte im 15.-17. Jahrhundert. Unter einem anderen Aspekt ist in der Binnenperspektive auf das Gebiet des Stephansreiches mit Nebenländern bemerkenswert, dass der größere und ältere Teil des ungarischen druckerei-, buch- und bibliotheksgeschichtlichen Erbes nicht aus dem heutigen Ungarn, sondern aus Oberungarn, also der heutigen Slowakei, sowie aus Siebenbürgen überliefert ist. Einen der beredten Nachweise hierfür liefert die Bibliographie der im Königreich Ungarn von 1473 bis 1600 erschienenen Drucke. Von insgesamt 869 Titeln stammen 403 aus siebenbürgischen Druckereien – die meisten aus Klausenburg und Kronstadt –, und 189 aus solchen, die sich auf dem Gebiet der heutigen Slowakei befanden. Aus diesem Umstand erwächst für die Ungarnforschung die doppelte Herausforderung, den erwähnten Randgebieten eine zentrale Bedeutung beizumessen und sich dabei in die slowakische und rumänische Geschichtsentwicklung hineinleiten zu lassen. 38 von den siebenbürgischen Titeln wurden nämlich in Kronstadt, Weißenburg, Mühlbach, Broos und Hermannstadt in kyrillischen Buchstaben gedruckt, davon 23 in kirchenslawischer, 11 in rumänischer und 4 in kirchenslawisch-rumänischer Sprache. Diese Werke sind also über ihren ungarnkundlichen Aussagewert hinaus Quellen zur rumänischen Bildungs- und Religionsgeschichte. Die als „sprachliche“ und / oder „inhaltliche“ Hungarica einzustufenden oberungarischen Druckerzeugnisse aus Werkstätten in Bartfeld, Kaschau, Leutschau, Tyrnau, Trentschin und Pressburg gelten wiederum der slowakischen Literatur- und Sprachwissenschaft als „territoriale“ Slovacica. Die Untersuchung auch dieses Quellenmaterials weitet den territorialen Bezugsrahmen der ungarischen Kulturgeschichte aus, indem sie die Sicht auf deren äußeren Kontaktsysteme öffnet.

4) Ungarns Stellung im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit ist ein weiteres Thema, das nach einem raumübergreifenden Forschungsansatz verlangt. Durch seine Dreiteilung während der osmanischen Herrschaft im 16.-17. Jahrhundert wuchs Ungarn ein historischer Erfahrungsschatz zu, dessen Untersuchung spezielle Erkenntnisse verheißt in Bezug auf die Verbindungen zwischen dem Osmanischen Reich und den christlichen Staaten. Die Geschichtswissenschaft nähert sich diesem Problem, welches das gesamte Europa mehr oder minder betraf, auf zwei Interpretationswegen. Lange Zeit schien Ungarn nur für jenen Erklärungsansatz ein historisches Beispiel zu sein, der die desintegrativen Momente zwischen den beiden Machtbereichen Habsburg und Hohe Pforte betont. Nicht zuletzt neuere Ergebnisse der ungarischen Historiographie veranlassen dazu, das Bild von der unversöhnlichen Gegnerschaft zwischen christlicher und muslimischer Welt im Karpaten-Donauraum zu nuancieren.

5) Nationale Minderheits- und Mehrheitsgruppen im Donau-Karpatenraum. Das von seinen Anfängen an multiethnische historische Ungarn zerfiel im 20. Jahrhundert auf mehrere Staaten. Somit bieten die historische Entwicklung und die heutige Lage gleichermaßen Anhaltspunkte, das Miteinander oder Nebeneinander, aber auch das Gegeneinander von Minderheits- und Mehrheitsgruppen im Karpaten-Donauraum fallbeispielhaft zu studieren. Reizvollerweise lässt sich für die ungarische Seite sowohl eine Mehrheits- als auch eine Minderheitsperspektive einfangen, in bestimmten Epochen sogar zeitgleich beide Perspektiven. Eine wichtige Folge hiervon ist, dass in diesem gesamteuropäischen Problembereich ungarische Denkarten und Handlungsweisen sowohl in ihren staatszentralistischen als auch regional- beziehungsweise individualautonomistischen Entwicklungsbahnen zu interpretieren sind. Ein zusätzliches Sondermerkmal der ungarischen Rolle in den Interferenzen zwischen nationalen Minderheiten und staatsbildenden Mehrheiten ist, dass sie zum Beispiel auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und in Rumänien in gleich mehreren ethnisch-kulturell mit begründeten Kontaktsystemen greifbar ist (so gegenüber Serben, Kroaten beziehungsweise Rumänen und Deutschen sowie, beinahe überall, Juden und Roma).

 

IV. Zum gegenwärtigen und erstrebenswerten fachlichen Stellenwert in der bayerischen Forschungs- und Hochschullandschaft

Eine hungarologische Konzeption, welche die Ansprüche verschiedener gesellschafts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Fachbereiche zu einem ganzheitlichen Forschungs- und Lehrprogramm vermengt und sich ihrerseits in die Praxis der Regionaldisziplin zu Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa einfügt, ist gegenwärtig nicht nur im deutschen Sprachraum eine Wunschvorstellung. Im außeruniversitären Bereich ist das UIM die einzige Einrichtung in Deutschland, die sie seit langen Jahren pflegt. Was den universitären Bereich speziell in Bayern betrifft, so sprechen die einschlägigen Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten an den neun Standorten Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Eichstätt-Ingolstadt, Erlangen-Nürnberg, München, Passau, Regensburg und Würzburg eine deutliche Sprache: Sie führen im Sommersemester 2004 keine einzige Veranstaltung mit einem ungarischen Thema an; in „ostwissenschaftlicher“ Hinsicht überwiegen, dies als Spiegelbild des akademischen Betriebs in ganz Deutschland, thematisch slawische beziehungsweise slawistische Angebote. Eine Ausnahme bildet die Münchener Finnougristik/Uralistik, die sich allerdings auf literatur- und sprachwissenschaftliche Aufgaben beschränkt und dabei das zentrale Ziel der Sprachvermittlung verfolgt. Ungarisch-Sprachkurse werden noch am Regensburger Europaeum angeboten.

Inhaltliche Gründe sind nicht geeignet, ein derartiges Desinteresse des wissenschaftlichen Bayern an ungarischen Themen beständig zu rechtfertigen. Daher versteht sich dieser Vortrag als ein erstes Kooperationsangebot an Partnerinstitutionen, die an der Beseitigung der eben skizzierten Lücke fachlich – und vielleicht auch hochschulpolitisch – interessiert sein könnten.

 

V. Zusammenfassung

1) Die Hungarologie ist, wenn sie in der hier vorgeschlagenen Art betrieben wird, nicht das, was ihr Name dem oberflächlichen Betrachter womöglich suggeriert. Sie ist nicht hungarozentrisch, weil sie die Fähigkeit abverlangt, die Bezugspunkte der ungarnkundlichen Forschung und Lehre immer wieder zu verlagern. Diese Grundanforderung äußert sich konzeptionell und methodisch in ihrer Interdisziplinarität und Überregionalität, thematisch in ihrem beziehungsgeschichtlichen Profil.

2) Die Empfehlung, verschiedene Untersuchungsmethoden in hungarologischen Forschungsprojekten anzuwenden, zielt nicht auf eine stets lückenlose Anwesenheit aller anzusprechenden Fächer ab. Sie strebt vielmehr an, deren Nebeneinander in der gerade erreichbaren und themenbedingt notwendigen Anzahl durch die Harmonie zu vollenden, die sich aus der jeweiligen sachgerechten Originalität und fachlichen Sorgfalt nährt. Wenn einzelne Beiträge Methoden mehrerer Nachbardisziplinen anzuwenden in der Lage sind, so würde diese Eintrachtsuche auf eine höhere Stufe gelangen.

3) Die Hungarologie ist mit einem ihrer methodisch wesensbestimmenden Merkmale, der Interdisziplinarität, weniger eine einzelne Disziplin als ein Arbeitsgebiet, das auch in der universitären Lehre aus dem Zusammenwirken mehrerer geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Fächer leben sollte. Um Wissenschaftler heranzubilden, die fähig sind, ungarische Themen in ihren sachlich vielschichtigen und internationalen Zusammenhängen zu erfassen, zu erforschen und weiter zu vermitteln, bedarf es der Zusammenarbeit von Vertretern der Geschichtswissenschaften, der Politik-, Rechts- und Wirtschafts-, der Literatur-, Sprach-, Kunst- und Musikwissenschaft sowie der Ethnographie.

4) Es versteht sich von selbst, dass ein einzelnes Universitäts- oder Forschungsinstitut nicht imstande ist, alle diese Arbeitsfelder abzudecken. Bei Interesse der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität an einer Forschungs- und Lehreinheit „Hungaricum“ wären für die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, also für die Modularisierung eines hungarologischen Studienganges in Geschichts- und Politikwissenschaft, Kultur- und Landeskunde, Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Rechts- und Wirtschaftswissenschaft Abstimmungen notwendig zwischen den Lehrstühlen der erwähnten Fachbereiche sowie den außeruniversitären Instituten der Landeshauptstadt, die bereit und in der Lage sind, geistige Ressourcen für ein solches Vorhaben bereitzustellen. Die gegenseitig befruchtende Verbindung des außeruniversitären Forschungs- mit dem universitären Lehrbereich sollte auch eine internationale und eine regionale Dimension erhalten, und zwar durch die zumindest zeitweise Mitwirkung von ausländischen Gastdozenten, Projektmitarbeitern und studentischen Stipendiaten sowie durch wiederkehrende Veranstaltung von Blockseminaren an anderen bayerischen Universitäten.

5) Von den maßgeblichen Aufbauprinzipien des Lehrangebots an einem solchen „Hungaricum“ seien hier zwei hervorgehoben: die Sprachbezogenheit und die Quellennähe. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen mit ungarischen Sprachkursen sowie literatur- und sprachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen dürfte sich das Finnougristische Institut der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität in besonderer Weise dafür eignen, einerseits die Vermittlung der für das Quellen- und Literaturstudium unerlässlichen ungarischen Sprache, andererseits philologische Inhalte in das Hungaricum einzubringen. Was die Quellen- und, damit zusammenhängend, die Literaturversorgung betrifft, so bietet dafür bekanntlich die Bayerische Staatsbibliothek eine der reichhaltigsten Sammlungen in München. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse der seit Jahren mit dem UIM koordinierten Erschließung und Erwerbung von Hungarica sowie des Institutsprojekts „Bavarica in Ungarn. Hungarica in Bayern“ müssen wir aber davon ausgehen, dass bisher weder der Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek noch anderer staatlicher Sammlungen in Bayern, Archive eingeschlossen, in notwendigem Maße auf ungarnkundliche Quellen durchleuchtet worden sind. Nehmen wir den Bereich der nichtstaatlich aufbewahrten Buch- und Handschriftennachlässe hinzu und blicken dabei auf weitere einschlägige oder als einschlägig vermutete Sammlungen in Deutschland, so wird klar, dass die Erschließung und Auswertung von Hungarica im deutschen Sprachraum, vor allem alter Drucke und archivalischer Nachlässe, noch immense Rückstände abzuarbeiten hat. Dazu könnte das „Hungaricum“ mit quellenkundlichen Übungen und Seminaren beitragen.

*

Auf regionalwissenschaftlichen Arbeitsfeldern ist die Versuchung groß, sich nur auf bestimmte Regionen zu konzentrieren. Durch eine solche Verengung der Sicht könnten sich die Forschungsarbeit und der Hochschulunterricht früher oder später als provinziell erweisen. Die Hungarologie ist von ihren Anfängen an gefordert, dieser Versuchung zu widerstehen. Ihre Vertreter müssen jedoch mit dem nötigen Augenmaß erkennen, dass die Ausweitung ihres eigenen fachlichen Wirkungskreises noch keine Gewähr dafür bietet, dass ungarnkundliche Themen ihrerseits in breitere Zusammenhänge des akademischen Betriebs eingefügt werden. Insofern wirft der vorliegende Text die übergeordnete Frage auf, ob die Hungarologie im deutschen Sprachraum bzw. in Bayern ihren Weg alleine oder im Verbund mit weiteren Disziplinen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde weitergehen soll. Das Prinzip Vielfalt wird in beiden Fällen ein wirksames Heilmittel gegen Provinzialismus sein.

 

* Vortrag gehalten auf dem vom Ungarischen Institut München veranstalteten Kolloquium „Hungaricum in Bayern. Entwürfe einer interdisziplinären und überregionalen Forschungs- und Lehrkonzeption für Ungarn-Studien“, München, Internationales Begegnungszentrum der Wissenschaft, 5. Mai 2004, sowie – aktualisiert und in ungarischer Sprache – im Europa Institut, Budapest, 12. April 2005. Die mit Quellen- und Literaturhinweisen versehene Langfassung ist in ungarischer Sprache erschienen: A hungarológia mint interdiszciplináris és regionális tudomány. Korszerűsítésének kutatás- és oktatásügyi szempontjai a német nyelvű Kelet-, Kelet-Közép- és Délkelet-Európa-tanulmányok keretében. In: Századok 139 (2005) 1011-1024.

Begegnungen26_Laurenroth

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:159–170.

HERBERT LAUENROTH

Flucht-t-räume Europas – Ansichten eines Kontinents1

für Eva

 

„Last and lost” lautet der – bezeichnenderweise – englische Titel einer jüngsten Veröffentlichung: „Ein Atlas des verschwindenden Europas”2. Dieser aufwendig gestaltete Bildband beschwört in seinen Photos und Texten die – immer auch melancholisch eingefärbten – Ansichten eines Kontinents, eines terrain vague, das in seiner eigentümlich faszinierenden Anmutung von Nostalgie und Nachgeschichte nunmehr von einer erhabenen und in dieser Erhabenheit langsam verlöschenden Gegenwart kündet.

Nicht zufällig wird also in der Sprache der Globalisierung die Signatur „letzter” Dinge zur Ahnung ihrer unwiderruflichen Verlorenheit. Dieser Zusammenklang von „last” und „lost” legt eine ähnlich lautmalerische Frage nahe: Why is the measure of love loss? So beginnt eine Erzählung der schottischen Autorin Jeanette Winterson3, die in ihrer vollendeten Paradoxie – von „love” und „loss”, also: „Lust” und „Verlust” – das Maß, die Maßlosigkeit einer Liebe beschreibt, eine vielleicht in dieser Paradoxie gerade auch „europäisch” anmutende Liebe, eine Liebe zu und in Europa, eine Liebe, die aus der Bereitschaft lebt, „in den Abstand einzuwilligen, den Abstand anzubeten – zwischen einem selbst und dem, was man liebt”4, um aus dieser intimate distance, dieser unüberwindlichen Nähe heraus dieses Letzte (last) auch zu bewahren (to last):

Die Bilder des deutschen Photographen Manfred Hamm verdeutlichen in etwa, was mit dieser eigentümlichen Vorgabe gemeint ist: Sie zeigen „antike Stätten von morgen”: Fabrikruinen, halbverfallene Industrieanlagen, nunmehr brachliegende Areale eines buchstäblich er-schöpften Fortschrittsdenkens und seiner ideologischen Narrative. Hamm zeigt, so einer seiner Kritiker5, „anteilnehmend den Niedergang der Architektur und die Rückeroberung durch die Natur. Viele dieser antiken Stätten von morgen werden bald nicht mehr existieren. Ihre Erhabenheit ist dann wohl nur noch auf den Fotografien zu erleben.”

Diese Liebe (die immer auch eine Infragestellung ihrer selbst bedeutet) eröffnet andere Perspektiven und trägt in dieser Selbstreflexion vielleicht auch zu dem bei, was man in den Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften die „Rückkehr des spatial turn6 nennt: „Das System, das zerfällt, wird zum Raum”, formuliert der Historiker Karl Schlögel7 und macht damit deutlich, worum es bei einer Lektüre dieser Liebe, ihrer eigentümlich abseitigen, in gewisser Weise auch verlorenen Schauplätze gehen kann: um die Entschlossenheit, sich in jenen Zwischenzonen zu verirren und verwitterte, überwucherte Trassierungen anderer, bislang unerzählter Geschichten, neue Kartographien zu (er-)finden, die sie und ihre immer bedrohten Welten zur Sprache bringen oder ins Bild setzen.

Flucht-t-räume: In diesem heillos überdeterminierten Titel nimmt das Thema der nachfolgenden Überlegungen Gestalt an: Europa, namentlich „Mitteleuropa”, ist ein Kontinent, der auf vielfältige Weise, aus den unterschiedlichsten Beweggründen durchquert worden ist. Dabei klingen die drei Begriffe zusammen: Flucht, Traum, Raum. Der europäische Erfahrungshorizont zeigt sich in den Prozessen der Vertreibung, Migration, des Exils, vielfältigen Fluchtlinien also: Dabei verwinden sich „Traum” und „Raum” und geben sich als Phantasma einer Ankunft zu erkennen, einer Beheimatung im Zukünftigen, der oft genug der traumatische Verlust einer ursprünglichen Geborgenheit entspricht: Heim-Suchungen Europas.

Das verweist auf die exemplarische Bedeutung der beiden großen, kulturgeschichtlich paradigmatischen Erfahrungen, die – zwischen dem Motiv einer Rückkehr bei Odysseus und dem unbedingten Aufbruch Abrahams – zu einer unhintergehbaren, doppelprofilierten Reflexionsfigur verschmelzen. Diese in sich geteilte, stillgestellte oder verhaltene8 Bewegung, ihr unentscheidbares Ethos zwischen Bewahrung und Verausgabung, bezieht die jüdische Parabel auf die zyklische Bahn des griechischen Denkens, die James Joyce in seinem „Ulysses” unnachahmlich lakonisch beschrieb als inwendigen, also die Gegensätze ineinander spiegelnden Flucht-t-raum eines europäischen Denkens, der sich in der rhetorischen Figur eines Chiasmus zu lesen gibt und die Begegnung der Verschiedenen ermöglicht: Jewgreek is greekjew. Extremes meet.9

Dieser Dynamik sind auch die nachfolgenden Lektüren filmischer und literarischer Beispiele verpflichtet.

 

„...als flöge er in die Unvergänglichkeit einer alten Postkarte
(Arthur Phillips, „Prag”)

„Prag”, der Roman des US-amerikanischen Autors Arthur Phillips10, zeigt die Lebensentwürfe von fünf „young Americans” im Budapest des Jahres 1990. Von bitterer, zuweilen melancholischer Prägung ist hier das Thema der Flucht (in ihrer Spielart aus Eskapismus, Abenteuerlust, und Neugier) dieser sogenannten „Expats” in einen neuen verheißungsvollen Kulturraum Ostmitteleuropas.

„Aber die Fahrten bergauf wurden immer großartiger. Und als die Sonne am frühen Abend allmählich hinter der Seilbahn verschwand und das Panorama von einem blasser werdenden, vom Westen kommenden, indirekten Licht beleuchtet wurde, das den Gebäuden deutlicher eine dritte Dimension verlieh und sie sich wie ein schimmerndes Basisrelief von dem silbern-blau-grünen Himmel abhoben, wurden sie fast unerträglich schön, und Mark spürte mehrfach, wie sich seine Augen voll Dankbarkeit mit Tränen füllten.” (p. 185)

Die Szene zeigt eine der Figuren, Mark Payton, als ebenso erhaben wie komisch posierenden, in den Anblick des postkartenklischierten Leitmotivs der untergehenden Sonne versunkenen Beobachter; Schauplatz ist die Seilbahn auf dem Budaer Berg, einem touristisch stark frequentierten Aussichtspunkt. Aus dieser pathetischen Brechung einer banalen Wirklichkeit bezieht die Passage ihre besondere Ironie:

„Mark empfand gleichzeitig vollkommenen Trost und Verlust, als flöge er in die Unvergänglichkeit einer alten Postkarte. ... Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit verschmolzen, wurden für einen Moment miteinander identisch. ... Während der nächsten Wochen würden die hundert Photos, auf denen er zu sehen war, in Fotoläden auf dem ganzen Erdenrund zur Welt kommen. ... Wer würde das Bild entwickeln, das Bild vom vollkommenen Frieden und Glück, auf dem er, völlig eins mit sich, am richtigen Ort auf Erden ist, in dem Moment der Vollkommenheit.... In Schweden in Stockholm – auf dem Schnappschuss eines jungen Paares? In Dubuque, Iowa? In Tyson´s Corner, Virginia?” (p. 186f.)

Mark also wird an jenem Tag beständig mitphotographiert (als Hintergrund verschiedener Paare und touristisch Posierender) und gelangt auf diese Weise – als Abziehbild – in alle Welt; die „Aura”, die Entgrenzungssehnsucht dieses „Historikers der Nostalgie”, wird zur Erfahrung einer photographisch-grenzüberschreitenden „Reproduktion”. „Aura” und „Reproduktion”, die Erfahrung des Unsichtbaren, eines metaphysischen Zeitbezugs, und das Medium einer nahezu vollständigen Sichtbarkeit, Marks späteres Verschwinden und die photographischen Spuren seiner Gegenwart, überschreiten sich auf das Motiv einer„Bilder-Flucht” hin, das den gesamten Roman durchzieht in den unentwegten Verdoppelungen von Wahrheit und Verstellung, Abbild und Wirklichkeit, Ungarn und Amerika.

Deutlich wird das am Charakter von Charles (Károly) Gabor, dem Emigrantensohn auf seiner gleich zweifach konnotierten Reise zurück in die Zukunft: Sie bezeichnet die Rückkehr in eine längst fremd gewordene Heimat, konnotiert zugleich aber auch – in Gabors Outfit – die „Flucht” der amerikanischen Künstler und Intellektuellen in das Paris der 20er Jahre dieses ausgehenden 20. Jahrhunderts. Eine vergleichbare Ambivalenz ist der amerikanischen Performance-Künstlerin Nicky eigen, deren enigmatisches „M.” im Namen gleichfalls auf polnische Ursprünge und eine maskuline Ausstrahlung verweist, mit der sie sowohl John als auch Emily, die zum Scheitern verurteilten Protagonisten eines romantischen Liebesideals, sexuell an sich bindet und die sich auf geradezu obszöne Weise in ihren Installationen in Szene setzt. Schließlich erscheint das titelgebende „Prag”, das als – ebenso „schwebende” wie von ihrer „Unerreichbarkeit” bedrohte – „Vision” am Ende den vermeintlichen Abschluss als Ausblick oder „eigentlichen”, vom Titel des Romans versprochenen Anfang bedeutet, als unendlich sich weiterschreibende Bewegung oder Genese des Textes, als Pseudonym eines leidenschaftlich betriebenen „Wahrheitsspiels”, mit dem Phillips´ grandiose Fiktion anhebt; eine Fiktion, die ihren Anfang im Ende liest und deren Anfänge immer schon vom Wissen um dieses – vielleicht böse – Ende, sein „Anderswo” überschattet sind.

Dem streng ritualisierten Zusammentreffen der „young Americans” am Abend des 30. Mai 1990 an den Tischen des Café Gerbeaud, der komfortablen Enklave der Fremden und sich Fremdbleibenden, mit dem „Prag” – in „Budapest” – beginnt, dem Blickfeld eines Sehens und Gesehen-Werdens, dem Gesichtskreis der einzelnen Protagonisten, von der aus der Roman die beeindruckende Fülle und Technik seiner Perspektiven – im Wechselspiel von Stimmungen, Sprach- und Stilebenenen, filmischen „close-ups” und Totalen, Parallelmontagen – als Bewussteinsfülle des Großstädtischen freisetzt, erscheint „Prag” gewissermaßen als das – letztlich identitätsstiftende – „Alibi”, der „andere Schauplatz” einer Fiktion, die aus der sogenannten „Wirklichkeit” und ihren Großen Rahmenerzählungen flieht, deren kausallogischen und auf ein Telos hin orientierten Zeit- und Verlaufsmodellen sie eine unentwegte ekstatische Hervorbringung der Zeit („Gegenwart-Zukunft, Gegenwart-Vergangenheit, Vergangenheit-Zukunft”) gegenüberstellt. Daraus folgt eine Geschichte, die nunmehr ihrer – ebenso hedonistischen wie panischen – Flucht-Line folgt. Nicht zufällig führt diese nach „Prag”, auf das Bild einer Stadt zu, die ebenso real wie unwirklich ist. Eine Stadt, der das Attribut des „Kafkaesken” anhaftet. Eine Stadt, die sich – etwa im Oeuvre des Prager Dichters – als Schauplatz vielfacher Fluchten und Zu-Fluchten zeigt; eine Stadt der Heimatlosen und Entwurzelten, eine Stadt dunkel verschatteter Heim-Suchungen.

 

Text-Fluchten eines Autors
(„Kafka” von Steven Soderbergh, USA 1991)

„...als flöge er in die Unvergänglichkeit einer alten Postkarte”, hieß es bei Mark Paytons nostalgisch verklärter Vision in Phillips´ Roman. So beginnt „Kafka” – der 1990 entstandene Film des Amerikaners Steven Soderbergh – zunächst mit einer „Flucht”, die auf ein postkartenklischiertes Stadtbild (als Panoramaschwenk auf Karlsbrücke und Hradzin) zuführt.

Die filmspezifischen Konnotationen dieser Eröffnungssequenz sind unübersehbar: Die Wahl des s/w-Materials erinnert an die expressionistischen Vor-Bilder des Kinos; der überdimensionale bedrohliche Schatten des geheimnisvollen Fremden an die Epiphanie des Dritten Mannes, dessen reale Existenz buchstäblich im Schatten seines Bildes bleibt. Dazu passt, dass der Name des Flüchtigen, der ja in einer eigentümlichen Verkehrung der Flucht- oder Verlaufsrichtung genau und von seiner eigenen panischen Rückschau voran getrieben in sein Verderben rennt, „Eduard Raban” lautet; ein Name, der aus einer der Erzählungen Kafkas (seinen „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Land”) bekannt ist; auch hier wird das Pseudonym, die erborgte Identität, die literarische als „undercover”-Existenz im Bereich der sogenannten „Wirklichkeit” oder doch wenigstens einer anderen (nämlich filmischen) story, zur Bezeichnung eines flüchtigen Subjekts, das jeder Festlegung, jeder Einschränkung zu entgehen sucht. Doch wird schließlich an dieser Sequenz eine Tendenz (eine dramaturgische „Fluchtlinie”) erkennbar, die vom sogenannten „Bewegungsbild”, einer sensomotorisch voran getriebenen Handlungslogik zum sogenannten „Zeit-Bild”11 läuft: der abschließenden Einstellung, dem an die erste Aufblende erinnernden „establishing shot”, da die Schreie des verendenden Opfers (aus dem filmischen „Off”) in der erstarrten, eigentümlich richtungslosen Geste der steinernen Brückenfigur verhallen; ein Bild, das von beträchtlicher Paradoxie ist: als Bezeichnung des Verlöschenden, Einschreibung des Unsichtbaren in die stumme, ohnmächtige Zeugenschaft des Sichtbaren, das von nichts anderem kündet, auf nichts anderes verweist als auf das Schauspiel einer eigentümlich gebrochenen Gegenwart: im Zwischenraum von Laut und Bild, als veritable „image acoustique” (wie Saussure die Zeichen nennt).

Soderberghs filmische Parabel kulminiert in der Sequenz, die dem Titelhelden, Kafka, Zugang zum geheimnisumwitterten „Schloss” verschafft. Der Aufstieg zum Zentrum der Macht wird zur veritablen Dekonstruktion: Der Weg nach oben – auch das eine en passant inszenierte, spannungssteigernde Initiation des Protagonisten – führt zunächst durch die Unterwelt, den „Abstieg” in die verborgenen Zugänge, die hier dreifach verschlüsselt sind als Einschreibungen auf dem jüdischen Friedhof in Prag, der im Herzen einer (mittel-) europäischen Kultur verdrängte Wirklichkeiten evoziert: das Jude- als Anders-Sein, die jüdischen Schriftzeichen, die immer noch zu entziffern sind und das Grab als U-topie, als Nicht-Ort, nicht als christlicher Topos der Auferstehung, sondern als ironisch-subversiver Durchstoß nach Innen, eben auf das unterirdische Labyrinth der Gänge und Katakomben hin, das jeden Aufstieg zu einer wie auch immer gearteten Höhe oder Idealität unmöglich erscheinen lässt.

Soderbergh zeigt den Innenraum des Schlosses als Kontrasterfahrung des Farbmaterials zu den s/w-Bildern. Die Röte des Rots von Technicolor knüpft an die christliche Bildsprache an; die Farbgebung erinnert an die Passion – als in der Menschwerdung Gottes geoffenbarte Wahrheit des Sichtbaren, die hier allerdings zur letzten – ebenso dogmatisch gesetzten – Wahrheit einer „Biopolitik”12 wird.

Als durchaus kongeniale Umsetzung der Macht-Metapher bei Kafka setzt Soderbergh das allgegenwärtige panoptische Dispositiv in Szene, die selbstbezügliche Instanz eines maßlosen, anonymen Blickes. Die Glaskuppel, die den Innenraum des Schlosses überwölbt, wird so zum Ausdruck einer Überwachungsarchitektur, für die eine unheilige Dreifaltigkeit aus Medizin, Polizei und Bürokratie in ihrem totalitären Herrschaftsanspruch über eine zunehmend entmachtete, „gesichtslose Masse” steht.

Der Akt der Rebellion, der ultimativen Fluchtbewegung aus dem Umkreis der Überwachung besteht im Sturz des menschlichen Körpers durch diese gläserne Oberfläche, ihrem „éclatement”, der Fragmentierung oder Zersplitterung ihrer perspektivischen Ordnung. Dem symbolischen Widerstand gegen eine alles verschlingende und erfassende Totalität des Sichtbaren, das hier im gottgleichen Blick bzw. seinem technischen Äquivalent des „Großen Anderen” als „Big Br/Other” (Mikroskop, Kamera) die Begründungen einer metaphysischen Ordnung als wesensgleich mit jenen einer säkularisierten Moderne erweist.

Als „frozen image” oder „gefrorenes” Filmbild ließe sich zudem eine Besonderheit deutlich machen, die sich erst dem „zweiten”, dem analytischen Blick erschließt: Im Sprung durch den Spiegel, dem Durchbrechen der Oberfläche wird wiederum eine „Fall-Höhe” sichtbar, die bei eingehenderer Betrachtung, einer Betrachtung also, die sich zunächst einmal der Sogwirkung des hier zu seiner höchsten Form getriebenen „Bewegungsbildes” entzieht, eine eigentümliche – erst im Standbild erkennbare – Poetizität der Verwandlung erkennbar werden lässt: eine Metamorphose hin zu einer anderen Form. Eine nicht zuletzt an Gregor Samsas Mutation zum Insekt gemahnende, die hier allerdings unvergleichlich poetischer, nämlich als Flügelwesen, ausfällt – unentscheidbar schön im Zwischen eines, seines Steigens und Fallens, zwischen Traum und Trauma, Gnade und Schwerkraft. Dieses „Zeit-Bild” weiß um die eigentümliche, ambivalente Schönheit einer „Fluchtbewegung”, die sich nunmehr – als gewissermaßen reiner, absoluter Augen-Blick – in ihrem Entzug zur Erscheinung bringt.

Es endet – schlecht. Die letzte Einstellung zeigt Kafka in gewohntem Schwarz-Weiss bei einer gleichfalls gewohnten Tätigkeit: dem Schreiben. Im off, der unsichtbaren Erzähl- und inneren Stimme, hören wir Auszüge aus einem resignativen „Brief an den Vater”, der mit der wütenden Abrechnung des realen Kafkas nichts mehr zu tun hat.

Der Kunstwissenschaftler O. K. Werckmeister hat in seinem 1997 erschienenen „Linke Ikonen”13 gegen Soderberghs vermeintliche Lesart eines unpolitischen Kafkas polemisiert und sich dabei auf die „Macht der Ohnmächtigen”, das politische „engagement” von Intellektuellen wie Vaclav Havel berufen, das 1990, also zeit-gleich mit der Entstehung des Films ein neues, zukunftsweisendes Paradigma für die mitteleuropäischen Kultur bereit gestellt hätte. Werckmeisters Einwände können allerdings keine besondere Pertinenz beanspruchen: Soderberghs Bildsprache, das nuancierte Wechselspiel von Farbe und Schwarz-Weiß, ihre materialästhetische Reduktion auf den inneren Fluchtpunkt des Films, findet in dieser einseitigen Lesart kaum Beachtung, bleibt ihr auf geradezu symptomatische Weise fremd.

Kafka hustet – Blut. Er ist von einer inneren Erfahrung buchstäblich übermannt. Das „Blut” bezeichnet in der immer zweifach codierten – inneren wie äußeren – Wirklichkeit, die der Film zu lesen, zu sehen gibt, zum einen das Blutrot einer metaphysischen Moderne, die den Menschen nach ihrem Bild zu formen sucht und zum Opfer ihres allgegenwärtigen Blickes werden lässt, zum anderen aber auch das Tintenschwarze jenes Klecks, mit dem Kafka bei seinem Eindringen in das Schloss einen Orientierungspunkt, eine Markierung der Schrift gesetzt hat. In dieser letzten Einstellung nun, da der Blick des Schreibenden ins Leere geht, da sich eine schemenhafte Außenwelt, die Konturen und Dächer der Stadt auf den Fensterscheiben des Zimmers spiegeln und mit dem Intérieur zusammen fließen, kündet der tintenschwarze Auswurf von der verletzten, blutenden Innenwirklichkeit, zirkuliert das Blut/die Tinte im Körper des Schreibenden/den Verkörperungen seiner Schrift, wird der Autor zum Blut-Zeugen einer verborgenen, unerzählbaren Geschichte, die ihn gleichwohl – von innen her – übersteigt. In dieser Äußerlichkeit einer filmischen und literarischen, schrift-spezifischen Repräsentation teilt der Schreibende seine inneren Albträume und Erfahrungen mit, bleibt er vor allem sich selbst verpflichtet und damit wahrhaftig: ein wohl auf immer Unbehauster, ein Flüchtiger, Zu-Flucht-Suchender (in) der Sprache und ihrer Bilder, deren immer auch un-heimlichen Nähe er sich überlässt.

 

Jenseits von Eden, diesseits von Martin
(„Záhrada” von Martin Sulik, SK 1995)

Der slowakische Film „Záhrada”, „Der Garten” ist in vielerlei Hinsicht ein ländlich-naturhafter Gegenentwurf zu Soderberghs labyrinthisch-albtraumhaften Flucht-Bildern der tschechischen Metropole. Der slowakische Regisseur Martin Sulik knüpft in seiner Erzählhaltung (eine Off-Stimme rezitiert Kapitelüberschriften, die das Leben seines Helden, des Taugenichts und Naturburschen Jakub gewissermaßen episieren) an die Konventionen des Entwicklungs- und Bildungsromans an. Ebenso konventionell und lapidar ist die Wahl des Themas: der Topos des Paradies-Gartens. Die heiter-ironische Gangart des Films paraphrasierend könnte man sagen: Dieser Garten liegt jenseits von Eden und diesseits von Martin, dem Ort in der Mittelslowakei, an dem „Záhrada” 1995 entstanden ist.

Es geht um die Lesbarkeit der Welt. Das unmittelbar Sich-Darbietende, die vermeintliche Evidenz und Offensichtlichkeit (die im Schlussbild zur Epiphanie einer naturmystischen Wahrheit wird) bedarf einer klugen, immer mittelbaren, sich und ihren Gegenstand reflektierenden Betrachtung. Damit die Welt zu sich kommt, sich zeigen, entziffert, gerettet werden kann, muss sie im Spiegel, als Abbild ihrer selbst wahrgenommen, betrachtet und in der Betrachtung gewissermaßen berührt, gelesen werden. Die Inschrift der Welt, eines vergangenen Lebens und der ihm buchstäblich eingeschriebenen Erfahrung muss zur „Allegorie des Lesens” geraten, damit das erkenntnisstiftende Wunder des Lesens zu dem des Lebens werden kann. Helena verkörpert diese Paradoxie der Spiegelschrift. Sie schreibt gegen den Strich. Kunstvoll verrätselt, ausschweifend, arabesk und hieroglyph. Sie kann nicht lesen, aber sie kann schreiben. Helena ist ein unschuldiges Kind, eine begehrenswerte Frau, deren Körper-Sprache es zu entschlüsseln gilt. Jakub begehrt Helena, weil er nach der Wahrheit der Schrift, ihrer Schrift und der des alten handschriftlichen Buches sucht, seiner Welt-Deutung als Verschränkung von Makro- und Mikrokosmos.

Im Schlussbild ereignet sich das Wunder ganz beiläufig. Das Offensichtliche wird – endlich – zur Offenbarung. Das Unsichtbare spiegelt sich im Sichtbaren. Keine pädagogische Provinz ist anmutiger, unbefangener. Die Dinge finden in der Ordnung des Paradies-Gartens zueinander. Und Helena – schwebt.

 

Vom Über-Leben der Bilder
(„Die zwei Leben der Veronika”, von Krzysztof Kieslowski, PL/F, 1990)

Das Thema des Spiegels, der Spiegelung, das Motiv des Doppelgängers spielt auch in der nachfolgenden, letzten Geschichte eine entscheidende Rolle. Auf dem Marktplatz in Krakau, dem Rynek Glówny, öffnet sich das chaotische, von Frontstellungen und Fluchtbewegungen durchquerte Szenarium einer politischen Auseinandersetzung (zwischen Anhängern der „Solidarnosc” und den Sicherheitskräften) im Wirbel einer Kamerafahrt auf das Drama einer Reflexion: einer Wiedererkennung jener anderen, die dem eigenen Erscheinungsbild vollkommen gleicht. Es kommt nicht zur Begegnung zwischen der polnischen Sängerin Weronika und ihrer Doppelgängerin, der französischen Musiklehrerin Véronique aus Clermont-Ferrand; aber in dieser virtuos entfalteten Kamerabewegung wird der gleichermaßen verwunderte wie verwundete Blick der jungen Polin bereits erwidert; aus dieser Ver-Gegnung, dieser nicht scheiternden, aber zeitversetzten, buchstäblich reflexiven, also immer erst nachträglichen Erkenntnis, die eine bloße, in alltägliche Kontingenz verstrickte Episode zur lebensgeschichtlich nachhaltigen Erfahrung werden lässt, bezieht Kieslowskis mitteleuropäisches Melodram seine eindringliche Bildsprache: Später erst nämlich entdeckt Véronique, in einem Hotelzimmer in der Nähe des Pariser Gare Saint-Lazare, auf den entwickelten Photos jener touristischen Reise nach Krakau ihre Doppelgängerin, wird sie – in großer Trauer und Leidenschaftlichkeit – diesen ihren Blick erkennen, den uns der Film immer schon gezeigt hat und den sie nunmehr als ihre eigene Wahrnehmung identifiziert.

In dreifacher Weise wird das Auge der Kamera bei Kieslowski zum Träger eines Blickes, der sich – vollkommen frei von jeder eindeutigen Zuschreibung einer Perspektive – zwischen den Protagonisten, ihren Blickrichtungen, den verschiedenen Schauplätzen und Situationen bewegt. Im Schlüsselmoment der filmischen Narration, dem Tod der polnischen Sängerin und der Fokussierung auf die in Frankreich lebende junge Frau, in dem Übergang von eros und thanatos, Sexualität und Tod, bezeichnet die Kamera eine dreifache Flucht-Bewegung: als klassische Illustration einer metaphysischen Vorstellung der Seele, die den Körper verlässt; als extreme Untersicht aus dem Grab, aus der Perspektive der Toten, und schließlich – in der Ab- und Überblendung – als anamorphotische, verfremdete Sicht auf Véroniques nackten Körper. Während des Aktes blickt sie ins Leere, und dieser Anblick gibt der Szene einer körperlichen Entblößung eine verborgene Wahrheit der Intuition, eines sich – durchaus auch im biblischen Sinn dieses Wortes – „Erkannt-Wissens”, ein Berührt-Werden, das diesem Blick, dem Blick der anderen innewohnt und die Intensität der sexuellen Empfindung übersteigt.

Im Rahmen einer grandiosen „mise-en-abyme”, der Vorstellung des Puppenspielers an jener Schule, an der Véronique unterrichtet, geht es schließlich um die zweifache Inszenierung eines filmischen Fluchtraumes:

Zum einen findet sich auf der Ebene des Puppenspiels jene Metamorphose, die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt, als Spiegelung eines Doppelgänger-Motivs, das hier seine über-lebens-geschichtliche Bedeutung gewinnt: die Parabel einer sich fortschreibenden Geschichte, die einen Zuwachs an lebenspraktischem Wissen verzeichnet, eine Lernerfahrung, eine Gegenwart, die von intuitiven Empfindungen einer, ihrer Geschichte geprägt ist. In dieser Bezugnahme auf das Modell einer Metamorphose lässt sich durchaus auch auf die realen kulturellen und gesellschaftlichen Leitbilder, die politisch-philosophischen Profile einer „europäischen Identität”, gerade im Zusammenspiel gegenläufiger, ostwestlicher Erfahrungen abheben14.

Diese Illusion der frontalen Darstellung – die auf der Grundeinheit des dramatischen Raumes, seiner von Bühne und Saal vorgegebenen Blickrichtung basiert – wird im „regard oblique” aufgebrochen, mit dem Véronique unvermittelt den Puppenspieler in einem seitlich von der Bühne angebrachten Spiegel erblickt, der für das Publikum nicht sichtbar ist. Kieslowski schreibt hier den zuvor von uns beschriebenen filmischen – ebenso ort- wie körperlosen – Blick in diese Szene des Schauspiels ein: Der Spiegel treibt hier eine „Illusion in der Illusion”, bewirkt eine „Ent-Täuschung”, nicht im Sinne einer Ernüchterung, sondern als unentscheidbare Wirklichkeit des anderen, in dessen Abbild oder abwesende Anwesenheit – der Spiegel zeigt Alexandre da, wo er nicht ist – man sich verliebt: als Kunstfigur der Reflexion.

Wie Véronique, die damit an die verborgene Bedeutung ihres christlichen Eigennamens und das Genus einer christlichen Bildsprache erinnert: VERONICA als VERA ICONA; also als „wahre Ikone”, und die „Wahrheit der Ikone” gründet in ihrer unaufhebbaren „Antinomie” oder „Entgegensetzung” von „Sichtbarem” und „Unsichtbarem”, die sie vergegenwärtigt.15 In der christlichen Überlieferung ist Veronika die Heilige des Schweißtuches, jenes Abdrucks, der das Antlitz Christi zeigt. Die Szene im Film endet mit dem eher zufälligen Blick, den Alexandre seinerseits in den Spiegel wirft und damit des Blickes (und der Liebe) der indiskreten Zuschauerin innewird.

Diese Geschichte kennt – ähnlich wie bei Soderberghs „Kafka”-Adaption – keinen Autor, darin gründet ihre Wahrheit. Der Autor oder Puppenspieler hat keine Macht über die Marionetten, die Geschöpfe, die er nach seinem Bild zu prägen sucht. Wenn Véronique in einer der letzten Einstellungen des Films die Wohnung des Puppenspielers verlässt, wird sie vermutlich nie mehr dorthin zurückkehren. Denn das Subversive dieser vermeintlich so harmlosen Allegorie liegt eben darin, dass auch der gottgleiche Autor immer schon als Abbild erkannt und im Anblick eines Spiegels geliebt wurde, als Reflex einer Sichtbarkeit, die ihn übersteigt bzw. im Sinne dieser hier ästhetischen Lesart des Films als Doppelgänger seiner selbst ausweist.

Im Rekurs auf die Marionetten, die unbelebten, gleichwohl schwerelosen Kunstfiguren, greift Kieslowski auf eine ästhetische Formalisierung zurück, wie sie etwa im Kontext einer mitteleuropäischen Tradition, in Heinrich von Kleists klassischem Text „Über das Marionettentheater” entwickelt wurde: Die Marionette erscheint als letztes Glied in einem absteigenden Prozess einer fortschreitenden Säkularisierung, die nach der Entmachtung des Schöpfer-Gottes, der Parabel einer fortschreitenden Verdunkelung der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit der Geschöpfe, nunmehr in der von Trauer und Schönheit umflorten Sehnsucht der Kunstfiguren, Maschinenmenschen oder Marionetten nach eben diesem unvordenklichen inneren „Flucht-Raum” ist. Somit ist die Wahl dieses Motivs keine rein ästhetizistische. Sie sucht angesichts einer von dramatischen Umwälzungen heimgesuchten (europäischen) Geschichte nach einer „Kontinuität der Form”, einer sich in ihrem unhintergehbaren Abbild widerspiegelnden „Anmut”, der formalen bzw. dem Gedanken der Form, ihrer mitunter als natürlich empfundenen Künstlichkeit innewohnenden „Anmut”, eine „Anmut”, die sich dem Riss zwischen Leben und Tod, Pathos und Leichtigkeit, Aufstieg und Fall, nicht aussetzt.

So über-lebt gewissermaßen die polnische Weronika im/als Bild ihrer selbst, das Véronique buchstäblich ver-körpert. In einer klugen Lektüre des kleistischen Texts, der seinerseits als „Doppelgänger” des Films gelten kann, resümiert der belgische Literaturwissenschaftler Paul de Man: „Mehr als Rilkes Engel bewohnt die Marionette gleichzeitig beide Seiten der Grenze, die jene voneinander trennt.”16

In einem brillanten Text hat der slowenische Philosoph Slavoj Zizek – gerade im Hinblick auf die Filme Kieslowskis, namentlich „Die zwei Leben der Veronika” – von dieser Grenze, diesem Riss gesprochen und ihn – im Licht einer filmtheoretischen Notion – als „Naht” (suture) interpretiert17. Dieser Begriff meint die im Laufe unserer Ausführungen schon mehrfach ins Spiel gebrachte Erfahrung des „Erblickt-Werdens”, Grundfigur einer filmischen Dramaturgie von „Schuss” und „Gegenschuss”. Im sogenannten „Nähen” dieses Risses soll der Blick des Anderen identifizierbar werden, der andernfalls – als gleichermaßen ort- wie körperloser, despotischer wie metaphysischer Blick – in seiner perspektivischen Absolutheit traumatisch bleibt und vor dem es zu flüchten gilt.

Im Anblick des Anderen nun wird dieser „fehlende”, keiner Identifikation zugängliche Blick – die Metapher des Auges in „Kafka” oder die Metaphysik der Kamerabewegung in „Die zwei Leben der Veronika” – „vernäht” und als „Abbild des Unsichtbaren”, dieser bei Kieslowski elementaren Konnotation einer – titelgebenden – christlichen Ikonographie, zum Bestand- oder Bruch-Teil der eigenen Lebensgeschichte. So konstituiert diese Naht, dieser die verschiedenen Ebenen der filmischen Textur durchziehende Riss eine fragile, flüchtige Identität, die dem – etwa auf Italienisch merkwürdig unübersetzbaren – Begriff „Mitteleuropa”, seinen inneren wie äußeren Grenzen, ihren Verschiebungen und vielfach gebrochenen Gegenwarten nach 1989, die Silhouette einer, ihrer Sehnsucht aufprägt: als Verheißung, schließlich doch noch heimisch zu werden, bei sich anzukommen – in der Fremdheit des Eigenen, den gleichermaßen abgründigen wie bergenden Flucht-t-Räumen Europas.

 

Anmerkungen

1 Es handelt sich bei dem nachfolgenden Text um die leicht überarbeitete Fassung meines Vortrages vom 13.12.05 am Europa Institut Budapest. Dem Vorstand des Hauses (Prof. Ferenc Glatz, Prof. Zoltán Szász) und in besonderer Weise Dr. Tibor Dömötörfi, meinem langjährigen Freund, bin ich für die Einladung und die Erfahrung großzügiger Gastfreundschaft in jenen Tagen zu Dank verpflichtet.

2

K. Raabe, M. Sznajderman, Last and lost, Ffm 2006

3

J. Winterson, Written on the body, London 1993, p. 9

4

S. Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, p. 143

5

N. Aschenbeck, „Die Schönheit des Niedergangs: Industriearchitekturen in den Fotografien von Manfred Hamm”, in: FAZ, 04.04.06

6

Vgl. dazu: K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, Ffm 2006; M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, Ffm 2006

7

K. Schlögel, op.cit., p. 481

8

Zum Begriff der Verhaltenheit (i.Or.dt.) vgl. den „Epilogo” bei Massimo Cacciari, Geofilosofia dell´Europa, Milano 1994, pp. 161-170. Der Autor bezeichnet mit diesem Terminus die Haltung und das ihr eingelassene Zögern bzw. Ausgerichtet-Sein auf die Gegenwart des Anderen, die in die eigene hineinreicht, in ihr gewissermaßen – als Gestus einer eschatologischen Antizipation – immer schon anbricht. An diesem Ethos, so Cacciari, erkenne man die „Zukünftigen” oder „advenientes” im Unterschied zu den inauthentisch „Späteren”.

9

Vgl. dazu die komplexe Anmerkung, mit der J. Derridas Aufsatz „Gewalt und Metaphysik” schließt, in: idem, Die Schrift und die Differenz, Ffm 1985, 121-235, p. 235

10

Alle Zitate nach der dt. Taschenbuchausgabe: A. Phillips, Prag, München 2005

11

Vgl. zu diesen für seine film-philosophischen Einlassungen grundlegenden Konzepten G. Deleuze, Das Bewegungsbild. Kino 1, Ffm 1997 bzw. Das Zeit-Bild. Kino 2, Ffm 1997

12

Im Oeuvre Kafkas wäre an die Topographie des Terrors zu denken, wie er „In der Strafkolonie” geschildert wird. Der italienische Rechtsphilosoph Giorgio Agamben hat denn auch – in seiner „Homo Sacer”-Trilogie (Torino 1995) – das „Vernichtungslager” bzw. die Schaffung rechtsfreier Räume als wirkmächtiges Paradigma einer technologischen, wesentlich „europäisch” geprägten Moderne identifiziert und damit die Bedeutung und beängstigende Luzidität dieses literarischen Motivs entfaltet.

13

O. K.Werckmeister, „Kafka 007”, in: Linke Ikonen. Benjamin, Eisenstein, Picasso – Nach dem Fall des Kommunismus, München/Wien 1997, 185-226

14

Vgl. die philosophisch-politischen Profile, die eine „Identität” des „Europäischen” über die hier eher narrativ entfalteten Beispiele literarischer und filmischer Texte hinaus beschreiben: Zu denken wäre etwa an Cacciaris „dia-logischen” Ansatz – „Europa” empfängt sich und seine Zukünftigkeit aus der Begegnung mit dem anderen (dem „Nicht-Europäischen”) – oder Derridas Insistenz auf einer konstitutiven „Nicht-Identität”, die jeder kulturellen oder politischen Ordnung immer schon innewohnt. Die Auseinandersetzung mit diesen Autoren bildet das Kernstück einer weiteren Ausarbeitung, die sich mit dem Projekt einer „Geophilosophie” Europas beschäftigt und die ich in der nächsten Zeit abzuschließen hoffe.

15

Ich habe an anderer Stelle den Versuch einer Lektüre unternommen, die dieser postmodernen Ikonographie – etwa im Hinblick auf die mediale Inszenierung des Sterbens von Johannes Paul II. – nachspürt: Vgl. dazu: H. Lauenroth, „Drama des Sichtbaren, Drama des Unsichtbaren”, in: Sinnstifter. Magazin für Kirche und Kommunikation 01/06: www.sinnstiftermag.de

16

P. de Man, „Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater”, in: Allegorien des Lesens, Ffm 1988, 205-233, p. 229

17

S. Zizek, Die Furcht vor echten Tränen. Krzysztof Kieslowski und die „Nahtstelle”, Berlin 2001. Polemisch dazu: J. Orr, „Right direction, wrong turning. On Zizek´s The fright of real tears”, in: Film-Philosophy, Vol. 7 No 30/September 2003: www.film-philosophy.com/vol7-2003/n30orr

Begegnungen26_Grober

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:185–195

ANGELA GRÖBER

„Vergessene Vorposten – bedrohte Heimat”

Die Deutschen Transkarpatiens als Beispiel der nationalen Mobilisierung deutscher Minderheiten im Ausland

 

Die deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa sind seit langem Gegenstand der Forschung. Es gibt bekannte und weniger bekannte Gruppen, die im Mittelalter beginnend bis ins 19. Jahrhundert hinein in verschiedenen Regionen vom Baltikum bis ans Schwarze Meer angesiedelt wurden. Der Bezugrahmen für ihre Bezeichnung wie für ihre systematische Erforschung bildete meist derjenige Staat, auf dessen Territorium sie siedelten – vorausgesetzt die Staatenbildung war zum Zeitpunkt des Einsetzens wissenschaftlicher Forschung schon im Gange beziehungsweise weit fortgeschritten.

Als Resultat der ost- und südosteuropäischen Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert entstanden später solche Bezeichnungen wie Rumänien-, Ungarn- oder Karpatendeutsche, die oftmals nur höchst ungenaue Begriffe für die darin erfassten Minderheitengruppen lieferten. Jene waren meist durch die Zeit ihrer Ansiedlung, durch spezifische Wirtschafts- und Vergesellschaftungsformen sehr heterogen und sahen auf eine je eigene Geschichte zurück, die sich mit den jeweiligen staatlichen Grenzen und Zuordnungen nicht immer deckte.

Der Begriff „Karpatendeutsche”, der von dem Czernowitzer Historiker Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930) geprägt wurde und bei verschiedenen Landsmannschaften noch heute in Verwendung ist, lässt durchblicken, welche politische Implikationen sich hinter einer „wissenschaftlichen” Begriffssetzung verbergen können. Kaindl schrieb im Vorwort seiner auf drei Bände angelegten „Geschichte der Deutschen in den Karpatenländern”: „Mein Werk soll das deutsche Volk mit einem Ruhmesblatte seiner Geschichte bekannt machen, indem es nicht nur die Verbreitung sondern auch die Kulturarbeit der Deutschen in den Karpatenländern schildert.”1 Im dritten Band, der 1911 in Gotha erschien, führte er aus, dass die tüchtige deutsche Kulturarbeit aus Magyarenland deutschen Boden gemacht habe.

Neben der geleisteten Arbeit, die in seinen Augen den kulturellen und zivilisatorischen Fortschritt begründete, wurde noch ein ganz anderes Thema zentral. Die verstreut lebenden Deutschen agierten als „Vorposten” in fremden Ländern.2 Sie bilden ein „organisches Ganzes”, dessen Geschicke eng miteinander verknüpft waren. Kaindl forcierte durch den Terminus „Karpatendeutsche” eine begriffliche Konzentrationsbewegung, die sich hervorragend politisch instrumentalisieren ließ und darüber hinaus als sinnstiftendes Surrogat für die beschriebenen Gruppen selber diente.

De facto lebten die verschiedenen deutschen Siedler ohne Kenntnis über Einwanderer in anderen Gebieten, besaßen sehr unterschiedliche Privilegien und waren dem aufkommenden Nationalismus gegenüber mehr mal weniger aufgeschlossen. So bewahrten beispielsweise die Siebenbürger Sachsen, die zu den ältesten deutschen Gruppen in Südosteuropa gehören, trotz deutlicher machtpolitischen Einbußen in ihrem Siedlungsgebiet, Sprache, Kultur, Religiosität, Bildungs- und Gemeinschaftswesen bis ins 20. Jahrhundert. Andere Gruppen wie die Donauschwaben in der Baranya oder Bátschka akkulturierten sich aus Mangel an gewachsenen und tragfähigen Institutionen viel leichter an die Mehrheitsnation.

Das Verdienst Kaindls war ohne Zweifel die deskriptive Erfassung der deutschen Gruppen auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie. Der von ihm geprägte Kollektivsingular „Karpatendeutsche” basierte allerdings weniger auf Tatsächlichkeiten, sondern propagierte eine imaginierte Gemeinschaft. Sprächen, so die Auffassung des Czernowitzer Historikers, die verschiedenen deutschen Gruppen erst einmal mit einer gemeinsamen politischen Stimme, so ließe sich der deutsche Einfluss in Südosteuropa, der schon im Zuge der Einführung des österreich-ungarischen Dualismus 1867 im Schwinden begriffen war, erhalten. „Fallen aber einmal die Vorposten, so ist auch das Hinterland bedroht”, wendete er sich mit oraklenden Worten an seine Zeitgenossen.3

Das Selbstverständnis der deutschen Siedlungsgruppen orientierte sich keineswegs an einem übergreifenden Konstrukt wie dem der „Karpatendeutschen” sondern an mitgebrachten und gewachsenen Organisationsformen konfessioneller und ständischer Institutionen. Historiker wie Kaindl ebneten aber mit ihren Publikationen den Weg für eine Neubewertung der deutschen Gruppen in Südosteuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und schließlich auch die Veränderung ihres eigenen Selbstverständnisses und -bewusstseins.

 

Neue Heimat in den Karpaten

Ein nationales Bewusstsein kaindl’scher Art sucht man bei der Kleingruppe der Deutschen in der Karpaten-Ukraine4 vor 1938/39 vergebens. In diesem Teil des historischen Oberungarn, das die Komitate Ung, Bereg, Ugocsa und Máramaros umfasst, lebten im Jahr 1930 über 13.000 Deutsche, die in mehreren Siedlungswellen im 18. und 19. Jahrhundert gekommen waren.5

Zunächst als „Kolonisten” vom Wiener Hof oder von der Adelsfamilie Schönborn ins Land gelockt, blieben die eingewanderten Gruppen meist als relativ homogene ethnische Entitäten bestehen und pflegten ihre tradierten Lebensgewohnheiten aus ihren jeweiligen Ursprungsgebieten.6 Sie fügten sich ein in eine Lebenswelt, die weniger die Nationalität als die Untertanentreue und den Mehrwert für den Landadligen (durch das System der Gutswirtschaft) oder die Krone in den Vordergrund stellte. Nationale Stereotypen begannen sich langsam herauszubilden – so ging die Rede vom „fleißigen deutschen Bauern”, der auch unter schwierigsten Verhältnissen dem Boden etwas abgewinnen konnte – dieser eilte den Siedlern als positiver Ruf voraus. Zum eigentlichen Diversifikationsmerkmal stiegen diese „Kollektiv-Eigenschaften” erst mit den zunehmenden nationalen Auseinandersetzungen in der österreichisch-ungarischen Monarchie auf, die sich unter anderem im Ersten Weltkrieg blutig entluden.

Zunächst bekamen die Neuankömmlinge aus Mainfranken, Oberösterreich, dem Böhmerwald und anderen Gegenden Land zugeteilt und arbeiteten als Waldarbeiter, Flößer und im Bergbau in den höher liegenden Gebieten der Karpaten-Ukraine, als Bauern in der Theiss-Ebene. Sie leisteten einen Beitrag zum Landesausbau, betrieben – um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen – Technologietransfer. Die ersten Siedler wurden als Spezialisten noch mit Privilegien ausgestattet (Steuerfreiheit, Grund- und Boden, Bau von Kirchen), die aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive abgeschafft wurden. Die Deutschen waren spätestens nach 1867 mit den anderen Ethnien rechtlich gleichgestellt, was in ihren Augen einem Status-Verlust gleichkam. Hier zeigt sich ein Anerkennungsdefizit, dem zunächst durch eine Annäherung an das ungarische Ethnikum oder durch eine Überhöhung der deutschen Kultur- und Wirtschaftsleistung begegnet wurde, wie bei Kaindl exemplarisch nachzulesen ist.

Auf der Ebene einer Kleingruppe, wie die Deutschen Transkarpatiens, die 1921 ungefähr 10.000 Personen zählte, die überwiegend der Katholischen Kirche angehörten, lassen sich diese Prozesse hauptsächlich in den Städten nachvollziehen. Hier hatte man Zugang zu höherer Bildung und trat vielfältig in Kontakt zu anderen Ethnien. Gerade im urbanen Raum kam es zu einer relativ raschen Akkulturation der Deutschen an das ungarische Ethnikum – nicht nur durch die soziale und wirtschaftliche Attraktivität des nationalen Status.

Auf dem Lande dagegen, auf dem die meisten Deutschen ihrem Lebensunterhalt nachgingen, erhielten sich die geschlossenen Gemeinschaften bis zum Zweiten Weltkrieg. Hohe soziale Kontrolle und ein eingeschränkter Erlebnishorizont sind einige der Ursachen für die kulturelle Konstanz. Assimilationsinstrumente wie Verwaltung, Wirtschaft und Schule konnten nur deshalb so schleppend genutzt werden, da in der Karpaten-Ukraine bis in die 1940-er Jahre hinein kaum eine moderne Infrastruktur vorhanden war.

Die vorherrschenden Identitätsmuster unter den Deutschen waren bis zum Ersten Weltkrieg pränational und lokal bestimmt. Eine große Rolle spielte die Dorfgemeinschaft, das Herkunftsgebiet, die Konfession und die ausgeübte Tätigkeit. Die deutschen Siedler begriffen sich überregional als Mitglieder der supranationalen „Natio Hungarica” und empfanden eine tiefe historische Verbundenheit mit dem Reich der Stephanskrone und die Bindung an eine die Habsburger Monarchie umfassende Gesamtstaatsidee.7

Die spezifische lokal-deutsche und die generelle überregional-ungarische Identitäten konnten problemlos vermittelt werden, solange der Macht- und Wirkungsanspruch dieser Identitäten bzw. ihrer Träger und Vermittler sich nicht überschnitten. Die Deutschen ordneten sich als „Kulturträger” selber in die Nähe der Ungarn, um sich von kulturell rückständigen Ruthenen und Slowaken beziehungsweise von den als fremdgeblieben empfundenen Juden abzugrenzen. Der aus dem Kulturträger-Sein abgeleitete Anspruch begründete ein Wohn- und Heimatrecht, das sich die deutschen Siedler durch ihre Arbeit und ihre Treue erwarben.

 

Nationale Mobilisierung der deutschen Minderheit in der Zwischenkriegszeit8

Mehrere Aspekte führten im Laufe der 1920-er und 1930-er Jahre schließlich zu einer nationalen Mobilisierung der Deutschen Transkarpatiens, wobei unter nationaler Mobilisierung die Aktivierung einer zuvor politisch und national passiven Minderheitengruppe verstanden wird, deren Angehörige durch Propaganda und „Schutzarbeit”, durch nationale Vereins- und Parteigründungen das Bewusstsein erhalten, Mitglieder einer imaginierten Volksgemeinschaft zu sein. Dieses „Volks-Bewusstsein” stützte sich auf vorhandene lokale Identitäten und trat in direkte Konkurrenz zur Staatsbürgerschaft, wobei die Angehörigen der deutschen Minderheit in die missliche Lage einer Doppelloyalität gebracht wurden.9

Volksbewusstsein und Staatsbürgerschaft konnten nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden, da der jeweilig erhobene Anspruch auf das Individuum ein generaler wenn nicht totaler war. Es war für einen Minderheitenangehörigen schwer möglich sowohl als „Deutscher” als auch „Ungar” aufzutreten und dies gegenüber den Autoritäten zu versichern. Ein Automatismus nötigte den Einzelnen zur Entscheidung, die mit der Aufgabe einer seiner Identitäten verbunden war. Entschied er sich, Deutscher zu sein, so wurde sein Wohnrecht fragwürdig. Entschied er sich Ungar zu werden, war er gezwungen seine kulturelle Identität als Deutscher abzulegen, auf jeden Fall aber einen Sprachwechsel zu vollziehen.10

Ein erster Aspekt, der der nationalen Mobilisierung Vorschub leistete, war der Durchzug deutscher Soldaten im Ersten Weltkrieg, die bei den ansässigen Deutschen einen bleibenden Eindruck hinterließen.11 Das Bild vom „Mutterland” Deutschland wurde durch die anwesenden Soldaten mit Leben gefüllt und neben das „Vaterland” Ungarn gestellt. Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende magyarische Nationalismus bot die Integration in die Mehrheitsnation nur unter Preisgabe der Minderheitensprache und spezifischen Kultur an. Viele Deutsche haben diesen Weg problemlos beschritten, während andere auf ihrer kulturellen Eigenart bestanden und sich im Europa der Zwischenkriegszeit als „Minderheit” wieder fanden. Dieser Begriff wurde als höchst problematisch angesehen:

„Der Begriff der Minderheit stammt aus einer sterbenden Welt. [...] Volksgruppe mit lebender Seele wird zur Unter-50%-Zahl degradiert. Minderheit – so wollen die Mehrheiten – soll im Leben der Völker nur halbes und unterhalbes Recht genießen. Minderheit spricht von Zahlen, von Verhältnisgrößen [...]. Minderheit darf keinen Anspruch erheben, sie hat sich zu fügen, wie die Mehrheit bestimmt. Sie kann bestenfalls Opposition sein, schlimmstenfalls Kraft der Zerstörung, Obstruktion und Aufruhr. [...] Eine nationale Minderheit kann ihre Anschauungen nie zu der herrschenden machen, wie bei den geistigen, philosophischen, wissenschaftlichen, religiösen, oder was es sonst noch für Minderheiten geben mag. Sie kann nur immer um Anerkennung und Duldung kämpfen, nie aber um Führung.”12

Was dieser Publizist mit offenen Worten auf den Punkt brachte, entsprach dem Empfinden der Minderheiten, die ihren Status und Einfluss im Nationalstaat bedroht sahen.

Eine rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Karpaten-Ukraine, das Wegbrechen der ungarischen Absatzmärkte aufgrund der Angliederung der Region an die neugegründete Tschechoslowakei im Zuge der Pariser Friedensverträge 1919/20, ließ die traditionelle Lebenswelt der Deutschen erodieren. Auf Fortschritt und Modernisierung hatten Bauern und Handwerker keine Antworten parat und empfanden sich als Opfer eines auf sie hereinbrechenden Schicksals. Ihrem Instinkt folgend arrangierten sich die Deutschen sehr schnell mit den neuen Machthabern in Prag und konnten im Laufe der 1920-er und 1930-er Jahre sogar eigene Schulen betreiben.

In Deutschland formierten sich zur gleichen Zeit zahlreiche Verbände, herausragend dabei der „Verein für das Deutschtum im Ausland” (VDA), die ihre Aufgabe darin sahen, die durch Gebietsverluste neu entstandenen aber auch die traditionellen deutschen Minderheiten im Ausland zu unterstützen. Auch von Seiten der Kirchen wurden Missions- und Hilfsprojekte ins Werk gesetzt, um die konationalen Glaubensbrüder in ihrem Kampf um Selbstbehauptung zu unterstützen.13

Weitere Impulse für eine nationale Mobilisierung kamen von den Wandergruppen der bündischen und deutsch-nationalen Jugend, die zu Beginn seit 1921 die Karpaten bereisten und der deutschen Öffentlichkeit ein erstes Bild zeichneten. Die Berichte sind zum Teil geprägt von einem sozial-romantischen Ton, der die archaische Alltagskultur der deutschen Bauern und Waldarbeiter verherrlicht. Andererseits sind sie bestimmt von einem Sendungsbewusstsein, dass die verstreuten deutschen Siedlungsgruppen in ein zu errichtendes deutsches Großreich einzubeziehen wünschte. Die Überlegenheit der deutschen Kultur wurde für die wandernde Jugend selbst in dem kleinsten Karpatendorf sichtbar:

„Wir gingen durch zwei ineinander übergehende Dörfer [...] bis wir nach Dubove kamen. Die breit angelegte Dorfstraße und eine ganze Reihe sauber gebauter Häuser, die sich von dem üblichen Hüttentyp deutlich unterscheiden, zeigte sofort, dass hier noch ein anderes völkisches Element vorhanden sein müsse.”14

Besonders hervorgetan haben sich die Sudetendeutschen, die als größte deutsche Minderheitengruppe auf dem Gebiet der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine Vorbildwirkung entfalteten. Der in Prag ansässige „Deutsche Kulturverband” (DKV) wurde am 2. November 1919 in Prag als Schulbetreuungsverein gegründet und weitete seine Aktivitäten auch auf die allgemeine Kulturpolitik aus. Um den größten kulturellen Notstand zu lindern, entsendete er deutsche ‚Wanderlehrer’ nach Transkarpatien, die neben ihrer Lehrertätigkeit erste organisatorische Vereinsstrukturen schufen.15

„In diesen Tagen wurde in Uzhorod [...] eine Ortsgruppe des DKV gegründet. Damit ist eine neue Brücke zu den deutschen Sprachinseln im fernsten Osten des Staates geschaffen und der Ansatzpunkt gegeben, die verstreuten deutschen Beamten, Angestellten und Arbeiter zur Erhaltung und zur Förderung ihres Volkstums zusammenzufassen. Die Zeit dürfte nicht mehr ferne sein, wo auch die letzte kleine Minderheit der Slowakei und Karpatenrussland sich dem Rahmen der großen Volksorganisation, dem DKV, eingefügt hat.”16

Die einheimischen Deutschen profitierten unmittelbar von den Aktivitäten des Kulturverbandes, der Schulen und Bibliotheken unterhielt, Veranstaltungen und Spendenaktionen ausrichtete. Sie identifizierten sich mit seinen Zielen. Gegen Ende der 1920-er Jahre stiegen stark nationalistisch orientierte Funktionäre in die Führungspositionen des DKV auf und bestimmten die Richtung der kulturellen „Schutzarbeit”.17 Sie konnten auf die Ortsgruppenstrukturen bauen und nutzten das ihnen entgegengebrachte Vertrauen, einen schärferen Ton in der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht anzuschlagen. Zwar verhinderte die Zerstrittenheit der konkurrierenden sudetendeutschen Parteien bis 1938 noch, dass die vom nationalsozialistischen Deutschland angestrebte Gleichschaltung der Parteien- und Vereinslandschaft in die Tat umgesetzt wurde, aber unter der Protektion Hitlers konnte der Vorsitzende der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henlein diese internen Auseinandersetzungen für sich entscheiden und ebnete den Weg für die weitere Expansion des Deutschen Reiches nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938.18

Nach dem Vorbild der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins, die sich als „Volksbewegung” verstand, wurde in Pressburg/Bratislava (ung. Pozsony) im Juli 1928 die „Karpatendeutsche Partei” (KdP) gegründet, deren Schlüsselpositionen hauptsächlich von Sudetendeutschen besetzt waren. In Fortsetzung der kultur- und bildungspolitischen Arbeit des Schulvereins DKV rückte die ideologische Schulung im Sinne des Nationalsozialismus mehr und mehr in den Vordergrund. Die „Volksgemeinschaft” wurde zum bestimmenden Deutungsmuster. Die Organisation erfolgte nach dem Führerprinzip. Da die Parteimitgliedschaft nach 1938 auch die Zugehörigkeit zur deutschen „Volksgruppe” legitimierte, wurde ein unmoralischer Zwang zum Beitritt in die KdP ausgeübt, dem sich nur wenige Deutsche zu entziehen wagten. Anhand der zeitgenössischen Presse lässt sich nachweisen, dass ein großer Teil der Deutschen vornehmlich nicht aus politischer Überzeugung sondern aus wirtschaftlichem und karitativem Kalkül Parteimitglieder wurden.19 Gerade der Gedanke genossenschaftlicher Hilfe, gegenseitigen Füreinandereinstehens und das Angebot einer neuen Heimat und Geborgenheit machte die Attraktivität der nationalsozialistischen Ideologie in den kleinen deutschen Gemeinden in Transkarpatien aus.

„Das einheimische Volkstum nennt sich seit 1931 Volksgruppe im Einklang mit dem Beschluss des Nationalitätenkongresses, das auch noch der Umstand bestätigt, dass sich der Weltkongress der Magyaren auch auf diesen Standpunkt gestellt hat. Als Volksgruppe wünschen wir aber keine besonderen für den Staat gefährlichen Rechte. Der Begriff Volksgruppe bedeutet unter anderem auch, dass das einheimische Deutschtum nur bewusste deutsche Führer haben kann. Und auch jene Begriffe geklärt werden müssen, wer und wer nicht zur Volksgruppe gehört.”20

Dieses Zitat ist einer deutschen Zeitung in Ungarn entnommen, die ihre erste Nummer am 8. Januar 1939 herausgab. Offenbar bereitete man sich innerhalb der deutschen Minderheit Ungarns schon auf die von Öffentlichkeit und Regierungskreisen erhoffte Grenzrevision vor, die man von der Auflösung oder „Zerschlagung” der ŘSR erwartete.

Die sukzessive Angliederung des Karpatenlandes (ung. Kárpátalja) an Ungarn (vom November 1938 bis zum 16. März 1939) hatte zunächst ein Erlahmen der lokalpolitischen Aktivitäten der deutschen Minderheit zur Folge. Ganz im Gegensatz zu diesen verstärkte das Deutsche Reich seine Präsenz vor Ort, als Anfang Februar 1939 ein deutsches Konsulat in Chust (ung. Huszt) eingerichtet wurde, das bis zum Juni 1939 bestand und den Einfluss auf die karpaten-urkainische Regierung sichern sollte. Amtsrat Walter Splettstösser, der die Konsulatsgeschäfte bis zum Eintreffen des deutschen Konsuls, Hamilkar Hofmann, regelte, gab in einem Report an das Auswärtige Amt folgende Anregungen zur kommenden Wirtschaftspolitik:

„Die Juden beherrschen hier Wirtschafts- und gesamtes Geschäftsleben in einem Umfang, wie anderswo kaum denkbar. Fast 98% der Geschäfte sind in ihren Händen. [...] Als Beweis für die Schädlichkeit des Judentums gibt es keinen besseren Anschauungsunterricht als das Studium der Verhältnisse in der Ukraine. Seit Jahrhunderten haben die Juden dieses Volk ausgepowert. Sie würden bei der Durchführung des deutschen Aufbauplans wiederum Nutznießer sein, wenn nicht drakonische Maßnahmen (... Gr.verst.). Vorschlage, wenn Ausweisung oder gänzliche Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben nicht möglich: Annullierung aller Schulden der Ukrainer bei den Juden. Eventuelle Übertragung der Schuldverbindlichkeiten an arische Konsumgenossenschaften, die ihrerseits mit Hilfe des Staates Kredite geben.”21

Das Dritte Reich konnte mit seiner komplexen Bündnispolitik im Südosten Europas Länder wie die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder eben auch den Kleinststaat Karpaten-Ukraine an sich binden, dem allerdings nur eine sehr kurze Existenz beschieden war. Die deutschen Minderheitengruppen bildeten in jedem Staat den Ansatzpunkt und die Manövriermasse, mit der die deutsche Regierung auf die Politik der einzelnen Regierungen Einfluss nehmen konnte. Die Einflussnahme bestand, wie am Beispiel Transkarpatien deutlich wurde, zunächst in wohlmeinender kultureller „Schutzarbeit” , die schließlich dem expansorischen Drang des Dritten Reiches untergeordnet wurde. Der Anspruch auf die „vergessenen Vorposten” in einer „bedrohten Heimat” bildete sowohl für die Bindung der deutschen Minderheiten an den Nationalsozialismus als auch für die Legitimation des Krieges ein überzeugendes Panorama.

 

Zwischen Flucht und Deportation

Schon im Jahr 1920 äußerte der tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk gegenüber einem Abgesandten des Sowjetischen Roten Kreuzes: „Ich betrachte Karpatenrussland als ein der Tschechoslowakei von Russland anvertrautes Pfand, das wir Russland bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurückgeben werden.”22 Dieses Versprechen löste sein Nachfolger Edvard Beneš am 29. Juni 1945 ein, als der Vertrag über die Abtretung der Karpaten-Ukraine an die Sowjetunion unterzeichnet wurde.

Für die deutsche Minderheit kündigte sich schon im August 1944 mit dem Ausscheiden Rumäniens aus den Reihen der Mittelmächte eine Verschlechterung ihrer Lage an, denn die sowjetische Offensive nach Südosteuropa schien kaum mehr aufhaltbar. Die Evakuierung der Deutschen begann Anfang Oktober 1944, als die Front schon bedrohlich nahe rückte. Aufgrund der überfüllten Transportwege (Eisenbahn, Trecks) gelang nur wenigen die Flucht. Nach der Erhebung des Kirchlichen Suchdienstes München von 1965 waren insgesamt 3 135 Deutsche in die beiden deutschen Staaten und nach Übersee geflohen.23

Deportationen in den Donbass und auch ins westliche Sibirien setzten Anfang 1945 ein und erreichten im Frühjahr 1946 ihren Höhepunkt, als das NKWD eine Verordnung herausgab, die Personen deutscher Nationalität, welche sich „in der Periode der deutsch-ungarischen Okkupation kompromittierten” zur Zwangsarbeit verpflichtete.24 Über 1 200 Deutsche wurden beispielsweise nach Tjumen deportiert und kehrten, sofern sie überlebt hatten, erst nach 1955 zurück, bzw. ließen sich in anderen Gebieten der Sowjetunion nieder. Nach der Rückkehr der Verbannten waren ihre Häuser von umgesiedelten Ukrainern bewohnt. Den Deutschen hing das Stigma des Nazis und Volksverräters an, so dass sie in der sowjetischen Lebenswelt ihre nationale Zugehörigkeit möglichst verbergen wollten. Auch die deutschen Schulen wurden abgeschafft.25 Nach dem Tod von Josef Stalin 1913 setzte langsam ein Assimilationsprozess ein, der bis heute andauert. Im Jahr 1970 wies die Volkszählung noch 4 230 Deutsche in Transkarpatien (ukr. Zakarpats’ka oblasę) aus.26

Vor dem Hintergrund dieser Lebenssituation ist es nicht verwunderlich, dass viele Deutsche die Möglichkeit zur Familienzusammenführung oder Auswanderung nach Deutschland nutzten. Zwischen 1968 und 1989 sind 727 Personen ausgewandert. Zwischen 1990 und 1995 wurde aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage in der Ukraine diese Zahl noch übertroffen.27

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991 versuchten die Deutschen in der Karpaten-Ukraine Organisationen für die Vertretung ihrer Minderheiteninteressen aufzubauen, die seither einige kulturelle Projekte initiiert haben und vor allem die deutsche Sprache fördern.28 Auch von kirchlicher Seite werden seelsorgerische und wirtschaftliche Aufbauprojekte angeschoben, die nicht nur den Deutschen im Land eine Perspektive zum Bleiben eröffnen sollen.

 

1

Raimund Friedrich Kaindl: Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern. Gotha 1907. S. IX.

2

Kaindl verwendet schon hier Begriffe mit militärischem Impetus und spricht im expansorischem Sinne von den „Grenzen des deutschen Volkes” und von der Pflicht zur „Grenzwacht”. Kaindl (1907: IXf)

3

Kaindl (1907: IXf)

4

Unter dem Begriff „Karpaten-Ukraine” resp. „Transkarpatien” (ukr. Uhorska Rus’, ung. Kárpátalja, tsch. Podkarpatská Rus) wird jener Teil des ehemaligen Königreichs Ungarn verstanden, der von 1918/20 bis 1938/39 innerhalb der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine separate administrative Einheit mit rund 725.000 Einwohnern (1930) bildete.

5

Nach der Niederschlagung des Aufstandes unter Fürst Ferenc II Rákóczi bekam die sehr einflussreiche fränkische Reichsgrafenfamilie Schönborn die riesige Domäne Munkács-St. Miklos übertragen. Zwischen 1730 und 1774 kamen die ersten Siedler aus dem Schwarzwald und Franken nach Munkács und gründeten in der Umgebung der Stadt einige Dörfer. Eine bedeutende Gruppe aus Oberösterreich und dem Salzkammergut ließ sich um 1775 am Oberlauf des Tereschwa-Flusses nieder. Die dritte Siedlungswelle um 1800 ist bestimmt von Kolonisten aus Niederösterreich, der Zips und dem südlichen Böhmerwald. Vereinzelte Siedlungen entstanden noch im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Zahl der Volkszählung von 1930 entnommen: Alfred Bohmann: Die Karpatenukraine. In: Ders.: Menschen und Grenzen. Bd. 3. Strukturwandel der deutschen Bevölkerung im sowjetischen Staats- und Verwaltungsbereich. Köln 1970. S. 411.

6

Georg Melika: Die Deutschen der Transkarpatien-Ukraine. Entstehung, Entwicklung ihrer Siedlungen und Lebensweise im multiethnischen Raum. Marburg 2002. S. 11-56; Herbert Franze: Die deutschen Siedlungen in Karpathenrußland. In: Karpatenland. 1930. 3. Jg. Heft 2. S. 49-55.

7

Jörg K. Hoensch: Ungarische Nation und nationale Minderheiten im Stephansreich 1780-1918. In: Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei. Hg. v. Hans Lemberg, Michaela Marek u. a. München. S. 32f.

8

Die Entwicklung der Minderheit nach der Besetzung der Karpaten-Ukraine durch Ungarn im März 1939 bleibt in dieser Studie ausgespart, da die Mechanismen der nationalen Mobilisierung vor allem in der Zwischenkriegszeit deutlich werden.

9

Der Volksbegriff geht in der deutschen Geistesgeschichte auf Herder und Fichte zurück, die die Idee einer Kultur-Nation bzw. einer Gefühlsgemeinschaft vertraten, die auf gleicher Abstammung, Sprache, einem gemeinsamen Schicksal und innerer Verbundenheit beruhte. [Angela Gröber: Út a néphez: Egy német kulcsfogalom rövid története. In: Rubikon 2005. Vol. 16. No. 4-5. S. 18-23.] Zur allgemeinen administrativen, wirtschaftlichen, ethnischen und politischen Situation: József Botlik: Közigazgatás és nemzetiségi politika Kárpátalján I. Magyarok, ruszinok, csehek és ukránok 1918-1945. Nyíregyháza 2005. oder auch die Arbeiten von Csilla Fedinec.

10

Dieser Automatismus ist bewusst überspitzt formuliert worden, um die Konsequenzen aus dem politischen Handeln deutscher und ungarischer Autoritäten darzustellen. Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg können als Periode des Übergangs bezeichnet werden. Einerseits bemühte sich die deutsche Regierung, das Deutschtum im Ausland zu fördern und sich seiner Gefolgstreue zu versichern, andererseits existierten in ungarischen Regierungskreisen Pläne, die Deutschen nach dem Krieg ins Reich auszusiedeln.

11

„Im Kriege sahen Balten, Siebenbürger Sachsen [etc.] lebendige ‚Deutsche aus dem Reich’, dazu noch in vollem Kriegsschmuck. […] Die preußischen Pickelhauben und die Stahlhelme all der deutschen Brüder aus Süd und Nord haben es doch geschafft, dass Deutschland größer ward, wenn auch nur nach innen. […] Man erlebte doch einmal die Gewalt des vielgehörten Wortes ‚Es gibt das Herz, das Blut sich zu erkennen’. Man sah es mit Augen, dass es nicht wahr ist, was man ihnen seit einem halben Jahrhundert mit beängstigendem Erfolg eingeredet hatte: Deutschsein bedeutet etwas Minderwertiges! Die stolzen Gäste von draußen, diese prächtigen Menschen aus dem geliebten Mutterland lehrten durch ihre bloße Erscheinung den Auslandsdeutschen, zu glauben an den Adel und an die Urkraft seines Volkes.” Aus einer Ansprache von Lutz Korodi auf der Tagung des DAI/Stuttgart. Hg. v. Bund der Auslandsdeutschen e.V. Berlin 1926. S. 14.

12

Hans Hoyer: Volksgruppen nicht Minderheiten! Zitiert nach: Nation und Staat. 1930. Heft 12. S. 805.

13

Eduard Winter: Die Aufgaben der deutschen Katholiken in der Slowakei und Karpathorussland. In: Der Auslandsdeutsche. 1925. Nr. 15. S. 461-463.

14

Großfahrt sächsischer Jungen nach Karpathenrußland. Sommer 1928. Hg. V. Jungnationalen Bund e.V. Plauen 1929. S. 15.

15

Als ‚Wanderlehrer’ wurden jene aus dem Reich oder anderen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit stammenden Pädagogen bezeichnet, die insbesondere von Kultur- und Schulvereinen in Regionen entsendet wurden, in denen keine oder eine mangelhafte Primarbildung in deutscher Sprache vorhanden war. Zum DKV vgl. Nikolaus G. Kozauer: Die Karpaten-Ukraine zwischen den beiden Weltkriegen. Esslingen/Neckar 1979. S. 161.

16

Volksdienst. Nachrichtenblatt des Deutschen Kulturverbandes für die Sudeten- und Karpatendeutschen. 1932. 1. Jg. Folge 1. S. 4.

17

August Naegle: Zum Wiederaufbau des Deutschtums in den Karpathenländern. In: Mitteilungen des Deutschen Kulturverbandes. 1926. 1. Jg. Heft 7. S. 4; Andreas Luh: Der deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. München 1988. S. 310f.

18

Volker Zimmermann: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938-1945). Düsseldorf 1998. Ralf Gebel: „Heim ins Reich!” Konrad Henlein und der Reichsgau Sudentenland (1938-45). München 1999.

19

Deutsche Stimmen. Wochenblatt für die Karpathenländer. 4 Jg. 2.10.1937. S. 9.

20

Deutscher Volksbote. Wochenblatt für Kultur, Politik und Wirtschaft.1. Jg. Folge 1. Jänner 1939. S. 3.

21

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA). R 103408. Telegramm Nr. 15 vom 23. 2. 1939.

22

Bohmann (1970: 400)

23

Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten. Bd. 3. München 1965. S. 609.

24

Melika (2002: 194)

25

Ortfried Kotzian: Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine. (Studienbuchreihe der Stiftung des Ostdeutschen Kulturrates. Bd. 11). München 2005. S. 329.

26

Melika (2002: 130)

27

Georg Melika: Spätaussiedler aus der Karpaten-Ukraine. In: Mitteilungen des Allgemeinen Deutschen Kulturverbandes. Wien. Der neue Eckartbote. 1996. 44. Jg. Nr. 11. S. 14.

28

Melika (2002: 287ff)

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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:89–122.

FERENC GLATZ

Die Zukunft des ländlichen Ungarns

Diskussionsmaterial

 

„Manchmal muss man innehalten, sich hinsetzen und umschauen: zurückblicken, den zurückgelassenen Weg bewerten und einen Plan für den vor uns liegenden Weg erarbeiten.” Ich habe das meinen Kollegen und Studenten in den vergangenen Jahren, vor unserem EU-Beitritt, oft gesagt, um sie dazu anzuregen, Rechenschaft abzulegen und sich vorzubereiten. In den vergangenen zehn Monaten aber, seitdem Ungarn Mitglied der Europäischen Union ist, denke ich immer wieder darüber nach: „Wir sollten jetzt aufstehen, uns auf den Weg machen und handeln.” Wir sollen unsere Lebensmöglichkeiten in einer neuen territorialen Verwaltungseinheit zwischen den neuen, sich jetzt herausbildenden wirtschaftlich-politischen Grenzen finden, in engerer Zusammenarbeit mit unseren Kollegen als früher. Die städtischen und ländlichen Leute, die Jungen und die Alten, bzw. die Vertreter verschiedener Berufe sollen ihre Lebensmöglichkeiten unter den sich verändernden Umständen finden.

 

I.
UNSER PLATZ IN DER WELT

Wir sprechen über das Schicksal und die Lebensmöglichkeiten in der ostmitteleuropäischen Region, darin Ungarn, der auf dem Lande lebenden Menschen und der natürlichen Umwelt im ländlichen Raum. Natürlich sollen wir zuerst einen Blick auf die Weltmächte werfen, die unseren Lebens- und Bewegungsraum eingrenzen. Heute sehe ich vier entscheidende Faktoren, die den Alltag des ländlichen Raums in der Region – und auch in Ungarn – beeinflussen.

Der erste ist die neue Etappe der industriell-technischen Revolutionen: die Revolution in der Informatik, die zur Folge hat, dass sich neue Techniken zur Organisation der Produktion und eine neue Kultur der menschlichen Beziehungen entfalten. Demzufolge wandelt sich in der Informationsgesellschaft – wie wir die sich jetzt herausbildende Gesellschaft unseres Zeitalters nennen – die Siedlungsordnung der Menschen, d.h. die Siedlungsstruktur, um.

Der zweite Faktor ist das Gaia-Prinzip. Das bedeutet die Erkenntnis, dass die Erde ein lebendiger Organismus sei. (Gaia ist die Göttin der Erde in der griechischen Mythologie.) Heute wissen wir bereits, dass die Erde ihren eigenen Gesetzen folgend im ständigen Wandel lebt: die tektonischen Platten sind in ständiger Bewegung, und ähnlicherweise ändern sich die Meeresströmungen und das Klima. Unsere Lebensumstände sind also nicht stabil. Heute wissen wir bereits, dass die menschlichen Eingriffe die Zukunft von Gaia und dadurch die Lebensmöglichkeiten des Menschen gemeinsam mit den eigenen Gesetzen der Erde gestalten – egal an welcher Stelle der Erde wir in die Ordnung der Natur eingreifen.

Der dritte Faktor ist das Zustandekommen der Europäischen Union. Die Europäische Union ist eine territoriale Verwaltungseinheit, in deren Rahmen die wirtschaftlichen und kulturellen Güter – vor allem der Mensch selbst – frei strömen können. Neue Gesetze und Rechtsregelungen werden verabschiedet, die in Europa gültig sind, und die die Wirtschaft und die Denkweise des Einzelnen und der Gemeinschaft bestimmen. Der einzelne Mensch – egal ob er in Ungarn oder in England lebt – wird einen viel breiteren Denk- und Bewegungsradius haben und soll bei der Planung seiner eigenen Einkommensmöglichkeiten und denen seiner Kinder auf einem viel bunteren Feld, auf verschiedenartigen Märkten nachdenken.

Der vierte Faktor ist die Neuinterpretation der Modernisierung und das Zustandekommen von neuen politischen Bedürfnissen. Das bedeutet, dass aus der Erkennung der neuen Welttendenzen eine neue politische Richtung entsteht, die den Begriff des „Zeitgemäßen” und des „Modernen” in der Bewertung der menschlichen Tätigkeiten neu interpretiert und die politische Wertordnung der vergangenen 150 Jahre zu überprüfen versucht.

Welche Wirkung haben diese vier Faktoren auf den ländlichen Raum? Wie steht es in Europa und in Ungarn?

1. Die neue industriell-technische Revolution und der ländliche Raum

Die industriell-technische Revolution bzw. der Vorstoß der Nachrichtenübermittlung und der Informatik gestalteten die Produktionsstruktur um. Wie bekannt, können jetzt weit mehr Produkte mit viel weniger Arbeitskraft hergestellt werden als früher. Gleichzeitig kommen immer neuere Produktionszweige und Dienstleistungssysteme zustande, die den Arbeitskraftüberfluss von einer Stelle in eine andere Branche saugen.

a) Die Umstrukturierung der Lebensmittelproduktion

Die Umwandlung der Produktionsstruktur erschütterte die Lebensmittelproduktion am stärksten. Die Lebensmittelproduktion war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der Produktionszweig, der des Großteils der menschlichen Arbeitskräfte bedurfte. Die industrielle Produktion der Lebensmittel begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Anwendung von Vergaser- und Elektromotorkraftmaschinen, und diese Rationalisierung beschleunigte sich jetzt am Ende des 20. Jahrhunderts.

Die Steigerung der Effektivität hatte in Europa eine Lebensmittelüberproduktion zur Folge. Es kam zu einer paradoxen Situation: während die Hungersnot in dem größeren Teil der Erde mit ständiger Gefahr droht, können wir in dem anderen Teil, in der Kultur des weißen Menschen, nichts mit der erzeugten Lebensmittelmenge anfangen. Aber wir wissen nicht was die Zukunft mit sich bringt? Wird die Nachfrage in den von Hungersnot bedrohten Gesellschaften der Welt zunehmen und für die Kosten des in Europa und Amerika erzeugten Überflusses aufkommen können? Betrugen die durchschnittlichen Hektareinträge beim Weizen um 1965 zwischen 3.000 und 4.000 kg, so erreichen sie heute bereits über 10.000 kg. Andererseits erhielt der Bauer in der BRD und Österreich vor 40 Jahren für den Kilo Weizen bis zu 30 Cents, heute nur mehr 10 Cents. Werden solche große Speditionssysteme zustande kommen, die den Export des europäischen und amerikanischen Lebensmittelüberflusses zu den Märkten der hungernden Gesellschaften rentabel machen? Noch wissen wir nicht. Aber wir wissen schon, dass die Gebiete der Lebensmittelproduktion in Europa und Amerika so vermindert werden sollen, dass sie irgendwann, vielleicht in nicht so ferner Zukunft, reaktiviert werden können. Denn wir dürfen nicht vergessen: die Gesamtgröße der lebensmittelproduzierenden Gebiete auf der Erde kann nicht wesentlich vergrößert werden. Das Karpatenbecken – darin das Gebiet des heutigen Ungarischen Staates – gehört zu diesen lebensmittelproduzierenden Gebieten. In dem Tian Šan, der Sahara und der Wüste Gobi wird man voraussichtlich auch in den nächsten Jahrhunderten keine Lebensmittel erzeugen können.

Die andere Folge des Strukturwandels der Produktion ist die schnelle Umwandlung des lebensmittelproduzierenden Betriebs. Für die Herstellung von Massenernährungsgütern (vor allem Körnerfrüchte und Fleischprodukte) eignet sich die großbetriebliche Struktur, die für Europa charakteristische mittlere und kleinere Landbesitzstruktur wandelt sich also grundsätzlich um. In dem vergangenen halben Jahrzehnt ist die Entstehung eines Betriebsrahmens zu beobachten, die immer größere Ackerflächen umfasst, wodurch es zu einer Landbesitzkonzentration kommt. Besitzwechsel, Besitzkonzentrationen und neue Besitz- und Pachtformen kommen dadurch zustande und verschiedene Produktions- und Absatzvereine werden gegründet. Gleichzeitig bedürfen die neuen Produkte auch Veränderungen in der Betriebstruktur. Neben den Grundnahrungsmitteln bahnen sich auch lokale Spezialitäten, die für eine bestimmte Region charakteristisch sind, einen Weg. (In Ungarn gehören zu dieser Gruppe die sog. Hungarika, aber es gibt überall in der Welt ähnliche speziellen Produkte, die sich unter den gegebenen geographischen Umständen vor Ort herausbildeten.) Für diese Produkte entstand ein neuer Verbrauchermarkt – durch die Erhebung des europäischen und amerikanischen Mittelstandes. Der letztere Faktor stärkt nicht unbedingt die Großbetriebe, sondern die kleinen und mittleren Betriebe, und erzwingt ihre Allianz in Vereine und Organisationen. Darüber hinaus erzwingt er von den Lebensmittelerzeugern vor allem Mobilität, eine kurzfristige Marktforschung, schnelle Veränderungen in der Produktstruktur und – wenn erforderlich – in der Besitzstruktur. Die Lebensmittelproduktion war jahrhundertlang eine konservative Aktivität, die langfristig auf die Beschaffenheiten des Bodens und der Wasserbewirtschaftung, bzw. die klimatischen Gegebenheiten gegründet wurde. Heute ist sie zu einer Aktivität geworden, die sich den Veränderungen, den neuen Bedürfnissen und neuen Investitionen schneller anpasst.

Die gesellschaftlichen Folgen der Umwandlung der europäischen Lebensmittelproduktion und der Betriebsstruktur erregen Konflikte im ländlichen Raum. Es ist verständlich, weil die Lebensmittel heute und wohl im nächsten Jahrhundert auf Gebieten außerhalb der Städte erzeugt werden. Der Ort der Lebensmittelproduktion ist also weiterhin der ländliche Raum.

Die neue industriell-technische Kultur und die neuen Mächte auf dem Weltmarkt wandelten in Westeuropa die Landbesitzverhältnisse, die Betriebsgrößen und Erzeugervereinigungen allmählich um. Wir erleben die Wirkung dieser Umwandlung in den ehemaligen sozialistischen Ländern jetzt, nach 1990, als schockierend und unerwartet. Die ostmitteleuropäische Region, die sich jetzt in die Europäische Union integriert, wurde vom Weltmarkt künstlich, mit politischen und wirtschaftlichen Barrieren, getrennt. Den größten Teil der Lebensmittel erzeugten wir für den sowjetischen Markt, der viel größer war als der europäische, und alles aufnahm. Die Produktion erfolgte oft unter künstlich – politisch – festgelegten Besitzverhältnissen und Betriebsstrukturen und nach sowjetischen RGW- Forderungen, die viel niedriger waren als in Europa. Nach 1990 verschwanden die sowjetischen, bzw. RGW-Märkte und wir mussten mit der westlichen Lebensmittelproduktion in Konkurrenz treten, die aber mit entwickelteren Technologien und mit einer wohletablierten Betriebstruktur arbeitete. Statt dem sowjetischen Markt, der qualitätsmäßig niedrige Anforderungen stellte, müssen wir jetzt für die westlichen Gesellschaften, die einen äußerst feinen Geschmack entwickelt haben, Lebensmittel produzieren. Dazu kommen noch die Lebensmittel von den Märkten der USA und Südamerikas, und die mörderische Konkurrenz. Innerhalb der ostmitteleuropäischen Region wurden davon am meisten Polen und Ungarn betroffen. (Polen, weil die Anzahl der in der Lebensmittelproduktion beschäftigten Arbeitskräfte einen bedeutenden Anteil in der Erzeugung des nationalen Gesamtprodukts ausmacht, und weil ihr technisches Niveau rückständig ist. Ungarn ist dadurch betroffen, dass der einzige natürliche Rohstoff des Landes, das Ackerland, hohe Erträge erzielt, bzw. dass das Land besonders reich an unausgenutztem Wasserreservoirs ist.)

b) Die Umwandlung und Verbesserung der ländlichen Lebensbedingungen

Mit der ersten industriellen Revolution nahm die Bedeutung der Städte in der europäischen Geschichte zu. Die Stadt war schon immer der Motor der Entwicklung – seit den ersten bekannten Staatsgründungen, also seit etwa fünftausend Jahren. Die Güter wurden in den Städten ausgetauscht, die Stadt war das institutionelle Zentrum der regionalen Verwaltung, die Bildungs- und Wissenschaftszentren bildeten sich in Städten heraus, und natürlich waren die täglichen Lebensumstände (Wohnungen, Stadtwerke, Dienstleistungen, etc.) in den Städten immer weiter entwickelt als auf dem Lande. Dieser Vorteil der Städte, die seit fünftausend Jahren besteht, nahm im Zeitalter der Mechanisierung ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, d.h. in der Zeit der ersten industriell-technischen Revolution, noch weiter zu. Diese eindeutige Trennung der Städte vom ländlichen Raum fing ab 1780 überall in der Welt an, auch in Europa. Die Modernisierung im technischen und Bildungsbereich wurde in den vergangenen zweihundert Jahren noch mehr mit den Städten verbunden als früher.

Heutzutage beginnt eine neue Ära in der Beziehung der Städte und des ländlichen Raums in Europa. Ab den 1970er Jahren trat eine allmähliche Veränderung in der Beziehung des ländlichen Raums und der Städte ein (eine Veränderung, die sich ab 1998 beschleunigte. Dies war die Möglichkeit eines langsamen Ausgleichs der Unterschiede, wobei jetzt ein schnellerer Gang eingelegt wird. Zuerst die Massenanwendung der Elektrizität, später die Verbreitung der Transistoren, brachten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Beleuchtung, das Radio und das Telefon in den ländlichen Raum. Dann erfolgte die Verbreitung der Verkehrsmittel, die in Europa ab den 1970er Jahren florierte. In den 1970er Jahren begann mit Hilfe der Satelliten das Fernsehen und ab den 1980er Jahren das Handy die menschlich-kulturellen Nachteile der ländlichen Lebensform zu vermindern und die ländliche und städtische Lebensqualität einander näher zu bringen. Der endgültige Durchbruch in der Emanzipation des ländlichen Lebens kommt mit dem Internet ab 1998. Das Internet, das erst seit ein paar Jahren zur Verfügung steht, trägt heute zur vollen Entfaltung der Modernisierungsbedingungen der ländlichen Lebensform bei. Man kann im kleinsten, verstecktesten Dorf (oder sogar in einem Zelt) Teilhaber der Weltkultur werden. Der sich jetzt beschleunigende Ausgleich ist nur eine Bedingung, und es ist die Frage der kommenden Jahrzehnte in wie weit man die Gebiete außerhalb der Städte in Besitz nehmen wird.

Unsere Schlussfolgerung. Die neue industriell-technische Entwicklung trägt gegensätzliche Auswirkungen in sich. Einerseits drängt sie die bisher primäre Funktion des ländlichen Raums in der Erhaltung des menschlichen Lebens – die Lebensmittelproduktionzurück, andererseits sichert sie zum ersten mal nach fünftausend Jahren das Erleben einer zeitgemäßen Lebensform auch in dem Raum, der außerhalb der Städte liegt. Das führt zu einer Annäherung der ländlichen und städtischen Lebensqualität.

 

2. Die Neuerwägung der Beziehung des Menschen zur Natur, und der ländliche Raum

Ich halte die Herausbildung des Gaia-Prinzips für die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung der vergangenen dreißig Jahre. Und ich betrachte die Umweltschutzbewegung als die bedeutendste gesellschaftliche Bewegung der vergangenen dreißig Jahre. In demselben Jahrzehnt, in den 1970er Jahren, wurde der Wissenschaft die Wechselwirkung der sich vollziehenden natürlichen Prozesse bewusst, und gleichzeitig entstanden die ersten intellektuellen Weltbewegungen zum Schutz der Natur. Im Jahre 1979 erschien eine wissenschaftliche Monographie, die das Gaia-Prinzip zum ersten Mal vorstellte, sie wurde ein Welterfolg. Darauf folgte das Programm der „Erdsystem Wissenschaft” im Jahre 2000, das verkündete, dass alle Offenbarungen des irdischen Lebens in ihrer gegenseitigen Wirkung untersucht werden sollen. In 1972 entstand die Weltbewegung für Umweltschutz, worauf bald die Verkündung des Prinzips der „nachhaltigen Entwicklung” folgte. Schon 1992, und danach 2002, forderten Weltkonferenzen (in Rio de Janeiro und Johannesburg) von den Nationalstaaten, die umweltschädigenden Folgen der auf ihrem Gebiet betriebenen Industrietätigkeit mit Gesetzen zurückzudrängen. Es wurde behauptet, dass der Mensch mit der Ausdehnung der technischen Zivilisation, der Verbrennung der fossilen Energien, der Emission von Kohlendioxid, Methan und anderen Gasen, sowie mit der Zerstörung der Biomasse in der Erdoberfläche die Verödung seiner lebenden Umgebung, der Natur, beschleunigt (z.B. mit der Ausrodung der Wälder, der Verschmutzung der Gewässer und des Erdbodens etc.). Damit wird die Lebenserwartung von Gaia, der Erdmutter, verkürzt. In der Geschichte des menschlichen Denkens gab es bisher noch keinen Gedankenkreis, der sich so schnell verbreitet hätte und solche politischen Erfolge erreicht hätte wie der Kult der natürlichen Umgebung, die Neuerwägung der Beziehung des Menschen zur Natur. Während der Mensch im jüdisch-christlichen Kulturkreis seit zweitausend Jahren die „Überwältigung” der Natur als eine seiner wichtigsten Lebensziele betrachtete, wurde dieses zweitausend Jahre alte Dogma ab den 1970er Jahren von einem neuen Grundprinzip abgelöst: Der Mensch selbst ist Teil der Natur, die Natur soll nicht besiegt werden, sondern man soll damit friedlich zusammenleben. Mit dem Aufbrauchen der uns von der Natur geschenkten Dinge und Güter engen wir die menschlichen Lebensbedingungen ein.

Das neue Gaia-Prinzip steckt noch in den Kinderschuhen. Aber bestimmte Schlussfolgerungen für das nächste Jahrhundert haben sich schon herauskristallisiert. Welche sind diese?

a) Die regenerativen Energiequellen, Bioenergie

Eine der Schlussfolgerungen lautet folgenderweise: die fossilen Energiequellen sollen so schnell wie möglich von regenerativen Energiequellen abgelöst werden. Statt Steinkohle, Erdöl und Gas soll allmählich die Nutzung von Wasser-, Wind- und Sonnenenergie, bzw. die Bioenergiequellen in den Vordergrund gestellt werden. Die Bioenergiequellen, d.h. die Energiequellen pflanzlicher Herkunft, sollen bevorzugt werden: das Bioöl, das Ethanol, das Energiegras und der Energiewald, mit deren Verbrennung die Emission – also das Freiwerden von umweltschädlichen Gasen – minimalisiert werden kann.

Der bisherige Schauplatz der Energieerzeugung war meistens die Stadt. Die großen energetischen Zentren, deren Errichtung auf fossile Energiequellen basierte, brachten städtische Siedlungen zustande. Die Energieproduktion erfolgte ja in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten in Großbetrieben. Die Erzeugung der Bioenergiequellen dagegen erfolgt auf dem Lande. Das bringt einen Strukturwandel in der Landwirtschaft mit sich: neben der Lebensmittelproduktion fällt der neue Akzent auf die Produktion von Bioenergiequellen. Der ländliche Raum und die ländliche Landwirtschaft werden voraussichtlich Ort der Erzeugung der neuen Energie sein. Die Energie des 21. und 22. Jahrhunderts wird immer weniger von Bergmännern auf die Oberfläche befördert, sondern in immer größeren Mengen von Bauern erzeugt. (Nicht zu sprechen von den Folgen der bisher noch unergründeten Energiequellen – Sonne, Wind – auf den Strukturwandel der Siedlungen.) Der ländliche Raum gewinnt also in der menschlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an Bedeutung.

In der Energieerzeugung der ostmitteleuropäischen Staaten lässt jedoch der Wandel auf sich warten. Während in Westeuropa 10-12% der erzeugten Energie aus regenerativen Energiequellen stammt, erreicht in den ostmitteleuropäischen Staaten – so auch in Ungarn – dieser Anteil nur 3%. Die Gegebenheiten der Region – nicht zuletzt die von Ungarn – eignen sich hervorragend für die Sonnen-, Wind- und Wasserenergieerzeugung, und unsere Boden-, Klima- und Gewässerverhältnisse können uns eine vorrangige Position in der Erzeugung von Bioenergie sichern. In der ostmitteleuropäischen Region und in Ungarn kann die Nutzung des ländlichen Raums als ein Ort der Energieerzeugung ein wichtiges Grundelement der neuen ländlichen Politik sein.

b) Umweltbewusste Politik, Gemeindenken

Die andere Schlussfolgerung: eine umweltbewusste Mentalität soll herausgebildet werden. Jede bürgerliche Gemeinschaft ist verpflichtet, die Naturschätze der von ihr bewohnten Gebiete, ihrer sog. Unterkunftsgebiete, instand zu halten, deshalb soll die Umweltwirtschaft – sowohl in der Stadt als auch in dem ländlichen Raum – ein Grundelement der Politik und des Gemeindenkens werden. Unserer Beurteilung nach wird dies das Grundprinzip der regionalen Entwicklungspolitik des 21. Jahrhundert sein.

Die Größe der Gebiete, die außerhalb von Städten liegen, machen 80% von Europa aus – Ungarn inbegriffen. Die umweltbewusste und umweltschonende Denk- bzw. Sichtweise soll natürlich auch in den Städten zur Geltung kommen. Dabei soll aber erkannt werden, dass die Erhaltung des natürlichen Zustands dieses 80-prozentigen Gebietanteils die natürliche Instandhaltung des ländlichen Raums bedeutet. Die natürliche Instandhaltung soll von den einheimischen Ortsbewohnern gewährleistet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Stadtbewohner – eventuell die sog. ausgebildeten Fachleute zur Erhaltung der Umwelt – 100-150 km zurücklegen werden, um unsere Wiesen, Lebensstätten im Wasser oder im Wald instand zu halten. Jeder Staat soll also bestrebt sein, das gesamte Gebiet des Staates mit Einwohnern „abzudecken”. Die ländlichen Leute haben – mit einem urbanen Begriff – eine Funktion als öffentliche Hüter der ihnen anvertrauten Gebiete, eine Funktion die in den Städten in dem vergangenen Jahrhundert als ein spezielles Unternehmen anfing (mit der Errichtung von Unternehmen, die sich auf die Instandhaltung des Gemeinguts, der öffentlichen Plätze, Straßen, usw., spezialisiert haben), und deren Finanzierung aus öffentlichen Mitteln wir für selbstverständlich halten.

Die Verbreitung der umweltbewussten Mentalität bringt die Aufwertung und Umwandlung der ganzen Landwirtschaft mit sich. Einerseits müssen die Landwirte zur Kenntnis nehmen, dass sich das Ziel der Landwirtschaft verändert. Sie sollen einem dreifachen Zielsystem folgen: 1. Lebensmittelproduktion; 2. Erzeugung von industriellen Rohstoffen; 3. Umwelterhaltung. Andererseits soll die städtische Gesellschaft zur Kenntnis nehmen, dass der Gemeinnutzgehalt der Lebensmittelproduktion größer ist als der der Produktion von Industriegütern oder sonstiger Dienstleistungen. Der Landwirt als Lebensmittelerzeuger produziert nicht nur solche Güter, die auf dem Markt absetztbar sind und die zur Reproduktion der eigenen physischen Kräfte nötig sind. Er hält mit seinen Getreidefeldern und Weiden auch die Kulturlandschaft instand. Hinter jedem Kilo verspeistem Brot oder Fleisch findet man aufgepflügte und gepflegte Felder, Wiesen und Wälder.

Schlussfolgerung. Der ländliche Raum wird aus der Sicht der gesamten Menschheit aufgewertet: Der Ort der traditionellen Lebensmittelproduktion wird zum Ort der Umweltwirtschaft und – allmählich – zum Ort der Energieerzeugung.

 

3. Die europäische Integration

Die Europäische Union als territoriale Verwaltungseinheit hält es für ihre Aufgabe, ein einheitliches Regelungssystem für die grenzübergreifenden Produktions-, Natur- und Kulturprozesse des Kontinents auszubauen. Die Geschichte ihrer Entstehung nach 1945 zeigte bereits, dass zu Beginn die Produktions- und Marktvorteile einer großen Region am wichtigsten waren (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl /1951/, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft /1957/). Die wirtschaftlichen Vereinheitlichungsprozesse schufen mit der Einführung des Euros als Zahlungsmittel (1999) die gemeinsamen Institutionen. Aus den gemeinsamen wirtschaftlichen Grundprinzipien entwickelte sich die Gemeinsame Agrarpolitik (CAP), die sich infolge der weltweiten Verbreitung und Anerkennung der Aspekte des Umweltschutzes aus einer Regelung für die Produktion von Lebensmitteln zu einem Regelungssystem für Lebensmittel- und Umweltwirtschaft umwandelte. Seit Maastricht (1992) geht es in den heftigsten Debatten innerhalb der Union immer um die Agrarförderungen. Einen Teil dieser Debatten habe ich selbst miterlebt. Ich selbst gehöre zu den Leuten, die den Gemeinnutz der Förderung des Agrarwesens betonten: dass nämlich das Agrarwesen heute – wie schon gesagt – nicht bloß die Produktion von Lebensmitteln bedeutet, sondern auch Umweltwirtschaft – und in der Zukunft immer mehr die Produktion von Bioenergie. Ich gehöre aber auch zu den Leuten, die den verschiedenen großen Agrarlobbys ständig vorwarfen, dass sie die großen Agrarförderungen, die aus dem Geld der Steuerzahler herrühren, in die Tasche stecken, aber diese nicht zum Strukturwandel benutzen, sondern zur Konservierung der alten, einseitigen Produktionsstruktur. Diese Förderungen stehen nur teilweise der güterproduzierenden Funktion der Lebensmittelerzeugung zu. Sie sind gerade für die Umwelterhaltungsfunktion der Lebensmittelproduktion und für den Strukturwandel gemeint, unter anderem für die Produktion der Rohstoffe der Bioenergie. Ich persönlich schlug mehrmals die einheitliche europäische Verwendung eines sog. Gemeinnutz-Koeffizienten vor. Die „territoriale Deckung und die Erzeugnisförderung” (die zwei Aspekte der Förderung) werden in imaginären Klammern mit einem Gemeinnutz-Koeffizienten multipliziert, der nach den von uns für wichtig gehaltenen Präferenzen zunehmen soll. Der „Gemeinnutz-Koeffizient” soll bei der Förderung solcher Produkte minimal sein, die wir zurückdrängen wollen, und er soll bei der Förderung solcher Produkte ansteigen, deren umwelterhaltende oder die Gesundheit fördernde Funktion hervorragend ist. Nach meinem Maß sollte der Gemeinnutz-Koeffizient – und dadurch die Förderung – bestimmter Produkte höher sein als die Förderung der traditionellen Grundernährungsprodukte, die auf dem Markt sowieso leicht zu verkaufen sind. Zu ersteren Gruppe gehören z.B. die Nutzpflanzen, die den Stickstoffgehalt und die Porosität des Bodens steigern; Tierarten, die die gesunde Ernährung fördern, Tier- und Pflanzengemeinschaften, die das biologische Gleichgewicht der natürlichen Lebensstätten sichern, oder Grundpflanzen zur Herstellung von Bioenergie. (Die Agrarpolitik der Europäischen Union ist natürlich von vielen Widersprüchen belastet, aber zu vielen Fragen nimmt sie eine eindeutige Stellung, und an die soll man sich halten. Diese Widersprüche zeigen sich z.B. bei der Förderung der Getreideproduktion. Einerseits liegen ja enorme Getreideüberflüsse in den Interventionsdepots, und doch ist das Getreide eine Pflanze, die für die Deckung großer Gebiete geeignet ist. Die Agrarpolitik der Union spricht sich eindeutig für die Förderung der Rinder- und Fischzucht und für die Verringerung der Förderungssummen der Schweinezucht aus. Das führt im Falle der neuen Mitgliedstaaten zu einem weiteren Widerspruch, weil die Schweinezucht nicht nur von der Tradition und den günstigen Klimaverhältnissen, sondern auch von dem schnellen Umschlag der Investition, die Fertilität und relative Anspruchslosigkeit der Schweine, bzw. ihrer vielseitigen Verwendbarkeit angeregt wird. Aber die meisten von uns – nicht nur die Forscher, die sich mit der Agrarpolitik beschäftigen, sondern auch die Landwirte selbst – könnten die Widersprüche aufzählen, die nicht zuletzt die Bevölkerungsschicht der neuen Beitrittsländer belasten, die in der Landwirtschaft tätig sind.)

Die Union ist eine junge territoriale Verwaltungsorganisation und ein junges Staatsgebilde. Auf einem Europa Forum im Vorjahr versuchte ich den vorherrschenden Euroskeptizismus ein wenig zu bremsen, der einerseits von den nach der Krise in Irak herausbildenden Gegensätzen ausgelöst wurde, und der andererseits eine sogar in Expertenkreisen auftretende Passivität bei den Wahlen des Europäischen Parlaments hervorrief. Ich argumentierte folgenderweise: die Herausbildung Deutschlands, der stärksten territorialen Verwaltungseinheit Europas im 19. Jahrhundert, nahm auch 56 Jahre, zwischen 1815 und 1871, in Anspruch. Der letzte Binnenzoll wurde erst in den 1880er Jahren abgeschaffen. Ich rief auch in Erinnerung, dass die Herausbildung der jetzigen Struktur der Vereinigten Staaten auch mehr als hundert Jahre brauchte. Was ist dagegen die Geschichte der Europäischen Union? – fragte ich. Seit Maastricht sind nur 13 Jahren vergangen. Noch dazu vollzieht sich die Herausformung des neuen Gebildes in einem geographischen Gebiet, in dem zwanzig gleichrangige Literatursprachen und viele sprachliche Kulturinstitutionen und Administrationen tätig sind. Diese hindern die Integration Tag für Tag gerade wenn es um die Führung der gemeinsamen Angelegenheiten geht. Die Europäische Union ist also eine Organisation, die sich jetzt herausbildet, die dadurch unvermeidlich voller Widersprüche ist, und deren Leiter sich bewusst sind, dass die Betroffenen in ihrer Gestaltung aktiv teilnehmen sollen.

Was folgt aus der Osterweiterung der Union für Ungarn bzw. die Ostmitteleuropäische Region?

a) Steuerzahlergemeinschaft von Nationalstaaten

Die Europäische Union ist die erste territoriale Verwaltungseinheit in der Weltgeschichte, in der die Bürger keine direkte staatliche Steuer einzahlen. Das vergessen wir immer wieder zu betonen. Seit der Herausbildung der ersten bis heute bekannten Staaten wurde die territoriale Verwaltung und die zum Umwelt- und Sicherheitsschutz nötigen Systeme, bzw. die öffentliche Sicherheit und die Gesetzgebung unmittelbar aus den Steuern der Bürger finanziert. In der Union bezahlen die Mitgliedstaaten kollektive Steuern. Die Bürger bezahlen also ihre Steuer in ihrem eigenen Nationalstaat. Demzufolge steht es im Interesse aller Bürger des Staates, dass die Gesamtheit der Staatsbürgergemeinschaft gute Steuerzahler werden. Wenn es in Budapest und im westlichen Teil Transdanubiens wohlhabende und gute Steuerzahler gibt und in einer Stadt eine reiche Steuerzahlergemeinschaft entsteht, aber die östlichen oder südwestlichen Teile des Landes arm sind und die ländlichen Leute schwache Steuerzahler sind, nimmt die vollbrachte Leistung der gesamten Gemeinschaft von Staatsbürgern ab. Es steht also im Interesse der Mitgliedstaaten der Union eine aktive Politik auf dem Gebiet der ländlichen Entwicklung zu führen, um damit die Steuerzahlungsfähigkeit der ländlichen Leute zu steigern.

Die Hebung des Wohlstandes der ländlichen Gesellschaft soll auch deswegen unterstützt und mit unternehmensfördernden Maßnahmen, sog. Unternehmensanregern, geholfen werden, weil der Zugriff auf die Finanzmittel der Europäischen Union durch die Einreichung von Projekten möglich gemacht wird. Die von den ungarischen Steuerzahlern einbezahlte Summe soll also von den Bürgergemeinschaften mit Hilfe von Projekten zurückerworben werden. Die Bewerbungen für Projektgelder werden in den Tätigkeitsbereichen und Produktionszweigen ausgeschrieben, die von der Europäischen Union für wichtig gehalten werden. Es steht also im Interesse der ganzen ungarischen Steuerzahlergemeinschaft an die bedeutenden Subventionen für regionale und ländliche Entwicklung, bzw. für Umweltschutz heranzukommen. Diese Förderungen sind also für die ländlichen Leute und ihre Kommunen zugänglich. Die Modernisierung wird also den Mitgliedstaaten durch bestehende wirtschaftliche Interessen und binnenwirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten aufgezwungen. Die Unterstützung des ländlichen Raums bedeutet also nicht bloß die Herausbildung einer ausgeglichenen Steuerzahlergesellschaft, sondern auch, dass die Rückerstattung unserer einbezahlten Gelder, oder eventuell noch größerer Summen, möglich wird. Und dadurch bereichern wir die ganze Steuerzahlergemeinschaft.

b) Die Aufwertung des ländlichen Raums

Die Europäische Union sprach im Rahmen der „Agenda 2000” auf dem Forum in Berlin 1999 über die Notwendigkeit einer staatlichen Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums. Hier wurde all das in die Unionspolitik integriert, das von der naturwissenschaftlichen Literatur der vergangenen Jahre über das Gaia-Prinzip und von den Umweltschutzbewegungen über die umweltbewusste Anschauungsweise erfasst wurde. Der ländliche Raum wurde aufgewertet. Eine Aufwertung in der Europa-Politik. Es wurde bewusst, dass der ländliche Raum mit unternehmensanregenden und arbeitsplatzschaffenden Aktionen gefördert werden soll, weil das Bewohntbleiben des ländlichen Raums nur dann gewährleistet werden kann, wenn es dort Arbeitsmöglichkeiten gibt. Deshalb wurde als sog. zweiter Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik die Förderung zur Entwicklung des ländlichen Raums in der Union formuliert, gerade weil die Erhaltung der natürlichen Umwelt des ländlichen Raums ein Gemeinnutz ist.

Die jetzt beigetretenen ostmitteleuropäischen Staaten – unter anderen auch Ungarn – sollen eine aktive Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums führen. Es ist zwar keine EU-Vorschrift, aber die Europäische Union zwingt uns in diese Richtung dadurch, dass bei der Ausschreibung der Förderungen, um die beworben werden kann – und wodurch Finanzmittel zurückerworben werden können –, die Union die Umweltwirtschaft, die regionale und ländliche Entwicklung bevorzugt.

c) Die Osterweiterung der Union

Diejenigen, die gegen die Osterweiterung der Europäischen Union waren, betonten zwei Hauptargumente. Das eine: die sich jetzt umwandelnden politischen Systeme der ostmitteleuropäischen Region verursachten eine „allgemeine Unsicherheit”, und es ist zu befürchten, dass die Erwerbskriminalität auch auf die westlichen Teile Europas übergreift. Das zweite Argument: die Angst vor der Landwirtschaft der ostmitteleuropäischen Region. Das bedeutet teilweise die Angst vor der Konkurrenz der ostmitteleuropäischen Lebensmittelerzeuger, und Angst davor, dass der Fonds für Agrarförderung in mehrere Scheiben aufgeteilt werden soll. Diese Befürchtung wurde dadurch nur gesteigert, dass der Anteil der von der Lebensmittelproduktion lebenden Bevölkerung in dieser Region – vor allem in Polen – viel höher ist, als in den westeuropäischen Staaten.

Diese Ängste widerspiegeln sich auch darin, dass die Agrarförderung der neuen Mitgliedstaaten nur in sieben Jahren die Summe der westeuropäischen EU-Beihilfen erreichen wird. Wie bekannt, bedeutet das so viel, dass die Leute, die im ungarischen Agrarwesen leben, vorläufig nur 25% der Förderungen der gleichen deutschen oder französischen Bauern bekommen. Der ungarische Landwirt muss also mit einem Viertel der Unionsförderungen der gleichrangigen Konkurrenz der westeuropäischen Kornerzeuger, Tierzüchter oder Weinbauern standhalten. Die ostmitteleuropäische Gemeinschaft der Lebensmittelerzeuger tritt also unter ungünstigen Bedingungen auf den Markt. Es ist eine nicht ausgesprochene westeuropäische Hoffnung, dass die Fördersummen in den neuen Beitrittsländern so langsam ansteigen werden, dass bis dahin die Lebensmittelerzeuger der Region allmählich Konkurs anmelden, und somit keine Konkurrenz mehr für die westeuropäischen Erzeuger darstellen. (Wie bekannt, trägt es auch zum Zugrundegehen der Landwirte bei, dass es für die ostmitteleuropäischen Lebensmittelerzeuger fast unmöglich ist, in die von Westeuropäern besetzten Märkte, die sowieso auf einem höheren Produktionsniveau stehen, hineinzugelangen.) Es ist eine offene Frage, wie die Erzeuger der neulich beigetretenen Gebiete diese sieben mageren Jahre überleben können?

Aber den ländlichen Leuten der neuen Mitgliedstaaten stehen die sonstigen Faktoren des ländlichen Lebens, bzw. der ländlichen Lebensmöglichkeiten, von Anfang an mit gleichen Chancen zur Verfügung wie den westlichen Landwirten. Solche sind z.B. die Bioerzeugung oder die Umweltwirtschaft. Ein mögliches Ziel der neuen ostmitteleuropäischen ländlichen Politik könnte gerade die Förderung des Produktstrukturwandels der im ländlichen Raum betriebenen Landwirtschaft sein.

d) Der europäische ländliche Raum ist nicht identisch mit der Landwirtschaft

Die ländliche Politik der Europäischen Union ist aber nicht identisch mit der Agrarpolitik – sie ist breiter – und ist nicht identisch mit der Lebensmittelproduktion. Es ist zwar die primäre Aufgabe der ländlichen Bevölkerung, das von ihr bewohnte Gebiet instand zu halten: sei es durch Lebensmittelproduktion, Umweltwirtschaft, der Erzeugung von Rohstoffen für Bioenergie oder durch Öko- und Dorftourismus. Der ländliche Raum ist jedoch auch der Ort der europäischen Klein- und Mittelunternehmen.

Auf dem europäischen Kontinent, ähnlich den USA, erfolgt die Herstellung der grundlegenden technischen Massenprodukte in den Betrieben der globalen Großunternehmen. Die Produktion von vielen Produkten, die in kleinen Serien hergestellt werden, steigert jedoch das Einkommen der europäischen Klein- und Mittelunternehmen. Neben der Landwirtschaft bieten diese Unternehmen in einer immer größeren Anzahl Arbeitsplätze für die ländliche Bevölkerung. Deshalb ist die neue ländliche Politik der Union ein Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik, aber sie beschränkt sich nicht ausschließlich auf Landwirtschaft, sondern fördert zum Beispiel auch Industriezweige, die mit der lokalen Verarbeitung der landwirtschaftlichen Produkte verbunden sind.

Der ländliche Raum in Europa ist gleichzeitig auch der Ort der Einführung von neuartigen Dienstleistungen. Mit der Verbreitung der verfügbaren Mittel auf dem Gebiet der Informatiktechnologie werden immer weniger Leute im Verwaltungsapparat benötigt. Gleichzeitig steigert sich auch die Zahl der Leute, die in den gesundheitlichen, kulturellen und infrastrukturellen Dienstleistungsbereichen beschäftigt werden. Die Zahl der in der Umweltwirtschaft benötigten Angestellten steigt auch wiederum an. Wir brauchen weniger Leute in der Verwaltung und mehr Leute in den verschiedenen Zweigen der Infrastruktur (Straßenverkehr, Eisenbahn, öffentliche Werke etc.), und mehr Leute für die Instandhaltung der Wälder, Wiesen und Wasserlebensräume. (Denken wir nur an die traurige Tatsache, wie viele zehntausend Arbeitsplätze in der Wald- und Wassererhaltung in den vergangenen 15 Jahren abgeschaffen wurden, während der Verwaltungsapparat auf umstrittene Weise anschwoll!)

e) Der ländliche Raum ist der Ort der natürlichen und kulturellen Diversität

Für den europäischen Kontinent sind ein beispielloses Entwicklungsniveau und eine eigenartige kulturelle Vielfalt charakteristisch. Mehr als zwei Dutzend nationale Kulturen mit gleichrangiger Literatursprache leben in einem relativ kleinen geographischen Raum. In der Geschichte Europas und der Europäischen Union im 21. Jahrhundert betrachten wir diese Vielfalt – die neben der ethnischen Vielfalt auch eine religiöse und traditionsverbundene Vielfalt ist – als eine Sache, die bewahrt werden soll. Deswegen sprechen wir neben der biologischen Diversität auch über kulturelle Vielfalt.

Diese kulturelle Diversität wird natürlich unvermeidlich von der modernen, uniformierenden Technik untergraben, und die Grundlagen dieser Vielfalt werden von der Modernisierung erschüttert. Lange haben wir gedacht, dass sie auch die freie Bewegung der Arbeitskräfte vernichten wird. Jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir die menschlich-kulturelle Vielfalt als einen eigenständigen und zu bewahrenden Wert betrachten, und nicht nur wir Intellektuellen, sondern auch Leute, die physische Arbeit leisten. Es hat sich herausgestellt, dass einer der Erträge der Union es ist, dass die national-religiöse Vielfalt nicht zu Kriegen führen wird wie im vergangenen Jahrtausend, sondern zur Herausbildung einer neuen vielfältigen europäischen Toleranz und Offenheit beitragen kann.

Der ländliche Raum in Europa – und dadurch auch in Ungarn – ist Träger dieser kulturellen Vielfalt. In den Großstädten Europas haben sich fast dieselben Verhaltensformen herausgebildet. Es ist auch in Ordnung so, ich selbst fühle mich in Wien, München, Frankfurt, Paris, London genauso zu Hause wie in Budapest. Aber ich bewundere auch die bunte Traditionswelt, die mich im Loire-Tal, in Süd-Wales, dem Rheingebiet oder in Kärnten empfängt. Wir wissen, dass diese bunte Tradition gerade durch den Konservierungseffekt des rückständigen, unbeweglichen ländlichen Raums so lange erhalten wurde. Und wir wissen, dass die Gefühle der ländlichen Leute, die sie gegen die Stadt und das Leben in den Städten hegten, oft gerade gegen die europäische Modernisierung ausgenutzt wurden. Sie dienten mehrmals als emotionale Grundpfeiler von konservativen Diktaturen: als Brutstätte des Fremdenhasses und der Modernisierungsfeindlichkeit. Heute befinden wir uns jedoch in einer anderen Situation. Heute ist der sich entwickelnde ländliche Raum nicht mehr stadtfeindlich, oder antimodern, sondern stolz auf seine traditionsbewahrende Rolle – auf die Dialekte, die lokalen Trachtentraditionen, Spezialitäten und Festkulturen – die im 21. Jahrhundert noch erhalten sind. Die ländlichen Leute akzeptieren auch, dass wir, Stadtbewohner, ebenso Teil und Gestalter der nationalen Traditionen sind wie sie, und sie sehen sogar mit Sympathie zu, wenn wir versuchen, das Leben im ländlichen Raum zu organisieren.

Die kulturelle und biologische Diversität gehen immer mehr Hand in Hand. Die Pflanzen- und Tiergemeinschaften, die geomorphologischen Eigenschaften der Erdoberfläche sind Teile der komplexen Erbschaft der jeweiligen Art. Nicht zu sprechen von den lokalen Kulturunterschieden der erbauten Umwelt. (Dem Baumaterial nach richten sie sich nach dem Vorkommnis der früher lokal auffindbaren Materialen – Stein, Holz, Ton -, was die Form betrifft, folgen sie den Klimaverhältnissen oder den sich ausgebildeten lokalen „Stilen”.)

Der ländliche Raum ist also ein wichtiger Schauplatz des europäischen Kulturprogramms geworden, zu dieser Zeit, wenn die Vielfalt des historischen Erbes wieder als wertvoll betrachtet wird.

In Ostmitteleuropa blieb die Konservierungskraft des ländlichen Raums – wegen ihrer Rückständigkeit – stärker bestehen als in Westeuropa. Deshalb kann in den neulich beigetretenen Ländern die Bewahrung der kulturellen Vielfalt des ländlichen Raums zu einer noch nicht wirklich erkannten, richtigen EU-Aufgabe werden.

f) Der ländliche Raum in Ungarn: aus Verlierern zu Gewinnern

In Ungarn ist der ländliche Raum der große Verlierer des Systemwechsels und der Erweiterung der EU. Zumindest bis jetzt. Wir hoffen aber, dass wir dies ändern können, wenn wir die neue europäische Politik erkennen und die neuen Möglichkeiten ausnutzen.

Mit dem Systemwechsel und dem EU-Beitritt haben wir im Allgemeinen ziemlich viel gewonnen. Eine politische Demokratie hat sich in der Region herausgebildet. Die einst zu Zusammenstößen führenden nationalen Konflikte der Region lassen allmählich nach. Es herrschen die Regeln des freien Marktes, und sie tragen auch mit spontaner Kraft zur Modernisierung der ungarischen Wirtschaft bei. Der wirtschaftliche „Großraum” der Union, die einströmende fortschrittlichere Technologie und effektivere Arbeitsstruktur wird für uns auf die Dauer unbedingt Vorteile bringen. Die Güterversorgung ist von den großen Kaufhausketten, die in das Land kamen, auf ein hohes Niveau gebracht worden. Die Modernisierung des Bankensystems ist auch hervorragend gelungen. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Modernisierung vor allem in den Wirtschaftszweigen und in jenen Gebieten (in den Städten) durchgesetzt werden konnte, wo die freie Strömung des internationalen Kapitals nach 1990 gesichert werden konnte, dort also, wo die Wirtschaft eine spontane Modernisierung vollzogen hat. Langfristige Planung und die dazu nötige aktive Administration sind hier viel seltener zu finden, als im benachbarten Slowenien, Tschechien oder sogar in der Slowakei. In den Regionen, wo es keine internationalen Kapitalinvestitionen gibt, so z.B. im ländlichen Raum, ist eine graduelle Verarmung zu beobachten. Im ungarischen ländlichen Raum können wir nicht auf das internationale Kapital warten. Wenn wir es auch in Betracht ziehen, dass die heimischen Aufarbeitungsbetriebe der Lebensmittelrohstoffe nicht besonders günstig privatisiert wurden, ist es verständlich, warum die ländliche Bevölkerung das Gefühl hat, dass sie die Verlierer des Systemwechsels und des EU-Beitritts sind. Das trägt auch dazu bei, dass Ungarn heute nach europäischer Beurteilung in der Reihe der mitteleuropäischen ex-kommunistischen Länder auf einem ungünstigeren Platz ist als 1989-91. Das schlechte Niveau der allgemeinen Sicherheit, die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten, die Steigerung der sozialen Unterschiede, das Sinken der bildungs-moralischen Allgemeinzustände, die langsame Entwicklung der Infrastruktur und die ungeregelten Landbesitzverhältnisse degradieren uns. Die Mehrheit dieser Faktoren unserer Rückständigkeit ist mit dem ländlichen Raum verbunden, und es ist auch im ländlichen Raum, wo die Auswirkung dieser negativen Faktoren spürbar wird.

Mit dem Systemwechsel und dem EU-Beitritt verlor vor allem die ungarische Landwirtschaft. Sowohl die Lebensmittelproduktion als auch die Umweltwirtschaft. Eine politisch bestimmte Landbesitzreform führte dazu, dass 90% der ungarischen Landbesitzer über ein Landbesitz von weniger als 5 ha Größe verfügt. All das zu einer Zeit, in der die Lebensmittelproduktion in den meist profitablen Branchen nicht mehr unter 50-100 ha geführt werden kann. (Ich möchte jetzt nicht über die Vorgeschichte dieser Landbesitzpolitik sprechen, aber denken Sie nur daran, dass das Landbesitzwesen auch vor 1945 eine politische Frage war und nicht von den regierenden Tendenzen des freien Markts bestimmt wurde. Die historischen Großgrundbesitze, die sogenannten Fideikommisse und die großen Landbesitze der Kirche, wurden mit politischen Mitteln, d.h. mit Gesetzen, aufrechterhalten, während der Landbesitz im Westen von den Verhältnissen des Marktes bestimmt wurde. All das führte zu politischen Bewegungen gegen Großgrundbesitze, und so entstand die heute noch gefeierte Landreform von 1945, die aus politischer Veranlassung wieder eine Unmenge von wettbewerbsunfähigen Zwergbauern herausbildete. Darauf erfolgte zwischen 1951-1956 die „gemeinsame Politik”, die von politischen Überlegungen veranlasst wiederum die echte Rationalisierung der Produktionsstruktur der neuerrichteten Großbetriebe untergrub. So erhob der Systemwechsel 1990 das Motto „der Kleinbesitz soll wieder her” zu einem seiner politischen Wahlsprüche – als Kritik am sozialistischen Großbetrieb und am gemeinsamen Besitz. Das Land wurde sogar als Mittel der politischen Entschädigung verwendet. In Wirklichkeit ist natürlich der Zwang des Marktes gut spürbar. Die so entstandenen größeren Betriebe basieren alle auf dem undurchschaubaren System von Mietverträgen, das die systematische Betrachtung der Lebensmittelproduktion und der Umweltwirtschaft verhindert.)

Aber die Bevölkerung wurde nicht auf den EU-Beitritt vorbereitet – weder von der politischen, noch der intellektuellen Leitungsschicht. Den Mangel dieser Vorbereitung spüren vor allem die ländlichen Leute. Es ist die gemeinsame Verantwortung von uns, Intellektuellen und Politikern. Beim EU-Beitritt suchten wir allzu viel die diplomatische und außenpolitische Aktivität, die, meines Erachtens nach, erreicht wurde. Aber wir bildeten nicht genügend Europa-Experten aus und konnten es vor allem den einfachen Leuten nicht verständlich genug erläutern, welche Vorteile und Nachteile infolge des EU-Beitritts zu erwarten sind und inwieweit die Konkurrenz sich steigern wird. Wir nahmen nicht in Betracht, dass der EU-Beitritt nicht mit der Herströmung der Subventionen gleichzusetzen ist, sondern nur die Möglichkeit dafür bedeutet. Wir bereiteten die Leute nicht darauf vor, dass der EU-Beitritt sowohl für die Bevölkerung der kleinsten Siedlungen als auch für die Bewohner der Städte einen teilweise grausamen Wettbewerb mit sich bringen wird, und dass in diesem Wettbewerb gerade die ländlichen Leute den Kürzeren ziehen, wenn der Staat nicht angemessen für ihre Vorbereitung sorgt.

Schlussfolgerung. Die neue ländliche Politik setzt sich zum Ziel, den ungarischen ländlichen Raum aufnahmefähig und für die Ausnutzung der Unionsmöglichkeiten geeignet zu machen, nicht zuletzt durch die klügere Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel der staatlichen Förderungen und durch die Bevorzugung der ländlichen Entwicklung.

g) Die Interessen des ungarischen und ostmitteleuropäischen ländlichen Raums in der EU

Wie gesagt, die Europäische Union ist eine junge Organisation. An ihrer Gestaltung sollen jetzt auch wir ostmitteleuropäische Bürger teilnehmen. Auch deswegen sollen wir darauf achten, welche besonderen regionalen Interessen wir konzipieren. Umso mehr, weil sich nach Nizza (2000) eine neue Möglichkeit dafür bietet, dass die kleinen Staaten gemeinsame Aktionen initiieren, die ihre eigenen Interessen widerspiegeln. Die Institution der sog. „engen Zusammenarbeit” macht es nicht nur möglich, dass acht Staaten gemeinsam Präferenzen vorschlagen. Keiner der anderen Mitgliedstaaten hat die Möglichkeit, ein Veto einzulegen. Über die Vorschläge soll abgestimmt werden.

Eine Eigentümlichkeit der Gebiete der neuen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten ist die Rückständigkeit des ländlichen Raums, vor allem der Kleinsiedlungsregionen. Unserer Auffassung nach sollte unter den Präferenzen der Union die Bevorzugung der Kleinsiedlungsregionen (Regionen von Dörfern unter 1000 Bewohner) auf Unionsebene vorgeschlagen werden. (Die Union hat schon ein besonderes Förderungssystem für Meeresküsten und Gebirgsländer. Die skandinavischen Staaten erreichten, dass die Präferenz der wenig bewohnten Gebiete ebenfalls eine Sonderstellung bekommt.) Die Staaten der ostmitteleuropäischen Region könnten die Bevorzugung der „Kleinsiedlungsregionen” vorschlagen. Um das zu erreichen, könnte die „Charta für den ländlichen Raum” einen Vorschlag zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit enthalten.

 

4. Der ländliche Raum in der Politik, eine neue Interpretation der Modernisierung

Die neuen Faktoren des Zeitalters benötigen Vertretung und Publizität auch in der Parteipolitik. Im 21. Jahrhundert – wie gesagt – wird die ländliche Gesellschaft und im Allgemeinen der ländliche Raum aufgewertet. Die Grundlagen dieser Aufwertung sind die Umweltwirtschaft und der Umweltschutz als Bedürfnisse und gleichzeitig die Entwicklung des ländlichen Lebens als eine Möglichkeit, also die Rolle des ländlichen Raums in der Erzeugung neuartiger Energiequellen. Diese neuen Faktoren und ihr Wirkungsbereich, der ländliche Raum, verlangen auch eine Vertretung auf politischer Ebene.

In der Zeit der früheren industriellen Revolutionen zwischen 1780-1990 (1998) war die Stadt der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa. Sowohl die technische (industrielle, energetische), als auch die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung war mit der Stadt verbunden. Die Produktions- und Dienstleistungszweige, die die Lebensqualität verbesserten, waren ebenfalls an die Städte gebunden. Die Tatsache, dass die Städte seit einem Jahrtausend viel entwickelter sind als der ländliche Raum, wurde in den letzten zwei Jahrhunderten ganz eindeutig. Wir könnten auch sagen, dass in den vergangenen zweihundert Jahren Europa von den urbanen Kräften und der urbanen Zivilisation zum Sieg verholfen wurde. Diese urbane Zivilisation strömte mit Hilfe der neuen technischen Instrumentenkultur im 20. Jahrhundert langsam auf außerstädtische Gebiete. Der ländliche Raum und die dort lebenden Leute holen aber ihren tausendjährigen Nachteil ab 1998 explosionsartig auf.

Die Rolle des ländlichen Raums als Träger der Kultur ändert sich auch. Bis jetzt war der ländliche Raum Bewahrer der tausendjährigen Erzeugungs- und Sittentraditionen. Der Bewegungsradius der ländlichen Bevölkerung war jahrtausendelang unvergleichbar enger als der der Stadtbewohner, und ihre Fähigkeit neue kulturelle und geistige Strömungen aufzunehmen war auch auf einer niedrigeren Ebene. Damit ist es zu erklären, dass der ländliche Raum in der Geschichte der parlamentarischen Politik des 19-20. Jahrhundert ein Ort der Politik war, die die Traditionen und die Kontinuität als wichtigste Priorität setzte. Die Bewegungen, die die ständige Erneuerung aufs Banner schrieben, waren eher mit der städtischen Produktion und Verwaltung und den städtischen Arbeitnehmern verbunden. Die neuen Faktoren der vergangenen Jahrzehnte, z.B. die Offenheit für Umweltschutz, wurden eigenartigerweise auch von der städtischen Gesellschaft formuliert. Sogar die sogenannten Grünbewegungen der 1970-90er Jahre waren ausgesprochen städtische Bewegungen. Daraus ergibt sich der eigenartige Widerspruch der vergangenen drei Jahrzehnte: während die Umwelterhalter – ihrem Beruf zufolge – auf dem Lande leben, wohnen die meisten Umweltschützer in der Stadt.

In der europäischen parlamentarischen Politik kam in den vergangenen 150 Jahren eine eigenartige Arbeitsteilung zustande. Der Liberalismus und die Sozialdemokratie, bzw. die daraus entstandene kommunistische Bewegung, erschienen als politische Befürworter der Arbeiterklasse und des städtischen Kleinbürgertums, die sich im Zeitalter der Maschinen erhoben hatten. Diese Parteien wurden in ihrer 150-jährigen Entwicklung zu typisch städtischen Parteien. Ihre Geschichte zeugt von einer Sensibilität für revolutionäre Änderungen, für die technische Modernisierung der industriellen Gesellschaft, den damit verbundenen freien Handel und den Schutz der Arbeitskräfte. Sie zeigten aber wenig Verständnis für die ländliche Bevölkerung und vor allem die Probleme des dort lebenden Bauerstandes. Und sie zeigen wenig Verständnis für die zwei Faktoren, die im Allgemeindenken der Traditionsbewahrung zugeordnet werden: die nationale Identität und die Religion. Die konservativen Parteien sind gerade unter der ländlichen Bevölkerung populär und bauen auf die religiösen und nationalen Formen der Traditionen, auf die religiöse und nationale Identität.

Der erste störende Faktor in dieser Arbeitsteilung war die früher erwähnte Grünbewegung und das Erscheinen der Grünparteien. Die Grünparteien entwickelten sich aus den (sich ab den 1970er allmählich mildernden) sogenannten neulinken Ideen und dem Antikapitalismus der Sozialdemokratie. Ihr Programm basiert primär auf der Negation: die Verneinung der unbegrenzten Profitsuche, die die menschlichen Faktoren völlig außer Acht lässt, und die Verneinung der einseitigen Interpretation der Entwicklung. Sie sprechen sich dagegen aus, dass die Entwicklung allein an der Vermehrung der materiellen Güter und der Zunahme des technischen Instrumentenbestands zu messen ist. Sie setzen das Leben in Harmonie mit der Natur und die Wertordnung der Bildung und der Umweltpflege vor die materielle Vermehrung. Wenn sie aber ein positives Programm formulieren sollen, geraten sie in Widersprüche. Die Grünbewegungen sollen nun aus dem politischen Feld der Negation in das Feld der kreativen Aktionen, der Taten (z.B. das der Regierungsverantwortung) treten. Heute ist das Feld, wo es an Taten mangelt, nur noch zum kleinen Teil in Städten zu finden und vielmehr im ländlichen Raum. Die erste Generation der grünen Politiker, die zu Beginn in den Städten tätig war, soll auch den ländlichen Raum erlernen. Auf jeden Fall erkennen wir erst jetzt, dass die Grünbewegungen die neuartige ländliche Politik kennen lernen sollen, und dies ist nur mit Hilfe der ländlichen Leute zu erreichen. Ähnlicherweise sind die Wähler der sozialdemokratischen und liberalen Parteien immer lauter und regen diese Parteien an, sich aus der Stadt auch in Richtung des ländlichen Raums zu bewegen. Die ländlichen Bauernunternehmer sind ja genauso Teilhaber der Prinzipien des Liberalismus wie die städtischen Kleinbürger im Dienstleistungsbereich und im Handel. Die ländlichen Lohnarbeiter brauchen das soziale Schutznetz und seine Institutionen genauso wie die städtischen Arbeitnehmer oder Beamten. Sowohl die europäische Sozialdemokratie als auch der europäische Liberalismus leidet unter dieser Krise.

Die menschliche Tätigkeit im ländlichen Raum und die Aufwertung der natürlichen Umwelt braucht eine bunte politische Vertretung im Parlament. Die jahrhundertlange Interessenvertretung der Lebensmittelerzeuger in den Landwirtschaftskammern bzw. in den verschiedenen Genossenschaften oder Agrargewerkschaften genügt heute nicht mehr. Die politischen Parteien, die mit dem Geld der Steuerzahler wirtschaften und Rechtsordnungen geben, können das Wirksamwerden und die Verstärkung der neuen Faktoren beschleunigen oder verzögern. Die Tatsache, dass in den vergangenen 20 Jahren in Westeuropa, und jetzt auch in Ungarn, die Agrarunternehmer regelmäßig zum Streik greifen, zeigt, dass die ländliche Gesellschaft ihre angemessene politisch-parlamentarische Vertretung nicht findet. Es ist nicht selten, dass die Kammer, und sogar die Fachadministration des Agrarsektors spontan oder ohne es auszusprechen auf der Seite der Streikenden waren. Es gibt keinen angemessenen und kontinuierlichen Dialog zwischen den politischen Parteien und der ihr unterstellten Regierungsadministration, und den ländlichen Leuten. Die Initiativen, eine selbständige Agrarpartei oder eine sogenannte Landespartei zu organisieren, versagen.

Es ist eine große Frage für die konservativen Parteien: Nehmen sie die neuen Programme auf sich, die den ländlichen Raum zu modernisieren versuchen? Wagen sie sich von den traditionsbewahrenden Programmen zu distanzieren, die schon seit Jahrhunderten angewandt werden? Können sie die Schlussfolgerung ziehen, dass der ländliche Raum nicht derselbe ist und nicht derselbe sein kann wie er früher war? Wenn sie es tun, und die Mottos der neuen ländlichen Politik aufs Banner schreiben – den Lebensformwechsel, den Produktstrukturwandel, die infrastrukturelle Modernisierung, die Selbstorganisation und die Stichwörter der Subsidiarität – kann sich ihre Beurteilung durch die nächste Generation der Historiker ändern: vielleicht wird die konservative Politik von gestern die Modernisierungspolitik von morgen werden...

Aber es ist auch eine große Frage für die sozialdemokratischen und liberalen Parteien, ob sie die neuen Kräfte im ländlichen Raum unterstützen werden? Werden sie sich in Richtung der ländlichen Bevölkerung und des Bauernstands bewegen? Werden sie zur Kenntnis nehmen, dass der ländliche Raum nicht mehr Gegner der Modernisierung ist, sondern notwendigerweise gerade Ort der neuartigen Modernisierung? Und dass diese neue Modernisierung auch auf die Hilfe der politischen Parteien wartet? Können sie die heutigen Hindernisse der sozialdemokratischen und liberalen Rolleninterpretation überspringen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten? Können sie die sich heute in der Welt abspielenden Änderungen in der Wertordnung, in ihrem politischen Programm und bei ihrer Tätigkeit zur Geltung kommen lassen?

Es ist eine große Frage, ob die europäischen Apparat-Parteien fähig sind, die hindernde Bürokratie und die geistige Behäbigkeit der allzu sehr institutionalisierten Parteien aufzulösen.

Das neue ländliche Programm wartet jedoch sowohl in Europa als auch in Ungarn auf die Hilfe der politischen Eliten.

 

II.
DER GEMEINNUTZ DES LÄNDLICHEN RAUMS IN UNGARN

Das ländliche Ungarn soll nicht zum Verlierer des Systemwechsels und des EU-Beitritts werden! Das gilt auch für die Leute, die im ländlichen Raum leben, und für die natürliche Umgebung, die zum ländlichen Raum gehört. Das ist die Zielsetzung unseres Unternehmens, der Bewegung „Dialog für den ländlichen Raum”. Es ist unser Ziel, die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft und der politischen Elite auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und umweltwirtschaftlichen Konflikte des ländlichen Raums zu lenken. Und es ist unser Ziel, die Aufmerksamkeit auf die im ländlichen Raum steckenden Möglichkeiten zu lenken – sowohl die Aufmerksamkeit der Politiker, als auch die Aufmerksamkeit der Leute, die in den Städten und in dem ländlichen Raum leben. Es ist unser Ziel, die „Charta für den ländlichen Raum” zu verfassen, die wir den leitenden Politikern des Landes überreichen werden, und aufgrund dessen das Parlament einen Beschluss über die Grundprinzipien der ländlichen Entwicklung verfassen kann. Einen Parlamentsbeschluss, der eine langfristige Verpflichtung aller Parteien des Parlaments enthält, und der die vierjährigen Regierungsperioden überspannt. Diese Verpflichtung soll die Bevorzugung des ländlichen Raums bei der Verteilung der Haushaltsmittel feststellen: vor allem bei Investitionen, die die Infrastruktur (Verkehr, Informationstechnologie, Förderung der öffentlichen Werke), die Bildung und Allgemeinbildung, die Umweltwirtschaft und den Landschaftsschutz betreffen, und bei der Förderung von Unternehmen mit staatlichen Mitteln, sowohl im Bereich der Landwirtschaft, als auch im Bereich der Industrie. Es ist unser Ziel, auf der vorher geschilderten Weise im Rahmen einer langfristigen Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, einen Vorschlag zur Präferenz der ostmitteleuropäischen Kleinregionen der Europäischen Union (und dadurch des ländlichen Raums) zu erfassen. Damit würden auch unsere ostmitteleuropäische Interessen unter den bevorzugten Unionsförderungen erscheinen.

Im Folgenden möchte ich zu den jetzt beginnenden Analysen und den darauf folgenden Zusammenfassungen fünf Anmerkungen hinzufügen über den Gemeinnutz, den die Bevorzugung des ländlichen Raums für die ganze ungarische Gesellschaft mit sich bringt und noch bringen kann.

 

1. Die geographische Lage des ungarischen Staates

Der ungarische Staat liegt in der Mitte des Karpatenbeckens, und bestimmte Zwänge folgen aus dieser geographischen Lage, die das Leben der auf seinem Gebiet lebenden Bürger beeinflussen.

a) Offenheit in alle Richtungen, Vermittlungsrolle

Einer dieser Zwänge ist eigentlich ein „Vorteil”, der aus der Vermittlungsrolle des Landes entsteht. Die Offenheit des Staates in alle geographischen Richtungen ist ein Zwang. Durch die Osterweiterung der Europäischen Union liegt Ungarn an der neuen Landstraße des wirtschaftlichen und politischen Lebens: an der Landstraße der Erweiterung in Richtung der ukrainisch-russischen Gebiete und der Balkangebiete. Die ukrainisch-russischen Gebiete werden die großen europäischen Reserven des 21. Jahrhunderts werden. Genauso wie die Informatik und der Luftverkehr sich entwickeln, soll ihre Zugänglichkeit auch auf dem Festland gewährleistet werden. Das kann auf den Landstraßen und Schienen geschehen, die durch Polen und Ungarn führen. Ähnlicherweise könnte der Weg in die von der Union anvisierten Richtung der Erweiterung, dem Balkan und der Türkei, durch Ungarn oder Kroatien und Serbien führen. Die Entwicklung der Infrastruktur des östlichen Teils Ungarns soll also eine besonders wichtige Angelegenheit von öffentlichem Interesse sein, weil die Bedienung des Transitverkehrs nach Osten und Südosten hin im Interesse der ganzen steuerzahlenden Gemeinschaft steht. Das Ziel der ländlichen Entwicklung ist also begründeterweise Ostungarn, bzw. Südwestungarn. (Nordwestungarn, das zu den prosperierenden Wirtschaftsgebieten zählt, und die Agglomeration der Hauptstadt entwickeln sich dynamisch infolge der spontanen kapitalreichen Investitionen auch bei durchschnittlicher Förderung.)

b) Klima, Gegebenheiten der Boden- und Wasserbewirtschaftung

Der andere Zwang ist nur teilweise ein Vorteil: Ungarn liegt nicht nur in der Mitte des Karpatenbeckens, sondern auch im unteren Teil des Beckens.

Es ist ein Vorteil, dass die Gewässer des Beckens aus den Karpaten auf diesem Gebiet zusammenfließen, und es ist ein Vorteil – oder wenigstens war es bisher so – dass der höchste Ackerlandanteil eines Staatsgebiets in Europa Ackerland von hoher Qualität ist, das sich für die Landwirtschaft eignet. Dieser Vorteil kann aber nur dann ausgenutzt werden, wenn wir die Gewässer, die im 21. Jahrhundert wohl zu den Mangelwaren zählen werden, einstauen, und sie in einer größeren Menge auf dem Gebiet des Landes halten als bisher. Daneben sollten wir auf diese Wassermenge ausgerichtete neue Produktionskulturen ausbauen: Lebensmittelproduktionszweige, die sich nach den Überschwemmungsgebieten und planmäßiger Wasserbewirtschaftung richten, touristische Möglichkeiten, und eine spezielle Landwirtschaft mit Bewässerung. (Diesem Zweck dient das Neue Theiß-Tal Programm, bzw. das Programm der Wasserspeichersysteme mit geringem Wasserdurchfluss, und das Donautal Programm, das wegen der Krise in Serbien ins Stocken geriet.) Ausgedehnte Ackerländer sind ein Vorteil, wenn wir in dem kommenden Jahrzehnt die Lebensmittel- und Umweltwirtschaftszweige (Biomasse) nutzen wollen, die sich nach unserem Klima und der zeitgemäßen Ernährung richten und auch auf dem Weltmarkt zu verkaufen sind.

Der Nachteil ist, dass die Abwässer der Nachbarländer in dem unteren Teil des Karpatenbeckens zusammenfließen, und die großen Pflanzen- und Tierseuchen der Region mit den Luftströmungen hierher kommen. Es ist ein schwieriges Problem auch deshalb, weil sich die Industrialisierung in der Region in der sowjetischen Ära doppelgesichtig entwickelte: die Mechanisierung, die Ausnutzung der fossilen Energiequellen in der Region erfolgten zwar, aber die Umwelt- und Naturschutzsysteme wurden nicht ausgebaut, wie es im Westen parallel mit der Mechanisierung stattfand. In Ungarn soll also eine aktive Landschaft- und Naturschutzpolitik betrieben werden, die vom Staatshaushalt vor allem die Pflege der Kunstwerke des ländlichen Raumes und der Naturschutzgebiete fordert. (Nicht zu sprechen davon, dass das umfangreichste Dammsystem der Welt in Ungarn zu finden ist, das für den Hochwasserschutz des mittelöstlichen Gebiets des Landes, bzw. des Donautals sorgt.) Seiner geographischen Lage zufolge soll Ungarn zur gleichen Zeit eine aktive Nachbarschaftspolitik betreiben, da sowohl der Hochwasserschutz, als auch die neuartige Umweltwirtschaft nur in Zusammenarbeit mit den uns umgebenden sieben Staaten zu verwirklichen ist. Zufolge des Friedensvertrags von Trianon reichen die Grenzen dieser Staaten bis in die ungarische Tiefebene (vor allem im Falle der Slowakei, Rumäniens und Serbiens). Die natürliche Instandhaltung des Gebiets des Ungarischen Staates kann nur in enger Zusammenarbeit mit diesen Staaten erfolgen. Die ländlichen Räume in Ungarn und in der Slowakei, Rumänien, Serbien sind alle Teile derselben Landschaft, die durch Staatsgrenzen getrennt wurde. Die ungarische ländliche Entwicklung soll also eine ländliche Entwicklung sein, die auf ostmitteleuropäischer Zusammenarbeit basiert. Die Festlandwege führen sowieso durch den ungarischen ländlichen Raum in die Nachbarländer, mit denen die allgemeine internationale Zusammenarbeit – so nicht zuletzt auch die Unionszusammenarbeit – äußerst wichtig für Ungarn ist.

 

2. Zu den Gründen des Rückstands der ungarischen ländlichen Entwicklung

Aufgrund unserer Geschichtsstudien können wir folgende vier Gründe des Rückstands des ungarischen ländlichen Raums nennen.

a) Erster Grund: Die vorhandenen günstigen landwirtschaftlichen Gegebenheiten

Einer der Vorteile des heutigen Ungarns ist, dass ein großes Gebiet des Landes für Lebensmittelproduktion geeignet ist. Innerhalb des früheren Staatsgebiets sorgte die Mitte des Landes, d.h. der untere Teil des Karpatenbeckens, für den Speisekammer-Charakter des ungarischen Staates. Bis zum 19. Jahrhundert wurde der westeuropäische Lebensmittelmarkt infolge des während der kleinen Eiszeitalter entstandenen Lebensmittelmangels, später der schnellen industriell-technischen Entwicklung und der Verstädterung von hier gespeist. Die Lebensmittel aus dem Karpatenbecken – vor allem das Getreide und das Treibvieh, also das auf eigenen Beinen zum Markt getriebene Vieh – waren gut zu verkaufen. Nach 1945 nahm der neue sowjetische Markt die Lebensmittel günstig auf. Die Mitte des Karpatenbeckens, das nach Trianon zurückbleibende ungarische Staatsgebiet, war ein Wirtschaftsgebiet, das sich jahrhundertlang einseitig auf Lebensmittelproduktion konzentrierte. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Märkte geriet diese ländliche Gesellschaft, die sich vorwiegend auf Lebensmittelproduktion spezifizierte, „selbstverständlich” in eine akute Krise. Die bisher jahrhundertelang ertragsbringende Produktionsstruktur wurde zur Zeit des Systemwechsels und des EU-Beitritts plötzlich zu einem Nachteil.

b) Zweiter Grund: Die ungünstige Landbesitzstruktur

In Ungarn brachte die Verbürgerlichung der Bauern magere Ergebnisse. Während der Landbesitzwechsel in Westeuropa im 19. und 20. Jahrhundert frei wurde, blieb in Ungarn – wie schon erwähnt – das Monopol des Großlandbesitzes der Kirchen und der Fideikommisse der historischen Familien bis 1945 erhalten. Von Széchenyi an bis 1945 wussten alle Denker, die sich mit Europa beschäftigten, dass die primäre Voraussetzung der Verbürgerlichung des ländlichen Raums – und der mit dem Land verbundenen Landwirtschaft – die kapitalreiche Investitionen wären. Das wurde aber durch die Betriebsunfähigkeit des Landbesitzes und der daraus entstandenen verzerrten Struktur verhindert. Während sich die in der Landwirtschaft tätigen Leute in Westeuropa allmählich dem Bürgertum aufschlossen, das Land den Marktbedürfnissen nach gebraucht wurde und sich der Typ eines kräftigen Bauernbürgers herausbildete, blieb diese Schicht in Ungarn mager: mit wenigen Leuten und mit niedriger Kapitalkraft. (Auch trotz der verschiedenen kleineren Reformen, die zwischen 1890-1936 stattfanden.) Demzufolge war die Mehrheit der ländlichen Leute arm, das sich auf die lokale Bauernkommune stützende Selbstverwaltungssystem konnte sich nicht entfalten, und das System der lokalen Märkte, das in dem ländlichen Raum Westeuropas Industrialisierung und Fortschritte im Zivilisationsniveau mit sich brachte, konnte nicht ausgebaut werden. Während der ländliche Raum in Westeuropa in den 19. und 20. Jahrhundert anfing, sich mit Bezug auf die Lebensqualität und die Wirtschaft den Städten anzunähern, näherten sich in Ungarn nur die Lebensmöglichkeiten der Stadt an die der europäischen Städte. Der ungarische ländliche Raum blieb jedoch hinter den Städten und vor allem der Hauptstadt weit zurück.

Die Landreform von 1945 geschah aus politischem Antrieb. Es erfolgte auf außerwirtschaftlichem Zwang und nicht auf marktorientierten Grundlagen. So reproduzierte der ländliche Raum durch die Überzahl der konkurrenzunfähigen Kleinlandbesitzer die Armut und den Rückstand. Daran änderte der weitere Besitzstrukturwechsel von 1951-61 nur wenig. Die nicht marktorientierte Anschauungsweise und die von der Politik beeinflusste Förderungspolitik zerstörten den Vorteil, den die Großbetriebsform in einigen Zweigen mit sich brachte. Und das politische System förderte auch nicht das lokale Selbstverwaltungswesen und die ländliche Entwicklung. Noch dazu wurde die sich in fünfzig Jahren doch entwickelnde magere Bauernbürgerschicht mit politischen Mitteln liquidiert (Kulakverfolgungen).

Nach 1990 erfolgte wiederum ein Besitzwechsel aus politischem Antrieb. Der verzettelte Landbesitz und die verbliebene Annäherung an die westlichen Märkte verwandelten den ländlichen Raum in einen Wohnort der armen Leute. Die Behauptung unserer Agrarökonomen, laut der eines der größten Hindernisse der Entwicklung des ländlichen Raums die schlechte Landbesitzstruktur ist, ist nicht unbegründet.

c) Dritter Grund: Die territoriale Umwandlung infolge des Friedensvertrags von Trianon

Die Beurteilung des Friedensvertrags von Trianon kann von den mitteleuropäischen Nationen bestritten werden. Sowohl in Ungarn als auch in den Nachbarländern und in Polen gibt es nationalpolitische Debatten darüber. Eines kann aber nicht bestritten werden: durch Landesgrenzen trennte das neue System von kleinen Staaten solche Gebiete voneinander, die jahrhundertelang wirtschaftlich aufeinander angewiesen und miteinander verflochten waren. Straßensysteme und regionale Marktsysteme, die sich in einem Jahrtausend entwickelt hatten, wurden unterbrochen. Die neuen Wirtschafts-, Verkehrs- und Handelsstrukturen wurden von Präferenzen und nationalen politischen Interessen beherrscht.

Eine der Grundlagen des Reichtums des ungarischen Staates vor 1918 war im Karpatenbecken die organische Einheit der Industrie, Landwirtschaft und der Infrastruktur. Neben der Hauptstadt, Budapest, wurde ein System von starken industriellen mittelgroßen Städten an den Randgebieten des Staates ausgebaut, die die Produkte der Landwirtschaft in der Mitte des Beckens aufnahmen und als Vermittlungszentren zu benachbarten Staatsgebieten funktionierten. Die Randgebiete, die sich zwischen 1880-1918 rasch entwickelten, und das Straßen- und Bahnnetz, das in diesen Gebieten äußerst entwickelt war, wurde mit Trianon vom Gebiet des neuen Staates abgerissen. Das Bahn- und Straßensystem, dessen Zentrum in Budapest war, führte von einem Augenblick auf den anderen nirgendwohin. Auf dieser Weise verlor der ländliche Raum auf dem verbliebenen Staatsgebiet eine seiner wichtigen Lebensfunktionen.

Die Bedeutung der Hauptstadt nahm auf dem verbliebenen Landgebiet unverhältnismäßig zu. Budapest überlebte die Änderung des Staatsgebietes schnell und blieb weiterhin eine der internationalen Städte Mitteleuropas. Sie genoss auch die Hauptstadt-Orientiertheit der diktatorischen Staatsysteme zwischen 1920-1990: der die Hauptstadt in der Hand hat, hat ja mit Hilfe der diktatorischen Politik und der zentralistischen Verwaltung den ganzen Staat in der Hand. Der Gegensatz zwischen Budapest und dem ländlichen Raum nahm aber zu, und zu dieser Zeit entstand das bis heute lebendige Bild über den ländlichen Raum: alles, was außerhalb der Hauptstadt liegt, ist auf dem Lande. (Die Interpretation des „ländlichen Raums” bedeutet nur in Ungarn die Gesamtheit aller Gebiete, die außer der Hauptstadt liegen.)

Einer der möglichen Ergebnisse des EU-Beitritts kann die Lockerung der nationalstaatlichen Isolation sein, wodurch die Städte im ländlichen Raum ihre Beziehungen mit den ähnlichen Siedlungen der benachbarten, neuen EU-Staaten wieder aktivieren können. Eine tausendjährige ländliche Entwicklung, die von den natürlichen Gegebenheiten ausging, könnte dadurch in der Zukunft wiederhergestellt werden. Die forcierte nationalstaatliche Hauptstadt-Orientiertheit, die zwischen 1920-2004 nicht nur für Ungarn, sondern auch für die Slowakei, Rumänien, Serbien und Kroatien charakteristisch war, zu Ende gehen. (Die Siedlungsstruktur Ungarns verfügt in dieser Hinsicht über gute Gegebenheiten: neben den fünf Großstädten im ländlichen Raum haben wir mehrere Dutzend mittelgroßer Städte in der Nähe von Staatsgrenzen, die die neuen Gebiets-, Markt- und Kulturorganisierungsfunktionen auf sich nehmen und entwickeln können.)

All das benötigt aber eine bewusste Politik in der regionalen Entwicklung, nicht zuletzt durch die Bevorzugung des ländlichen Raums bei der Distribution der öffentlichen Beihilfen.

d) Vierter Grund: Der ländliche Raum – ein von der Sozialpolitik betroffener Bereich

Demzufolge war die lokale wohlhabende Schicht im ungarischen ländlichen Raum auch zur Zeit der bürgerlichen Entwicklung schwächer als in Westeuropa. Wegen dieser Schwäche blieb der ländliche Raum in seinem zivilisationsbezogenen Instrumentensystem noch weiter hinter den Städten, bzw. der Hauptstadt, zurück als in Westeuropa.

Diese Schwachstelle des ländlichen Raums wurde durch eine Reihe von gesellschaftspolitischen Veränderungen nur gesteigert. In Ungarn wurden aus den Reihen des ländlichen Mittelstands im Jahre 1944 zuerst die Juden vernichtet, die im Produkt- und Vermittlungshandel und in den lokalen Dienstleistungen eine wesentliche Rolle spielten. Danach wurde aufgrund von ethnischen Überlegungen (schwäbischer Abstammung) ein anderes starkes Element des ländlichen Mittelstandes durch die Aussiedlung der Hälfte des Deutschtums vernichtet (1945). Darauf folgend wurde 1950-1961 die restliche Schicht der aus guten Fachmännern bestehenden kleinen und mittleren Landbesitzer aufgrund ihrer Angehörigkeit zu einer sozialen Schicht, unter dem Motto der Entledigung der Kulaken, vernichtet. Nur ein Teil dieser Leute konnte in den 1970-80er Jahren innerhalb des sowjetischen Wirtschaftssystems wieder vorstoßen. Und nur ein Bruchteil davon bekam im Rahmen der weiteren Landesreform nach 1990 betriebsfähige Landbesitze. Die während des Systemwechsels aufgepeitschten politischen Leidenschaften, die mal verständlich, mal erklärbar waren, betrafen wiederum die ländliche Gesellschaft. Der neue Mittelstand und die in der Produktionsorganisation schon bewanderte Schicht, die in den 1980er Jahren im ländlichen Raum bereits anwesend war, wurden oft zum Opfer von politischen Verfolgungskampagnen. Unabhängig davon, ob der politische Tadel begründet oder unbegründet war, ist es eine Tatsache, dass der ungarische ländliche Raum zu einem von der Politik beeinflussten Bereich wurde. Nach den 1950er Jahren wurden wiederum die politisch-ideologischen Präferenzen den fachbezogenen Präferenzen vorangestellt. Um zu ermöglichen, dass die Leute die Gegebenheiten des ländlichen Raums ausnutzen und lokale – dörfliche, städtische oder kleinregionale – Strategien ausarbeiten, sollen in der lokalen Gesellschaft solche Aspekte (z.B. Talent oder Geschicklichkeit) zu entscheidenden Faktoren werden, die über parteipolitischen Überlegungen stehen.

Die Grundlage der modernen kapitalistischen Landwirtschaft ist die Anpassung an die Aufnahmemärkte. Dazu sind ein gut funktionierender Vermittlungshandel und eine vielseitig gebildete Tradition der Betriebsorganisation erforderlich. In Westeuropa geriet der ländliche Mittelstand infolge des großbetrieblichen Produktionsrahmens und der intensiven Mechanisierung teilweise in eine Krise. Teilweise kamen aber die am meisten dynamischen lokalen Kräfte der Modernisierung aus diesen Mittelständen. Nach 1944 ging dieser Mittelstand, der in Ungarn sowieso schwach war, wegen verschiedener politischer Aktionen fast ganz zugrunde. Das hat auch zur Folge, dass in der heutigen ländlichen Gesellschaft die lokale Leitungsschicht im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, bzw. in den Selbstverwaltungen, ziemlich schwach ist. (Ich fügte in meinen früheren diesbezüglichen Studien oft hinzu: es ist ein Wunder, dass der ungarische ländliche Raum im jetzigen Zustand überhaupt existiert.)

 

3. Biologische und kulturelle Vielfalt, das Ungarntum außerhalb der Grenzen Ungarns

a) Bewahrung der biologischen Vielfalt

Ich habe schon über die Bewahrung der Biodiversität gesprochen. Der Bewahrungsraum der Mehrheit der Pflanzen- und Tiergemeinschaften auf dem Gebiet des Staates ist, ähnlich zu anderen Teilen der Welt, der ländliche Raum. Deswegen ist der ländliche Raum auch in Ungarn der Bewahrungsraum der Biodiversität. Darum soll die „Charta für den ländlichen Raum” das Thema der Landschafts- und Umweltwirtschaft und der Instandhaltung unserer natürlichen Energiequellen mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln. Genauso soll sich die Charta mit der Bewahrung der Hungarika, d.h. der im Karpatenbecken einheimischen Pflanzen- und Tiergemeinschaften, beschäftigen, die zum Teil dem Bereich der Lebensmittelproduktion angehören. Zum bekannten Grundprinzip hätte ich nur eine Bemerkung: die Biodiversität kann sich nicht allein auf den ländlichen Raum begrenzen, die ländlichen Lebensräume gehören ja auch zum Rahmen desselben Programms wie die in unseren Wäldern, Wiesen und Gewässern lebenden Lebensgemeinschaften.

b) Entfaltung der kulturellen Vielfalt

Wie die Bewahrung der ethnischen, religiösen und traditionsverbundenen Vielfalt in Europa zu den Programmen der Europäischen Union gehört, so ist sie auch in den einzelnen Mitgliedstaaten auf der Tagesordnung. Das kann in Ostmitteleuropa und in Ungarn eine besonders große Bedeutung haben, weil sich auf dem Gebiet der Staaten dieser Region bis 1918 eine Bevölkerung gemischter ethnischer Abstammung und unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit ansiedelte. Die Entnationalisierungspolitik der nationalstaatlichen Ära (1918-2004) verarmte jedoch diese kulturelle Vielfalt. Parallel dazu wurde im sowjetischen Regime nicht nur die nationale, sondern auch die religiöse Identität unterdrückt. Trotzdem war die kulturelle (menschliche und traditionsverbundene) Diversität in dieser Region viel größer, als in Westeuropa. Wir könnten auch sagen, dass die administrative Unterdrückung weniger effektiv war als die spontane, marktorientierte, technische Modernisierung. Die modernen industriellen Gesellschaften hobelten bis in die 1980er Jahre einen großen Teil der ethnisch-religiösen Unterschiede ab. In Ostmitteleuropa geschah all das nur in den Städten (vor allem in den Großstädten.) Im ländlichen Raum blieben also die ethnischen und traditionsverbundenen Unterschiede größer – gerade als Folge des technischen Rückstands. Bei der Behandlung von gesellschaftlichen Fragen soll die neue ländliche Politik die institutionellen Möglichkeiten der Bewahrung dieser Vielfalt weitgehend in Betracht ziehen. Man soll ganz konkret über die realen Möglichkeiten und über die Notwendigkeit der Bewahrung der deutschen, slowakischen, rumänischen, ukrainischen, kroatischen, serbischen und Sinti- und Roma-Identitäten sprechen.

c) Zu den Ungarn, die außerhalb der Grenzen Ungarns leben

Fünfzehn Prozent der Ungarn leben jenseits der jetzigen Staatsgrenzen. Der Kontakt mit diesen Leuten ist ein menschenrechtliches Bedürfnis dieser Zeit, und vor allem die Aufgabe des Staates. In dieser Kontakterhaltung bekommen solche Gebiete eine besonders wichtige Rolle, die direkt an der Grenze liegen. Die Gebiete im ländlichen Raum Ungarns, die mit der Ukraine, der Slowakei, Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Rumänien benachbart sind, bilden einen Verbindungsraum bei der Erhaltung der Kulturnation. Diese kulturnationale Erhaltung der Kontakte kann in der Europäischen Union besonders vielversprechend sein.

Dem Gemeinnutz des ländlichen Raums kann also neben den wirtschaftlichen, sozialen und naturwirtschaftlichen Zweigen auch in unserem kulturellen Leben eine besonders wichtige Rolle zukommen.

 

4. Zum Begriff des Ländlichen Raums

Innerhalb der Europäischen Union werden die Gebiete, die nicht zum ländlichen Raum gehören aufgrund von zwei Kriterien definiert, die sich nicht immer überdecken. Die Auffassung des ländlichen Raums, der in der regionalen Entwicklung benutzt wird, qualifiziert bestimmte Gebiete als Teile des ländlichen Raums aufgrund ihrer Bevölkerungsdichte (100 Personen/km2) Die Auffassung des ländlichen Raums, die in den landwirtschaftlichen Dokumenten vertreten wird, nimmt den Beruf der Bevölkerung zur Grundlage der Einordnung und zählt diejenigen Gebiete zum ländlichen Raum, in denen ein entscheidender Anteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft, der Försterei und Fischerei tätig ist. (Einschließlich der verschiedenen Siedlungstypen, (Dörfer und Kleinstädte.)

In Ungarn und in der ungarischen Sprache werden diese zwei Auffassungen durch eine zivilisationsbezogene, verhaltensorientierte Auffassung ergänzt. Der ungarische Begriff des „ländlichen Raums” („vidék”) ist weder ins Englische, noch ins Französische oder Deutsche eindeutig zu übersetzen. Dessen Gründe sind in der Eigenartigkeit der Entwicklung des ungarischen ländlichen Raums zu suchen. Der englische und französische Begriff „rural” oder das im Englischen angewandte „countryside” bedeuten nichts anderes als Gebiete, die außerhalb der Stadt liegen. Diese Interpretation ist auch in der ungarischen Sprache zu finden. Deswegen sagen wir oft, dass jede Stadt ihre eigene „Umgebung” hat, wobei wir im Ungarischen in diesem Fall auch den Begriff „vidék” verwenden. In Ungarn wird jedoch wegen der vorher erwähnten Zentralisiertheit jedes Gebiet, das außerhalb der Hauptstadt liegt, als „Land”, als „vidék”, bezeichnet. Dieser Begriff des ländlichen Raums trägt auch einen bestimmten Werteinhalt in sich, der sich von dem der westlichen Länder unterscheidet. „Auf dem Lande zu leben” bedeutet in den westlichen Ländern nichts anderes als nicht in einer Stadt zu leben, aber in Ungarn bedeutet der Tatbestand, dass man „auf dem Lande lebt” auch, dass man auf einem niedrigeren Zivilisationsniveau lebt. Das ist auf die vorher schon erwähnten Gründe zurückzuführen. Während sich die Verbürgerlichung des ländlichen Raums in Westeuropa ab dem 19. Jahrhundert allmählich vollzog, der ländliche Raum sich nach 1945 schnell an die städtische Lebensweise und -qualität anpasste, und ihr Verhältnis jetzt zur Zeit der Informatik bereits langsam ausgeglichen werden konnte, hat diese Entwicklung in Ostmitteleuropa und in Ungarn noch nicht stattgefunden. Die Leute, die im ländlichen Raum leben (die also nicht in der Hauptstadt wohnen), lebten und leben unter schlechteren Umständen, und die ländlichen Städte bieten unvergleichbar bessere Möglichkeiten als „das Leben außerhalb der ländlichen Städte”. (Das Gleiche gilt für den Begriff „Dorf” und „dörflich”. Sowohl in der englischen als auch in der deutschen und französischen Sprache trug der Begriff „dörflich” (village) – bis zu den 1950er Jahren und teilweise auch heute noch – solange eine negative Konnotation mit sich, bis die zivilisationsbezogene Entwicklung der kleinsten Siedlungen vollzogen wurde.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” nimmt also vor dem Beginn der Diskussionen drei verschiedene Auffassungen des ländlichen Raums in Betracht: 1. alle Gebiete außerhalb der Hauptstadt; 2. die Gebiete außerhalb der Hauptstadt, der fünf Großstädte und ihrer Agglomeration; 3. die Gebiete, die aufgrund der Bevölkerungsdichte unter 100 Personen/km2 sind. Unser Ausgangspunkt ist die kombinierte Anwendung der Bevölkerungsdichte und der Lebensqualität. Aufgrund der Indikatoren der Bevölkerungsdichte gehört fast 80% des Staatsgebiets zum ländlichen Raum, in dem ungefähr 33% der Bevölkerung lebt. Wenn wir das mit anderen Indikatoren der Lebensqualität ergänzen, erreicht der prozentmäßige Anteil der ländlichen Bevölkerung 40-45%. (Die Feststellung der Bevölkerungsdichte ist genau messbar und basiert auf konkreten Erhebungen, während die Feststellung der Lebensqualität lediglich auf Einschätzungen beruht. Man kann aber in Ungarn nicht über ländliche Entwicklung sprechen, ohne die Agglomeration der ländlichen Großstädte, in einigen Fällen sogar die der Hauptstadt, in Betracht zu ziehen.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” ist also ein soziales, wirtschaftliches und Umwelterhaltungsprogramm, das ungefähr zwei Drittel des ungarischen Staatsgebiets und etwa die Hälfte der Bevölkerung Ungarns betrifft.

 

5. Umwandlung der Siedlungsstruktur

a) Nicht konservieren, aber regeln

Die Siedlungsstruktur hängt in jedem Zeitalter von der wirtschaftlichen Kraft des gegebenen Gebiets, d.h. der lokalen Sicherheit der Produktion und des Einkommens ab. Wo sich die Einkommensmöglichkeiten steigern, beginnt eine natürliche Einwanderung und ein natürlicher Bevölkerungszuwachs, wo aber die Arbeitsmöglichkeiten weniger werden, fängt eine Abwanderung und dadurch die Entvölkerung der Siedlung an. Die heutige ungarische Siedlungsstruktur hängt von den Veränderungen der Bevölkerung und der Wirtschaft ab, die sich im Land abspielen, und zeigt gleichzeitig die Tendenzen dieser Umwandlung. Deswegen sprechen wir primär über ländliche Politik und regionale Politik und nicht einfach über ländliche Entwicklung oder regionale Entwicklung. Die Entwicklung des ländlichen Raums ist auch so vorzustellen, dass sich die Siedlungen, die weniger als ein paar hundert Einwohner haben, entvölkern, während die Kleinstädte größer und reicher werden. Das ist die jetzige Richtung der spontanen wirtschaftlichen Entwicklung. Wir wollen die heutige Siedlungsstruktur nicht auf künstliche Weise konservieren. Wir beharren aber auf unseren Standpunkt, dass die Erhaltung des Staatgebiets auf der Ebene einer Kulturlandschaft, d.h. seine Abdeckung mit Einwohnern ein Gemeinnutz ist. Der spontane Umwandlungsprozess der Siedlungsstruktur soll also mit einer bewussten Politik für regionale Entwicklung ergänzt werden. Diese Politik für regionale Entwicklung soll folgende vorher erwähnte Präferenzen beinhalten: die Anregung zur Gründung von Unternehmen, die die Erhaltung der Bevölkerung erzielen, und die Bevorzugung von kommunalen Investitionen.

Das sowjetische System wollte in Ungarn die spontanen Prozesse der Siedlungsentwicklung mit einer forcierten Industrialisierungspolitik und dem Zustande bringen des staatlich geförderten Gemeinguts und Großbetriebs erreichen. Teil dieser Politik war auch eine sozusagen aufgeklärte Politik der regionalen Entwicklung: die Elektrifizierung des ländlichen Raums, der Ausbau eines Verkehrsystems im staatlichen Besitz, das viel effektiver war als das Frühere, sind zweifellos Ergebnisse dieser Politik. Aber die politisch-ideologischen Überlegungen hielten im ländlichen Raum solche überholten Systeme aufrecht, die zur Folge hatten, dass die Infrastruktur der Flügelbahn und des Autobusverkehrs, die in den 1980er Jahren schon unfinanzierbar und unausgenutzt waren, in Ungarn immer noch am Leben waren – zwar auf einem sehr niedrigen Niveau. Die neue Politik der regionalen Entwicklung kann nur unter Bedachtnahme auf die spontanen Prozesse der regionalen Entwicklung und der erwähnten Präferenzen vollzogen werden.

b) Nationale und lokale ländliche Politik

Die sich umwandelnde Siedlungsstruktur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zwei Ebenen der ländlichen Politik: die nationale und die lokale ländliche Politik. Die nationale ländliche Politik soll im Allgemeinen einen Standpunkt mit Bezug auf die Präferenzen der einzelnen Branchen vertreten, die das ländliche Leben und die natürliche Umgebung betreffen. Aber diese nationale ländliche Politik soll ständig mit den spontanen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen konfrontiert werden, die sich im ländlichen Raum abspielen, und soll mit einer aktiven lokalen ländlichen Politik ergänzt werden. Während die nationale ländliche Politik von der politischen und intellektuellen Elite des Staates festgelegt wird, ist die lokale ländliche Politik eine Sammlung der Lebensmöglichkeiten der Siedlung, die von den lokalen Bewohnern festgelegt und von ihnen formuliert wird. Die „Charta für den ländlichen Raum setzt sich zum Ziel, dass jedes Dorf, jede Kleinregion als Fortsetzung des Dialogs in den folgenden Jahren eine Entwicklungsstrategie herausarbeiten soll. Die Beamten der lokalen Selbstverwaltung, die lokalen weltlichen und kirchlichen Intellektuellen und Landwirte sollen an der Ausarbeitung dieser Zielsetzung gemeinsam teilnehmen.

c) Die sog. „Selbstlösungsfähigkeit” der Bevölkerung

Deswegen sollen die Selbstlösungsfähigkeiten der Wohnkommunen der Kleinsiedlungen mit besonderer Aufmerksamkeit überprüft werden. Diese Selbstlösungsfähigkeit ist noch auf einer viel niedrigeren Ebene in Ungarn und in Ostmitteleuropa als in Westeuropa. Der Grund dafür ist die vorher erwähnte Vernichtung der mittleren Schichten im ländlichen Raum. Ein weiterer Grund ist die Zentralisierung- und Vorschriftenpolitik des sowjetischen Regimes. Wenn aber die Europäische Union über das Prinzip der Subsidiarität spricht – wonach die Angelegenheiten primär auf der untersten Ebene, auf demselben Forum mit den Betroffenen verrichtet werden sollen – will sie diese lokale Selbstlösungsfähigkeit fördern. Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet also in Ungarn eine zwangsmäßige Modernisierung des Alltags der ländlichen Gesellschaft, und will das System der Selbstverwaltungen, bzw. die Rolle der Zivilorganisationen verstärken. (Die auf einander aufbauende Konstruktion der verschiedenen ministerialen und Selbstverwaltungsebenen – Dorf, Stadt, Komitat etc. – soll in der öffentlichen und Fachverwaltung des Landes Gegenstand einer getrennten Diskussion sein.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” will ein Fundament für die bewusste Politik der regionalen Entwicklung niederlegen, die auf die Harmonie der spontanen wirtschaftlichen und Gemeinnutzfaktoren aufbaut, in der sowohl das nationale als auch das ländliche Interesse seinen Platz findet und die den im Alltag zu spürenden Gegensatz zwischen den Städten und dem ländlichen Raum auflösen kann.

 

6. Langfristige und komplexe ländliche Politik

Der Systemwechsel kann in den politischen Institutionen in einigen Monaten durchgeführt werden. In der Besitzstruktur und der Wirtschaft dauert er notwendigerweise mehrere Jahre. Der Systemwechsel in der Gesellschaft – und dadurch in der Denkweise der Leute – kann ein Prozess von mehreren Jahrzehnten sein. Die neue ländliche Politik soll auch für Jahrzehnte geplant werden. Vor der Diskussion sollten zwei Aspekte hervorgehoben werden, die die Planung grundsätzlich beeinflussen:

a) Langfristiger politischer Konsens

Die ländliche Politik ist eine politische Aktivität, die auf Dauer geplant ist. Sie kann nicht nach den vierjährigen Wahlperioden und Regierungszyklen gerichtet werden. Das Parlament soll in diesen Themenbereichen eine Mehrparteien-Vereinbarung erreichen, sonst können die wahren Ergebnisse der vergangenen Jahre von einem Regierungswechsel vom Tisch gefegt werden. Besonders wahr ist es für die ungarische Demokratie und die jungen ostmitteleuropäischen Demokratien, wo es fast unmöglich ist, in der parlamentarischen „Wechselwirtschaft” Konsens zu schaffen. Voraussichtlich soll ein Jahrzehnt vergehen, bis wir die Ebene der gerechten westlichen Demokratien erreichen. (Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die stille und bequeme Diktatur des Kádár-Regimes in der ostmitteleuropäischen Region von der lauten und aggressiven Form der Demokratie abgelöst wurde.) Die ländliche Politik könnte vielleicht die erste Politik werden, bei der alle Parteien im Parlament zum Konsens kommen können.

b) Interministerielle ländliche Politik

Die ländliche Politik – und darunter die Entwicklung des ländlichen Raums – erscheint seit 2000 in der Europäischen Union als zweiter Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik. Jede europäische Regierung ist sich bewusst, dass sie eine vorläufige Administrationsstruktur ist, weil diese ländliche Politik nicht allein auf die Agrarpolitik begrenzt werden kann, und weil bei der Behandlung der ländlichen Politik der Umweltschutz, die Umweltwirtschaft, die Entwicklung der Industrie und der Infrastruktur, das Bildungs- und -unterrichtswesen und auch die Wissenschaft immer mehr einbezogen werden. Nicht zu sprechen vom Gesundheitswesen und der Sozialpolitik. Die „Charta für den ländlichen Raum” will den Vorschlägen zur ländlichen Politik Platz in der Regierungsadministration, dem Wissenschaftswesen und dem System der Zivilorganisationen machen. Wir stellen zur Diskussion: den Plan des Nationalen Rats für Ländliche Politik (er wird seit Februar dieses Jahres diskutiert), das Aufstellen von Hintergrundinstitutionen zur regionalen Entwicklung (delegiert von jedem Ministerium, bzw. der Akademie), und die regelmäßige Organisation von zivilen Foren, an denen die Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen (Kammern, lokale Vereine für regionale Entwicklung, Selbstverwaltungen, Universitäten und Forschungszentren im ländlichen Raum, nationale ethnische und soziale Vereine für Umwelterhaltung und Gemeinbildung, etc.)

 

Liebe Freunde!

Ich begann damit, dass wir jetzt aufstehen und uns auf den Weg – in eine bestimmte Richtung – machen sollen. Ich sage das, weil wir in der Geschichtsschreibung im Allgemeinen nur die falschen Entscheidungen verurteilen. Wir belasten aber die Leute nicht, die die Konflikte nicht erkennen, oder die sie erkennen, aber umgehen – und dadurch etwas versäumen. Meiner Meinung nach ist diese Mentalität von Historikern falsch. Etwas zu versäumen kann manchmal genauso schwere Folgen haben, wie eine schlechte Entscheidung zu treffen. Ich warne mich selbst und alle meine Freunde davor, etwas zu versäumen. Wir sollen also an die Arbeit gehen!

 

Budapest, 29. März 2005.