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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:185–195

ANGELA GRÖBER

„Vergessene Vorposten – bedrohte Heimat”

Die Deutschen Transkarpatiens als Beispiel der nationalen Mobilisierung deutscher Minderheiten im Ausland

 

Die deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa sind seit langem Gegenstand der Forschung. Es gibt bekannte und weniger bekannte Gruppen, die im Mittelalter beginnend bis ins 19. Jahrhundert hinein in verschiedenen Regionen vom Baltikum bis ans Schwarze Meer angesiedelt wurden. Der Bezugrahmen für ihre Bezeichnung wie für ihre systematische Erforschung bildete meist derjenige Staat, auf dessen Territorium sie siedelten – vorausgesetzt die Staatenbildung war zum Zeitpunkt des Einsetzens wissenschaftlicher Forschung schon im Gange beziehungsweise weit fortgeschritten.

Als Resultat der ost- und südosteuropäischen Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert entstanden später solche Bezeichnungen wie Rumänien-, Ungarn- oder Karpatendeutsche, die oftmals nur höchst ungenaue Begriffe für die darin erfassten Minderheitengruppen lieferten. Jene waren meist durch die Zeit ihrer Ansiedlung, durch spezifische Wirtschafts- und Vergesellschaftungsformen sehr heterogen und sahen auf eine je eigene Geschichte zurück, die sich mit den jeweiligen staatlichen Grenzen und Zuordnungen nicht immer deckte.

Der Begriff „Karpatendeutsche”, der von dem Czernowitzer Historiker Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930) geprägt wurde und bei verschiedenen Landsmannschaften noch heute in Verwendung ist, lässt durchblicken, welche politische Implikationen sich hinter einer „wissenschaftlichen” Begriffssetzung verbergen können. Kaindl schrieb im Vorwort seiner auf drei Bände angelegten „Geschichte der Deutschen in den Karpatenländern”: „Mein Werk soll das deutsche Volk mit einem Ruhmesblatte seiner Geschichte bekannt machen, indem es nicht nur die Verbreitung sondern auch die Kulturarbeit der Deutschen in den Karpatenländern schildert.”1 Im dritten Band, der 1911 in Gotha erschien, führte er aus, dass die tüchtige deutsche Kulturarbeit aus Magyarenland deutschen Boden gemacht habe.

Neben der geleisteten Arbeit, die in seinen Augen den kulturellen und zivilisatorischen Fortschritt begründete, wurde noch ein ganz anderes Thema zentral. Die verstreut lebenden Deutschen agierten als „Vorposten” in fremden Ländern.2 Sie bilden ein „organisches Ganzes”, dessen Geschicke eng miteinander verknüpft waren. Kaindl forcierte durch den Terminus „Karpatendeutsche” eine begriffliche Konzentrationsbewegung, die sich hervorragend politisch instrumentalisieren ließ und darüber hinaus als sinnstiftendes Surrogat für die beschriebenen Gruppen selber diente.

De facto lebten die verschiedenen deutschen Siedler ohne Kenntnis über Einwanderer in anderen Gebieten, besaßen sehr unterschiedliche Privilegien und waren dem aufkommenden Nationalismus gegenüber mehr mal weniger aufgeschlossen. So bewahrten beispielsweise die Siebenbürger Sachsen, die zu den ältesten deutschen Gruppen in Südosteuropa gehören, trotz deutlicher machtpolitischen Einbußen in ihrem Siedlungsgebiet, Sprache, Kultur, Religiosität, Bildungs- und Gemeinschaftswesen bis ins 20. Jahrhundert. Andere Gruppen wie die Donauschwaben in der Baranya oder Bátschka akkulturierten sich aus Mangel an gewachsenen und tragfähigen Institutionen viel leichter an die Mehrheitsnation.

Das Verdienst Kaindls war ohne Zweifel die deskriptive Erfassung der deutschen Gruppen auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie. Der von ihm geprägte Kollektivsingular „Karpatendeutsche” basierte allerdings weniger auf Tatsächlichkeiten, sondern propagierte eine imaginierte Gemeinschaft. Sprächen, so die Auffassung des Czernowitzer Historikers, die verschiedenen deutschen Gruppen erst einmal mit einer gemeinsamen politischen Stimme, so ließe sich der deutsche Einfluss in Südosteuropa, der schon im Zuge der Einführung des österreich-ungarischen Dualismus 1867 im Schwinden begriffen war, erhalten. „Fallen aber einmal die Vorposten, so ist auch das Hinterland bedroht”, wendete er sich mit oraklenden Worten an seine Zeitgenossen.3

Das Selbstverständnis der deutschen Siedlungsgruppen orientierte sich keineswegs an einem übergreifenden Konstrukt wie dem der „Karpatendeutschen” sondern an mitgebrachten und gewachsenen Organisationsformen konfessioneller und ständischer Institutionen. Historiker wie Kaindl ebneten aber mit ihren Publikationen den Weg für eine Neubewertung der deutschen Gruppen in Südosteuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und schließlich auch die Veränderung ihres eigenen Selbstverständnisses und -bewusstseins.

 

Neue Heimat in den Karpaten

Ein nationales Bewusstsein kaindl’scher Art sucht man bei der Kleingruppe der Deutschen in der Karpaten-Ukraine4 vor 1938/39 vergebens. In diesem Teil des historischen Oberungarn, das die Komitate Ung, Bereg, Ugocsa und Máramaros umfasst, lebten im Jahr 1930 über 13.000 Deutsche, die in mehreren Siedlungswellen im 18. und 19. Jahrhundert gekommen waren.5

Zunächst als „Kolonisten” vom Wiener Hof oder von der Adelsfamilie Schönborn ins Land gelockt, blieben die eingewanderten Gruppen meist als relativ homogene ethnische Entitäten bestehen und pflegten ihre tradierten Lebensgewohnheiten aus ihren jeweiligen Ursprungsgebieten.6 Sie fügten sich ein in eine Lebenswelt, die weniger die Nationalität als die Untertanentreue und den Mehrwert für den Landadligen (durch das System der Gutswirtschaft) oder die Krone in den Vordergrund stellte. Nationale Stereotypen begannen sich langsam herauszubilden – so ging die Rede vom „fleißigen deutschen Bauern”, der auch unter schwierigsten Verhältnissen dem Boden etwas abgewinnen konnte – dieser eilte den Siedlern als positiver Ruf voraus. Zum eigentlichen Diversifikationsmerkmal stiegen diese „Kollektiv-Eigenschaften” erst mit den zunehmenden nationalen Auseinandersetzungen in der österreichisch-ungarischen Monarchie auf, die sich unter anderem im Ersten Weltkrieg blutig entluden.

Zunächst bekamen die Neuankömmlinge aus Mainfranken, Oberösterreich, dem Böhmerwald und anderen Gegenden Land zugeteilt und arbeiteten als Waldarbeiter, Flößer und im Bergbau in den höher liegenden Gebieten der Karpaten-Ukraine, als Bauern in der Theiss-Ebene. Sie leisteten einen Beitrag zum Landesausbau, betrieben – um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen – Technologietransfer. Die ersten Siedler wurden als Spezialisten noch mit Privilegien ausgestattet (Steuerfreiheit, Grund- und Boden, Bau von Kirchen), die aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive abgeschafft wurden. Die Deutschen waren spätestens nach 1867 mit den anderen Ethnien rechtlich gleichgestellt, was in ihren Augen einem Status-Verlust gleichkam. Hier zeigt sich ein Anerkennungsdefizit, dem zunächst durch eine Annäherung an das ungarische Ethnikum oder durch eine Überhöhung der deutschen Kultur- und Wirtschaftsleistung begegnet wurde, wie bei Kaindl exemplarisch nachzulesen ist.

Auf der Ebene einer Kleingruppe, wie die Deutschen Transkarpatiens, die 1921 ungefähr 10.000 Personen zählte, die überwiegend der Katholischen Kirche angehörten, lassen sich diese Prozesse hauptsächlich in den Städten nachvollziehen. Hier hatte man Zugang zu höherer Bildung und trat vielfältig in Kontakt zu anderen Ethnien. Gerade im urbanen Raum kam es zu einer relativ raschen Akkulturation der Deutschen an das ungarische Ethnikum – nicht nur durch die soziale und wirtschaftliche Attraktivität des nationalen Status.

Auf dem Lande dagegen, auf dem die meisten Deutschen ihrem Lebensunterhalt nachgingen, erhielten sich die geschlossenen Gemeinschaften bis zum Zweiten Weltkrieg. Hohe soziale Kontrolle und ein eingeschränkter Erlebnishorizont sind einige der Ursachen für die kulturelle Konstanz. Assimilationsinstrumente wie Verwaltung, Wirtschaft und Schule konnten nur deshalb so schleppend genutzt werden, da in der Karpaten-Ukraine bis in die 1940-er Jahre hinein kaum eine moderne Infrastruktur vorhanden war.

Die vorherrschenden Identitätsmuster unter den Deutschen waren bis zum Ersten Weltkrieg pränational und lokal bestimmt. Eine große Rolle spielte die Dorfgemeinschaft, das Herkunftsgebiet, die Konfession und die ausgeübte Tätigkeit. Die deutschen Siedler begriffen sich überregional als Mitglieder der supranationalen „Natio Hungarica” und empfanden eine tiefe historische Verbundenheit mit dem Reich der Stephanskrone und die Bindung an eine die Habsburger Monarchie umfassende Gesamtstaatsidee.7

Die spezifische lokal-deutsche und die generelle überregional-ungarische Identitäten konnten problemlos vermittelt werden, solange der Macht- und Wirkungsanspruch dieser Identitäten bzw. ihrer Träger und Vermittler sich nicht überschnitten. Die Deutschen ordneten sich als „Kulturträger” selber in die Nähe der Ungarn, um sich von kulturell rückständigen Ruthenen und Slowaken beziehungsweise von den als fremdgeblieben empfundenen Juden abzugrenzen. Der aus dem Kulturträger-Sein abgeleitete Anspruch begründete ein Wohn- und Heimatrecht, das sich die deutschen Siedler durch ihre Arbeit und ihre Treue erwarben.

 

Nationale Mobilisierung der deutschen Minderheit in der Zwischenkriegszeit8

Mehrere Aspekte führten im Laufe der 1920-er und 1930-er Jahre schließlich zu einer nationalen Mobilisierung der Deutschen Transkarpatiens, wobei unter nationaler Mobilisierung die Aktivierung einer zuvor politisch und national passiven Minderheitengruppe verstanden wird, deren Angehörige durch Propaganda und „Schutzarbeit”, durch nationale Vereins- und Parteigründungen das Bewusstsein erhalten, Mitglieder einer imaginierten Volksgemeinschaft zu sein. Dieses „Volks-Bewusstsein” stützte sich auf vorhandene lokale Identitäten und trat in direkte Konkurrenz zur Staatsbürgerschaft, wobei die Angehörigen der deutschen Minderheit in die missliche Lage einer Doppelloyalität gebracht wurden.9

Volksbewusstsein und Staatsbürgerschaft konnten nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden, da der jeweilig erhobene Anspruch auf das Individuum ein generaler wenn nicht totaler war. Es war für einen Minderheitenangehörigen schwer möglich sowohl als „Deutscher” als auch „Ungar” aufzutreten und dies gegenüber den Autoritäten zu versichern. Ein Automatismus nötigte den Einzelnen zur Entscheidung, die mit der Aufgabe einer seiner Identitäten verbunden war. Entschied er sich, Deutscher zu sein, so wurde sein Wohnrecht fragwürdig. Entschied er sich Ungar zu werden, war er gezwungen seine kulturelle Identität als Deutscher abzulegen, auf jeden Fall aber einen Sprachwechsel zu vollziehen.10

Ein erster Aspekt, der der nationalen Mobilisierung Vorschub leistete, war der Durchzug deutscher Soldaten im Ersten Weltkrieg, die bei den ansässigen Deutschen einen bleibenden Eindruck hinterließen.11 Das Bild vom „Mutterland” Deutschland wurde durch die anwesenden Soldaten mit Leben gefüllt und neben das „Vaterland” Ungarn gestellt. Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende magyarische Nationalismus bot die Integration in die Mehrheitsnation nur unter Preisgabe der Minderheitensprache und spezifischen Kultur an. Viele Deutsche haben diesen Weg problemlos beschritten, während andere auf ihrer kulturellen Eigenart bestanden und sich im Europa der Zwischenkriegszeit als „Minderheit” wieder fanden. Dieser Begriff wurde als höchst problematisch angesehen:

„Der Begriff der Minderheit stammt aus einer sterbenden Welt. [...] Volksgruppe mit lebender Seele wird zur Unter-50%-Zahl degradiert. Minderheit – so wollen die Mehrheiten – soll im Leben der Völker nur halbes und unterhalbes Recht genießen. Minderheit spricht von Zahlen, von Verhältnisgrößen [...]. Minderheit darf keinen Anspruch erheben, sie hat sich zu fügen, wie die Mehrheit bestimmt. Sie kann bestenfalls Opposition sein, schlimmstenfalls Kraft der Zerstörung, Obstruktion und Aufruhr. [...] Eine nationale Minderheit kann ihre Anschauungen nie zu der herrschenden machen, wie bei den geistigen, philosophischen, wissenschaftlichen, religiösen, oder was es sonst noch für Minderheiten geben mag. Sie kann nur immer um Anerkennung und Duldung kämpfen, nie aber um Führung.”12

Was dieser Publizist mit offenen Worten auf den Punkt brachte, entsprach dem Empfinden der Minderheiten, die ihren Status und Einfluss im Nationalstaat bedroht sahen.

Eine rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Karpaten-Ukraine, das Wegbrechen der ungarischen Absatzmärkte aufgrund der Angliederung der Region an die neugegründete Tschechoslowakei im Zuge der Pariser Friedensverträge 1919/20, ließ die traditionelle Lebenswelt der Deutschen erodieren. Auf Fortschritt und Modernisierung hatten Bauern und Handwerker keine Antworten parat und empfanden sich als Opfer eines auf sie hereinbrechenden Schicksals. Ihrem Instinkt folgend arrangierten sich die Deutschen sehr schnell mit den neuen Machthabern in Prag und konnten im Laufe der 1920-er und 1930-er Jahre sogar eigene Schulen betreiben.

In Deutschland formierten sich zur gleichen Zeit zahlreiche Verbände, herausragend dabei der „Verein für das Deutschtum im Ausland” (VDA), die ihre Aufgabe darin sahen, die durch Gebietsverluste neu entstandenen aber auch die traditionellen deutschen Minderheiten im Ausland zu unterstützen. Auch von Seiten der Kirchen wurden Missions- und Hilfsprojekte ins Werk gesetzt, um die konationalen Glaubensbrüder in ihrem Kampf um Selbstbehauptung zu unterstützen.13

Weitere Impulse für eine nationale Mobilisierung kamen von den Wandergruppen der bündischen und deutsch-nationalen Jugend, die zu Beginn seit 1921 die Karpaten bereisten und der deutschen Öffentlichkeit ein erstes Bild zeichneten. Die Berichte sind zum Teil geprägt von einem sozial-romantischen Ton, der die archaische Alltagskultur der deutschen Bauern und Waldarbeiter verherrlicht. Andererseits sind sie bestimmt von einem Sendungsbewusstsein, dass die verstreuten deutschen Siedlungsgruppen in ein zu errichtendes deutsches Großreich einzubeziehen wünschte. Die Überlegenheit der deutschen Kultur wurde für die wandernde Jugend selbst in dem kleinsten Karpatendorf sichtbar:

„Wir gingen durch zwei ineinander übergehende Dörfer [...] bis wir nach Dubove kamen. Die breit angelegte Dorfstraße und eine ganze Reihe sauber gebauter Häuser, die sich von dem üblichen Hüttentyp deutlich unterscheiden, zeigte sofort, dass hier noch ein anderes völkisches Element vorhanden sein müsse.”14

Besonders hervorgetan haben sich die Sudetendeutschen, die als größte deutsche Minderheitengruppe auf dem Gebiet der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine Vorbildwirkung entfalteten. Der in Prag ansässige „Deutsche Kulturverband” (DKV) wurde am 2. November 1919 in Prag als Schulbetreuungsverein gegründet und weitete seine Aktivitäten auch auf die allgemeine Kulturpolitik aus. Um den größten kulturellen Notstand zu lindern, entsendete er deutsche ‚Wanderlehrer’ nach Transkarpatien, die neben ihrer Lehrertätigkeit erste organisatorische Vereinsstrukturen schufen.15

„In diesen Tagen wurde in Uzhorod [...] eine Ortsgruppe des DKV gegründet. Damit ist eine neue Brücke zu den deutschen Sprachinseln im fernsten Osten des Staates geschaffen und der Ansatzpunkt gegeben, die verstreuten deutschen Beamten, Angestellten und Arbeiter zur Erhaltung und zur Förderung ihres Volkstums zusammenzufassen. Die Zeit dürfte nicht mehr ferne sein, wo auch die letzte kleine Minderheit der Slowakei und Karpatenrussland sich dem Rahmen der großen Volksorganisation, dem DKV, eingefügt hat.”16

Die einheimischen Deutschen profitierten unmittelbar von den Aktivitäten des Kulturverbandes, der Schulen und Bibliotheken unterhielt, Veranstaltungen und Spendenaktionen ausrichtete. Sie identifizierten sich mit seinen Zielen. Gegen Ende der 1920-er Jahre stiegen stark nationalistisch orientierte Funktionäre in die Führungspositionen des DKV auf und bestimmten die Richtung der kulturellen „Schutzarbeit”.17 Sie konnten auf die Ortsgruppenstrukturen bauen und nutzten das ihnen entgegengebrachte Vertrauen, einen schärferen Ton in der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht anzuschlagen. Zwar verhinderte die Zerstrittenheit der konkurrierenden sudetendeutschen Parteien bis 1938 noch, dass die vom nationalsozialistischen Deutschland angestrebte Gleichschaltung der Parteien- und Vereinslandschaft in die Tat umgesetzt wurde, aber unter der Protektion Hitlers konnte der Vorsitzende der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henlein diese internen Auseinandersetzungen für sich entscheiden und ebnete den Weg für die weitere Expansion des Deutschen Reiches nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938.18

Nach dem Vorbild der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins, die sich als „Volksbewegung” verstand, wurde in Pressburg/Bratislava (ung. Pozsony) im Juli 1928 die „Karpatendeutsche Partei” (KdP) gegründet, deren Schlüsselpositionen hauptsächlich von Sudetendeutschen besetzt waren. In Fortsetzung der kultur- und bildungspolitischen Arbeit des Schulvereins DKV rückte die ideologische Schulung im Sinne des Nationalsozialismus mehr und mehr in den Vordergrund. Die „Volksgemeinschaft” wurde zum bestimmenden Deutungsmuster. Die Organisation erfolgte nach dem Führerprinzip. Da die Parteimitgliedschaft nach 1938 auch die Zugehörigkeit zur deutschen „Volksgruppe” legitimierte, wurde ein unmoralischer Zwang zum Beitritt in die KdP ausgeübt, dem sich nur wenige Deutsche zu entziehen wagten. Anhand der zeitgenössischen Presse lässt sich nachweisen, dass ein großer Teil der Deutschen vornehmlich nicht aus politischer Überzeugung sondern aus wirtschaftlichem und karitativem Kalkül Parteimitglieder wurden.19 Gerade der Gedanke genossenschaftlicher Hilfe, gegenseitigen Füreinandereinstehens und das Angebot einer neuen Heimat und Geborgenheit machte die Attraktivität der nationalsozialistischen Ideologie in den kleinen deutschen Gemeinden in Transkarpatien aus.

„Das einheimische Volkstum nennt sich seit 1931 Volksgruppe im Einklang mit dem Beschluss des Nationalitätenkongresses, das auch noch der Umstand bestätigt, dass sich der Weltkongress der Magyaren auch auf diesen Standpunkt gestellt hat. Als Volksgruppe wünschen wir aber keine besonderen für den Staat gefährlichen Rechte. Der Begriff Volksgruppe bedeutet unter anderem auch, dass das einheimische Deutschtum nur bewusste deutsche Führer haben kann. Und auch jene Begriffe geklärt werden müssen, wer und wer nicht zur Volksgruppe gehört.”20

Dieses Zitat ist einer deutschen Zeitung in Ungarn entnommen, die ihre erste Nummer am 8. Januar 1939 herausgab. Offenbar bereitete man sich innerhalb der deutschen Minderheit Ungarns schon auf die von Öffentlichkeit und Regierungskreisen erhoffte Grenzrevision vor, die man von der Auflösung oder „Zerschlagung” der ŘSR erwartete.

Die sukzessive Angliederung des Karpatenlandes (ung. Kárpátalja) an Ungarn (vom November 1938 bis zum 16. März 1939) hatte zunächst ein Erlahmen der lokalpolitischen Aktivitäten der deutschen Minderheit zur Folge. Ganz im Gegensatz zu diesen verstärkte das Deutsche Reich seine Präsenz vor Ort, als Anfang Februar 1939 ein deutsches Konsulat in Chust (ung. Huszt) eingerichtet wurde, das bis zum Juni 1939 bestand und den Einfluss auf die karpaten-urkainische Regierung sichern sollte. Amtsrat Walter Splettstösser, der die Konsulatsgeschäfte bis zum Eintreffen des deutschen Konsuls, Hamilkar Hofmann, regelte, gab in einem Report an das Auswärtige Amt folgende Anregungen zur kommenden Wirtschaftspolitik:

„Die Juden beherrschen hier Wirtschafts- und gesamtes Geschäftsleben in einem Umfang, wie anderswo kaum denkbar. Fast 98% der Geschäfte sind in ihren Händen. [...] Als Beweis für die Schädlichkeit des Judentums gibt es keinen besseren Anschauungsunterricht als das Studium der Verhältnisse in der Ukraine. Seit Jahrhunderten haben die Juden dieses Volk ausgepowert. Sie würden bei der Durchführung des deutschen Aufbauplans wiederum Nutznießer sein, wenn nicht drakonische Maßnahmen (... Gr.verst.). Vorschlage, wenn Ausweisung oder gänzliche Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben nicht möglich: Annullierung aller Schulden der Ukrainer bei den Juden. Eventuelle Übertragung der Schuldverbindlichkeiten an arische Konsumgenossenschaften, die ihrerseits mit Hilfe des Staates Kredite geben.”21

Das Dritte Reich konnte mit seiner komplexen Bündnispolitik im Südosten Europas Länder wie die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder eben auch den Kleinststaat Karpaten-Ukraine an sich binden, dem allerdings nur eine sehr kurze Existenz beschieden war. Die deutschen Minderheitengruppen bildeten in jedem Staat den Ansatzpunkt und die Manövriermasse, mit der die deutsche Regierung auf die Politik der einzelnen Regierungen Einfluss nehmen konnte. Die Einflussnahme bestand, wie am Beispiel Transkarpatien deutlich wurde, zunächst in wohlmeinender kultureller „Schutzarbeit” , die schließlich dem expansorischen Drang des Dritten Reiches untergeordnet wurde. Der Anspruch auf die „vergessenen Vorposten” in einer „bedrohten Heimat” bildete sowohl für die Bindung der deutschen Minderheiten an den Nationalsozialismus als auch für die Legitimation des Krieges ein überzeugendes Panorama.

 

Zwischen Flucht und Deportation

Schon im Jahr 1920 äußerte der tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk gegenüber einem Abgesandten des Sowjetischen Roten Kreuzes: „Ich betrachte Karpatenrussland als ein der Tschechoslowakei von Russland anvertrautes Pfand, das wir Russland bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurückgeben werden.”22 Dieses Versprechen löste sein Nachfolger Edvard Beneš am 29. Juni 1945 ein, als der Vertrag über die Abtretung der Karpaten-Ukraine an die Sowjetunion unterzeichnet wurde.

Für die deutsche Minderheit kündigte sich schon im August 1944 mit dem Ausscheiden Rumäniens aus den Reihen der Mittelmächte eine Verschlechterung ihrer Lage an, denn die sowjetische Offensive nach Südosteuropa schien kaum mehr aufhaltbar. Die Evakuierung der Deutschen begann Anfang Oktober 1944, als die Front schon bedrohlich nahe rückte. Aufgrund der überfüllten Transportwege (Eisenbahn, Trecks) gelang nur wenigen die Flucht. Nach der Erhebung des Kirchlichen Suchdienstes München von 1965 waren insgesamt 3 135 Deutsche in die beiden deutschen Staaten und nach Übersee geflohen.23

Deportationen in den Donbass und auch ins westliche Sibirien setzten Anfang 1945 ein und erreichten im Frühjahr 1946 ihren Höhepunkt, als das NKWD eine Verordnung herausgab, die Personen deutscher Nationalität, welche sich „in der Periode der deutsch-ungarischen Okkupation kompromittierten” zur Zwangsarbeit verpflichtete.24 Über 1 200 Deutsche wurden beispielsweise nach Tjumen deportiert und kehrten, sofern sie überlebt hatten, erst nach 1955 zurück, bzw. ließen sich in anderen Gebieten der Sowjetunion nieder. Nach der Rückkehr der Verbannten waren ihre Häuser von umgesiedelten Ukrainern bewohnt. Den Deutschen hing das Stigma des Nazis und Volksverräters an, so dass sie in der sowjetischen Lebenswelt ihre nationale Zugehörigkeit möglichst verbergen wollten. Auch die deutschen Schulen wurden abgeschafft.25 Nach dem Tod von Josef Stalin 1913 setzte langsam ein Assimilationsprozess ein, der bis heute andauert. Im Jahr 1970 wies die Volkszählung noch 4 230 Deutsche in Transkarpatien (ukr. Zakarpats’ka oblasę) aus.26

Vor dem Hintergrund dieser Lebenssituation ist es nicht verwunderlich, dass viele Deutsche die Möglichkeit zur Familienzusammenführung oder Auswanderung nach Deutschland nutzten. Zwischen 1968 und 1989 sind 727 Personen ausgewandert. Zwischen 1990 und 1995 wurde aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage in der Ukraine diese Zahl noch übertroffen.27

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991 versuchten die Deutschen in der Karpaten-Ukraine Organisationen für die Vertretung ihrer Minderheiteninteressen aufzubauen, die seither einige kulturelle Projekte initiiert haben und vor allem die deutsche Sprache fördern.28 Auch von kirchlicher Seite werden seelsorgerische und wirtschaftliche Aufbauprojekte angeschoben, die nicht nur den Deutschen im Land eine Perspektive zum Bleiben eröffnen sollen.

 

1

Raimund Friedrich Kaindl: Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern. Gotha 1907. S. IX.

2

Kaindl verwendet schon hier Begriffe mit militärischem Impetus und spricht im expansorischem Sinne von den „Grenzen des deutschen Volkes” und von der Pflicht zur „Grenzwacht”. Kaindl (1907: IXf)

3

Kaindl (1907: IXf)

4

Unter dem Begriff „Karpaten-Ukraine” resp. „Transkarpatien” (ukr. Uhorska Rus’, ung. Kárpátalja, tsch. Podkarpatská Rus) wird jener Teil des ehemaligen Königreichs Ungarn verstanden, der von 1918/20 bis 1938/39 innerhalb der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine separate administrative Einheit mit rund 725.000 Einwohnern (1930) bildete.

5

Nach der Niederschlagung des Aufstandes unter Fürst Ferenc II Rákóczi bekam die sehr einflussreiche fränkische Reichsgrafenfamilie Schönborn die riesige Domäne Munkács-St. Miklos übertragen. Zwischen 1730 und 1774 kamen die ersten Siedler aus dem Schwarzwald und Franken nach Munkács und gründeten in der Umgebung der Stadt einige Dörfer. Eine bedeutende Gruppe aus Oberösterreich und dem Salzkammergut ließ sich um 1775 am Oberlauf des Tereschwa-Flusses nieder. Die dritte Siedlungswelle um 1800 ist bestimmt von Kolonisten aus Niederösterreich, der Zips und dem südlichen Böhmerwald. Vereinzelte Siedlungen entstanden noch im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Zahl der Volkszählung von 1930 entnommen: Alfred Bohmann: Die Karpatenukraine. In: Ders.: Menschen und Grenzen. Bd. 3. Strukturwandel der deutschen Bevölkerung im sowjetischen Staats- und Verwaltungsbereich. Köln 1970. S. 411.

6

Georg Melika: Die Deutschen der Transkarpatien-Ukraine. Entstehung, Entwicklung ihrer Siedlungen und Lebensweise im multiethnischen Raum. Marburg 2002. S. 11-56; Herbert Franze: Die deutschen Siedlungen in Karpathenrußland. In: Karpatenland. 1930. 3. Jg. Heft 2. S. 49-55.

7

Jörg K. Hoensch: Ungarische Nation und nationale Minderheiten im Stephansreich 1780-1918. In: Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei. Hg. v. Hans Lemberg, Michaela Marek u. a. München. S. 32f.

8

Die Entwicklung der Minderheit nach der Besetzung der Karpaten-Ukraine durch Ungarn im März 1939 bleibt in dieser Studie ausgespart, da die Mechanismen der nationalen Mobilisierung vor allem in der Zwischenkriegszeit deutlich werden.

9

Der Volksbegriff geht in der deutschen Geistesgeschichte auf Herder und Fichte zurück, die die Idee einer Kultur-Nation bzw. einer Gefühlsgemeinschaft vertraten, die auf gleicher Abstammung, Sprache, einem gemeinsamen Schicksal und innerer Verbundenheit beruhte. [Angela Gröber: Út a néphez: Egy német kulcsfogalom rövid története. In: Rubikon 2005. Vol. 16. No. 4-5. S. 18-23.] Zur allgemeinen administrativen, wirtschaftlichen, ethnischen und politischen Situation: József Botlik: Közigazgatás és nemzetiségi politika Kárpátalján I. Magyarok, ruszinok, csehek és ukránok 1918-1945. Nyíregyháza 2005. oder auch die Arbeiten von Csilla Fedinec.

10

Dieser Automatismus ist bewusst überspitzt formuliert worden, um die Konsequenzen aus dem politischen Handeln deutscher und ungarischer Autoritäten darzustellen. Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg können als Periode des Übergangs bezeichnet werden. Einerseits bemühte sich die deutsche Regierung, das Deutschtum im Ausland zu fördern und sich seiner Gefolgstreue zu versichern, andererseits existierten in ungarischen Regierungskreisen Pläne, die Deutschen nach dem Krieg ins Reich auszusiedeln.

11

„Im Kriege sahen Balten, Siebenbürger Sachsen [etc.] lebendige ‚Deutsche aus dem Reich’, dazu noch in vollem Kriegsschmuck. […] Die preußischen Pickelhauben und die Stahlhelme all der deutschen Brüder aus Süd und Nord haben es doch geschafft, dass Deutschland größer ward, wenn auch nur nach innen. […] Man erlebte doch einmal die Gewalt des vielgehörten Wortes ‚Es gibt das Herz, das Blut sich zu erkennen’. Man sah es mit Augen, dass es nicht wahr ist, was man ihnen seit einem halben Jahrhundert mit beängstigendem Erfolg eingeredet hatte: Deutschsein bedeutet etwas Minderwertiges! Die stolzen Gäste von draußen, diese prächtigen Menschen aus dem geliebten Mutterland lehrten durch ihre bloße Erscheinung den Auslandsdeutschen, zu glauben an den Adel und an die Urkraft seines Volkes.” Aus einer Ansprache von Lutz Korodi auf der Tagung des DAI/Stuttgart. Hg. v. Bund der Auslandsdeutschen e.V. Berlin 1926. S. 14.

12

Hans Hoyer: Volksgruppen nicht Minderheiten! Zitiert nach: Nation und Staat. 1930. Heft 12. S. 805.

13

Eduard Winter: Die Aufgaben der deutschen Katholiken in der Slowakei und Karpathorussland. In: Der Auslandsdeutsche. 1925. Nr. 15. S. 461-463.

14

Großfahrt sächsischer Jungen nach Karpathenrußland. Sommer 1928. Hg. V. Jungnationalen Bund e.V. Plauen 1929. S. 15.

15

Als ‚Wanderlehrer’ wurden jene aus dem Reich oder anderen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit stammenden Pädagogen bezeichnet, die insbesondere von Kultur- und Schulvereinen in Regionen entsendet wurden, in denen keine oder eine mangelhafte Primarbildung in deutscher Sprache vorhanden war. Zum DKV vgl. Nikolaus G. Kozauer: Die Karpaten-Ukraine zwischen den beiden Weltkriegen. Esslingen/Neckar 1979. S. 161.

16

Volksdienst. Nachrichtenblatt des Deutschen Kulturverbandes für die Sudeten- und Karpatendeutschen. 1932. 1. Jg. Folge 1. S. 4.

17

August Naegle: Zum Wiederaufbau des Deutschtums in den Karpathenländern. In: Mitteilungen des Deutschen Kulturverbandes. 1926. 1. Jg. Heft 7. S. 4; Andreas Luh: Der deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. München 1988. S. 310f.

18

Volker Zimmermann: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938-1945). Düsseldorf 1998. Ralf Gebel: „Heim ins Reich!” Konrad Henlein und der Reichsgau Sudentenland (1938-45). München 1999.

19

Deutsche Stimmen. Wochenblatt für die Karpathenländer. 4 Jg. 2.10.1937. S. 9.

20

Deutscher Volksbote. Wochenblatt für Kultur, Politik und Wirtschaft.1. Jg. Folge 1. Jänner 1939. S. 3.

21

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA). R 103408. Telegramm Nr. 15 vom 23. 2. 1939.

22

Bohmann (1970: 400)

23

Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten. Bd. 3. München 1965. S. 609.

24

Melika (2002: 194)

25

Ortfried Kotzian: Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine. (Studienbuchreihe der Stiftung des Ostdeutschen Kulturrates. Bd. 11). München 2005. S. 329.

26

Melika (2002: 130)

27

Georg Melika: Spätaussiedler aus der Karpaten-Ukraine. In: Mitteilungen des Allgemeinen Deutschen Kulturverbandes. Wien. Der neue Eckartbote. 1996. 44. Jg. Nr. 11. S. 14.

28

Melika (2002: 287ff)