Begegnungen12_Resch
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:299–310.
ANDREAS RESCH
Kartelle in Österreich
Ein Forschungsprojekt
1.
Im vorliegenden Beitrag werden erste Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt über Kartelle in Österreich von der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre präsentiert. Gemäß dem Rahmenthema „Ausgewählte Fragestellungen der Epoche des Dualismus” beschränken sich die Ausführungen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Die Wirtschaft in der späten Habsburgermonarchie gilt in der Literatur als ein Paradebeispiel für eine hochgradig kartellierte Ökonomie. Dies regte bereits zeitgenössische Wissenschafter zu einschlägigen Forschungsarbeiten an. Als Beispiele seien etwa genannt: Friedrich Kleinwächter, Die Kartelle. Ein Beitrag zur Frage der Organisation der Volkswirtschaft, Innsbruck 1883; Josef Grun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, Markus Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes im modernen Wirtschaftssystem, I. Teil, Die Kartelle in Österreich, Wien 1905; Max Freiherr von Allmayer-Beck, Materialien zum österreichischen Kartellwesen, Wien 1910; Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Berlin 1910; Jenő Varga, Magyar kartellek (Ungarische Kartelle), Budapest 1912; sowie 12 Bände, die vom k.k. Handelsministerium über die große Kartell-Enquete im Jahre 1912 publiziert wurden.
Auch in den neueren wirtschaftshistorischen Werken über die späte Habsburgermonarchie finden sich Hinweise auf die große ökonomische Bedeutung des Kartellwesens, zum Beispiel in den Arbeiten von Iván T. Berend und György Ránky, David F. Good, Herbert Matis, Roman Sandgruber, u.a.1
2.
Um der Bedeutung des historischen Kartellwesens nachgehen zu können, ist zum ersten zu untersuchen, inwieweit Kartellorganisationen überhaupt bestanden haben. Zum zweiten soll abgeschätzt werden, welchen Einfluss sie auf die Wirtschaft bzw. Wirtschaftsentwicklungen auszuüben vermochten.
Demgemäß sei zuerst ein zahlenmäßiger Überblick versucht, in welchem Ausmaß sich die Kartellierung bis zum Ersten Weltkrieg in organisierter Form zu entfalten vermochte. Ettinger2 führt im Anhang zu seinem 1905 erschienenen Werk über Kartelle in Österreich 104 Organisationen an, Allmayer-Beck nennt für das Jahr 1910 eine Zahl von 120 Kartellen in Österreich.3 Um 1910 scheint die Kartellbewegung an Intensität gewonnen zu haben, denn für 1912 wird die Anzahl der Organisationen bereits auf über 200 geschätzt.4
Auf der Grundlage einer genauen Auswertung der zeitgenössischen Publizistik und diverser Archivquellen kann folgender tabellarischer Überblick über das österreichische Kartellwesen im Jahre 1912 gegeben werden5:
Tabelle 1
GESCHÄTZTE ANZAHL VON INDUSTRIEKARTELLEN IN ÖSTERREICH |
||
Industrie |
Anzahl1 |
|
Untergruppe |
Anzahl in der Untergruppe2 |
|
Glasindustrie |
|
15 |
Z.B. Kartell der Glasflaschenfabrikanten |
1 |
|
Ziegel, Steine, Keramik |
|
26 (29) |
Zementkartell (e) |
1 (4) |
|
Regionale Ziegelkartelle |
9 |
|
Regionale Kartelle für Kalk |
6 |
|
Andere |
ca. 10 |
|
Eisen & Stahl |
|
9 (26) |
Eisen |
1 (18) |
|
Regionale Kartelle der Wiener Eisenhändler |
3 |
|
Andere (Röhren, Draht und Drahtstiften, etc. ) |
ingefähr 5 |
|
Eisen- und Metallwaren, Maschinenbau |
|
33 |
Maschinenbaukartell (Rest des Kartells nach 1911) |
1 |
|
Waggonkartell |
1 |
|
Lokomotivkartell |
1 |
|
Brückenbaukartell |
1 |
|
(Bleche und Drähte) aus Kupfer, Zinn und Zink |
3 |
|
Internat. und österr. Kartell für Emailwaren |
1 |
|
Andere, ungefähr |
ungefähr 25 |
|
Elektroindustrie |
|
5 (7) |
Glühlampen |
1 |
|
Kabel |
1 (etwa 3) |
|
Industrie für Starkstromgeräte |
1 |
|
Organisation von Elektrizitätswerken |
1 |
|
Fabriken für Bleikabel |
1 |
|
Holz, Möbel |
|
14 |
Reg. Sägewerkskartelle |
3 |
|
Möbel (z.B. Bugholzmöbelkartell) |
2 |
|
Andere (div. Produkte, Holzhändlerkartell, ...) |
etwa 9 |
|
Papier, Druck |
|
10 |
Packpapier (Papierunion) |
1 |
|
Div. Sorten von Papier (Karton, Rotationsdruckpapier, |
5 |
|
Andere |
etwa 4 |
|
Chemische Industrie |
|
29 |
Leim |
1 |
|
Magnesit |
1 |
|
Mineralöl |
2 |
|
Div. Produkte (z.B. Sauerstoff, Salzsäure, ...) |
etwa 25 |
|
Leder, Textilien, Bekleidung |
|
50 |
Baumwollspinner |
1 |
|
Baumwollwebereien |
1 |
|
Div. Baumwollprodukte |
10 |
|
Bleicher, Färber, Drucker, Appreteure, etc. |
13 |
|
Andere |
etwa 25 |
|
Nahrungsmittel |
|
10 (12) |
Zucker |
1 (3) |
|
Bier |
3 |
|
Süßwaren |
1 |
|
Spiritus |
5 |
|
Zusammen |
|
201 (225) |
1 In Klammern: Anzahl einschließlich Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren. 2 In Klammern: Anzahl der Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren. |
Diese Tabelle weist eine intensive Kartellierung aller wesentlichen Industriezweige in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg aus. Die meisten Kartelle bestanden in der Textilindustrie, gefolgt von Eisen- und Metallwaren und Maschinenbau sowie von der chemischen Industrie und der Eisen- und Stahlerzeugung.
Auch in Ungarn entstanden in der Periode von der Jahrhundertwende bis 1914 zahlreiche stabile Kartelle in wichtigen Industriezweigen; etwa im Bereich der Eisenindustrie, der Zucker-, Spiritus- und Brauindustrie, der Mühlenindustrie, Ziegelfabriken u.a.m. In einigen bedeutenden Industriezweigen kam es zu Abkommen zwischen den ungarischen und österreichischen Kartellorganisationen; etwa für die Eisenindustrie, Zuckererzeugung, phasenweise auch für die Petroleumindustrie. Es ist somit zu konstatieren, dass in dieser Entwicklungsperiode tatsächlich die österreichisch-ungarische Wirtschaft in einem hohen Ausmaß kartelliert war.6
3.
Es bleibt jedoch zu klären, welchen Einfluss die Kartelle tatsächlich auf die wirtschaftliche Entwicklung ausübten. Generell können Kartelle als gemeinsame Organisationen rechtlich selbständiger Unternehmen definiert werden, die dem Zweck dienen, die Ertragslage der Mitgliedsfirmen zu verbessern.7 Dies kann durch eine gemeinsame Erhöhung der Preise in Richtung Monopolpreis und/oder durch Kosteneinsparungen durch gemeinsame Organisationsformen erzielt werden.
Die Einschätzungen von Kartellen in der ökonomischen Literatur weisen eine große Bandbreite auf. Sie reichen von der Verurteilung von Kartellen als monopolistische Organisationen, die sich Extraprofite auf Kosten der Gesamtwirtschaft sichern und innovative neue Unternehmen behindern bis zur Argumentation, dass Kartelle durch planmäßige Investitionen dem Fortschritt dienen, durch bessere Organisation Kosten senken, Konjunkturschwankungen dämpfen und Arbeitsverhältnisse verstetigen.8
Ein gängiger wirtschaftswissenschaftlicher Zugang zur Kartellforschung, der eine differenzierte Einschätzung der Organisationen gestattet, ist das „Structure-Conduct-Performance”-Paradigma. Dieses besagt, dass Kartelle je nach der Struktur der jeweiligen branchenspezifischen Märkte ein unterschiedliches Verhalten der Akteure, unterschiedliche Organisationsformen und ein unterschiedliches Ausmaß an wirtschaftlicher Macht mit sich bringen, wodurch sie auch einen unterschiedlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Firmen bzw. der Gesamtbranchen ausüben.
Zur Beschreibung des Zusammenhanges zwischen ökonomischer Performance und Marktstruktur verwenden Ökonomen mathematische Formulierungen, etwa Regressionsgleichungen, in denen die Profitabilität als Funktion des Grades der Konzentration, der Höhe der Zutrittsbarrieren für neue Konkurrenten etc. ausgedrückt wird.9
Angesichts der Datenlage eignet sich für die historische Kartellforschung besser ein nicht-mathematischer Zugang, der sich aber durchaus auch des analytischen Musters des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas bedienen kann. Um eine entsprechende Kategorisierung und Analyse verschiedener industrieller Märkte vornehmen zu können, seien die gemäß der einschlägigen Literatur wichtigsten strukturbestimmenden Merkmale wie folgt aufgelistet:
1. Größe des Marktes: Tendenziell ist es schwieriger, in großen Märkten eine effektive Marktmacht zu organisieren, gelingt es aber trotzdem, so werden die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen stärker sein, als wenn kleine Teilmärkte organisiert werden.
2. Grad der Konzentration: davon bestimmte Marktformen sind Konkurrenzmarkt, Oligopol und Monopol. Als ein gängiges, auch für die historische Forschung anwendbares Maß für den Grad der Konzentration kann die Concentration Ratio 4, also der Anteil der 4 größten Firmen am Gesamtmarkt herangezogen werden. Als weitere allenfalls auch eruierbare Indikatoren können Maße wie die Konzentration des Kapitals, der Anteil der wichtigsten Betriebe an der Gesamtheit der Arbeitskräfte in einer Branche, die Gesamtzahl der Marktteilnehmer, etc. berechnet werden.
3. Differenzierung: Von Bedeutung sind insbesondere Produktdifferenzierung, räumliche Differenzierung von Märkten, etc.
4. Zutrittsschranken (entry barriers) für in den Markt neu eintretende Firmen (newcomers): Der Zutritt kann zum Beispiel gehemmt werden durch Kapitalintensität, Economies of Scale für bereits etablierte Firmen, First mover Advantages, drohende hohe Sunk Costs, etc.
5. Organisationsmacht von Banken, Konzernen, etc. kann Kartellen zusätzliche Festigkeit verleihen.
6. Politische Regulierung: Schutzzölle, Zugangsregelungen, Konzessionsregelungen, etc. stellen wesentliche Rahmenbedingungen für die Entfaltungsmöglichkeit der Marktmacht von Kartellen dar.
7. Struktur der Nachfrage: kontinuierlicher Verkauf auf atomistischen Märkten vs. diskontinuierliche Großaufträge von wenigen Nachfragern.
Was Organisationsstruktur und Verhalten von Branchen (conduct) betrifft, so ist gerade aus der Sicht der Historiker darauf hinzuweisen, dass es nicht genügt, diese zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beschreiben, um ihre Wirkungen abschätzen zu können. Faktoren, wie die Etablierung einer Verbandsbürokratie, von gängigen Geschäftsusancen etc. tragen dazu bei, dass Organisationen tendenziell im Laufe der Zeit mehr Stabilität gewinnen. Andererseits können Faktoren, wie neue Technologien, Veränderungen der Märkte, Reaktionen auf Außenseiter etc., eine Umorganisation oder sogar Auflösung von bestehenden Organisationen bewirken. Daher kann die Wirksamkeit von Organisationsformen zur Etablierung von Marktmacht nur abgeschätzt werden, indem man sie über Zeiträume von wenigstens einigen Jahren betrachtet.10
Als Merkmale des ökonomischen Erfolgs (performance) sind Indikatoren heranzuziehen, die die Profitabilität beziehungsweise die Effizienz der einzelnen Industrien anzeigen, z.B. Gewinne und Dividenden, Anteil der Firmen, die Verluste ausweisen müssen, Preisentwicklung, Produktivität etc.
4.
Nach den genannten Kriterien zur Analyse der Marktstrukturen können die großen österreichischen Industrien vor 1914 in vier Gruppen eingeteilt werden, die jeweils charakteristische Organisationsformen der Kartelle hervorgebracht haben. Im weiteren Text wird nur auf beispielhafte Großindustrien eingegangen, die vor dem Ersten Weltkrieg in der österreichischen Reichshälfte einen Bruttoproduktionswert von zumindest 100 Millionen Kronen hervorbrachten.11 (In der folgenden Tabelle werden als Ergänzung jedoch in Klammer auch beispielhafte kleinere Märkte angegeben.) Zu den Großindustrien gemäß obiger Definition gehörten vor 1914: Zuckererzeugung, Textilindustrie, Maschinenbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Brauindustrie, Papiererzeugung, Petroleumindustrie und Spiritusindustrie. Die Petroleumindustrie wird bei den weiteren Betrachtungen nicht berücksichtigt, denn sie bedürfte aufgrund sehr spezifischer Einflüsse (Ambitionen ausländischer Konzerne, massive Staatsintervention) einer eigenen Spezialstudie.
Die jeweils besonders charakteristischen Strukturmerkmale, die die einzelnen Märkte von den anderen Kategorien unterschieden, sind fett hervorgehoben:
Tabelle 2
CHARAKTERISTISCHE MARKTSTRUKTUREN UND ORGANISATIONSFORMEN VON KARTELLEN IN AUSGEWÄHLTEN INDUSTRIEZWEIGEN |
||
Marktstruktur (7 Hauptmerkmale) |
Charakterist. Form |
Industrien |
1. Kartellierung und Marktmacht durch Marktstruktur begünstigt: |
Stabiles Kartell mit starker, zentraler Kontrolle |
Eisen- und Stahlindustrie (vergleichbare kleinere Industrien: Waggonbau, |
2. Marktmacht von Kartellen durch niedrige entry barriers und Substituierbarket geschwächt: |
Zahlreiche, wenig mächtige Kartelle |
Textilindustrien, |
3. Große Märkte durch räumliche Differenzierungstrukturiert |
Föderatives Kartell* |
Bier, |
4. Individuelle Lieferanten-Kundenbeziehungen |
Unstabile Versuche der Kartellierung, fortschreitende Konzentration |
Maschinenbauindustrie |
*) Kleine Unterorganisationen, die in einer gemeinsamen Organisation zusammenarbeiten um die organisatorische Effizienz von kleinen Gruppen und die Stärke von großen Gruppen zu erlangen, können als föderative Gruppen bezeichnet werden. Vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Harvard 1965, Kapitel II. und V.C. |
In der hier gebotenen Kürze seien einige Anmerkungen zu den vier Marktkategorien, denen die großen österreichischen Industrien vor dem Ersten Weltkrieg zuzuordnen sind, jeweils anhand eines Beispieles erläutert:
Die Eisenindustrie wies praktisch hinsichtlich aller Merkmale der Marktstruktur ideale Bedingungen für die Organisation einer stabilen, starken Marktmacht auf. Insbesondere der hohe Konzentrationsgrad (auf die vier größten Unternehmen entfielen mehr als 95 Prozent der gesamten österreichischen Roheisenproduktion12), die hohen Zugangsbarrieren für Neueinsteiger wegen des hohen Investitionsbedarfs und der massive Zollschutz, der es gestattete, die Preise im Inland hoch zu halten, seien besonders hervorgehoben. Nach einer Phase der Destabilisierung im Jahre 1902 wurde der österreichisch-ungarische Eisenmarkt von 1903 bis zum Ersten Weltkrieg von einer beide Reichshälften umfassenden Organisation geregelt.
In den Textilindustrien hingegen hatte sich nur eine sehr mäßige Unternehmens- und Betriebskonzentration herausgebildet. Zum Beispiel verfügten in Österreich die vier größten Baumwollspinnereien 1912 zusammen nur über einen Marktanteil von 15 Prozent. Kapazitätserweiterungen und Neugründungen von Betrieben waren angesichts des vergleichsweise niedrigen Investitionsbedarfs leicht möglich. Es entstanden zwar ungefähr ab 1907 zahlreiche Konditionenkartelle, mit denen man versuchte, die Geschäftsbedingungen für die Unternehmen gemeinsam zu verbessern, Neueintritte und Betriebsausweitun- gen waren jedoch durch diese Kartellorganisationen kaum zu verhindern. Etwa ab 1910 kam es mehrmals zu Ansätzen, durch kollektive Vereinbarungen Kapazitätsreduktionen herbeizuführen, um die Preise erhöhen zu können. Diese Bemühungen scheiterten jedoch, sofern sie überhaupt wirksam wurden, immer wieder nach relativ kurzer Zeit. Auch ein ambitioniertes Projekt der Baumwollspinner und Baumwollweber, gemeinsam Auslandsmärkte zu erobern, scheiterte. Von 1911 bis 1913 fanden intensive Verhandlungen statt. Um Verkäufe im Ausland zu ermöglichen, sollten die Baumwollspinner den Webern Garne unter dem Selbstkostenpreis überlassen, und diese daraus Stoffe erzeugen und im Ausland zu Preisen anbieten, die auch ihre Kosten nicht deckten. Von dieser Dumping-Aktion erhoffte man sich eine bessere Auslastung der Fabriksanlagen, dadurch eine Senkung der Durchschnittskosten und somit eine Gesundung der Textilindustrie, die von 1910 an in eine schwere Krise geraten war. Die Verhandlungen zogen sich von 1911 bis 1913 hin und scheiterten schließlich gänzlich.13
Die Zucker- und die Brauindustrie wiesen hinsichtlich der Neugründung von Betrieben nur einen geringfügig höheren Kapitalbedarf als die Textilindustrie auf. In diesen Branchen entstanden aber stark räumlich differenzierte Märkte und Kartellorganisationen. Dies hing einerseits mit den regional gebundenen Möglichkeiten der Beschaffung von Rohmaterialien von entsprechenden landwirtschaftlichen Betrieben zusammen und andererseits auch mit den relativ hohen Transportkosten der Erzeugnisse, gemessen an ihrem Wert pro Gewichtseinheit. Daher ergaben sich aus dieser Marktstruktur relativ stabile „föderale” Kartelle, das heißt regionenweise strukturierte Gruppierungen, die gemeinsame Dachorganisationen entwickeln konnten.14
Die Maschinenbauindustrie zeigte eine Sonderentwicklung. Hier ist die Periode der Kartellierung von 1907 bis 1911 als Übergangsphase von einem Stadium vergleichsweise geringer Unternehmenskonzentration hin zu einer wesentlich höheren Konzentration anzusehen. Dieser Vorgang erhielt dadurch, dass die Mitgliedsfirmen der gemeinsamen Kartellzentrale und somit auch ihren Konkurrenzunternehmen weitgehenden Einblick in ihre geschäftliche Entwicklung gewähren mussten, ein spezifisches Gepräge.15
5.
Gemäß den Annahmen des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas müsste besonders starke Marktmacht die höchsten Profite der betreffenden Branche gewährleisten. In dem folgenden Diagramm wird der Gewinn der Aktiengesellschaften einer Industrie in Prozent ihres nominellen Stammkapitals als Indikator dafür herangezogen. Die Darstellung bestätigt auf überzeugende Weise die Vorannahmen:
Tabelle 3
GEVINN DER INDUSTRIEAKTIENGESELLSCHAFTEN IN AUSGEWÄHLTEN BRANCHEN IN PROZENT IHRES NOMINELLEN AKTIENKAPITALS |
||||||
|
1907 |
1908 |
1909 |
1910 |
1911 |
1912 |
Eisenindustrie |
19,8 |
20,3 |
18,1 |
18,3 |
20,1 |
24,9 |
Baumwollwebereien |
14,8 |
7,6 |
10,2 |
6,4 |
2,4 |
5,6 |
Baumwollspinnereien |
10,9 |
6,7 |
6,1 |
3,5 |
-4,4 |
0,1 |
Bauindustrie |
6,9 |
4,0 |
3,8 |
5,8 |
7,5 |
6,7 |
Maschinenbau |
10,6 |
8,7 |
12,8 |
12,4 |
11,8 |
12,0 |
Quelle: Materialien zur österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik. Zusammengestellt im Auftrage des k.k. Handelsministeriums vom k.k. Handelsmuseum, Wien 1916. |
In der Tat vermochte jene Industriebranche, die von den Voraussetzungen der Marktstruktur her die stärkste Kartellorganisation ausbilden konnte, nämlich die Eisenindustrie, die höchsten Gewinne zu erzielen. Das Ergebnis scheint somit zeitgenössische Stimmen zu bestätigen, die insbesondere dieser Branche vorwarfen, dank ihrer organisierten Marktmacht Extraprofite auf Kosten der von ihr abhängigen Wirtschaftsbereiche (z.B. Maschinenbauindustrie) und zum Schaden der Gesamtwirtschaft zu erzielen.
Die in einem föderalen Kartell organisierte Brauindustrie wurde ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg häufig von Seiten der Verbraucher und Gastwirte wegen angeblich zu hoher Preise angefeindet. Bierpreiserhöhungen zogen immer wieder sogenannte Bierkrawalle nach sich16 und Politiker aller politischen Lager stimmten in Unmutsäußerungen gegen die Brauwirtschaft ein.17 Zwar wies die Brauindustrie insgesamt gemäß obigem Diagramm einen recht stabilen Geschäftsgang auf, die Gewinne bewegten sich allerdings im allgemeinen nicht in spektakulärer Höhe. Diese Tatsache spielte jedoch im Diskurs wenig Rolle, der vor allem davon bestimmt wurde, dass die Bierkonsumenten und Gastwirte von Preiserhöhungen jeweils sehr hart getroffen wurden.
Die Textilindustrien konnten trotz diverser Organisationsanstrengungen (ungefähr ab dem Jahr 1907) ihren Niedergang nicht aufhalten und die Maschinenindustrie erfreute sich sowohl während der Phase der Kartellierung (1907–1911) als auch 1911 und 1912 einer insgesamt relativ stabilen und eher überdurchschnittlichen Gewinnsituation.
6.
Resumierend kann angemerkt werden, dass die Anwendung des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas eine wesentliche Differenzierung des Bildes vom österreichschen Kartellwesen, welches die schlichte Zähltabelle am Anfang dieses Beitrages vermittelt, gestattet hat. Während diese Tabelle den Eindruck intensivster Kartellierung insbesondere im Bereich der Textilindustrie vermittelt, hat die weitere Analyse ergeben, dass gerade die große Zahl von Kartellen in dieser Branche die Machtlosigkeit und Vergeblichkeit der Organisationsansätze widerspiegelt. Im Gegensatz dazu hat die Eisenindustrie, die überwiegend in einem einzigen mächtigen Verband organisiert war, die größte Marktmacht entfalten und die höchsten Profite erzielen können.
Zur besseren Fundierung sind die Ergebnisse aber in eine breiter angelegte historische Betrachtung einzubetten. Zum Beispiel erscheinen die ökonomischen Erfolge der Eisenindustrie etwas weniger glanzvoll, wenn man mitbedenkt, dass dieser Industriezweig vom Jahr 1873 an mehrere Jahrzehnte schmerzhafter Restrukturierungen und ertragsarmer Unternehmensentwicklung durchzustehen hatte. Die Aktionäre wurden also sozusagen in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Periode hoher Renditen dafür belohnt, dass sie vorher lange Zeit hindurch ihren weitgehend ertraglosen Unternehmen die Treue gehalten hatten.18 Dadurch relativieren sich auch die zeitgenössischen Vorwürfe von Seiten der eisenverarbeitenden Industrien etwas.
Die kommerzielle Entwicklung der Schwerindustrien und der Textilerzeugung wurden auch von den Balkankrisen unterschiedlich beeinflusst. Während die einen von Rüstungsaufträgen profitierten wurden die anderen vom Ausfall traditioneller Exportgebiete und der Zurückhaltung des Publikums bei der Anschaffung nicht unbedingt sofort notwendiger Konsumgüter getroffen. Somit ist die Textilkrise vor dem Ersten Weltkrieg gewiss nicht allein mit der unstabilen Organisationsstruktur dieses Marktes zu erklären.
Das Structure-Conduct-Performance-Paradigma erlaubt einen Zusammenhang zwischen spezifischen Merkmalen von Märkten und damit zusammenhängenden, charakteristischen Mustern von möglichen Kartellorganisationen zu erkennen. Dieser sehr schematische Zusammenhang wurde natürlich in der historischen Entwicklung von zahlreichen anderen Determinanten überlagert. So spielten bei manchen erfolgreichen Kooperationen aber auch bei kostspieligen Konflikten zwischen Unternehmen persönliche Entscheidungen und Ambitionen von einzelnen, handelnden Akteuren eine große Rolle. Zum Beispiel war das Maschinenbaukartell vor allem der Initiative des Generaldirektors der Skodawerke, Georg Günther, zu verdanken. In der Phase des Zerfalls dieses Kartells tat sich dann der Leiter der Prager Maschinenbau AG, Richard Sohr, mit einer besonders aggressiven Expansionspolitik hervor. Diese brachte jedoch schließlich 1913 das von ihm gelenkte Unternehmen in akute finanzielle Schwierigkeiten, woraufhin Sohr von den Großaktionären abgesetzt wurde.19
Auch der Rhythmus der peridoisch wiederkehrenden Ausgleichsverhandlungen und der jeweils mit ihnen einhergehenden Umgestaltungen des Zolltarifs wirkte sich auf die Gestaltung der Kartelle aus. Die meisten der in den Jahren um 1910 abgeschlossenen Kartellverträge sahen ein Auslaufen der Vetragsverpflichtungen im Jahr 1917 vor, also in jenem Jahr, in dem die nächste Runde von Ausgleichs- und Zolltarifverhandlungen zu erwarten war. Somit wirkte sich auch der Dualismus unmittelbar auf die Gestaltung vieler Kartellverträge aus.
Betrachtet man die Kartellierung im gesamten österreichisch-ungarischen Bereich, so ist zu konstatieren, dass die Zollunion keinen einheitlichen Kartellraum bildete. Die meisten Kartelle, die beide Reichshälften umfassten, wie das Eisenkartell und das Zuckerkartell, bestanden aus einer österreichischen und einer ungarischen Organisation, die miteinander verhandelten und schließlich zu Abkommen für die gesamte Monarchie gelangten.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es die Unterschiedlichkeit der Marktstrukturen der diversen Industrien auch mit sich brachte, dass sie in ungleicher Weise von der Auflösung der Habsburgermonarchie nach dem Ersten Weltkrieg betroffen wurden. Während sich die Rahmenbedingungen für Industrien, die strukturell auf großräumige Massenmärkte angewiesen waren, besonders negativ veränderten, waren Branchen, die vor allem mit kleineren, regional differenzierten Märkten verbunden waren, von der Zersplitterung der ehemaligen Zollunion zweifellos weniger betroffen.
Anmerkungen
1
Vgl. etwa Ivan T. Berend, György Ránki: Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1849–1918, in: Alois Brusatti: Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band 1), Wien 1973, 516 ff; David F. Good: Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750–1914. Wien, Köln, Graz 1986, 186 ff; Herbert Matis, Karl Bachinger: Österreichs industrielle Entwicklung, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 134 ff; Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik, Wien 1995, 292 ff.
2
Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes, 267.
3
Allmayer-Beck, Materialien zum österreichischen Kartellwesen, 6.
4
Friedrich Hertz: Die Produktionsgrundlagen der österreichischen Industrie vor und nach dem Kriege. 4. Auflage, Wien, Berlin (1919).
5
Ausgewertet wurden die in der Einleitung sowie in Fußnote 1 bis 4 genannten Werke, weiters die Kartell-Rundschau 1 (1903) – 11 (1913), die Neue Freie Presse und der Österreichische Volkswirt sowie der Bestand im Österreichischen Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Handelsministerium, Faszikel 1207, 1209 und 1211 (Materialien des Gewerberates und des Industrierates zur Kartellfrage).
6
Vgl. Berend, Ránki, Ungarns wirtschaftliche Entwicklung, 516 ff; Good, Aufstieg, 186 ff.
7
Vgl. Egon Tuchfeldt, Kartelle, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Vierter Band, Stuttgart u.a. 1978, 447.
8
Näheres dazu in Andreas Resch, Kartelle und Kollusionen in Österreich von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre – Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt, in: Alice Teichova, Herbert Matis, Andreas Resch: Business History. Wissenschaftliche Entwicklungstrends und Studien aus Zentraleuropa (Veröffentlichungen der österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Band 21), Wien 1999, 145–154.
9
Vgl. Frederic M. Scherer/David Ross: Industrial Market Structure and Economic Performance. Boston, Mass. u.a., dritte Auflage 1990; George Symeonidis, Are Cartel Laws Bad for Business? Evidence from the UK, mimeo, University of Essex 1999; Jean Tirole, The Theory of Industrial Organization, Cambridge, Mass u.a. 1990.
10
Vgl. Mancur Olson: The Rise and Decline of Nations. New Haven, London 1982, 38 ff.
11
Zur Schätzung von Bruttoproduktionswerten siehe etwa: Friedrich von Fellner: Das Volkseinkommen Österreichs und Ungarns. Sonderabdruck aus dem September-Oktober-Heft der Statistischen Monatsschrift, Jg. XXI, Wien 1917. Fellners Berechnungen sind zwar in manchen Details korrekturbedürftig, sie geben aber doch einen Eindruck von der branchenweisen Gliederung des Volkseinkommens in Österreich-Ungarn vor 1914.
12
Vgl. Compass 1914, Band II und IV; Verhandlungen der vom k.k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Band VIII, Eisenindustrie, Wien 1912, 445.
13
Vgl. Kartell-Rundschau 5 (1907) – 11 (1913).
14
Verhandlungen der vom k.k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Band I, Zuckerindustrie, Wien 1912; Band IV, Brauindustrie, Wien 1912.
15
Vgl. etwa Kartell-Rundschau, 9 (1911), 813 f; Der Österreichische Volkswirt, 6 (1914), 288.
16
Vgl. etwa Helmut Konrad: Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich. Wien, München, Zürich 1981.
17
Zwei Beispiele seien angeführt: Vom christlichsozialen Abgeordneten Doblhofer und Genossen wurde im Abgeordnetenhaus am 2. Juli 1908 eine Anfrage an den Ministerpräsidenten wegen der Verteuerung der Bierpreise gerichtet. Darin forderte man, dass „ein die Regelung des Kartellwesens betreffender Gesetzesentwurf der Regierung mit tunlichster Beschleunigung vorzulegen” sei. Kartell-Rundschau, 5 (1908), 668 f. Das Exekutivkomitee der tschechischen sozialdemokratischen Partei rief im August 1913 nach einer Preiserhöhung zum Bierboykott auf. Duxer Zeitung, 6.8.1913; Kartell-Rundschau, 10 (1913), 698.
18
Vgl. Otto Hwaletz: Die steirische Montanindustrie 1871–1917. Unpubl. Manuskript. Dem Autor sei für die Erlaubnis, sein unpubliziertes Manuskript zu verwenden, gedankt.
19
Vgl. Österreichischer Volkswirt, 6 (1914), 288.
Begegnungen12_Plesu
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:33–39.
ANDREI PLEŞU
Sünden und Unschuld der Intellektuellen
Festvortrag
Die postkommunistischen Gesellschaften haben den Intellektuellen gegenüber eine äußerst zwiespältige Einstellung. Einerseits werden die Intellektuellen mit einem leicht scheinheiligen Respekt behandelt, sie werden ihrer „Gelehrtheit” wegen bewundert, stolz als „Werte” präsentiert und angehalten, „das Land aus der Sackgasse zu führen”. Andrerseits betrachtet man sie mit einer leichten, von Misstrauen durchsetzten Ironie: Als schwächliche, unzeitgemäße, von zu vielem Nachdenken etwas angegriffene Wesen. Sie sind ineffizient, elitär, kosmopolitisch und erhalten nur „mangelhaft” bei mehreren „bürgerpflichtigen” Rubriken – wie Patriotismus, Solidarität, Respekt gegenüber den Massen usw. Ein Großteil der Bevölkerung reagiert eher gelangweilt auf die Intellektuellen. Das sind im allgemeinen irgendwelche Leute, die sie nicht verstehen und von denen sie nicht verstanden werden, Personen, auf die man sich nicht verlassen kann, einfach Taugenichtse, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten, wenn sie schon nicht imstande sind, tatsächlich und wahrhaftig zu helfen.
Dieses Problem ist typisch für Übergangsperioden. Die großen Umsturze von 1989 haben überall angesehene Intellektuelle in den Vordergrund gebracht, die – gleichzeitig – Auslöser, Garanten und Wahrzeichen der Ereignisse sein durften. Menschen, deren Schicksal meist mit einem arbeitsamen Schattendasein in Verbindung gebracht wird, füllten plötzlich raumdeckend die Bühne in der Gestalt des „zivilisatorischen Heldens”, des aktiven Reformers. Und, wie es nicht anders zu erwarten war, alle postrevolutionäre Enttäuschungen wurden anschließend auf ihr Konto gesetzt. Die Wähler hatten die edlen Reden und moralisierenden Vorbilder schnell satt. Die Zeit der symbolträchtigen Gesten, der großartigen und überwältigenden Haltungen ist vorbei. Havel ist banal und Michnik unsympathisch geworden. Das Verhältnis zwischen Intellektuellen, Ethik und Politik wurde schnell thematischer Bestandteil koketter internationaler Symposien. Weg von der Straße und weg von den „Verhandlungstischen” sind die Intellektuellen zu mehr oder minder mondänen Schauspielern endloser „Rundtisch-Gespräche” geworden. Sie glossieren und adnotieren alexandrinisch rund um ihre Leistungen in der Vergangenheit, sie erklären sich, schlagen neue Utopien vor, sie debattieren Nuancen. In einem Artikel über Polen in „Le Nouvel Observateur” bringt Bernard Gueta die Situation auf den Punkt: „Der Krieg ist vorbei. Polen hat für normale Zeiten einen normalen Menschen gewählt. Alles ist in Ordnung – und sehr traurig.”
Soll das heißen, dass die Intellektuellen raus aus dem Spiel sind? Und sollte dies der Fall sein, müssen wir diesen Umstand sofort als Katastrophe einstufen? Als erstes liesse sich bemerken, dass der Terminus „Intellektueller” in den zu diesem Thema laufenden Diskussionen mit einer besonderen Bedeutung behaftet ist. Er bezeichnet eher die „künstlerische” Variante des Intellektuellen – den interessanten, „auserwählten” Menschen, der charismatisch über der Menge schwebt. Nicht einfach das Hochschulstudium, nicht die Vorherrschaft des Mentalen, des Geistigen über das Manuelle, Handwerkliche definieren zur Zeit den Status des Intellektuellen, sondern die Neigung zur spekulativen Erhabenheit, zur ethizistischen Gestikulation und zur kreativen Originalität. Niemand denkt an Václav Klaus, wenn er ein Beispiel sucht, selbst wenn man dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten nur schwer die Eigenschaft eines Intellektuellen absprechen könnte. Alle Welt denkt an Václav Havel. Nur als Verkörperung vom Typ Havel erlangt der Intellektuelle die Aura der missionären, von sybillischen Instanzen für unsere Rettung auserwählten Gestalt. Einem Buchhalter kann man die Rolle des „Erlösers” nicht anvertrauen.
Und hier treffen wir auf eine erste Form der „Verdrehtheit” unserer Mentalität. Eine unschuldig-treuherzige und romantische Verdrehtheit, aber deshalb nicht minder schädlich. Wir machen einen deontisch-logischen Fehler, das heißt, wir verteilen die Kriterien der Autoriät auf recht aberante Weise. Aus der Tatsache, dass er ein „inspirierter” und auf seinem Kompetenz-Gebiet effizienter Mensch ist, schlussfolgern wir, dass er universell kompetent ist. Genauer gesagt, wir setzen als selbstverständlich voraus, dass „inspiriert und effizient sein” eine Kompetenz an sich ist, die spektakuläre Ergebnisse zeitigt, egal auf welchem Gebiet sie eingesetzt wird. Einstein hat den Nobel-Preis für Physik erhalten, das bedeutet also, dass er uns – egal, was wir ihn fragen – mustergültige Antworten liefern muss. Wir werden folglich von ihm seine Meinung über Glück, über die Unsterblichkeit der Seele und über die Zukunft der Menschheit wissen wollen und dabei all seine Platituden als letzte Wahrheiten akzeptieren, weil wir auf seine allerhöchste Begabung dort setzen, wo er kaum mehr als ein rechtschaffener Mensch ist. Auf die Idee, dass ein genialer Schriftsteller ein Schuft oder ein Weichei sein kann, dass ein bedeutender Mathematiker in Sachen Politik ein Idiot oder ein heldenmütiger Mensch eher unterentwickelt in Verwaltungsfragen sein kann – auf diese Idee kommt man nicht. Für diese Idee ist kein Platz in unseren nach Geometrie und Konsequenz dürstenden Gehirnen.
Der Intellektuelle ist jemand, der gewisse Dinge, der viele Dinge weiß. Folglich ist er jemand, der alles weiß. Der Intellektuelle redet schön, demnach hat er Lösungen. Der Intellektuelle versteht alles – also kann er alles. Man verweigert dem Intellektuellen das Recht, manchmal und auf manchen Gebieten ein einfacher Mensch zu sein. Folglich hat der Intellektuelle die Pflicht und Schuldigkeit, mit seiner wundersamen Energie bei den Überwindungen aller Hürden mitzuhelfen. Tut er das nicht, so ist er egoistisch, er drückt sich, er ist faul. Die Intellektuellen unterliegen einem enormen öffentlichen Anspruchs-Druck. Sie sind dazu verdammt, ihrem Nimbus gerecht zu werden, sie können sich die alltäglichen Halbschatten des „einfachen Bürgers” nicht leisten. Verboten wird dem Intellektuellen selbst der Kommentar – seine ureigenste und allbekannte Spezialität. Es schicke sich nicht, vom Rande aus zu sprechen – er habe die Pflicht und Schuldigkeit einzugreifen.
Es gibt also eine richtige Mythologie des intellektuellen Auftrags, der von der Geschichte in manchen Momenten gefordert, in anderen in Abrede gestellt wird. Die Frage, die sich zwangsläufig ergibt: Innerhalb welcher Grenzen ist solch ein Auftrag vernünftig und legitim? Was kann man von den Intellektuellen erwarten, und was nicht? Und wie muss sich ein wahrer Intellektueller verhalten, um das Gleichgewicht zu wahren zwischen dem Risiko eines unangemessenen Aktivismus und jenem des schuldhaften Absentismus? Letzte Antworten können wir nicht bieten, zumindest aber versuchen, vorgefasste Meinungen und die allzu scharfen Richtlinien der Allgemeinheit zu relativisieren.
Die Mythologie des politischen Auftrags der Intellektuellen hat bislang zu drei großen Kategorien von Lösungen geführt.
Die zurückhaltende Kontemplation
Intellektuelle und Politiker haben auf derselben Bühne nichts verloren. Es ist nicht die Sache der Intellektuellen, sich ins Getümmel des Jahrhunderts einzumischen, sich im öffentlichen Leben zu verausgaben, sich in einer kontingenten Problematik aufzugeben. „Politik muss den Diplomaten und Militärs überlassen werden”, sagte Goethe mit einer Radikalität, der er nicht immer treu blieb. Das kontemplative Leben aufgeben, die großen geistigen Fragen durch triviale, konjunkturbedingte Sorge zu ersetzen – das heißt, das „Talent” zu opfern, das dir gegeben wurde. Ende der zwanziger Jahre machte Julien Benda diese These zum Kernpunkt eines Bestsellers. Für ihn sind die Gelehrten (les clercs) ganz besondere und eigenartige Lebewesen, die sich von der „weltlichen” Spezies der Menschheit deutlich unterscheiden. Sie führen eine Aktivität durch, der „jedwelches praktisches Ziel wesensfremd” ist. Frei von der Tyrannie der zeitgeprägten Interessen und zur Verzweiflung getrieben durch den „Realismus der Massen” sind die Intellektuellen „nicht von dieser Welt”. Zwangsläufig können sie von der Ebene der ewigen Prizipien auf das Niveau der momentanen Leidenschaften nur dann hinabsteigen, wenn sie eine Entstellung in Kauf nehmen. Der Wechsel der Intellektuellen ins Lager des Alltags-Pragmatismus und ihr Einstieg in den politischen Kampf stellen einen wahren „moralischen Umsturz” mit schwerwiegenden Folgen für die europäische Geschichte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar.
Als der rumänische Philosoph Constantin Noica seinen Jüngern nahelegte, sich nicht auf einen kräftezehrenden Verschleiß-Konflikt mit den kommunistischen Institutionen einzulassen, so handelte er im Geiste von Benda. „Politik ist Meteorologie” – lautete Noicas Urteil. Man unterbricht seine Lektüre und sein Schreiben nicht, um Regen, Dürre und Jahreszeiten zu bekämpfen. Nur um einen umgestürzten Wagen am Wegrand flottzumachen, verpasst man nicht den Einzug ins Paradies...
Die Partizipation
Die Intellektuellen haben die Pflicht, sich am politischen Leben zu beteiligen, gerade weil ihre außergewöhnliche Begabung einer höchsten Qualifikation in der Kunst des Regierens gleichkommt. Aus solch einer Überzeugung ist das Modell des „Philosophenkönigs” geboren worden. Um gut geführt zu werden, muss die Gemeinschaft von einem Meister des Geistes geführt werden. Also nicht von einem „Vertreter”, sondern von der Ausnahme. Der Besitz der Wahrheit und die Ausübung der moralischen Unbestechlichkeit sind schließlich keine überall vorkommenden und allgegenwärtigen Gaben, keine „volkstümlichen” Güter. Demzufolge ist es selbstverständlich, dass nur diejenigen, die solch seltene Tugenden verkörpern, bei dem Regieren der Menge etwas zu sagen haben. Rein theoretisch entbehrt diese These nicht einer gewissen kalten Konsequenz. In der Praxis aber hat sie durch klägliche Ergebnisse versagt. Die politische Leistung der Intellektuellen (und zwar beginnend mit jener von Platon, der dem „Philosophenkönig” die metaphysische Geburtsurkunde ausstellte) ist oftmals prekär, utopisch, wenn nicht sogar richtig gefährlich. Mit guten Recht wurde festgestellt (u.a. von Wolfgang Müller-Funk), dass weder Nazismus noch Kommunismus Erfindungen der Arbeiter und Bauern waren. Im Gegenteil – sie waren hartnäckige, zielstrebige intellektuelle Konstruktionen, „Phantasien” von „Elite-Hirnen”.
Es gibt zugegebenermaßen auch das Gegenbeispiel einiger aufgeklärter Herrscher, die das Image des Intellektuellen-Anführers einigermaßen verbessern. Der politische „Platonismus” wird, moralisch gesehen, nicht von Platon selbst, sondern von einer Gestalt wie Havel gerettet, dessen Haltung den Dogmatismus der Platon’schen „Republik” allerdings sprengt. Wir müssen desgleichen zugeben, dass das politische Engagement der osteuropäischen Dissidenten und ihr Beitrag zur Sturz des Totalitarismus einigermaßen die Schande der sich anpassenden und fügenden katastrophalen Allianzen mit allen extremistischen Ideologien hervortaten. Nur solche Haltungen und Leistungen (Dissidenz, Zivil-Wachsamkeit, konkret den wahren Werten dienen) berechtigen das Vertrauen einiger zeitgenössischer Autoren (György Konrád zum Beispiel) und den Glauben an die Chance der Intellektuellen, das Antlitz der Welt zum Guten zu verändern.
Die engagierte Kontemplation
Zwischen den Intellektuellen, der unmitelbar am politischen Spiel teilnimmt, und jenen, der es ignoiert, drängt sich in letzter Zeit der Intellektuelle, der den Gang der Dinge von außerhalb des Strudels der Ereignissse beinflusst. Das ist – laut Timothy Garton Ash, in einem Beitrag in „New York Review of Books” – die für diesen Abschnitt der Geschichte angemessenste Verhaltensstrategie. Die Zeit des totalen Engagements ist vorbei. Es ist nicht mehr erforderlich, dass Intellektuelle Minister, Premierminister oder Staatspräsidenten werden. Wollen die Intellektuellen ihre Interventions-Kraft wahren, sollten sie solche Ämter eher meiden. Von ihnen wird jetzt nur verlangt, dass sie die Taten der Regierenden kritisch kommentieren und zum sozialen „Pol” der Besonnenheit werden. Im Vordergrund taucht wieder das Amt des „engagierten Zuschauers” auf – der Terminus stamt von Raymond Aron –, das einzige, das dem Wesen des Intellektuellen wirklich zusagt. Übrigens war sogar Julien Benda bereit, dem Gelehrten gewisse politische Exkurse zuzugestehen. Mit zwei Bedingungen: Er dürfe nicht der Staatsverwaltung angehören (mit anderen Worten, er muss unabhängig bleiben), und er dürfe den gelegentlichen „Exkurs” nicht zur konstanten Beschäftigung werden lassen.
Jenseits der aufgezählten Varianten bleibt jede Menge Raum für Nuancen. Dasselbe Individuum kann Umstände, Zustände und Krisen durchmachen, die ihn berechtigterweise zu jedwelcher nur vorstellbaren öffentlichen Haltung hinorientieren. Es gibt historische Umstände, in denen der Absentismus einer schuldigen Demission gleichkommt, doch gibt es auch Zeiten, die Zurückhaltung erlauben und rechtfertigen. Es gibt Zeiten des öffentlichen Forums und es gibt Zeiten der Klausur. Und schließlich gibt es die unendliche Vielfalt der Temperamente. Zurückgezogenen, kontemplativen, diaphanen Geistern kann nicht der Prozess gemacht werden, einfach weil ihnen die Passion für das Konjunkturelle fremd ist. So wie auch feurige Temperamente, die vom gemeinschaftlichen Sinn ergriffen sind, nicht gezwungen werden können von heute auf morgen Bibliotheks-Gebahren anzunehmen... Wir befinden uns auf einem Gebiet, das sich keinen Schematismen, keinen Rezepten beugt. Und die Welt der Tat ist weitaus umfassender, reicht weit über äußerliche Agitation und prometheischen Aufstand hinaus.
Wie ich bereits eingangs erwähnte, ist das am häufigsten ins Feld geführte Argument für das politische Engagement der Intellektuellen deren moralische Autorität. Natürlich ist eine Gleichstellung von Kultur und Moralität nicht gerade selbstverständlich, doch Fakt bleibt, dass jedesmal, wenn ein Intellektueller die öffentliche Bühne betritt, von ihm ethische Radikalität, Kompromisslosigkeit, groß- und edelmütige Haltung erwartet werden. In Klammer sei dazu bemerkt, dass dies alles Eigenschaften sind, die im Widerspruch zu politischer Effizienz stehen. Wünschenswert wäre folglich, dass sich der aufs politische Parkett begebende Intellektuelle einem Politiker nicht ähnelt. Es ist keineswegs Pflicht – sagt Havel mit einer immer blasseren Stimme –, dass die Politik die Ethik ausschließt. Denn schließlich besteht die Aufgabe des „Philosophenkönigs” auch darin, den Beweis für die perfekte Kompatibilität von Politik und Ethik zu erbringen. Sowohl Havels Erfahrungen der letzten Jahre (nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der Tschechischen Republik) als auch die Erfahrungen anderer von der Politik angesteckter Intellektuellen beweisen aber letztendlich, dass die Bemühungen, für beide Bereiche einzutreteten, ab einem gewissen Zeitpunkt – auf beiden Seiten – zu Malformationen führen, die nur schwer remediabel sind.
Derselbe Mensch kann sowohl Politiker als auch Intellektueller sein. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Kann er beides zur gleichen Zeit sein? Der wahre Intellektuelle kann dem Protokoll des politischen Lebens, der Scheinheiligkeit der Diplomatie, der Ambiguität der Wahlreden nur Langeweile entgegenbringen. Er spürt seit einiger Zeit, wie er seine Identität verliert, dass seine von Regierungsgeschäften bestimmte Situation seine Sprache und Verhaltensweise ändert, dass die Fingerübungen des öffentlichen Lebens ihn zu unverdaulichen Allianzen und schroffen Aussagen zwingen. Genauso auch der Politiker – er verzweifelt an den Skrupeln und der Selbstironie des Intellektuellen, an dessen Hang zur Hamlet’schen Selbstergründung, an den analytischen Exzessen seines kontemplativen Geistes. Das Zusammenleben der beiden Gestalten unter ein- und demselben Dach entwicklelt sich zwangsläufig und fatalerweise in Richtung Schizophrenie. Um solch einen Ausgang zu vermeiden, gibt eine von ihnen nach: Entweder verblasst der Intellektuelle allmählich hinter dem Politiker (und so entsteht die Spezies des Politikers, der Bücher sammelt und Konzerte besucht, um seine alte Identität zu wahren), oder aber der Politiker lässt dem Intellektuellen die Oberhand, und dieser versucht – meist ohne Erfolg – seine alten Werkzeuge und Fertigkeiten wiederzuerlangen. In der Regel sind die Reflexe des intellektuellen Lebens nach einer intensiven Episode politischen Engagements stark beschädigt. Auf dem Weg von der Macht zurück in die Bibliothek stellt der Intellektuelle fest, dass er seine Unschuld verloren hat, dass er vom Virus der Kontingenzen, von der Leidenschaft des politischen Kampfes befallen ist. Gezwungenermaßen muss er Kant recht geben: „die unmittelbare Ausübung von Macht schadet zwangsläufig der freien Verwendung der Vernunft”.
Der Intelektuelle hofft – und so auch seine Anhänger –, dass seine Beteiligung am politischen Leben eine „Vergeistigung” der Macht als Ergebnis zur Folge hat. Doch existiert eine Kehrseite dieser Hoffnung: die exzessive Politisierung des intellektuellen Lebens. Wer eine Invasion der Werte auf die promiskuosen Mechanismen der politischen Welt starten will, der geht auf Schritt und Tritt das Risiko einer umgekehrten Kontamination ein: Heimtückisch und schleichend infizieren die Angewohnheiten, Fertigkeiten und Thematik der Macht den Metabolismus des Geistes. So geschah es im Falle vieler osteuropäischer Intellektuellen der jungen Generation, die sich nach 1989 von den verschiedenen mehr oder minder erhebenden und hohen Varianten der Politologie haben völlig absorbieren und aufzehren lassen. Toqueville und Hayek werden zu wahren „geistigen Meistern”, und die Fragen nach der optimalen Beziehung zwischen Staat und Individuum oder nach der Dynamik von Wahlsystemen werden in den Rang alles entscheidender Fragen erhoben. Selbstverständlich sollen und müssen Toqueville und Hayek gelesen und als hochklassige Gesprächspartner anerkannt werden. Das Problem aber ist, was man nicht mehr liest und welche Fragen man nicht mehr stellt, wenn man ihrer Faszination erliegt. Das Problem ist, wieviel Kontingenz kann der Geist ertragen und noch er selbst bleiben?
Was die osteuropäischen Intellektuellen nach 1989 experimentierten, das mussten die westeuropäischen Intellektuellen bereits in den fünfziger Jahren durchmachen. Die Verlockung der Agitation im Gegenwärtigen, das linksgerichtete Pathos der Debatten, das ideologische Fieber rund um edle „Sachen” und Belange haben den Mythos des „eingebundenen”, „verantwortlichen” und „wachsamen” Intellektuellen geboren, der die Stunden angeeigneter Lektüre durch eine äquivalente Zahl an Stunden legitimiert, die er auf der Straße, an Seiten des Volkes verbringt... In jenen Zeiten, als wir darunter litten, Platon nicht lesen und kommentieren zu können, genossen unsere westlichen Kollegen Marcuse und Garaudy. Nun sind wir an der Reihe, von Platon verwirrt und leicht gelangweilt zu sein. Diese fehlende Synchronität, der nicht vorhandene Gleichlauf zwischen östlichen und westlichen Intellektuellen ist ein Charakteristikum, eine bezeichnende Realität unseres Jahrhunderts, die noch nicht ausreichend analysiert worden ist.
Das Diagramm der intellektuellen „Schuld” verlief im Ablauf der Zeit zwischen diametral entgegengesetzen Grenzen: Vom Augenblick Benda, als der „Abstieg” in die Agora als Verrat eingestuft wurde, bis heute, da die Nicht-Teilnahme als unwürdiger Abschied gilt. Die „Wahrheit” in einem Mittelweg zu suchen, ist zwecklos. Ungeachtet aber dessen, wohin uns die eine oder andere Konjunktur drängt, müssen wir einsehen, dass wir nicht über die Intellektuellen sprechen können, ohne ihnen einen „spezifischen Unterschied” zuzugestehen. Und dieser spezifische Unterschied des Intellektuellen, dieser Bereich, den sich niemand an seiner Stelle anmaßen kann, hat nicht allzu viele Schnittpunkte mit dem Bereich der Politik. Der Politiker verfügt über die Kompetenz der für die Gemeinschaft nützlichen Werte, der Intellektuelle über die Kompetenz der Einsamkeiten. Der Politiker kann nur offensiv, dynamisch, handwerklich handeln, der Intellektuelle handelt eher durch das Ansehen seiner Präsenz, durch statische Ausstrahlung, durch Haltung. Der Intellektuelle kann – und muss manchmal – die politische Bühne betreten. Doch er tut es immer mit dem Gefühl, dass sein „Engagement” ein Exil ist und dass er früher oder später „nach Hause” zurückkehren muss. Ohne diese ständige Nostalgie dessen, was ihm ureigen ist, fällt der politisch aktive Intellektuelle unter seinen Status als Intellektueller, genauso wie Ulysses ohne die Besessenheit auf Ithaka nur ein gewöhnlicher, zu jedem nur vorstellbaren Schiffbruch und Scheitern bestimmter Abenteurer wäre.
Begegnungen12_Michelberger
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:163–175.
PÁL MICHELBERGER
Unser Verkehr und seine Aussichten um die Jahrtausendwende
Lagebericht
Die Lage des ungarischen Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung wird bereits in großem Maße von den Veränderungen nach der Wende bestimmt, von denen wir die wichtigsten erwähnen:
– zwischen 1990–1997 verminderten sich die Warenlieferungsleistungen (in Tonnenkilometer) um 43 % und die Personenverkehrsleistungen (in Fahrgast/ km) um 7,3 %. Die bedeutendsten aber waren die Verminderungen im Warentransport auf Bahn- und Wasserwegen; im Personenverkehr war die Verminderung der Bahnleistung die umfassendste, gleichzeitig erhöhten sich die Leistungen im Fernmeldewesen bedeutend;
– auch die Verkehrsinvestitionen – zu laufenden Preisen gerechnet – stiegen stark an, sie machten im Jahre 1997 8,3 % der Investitionen der Volkswirtschaft aus;
– Der Fahrzeugpark und Streckenbestand wurden nicht entsprechend modernisiert: das durchschnittliche Alter der Eisenbahnwagen liegt – trotz der großen Verminderung des Fahrzeugparks – bei über 20 Jahren; das durchschnittliche Alter der PKWs beträgt 12,1 Jahre, das der Busse 11,6 Jahre und das Alter der LKWs 10 Jahre. Diese Werte übersteigen die international akzeptablen Werte um 30–50 %. Auf 41 % des Eisenbahnnetzes ist eine ständige Geschwindigkeitsbegrenzung gültig, der Wert der fälligen Erneuerungen und Entwicklungen beträgt auf dem Preisniveau von 1998 400 Milliarden HUF. Im Straßennetz sind die lokalen Straßen nur zu 30 % ausgebaut; der Anteil der Autobahnen und Autostraßen macht im Landesnetz 1,4 % aus.
– Die Zahl der Beschäftigten bei den Organisationen (Verkehrsunternehmen) verminderte sich bedeutend, während man im Straßenverkehr wegen der privaten Transportunternehmer ein Wachstum beobachten kann.
– die Eigentümerstruktur und der Charakter der Unternehmen haben sich geändert: die Rolle des staatlichen Eigentums wurde stark zurückgedrängt.
Die eingetretenen Veränderungen bewertend kann festgestellt werden:
– Die Verminderung des Warentransportes spiegelt die strukturellen Veränderungen der Volkswirtschaft, den Rückgang der Transportansprüche, die Veränderungen der Maßeinheitsstruktur sowie den Übergang von der Mangelwirtschaft zur Marktwirtschaft wider.
Tabelle 1.
DIE GESTALTUNG DER WARENLIEFERUNGSLEISTUNGEN |
|||||||||
Verkehrssparte/Jahr |
1980 |
1990 |
1991 |
1992 |
1993 |
1994 |
1995 |
1996 |
1997 |
Eisenbahnverkehr |
24,9 |
16,8 |
11,9 |
10,0 |
7,7 |
7,7 |
8,4 |
7,6 |
8,1 |
Straßenverkehr |
11,4 |
15,2 |
14,1 |
12,9 |
13,0 |
13,4 |
14,2 |
14,7 |
15,1 |
darunter: Verkehrsorganisationen |
6,0 |
6,7 |
5,6 |
4,6 |
4,9 |
5,2 |
5,4 |
5,8 |
6,1 |
nicht Verkehrsorganisationen |
5,4 |
5,8 |
5,2 |
5,0 |
4,9 |
4,9 |
5,2 |
5,4 |
5,4 |
Kleinunternehmer |
– |
2,7 |
3,3 |
3,3 |
3,3 |
3,3 |
3,6 |
3,5 |
3,6 |
Wasserverkehr |
7,9 |
14,5 |
6,1 |
5,3 |
1,7 |
0,9 |
1,9 |
1,8 |
1,8 |
Luftverkehr |
0,0 |
0,0 |
0,0 |
0,0 |
0,0 |
0,0 |
0,0 |
0,1 |
0,1 |
Sonstiges (Rohrleitungslieferung) |
4,4 |
5,2 |
4,9 |
4,3 |
4,1 |
4,1 |
3,9 |
4,5 |
4,5 |
Insgesamt |
48,1 |
51,8 |
37,1 |
32,5 |
26,5 |
26,1 |
28,4 |
28,7 |
29,6 |
Quelle: KSH-Daten, teilweise Schätzung |
Tabelle 2.
DIE GESTALTUNG DER PERSONENBEFÖRDERUNGSLEISTUNGEN |
|||||||||
Verkehrssparte/Jahr |
1980 |
1990 |
1991 |
1992 |
1993 |
1994 |
1995 |
1996 |
1997 |
Eisenbahnverkehr |
13,7 |
11,4 |
9,9 |
9,2 |
8,4 |
8,5 |
8,4 |
8,6 |
8,7 |
Straßenverkehr und lokaler Verkehr auf geschlossener Strecke |
73,9 |
80,4 |
77,8 |
73,8 |
72,5 |
74,2 |
74,7 |
74,8 |
74,7 |
darunter: Verkehrsorganisationen |
27,3 |
23,4 |
22,4 |
20,7 |
20,6 |
21,5 |
21,4 |
21,0 |
20,3 |
nicht Verkehrsorganisationen |
7,4 |
8,2 |
8,2 |
8,0 |
7,4 |
7,3 |
7,5 |
7,8 |
7,9 |
Kleinunternehmer |
39,2 |
48,5 |
47,2 |
45,1 |
44,5 |
45,4 |
45,8 |
46,0 |
46,5 |
Wasserverkehr |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
0,1 |
Luftverkehr |
1,1 |
1,7 |
1,3 |
1,5 |
1,6 |
2,2 |
2,4 |
2,8 |
3,0 |
Insgesamt |
88,8 |
93,3 |
89,1 |
84,6 |
82,6 |
85,0 |
85,6 |
86,3 |
86,5 |
Quelle: KSH-Daten, teilweise Schätzung |
– Die Arbeitsteilung bei den Lieferungen betrachtend, wuchs der Anteil der Straßentransporte im Warentransport auf 51 % und im Personentransport auf 77 % (auch die geschätzte Leistung der privaten PKWs berücksichtigend). Diese Verhältnisse zeigen an, dass der Anteil der Bahn im Vergleich mit den Verhältnissen in den EU-Mitgliedstaaten sowohl im Waren- als auch im Personentransport noch bedeutend höher ist (EU 14 % bzw. 6 %, Ungarn 27 % bzw. 10 %).
– Die Angaben des städtischen Verkehrs erscheinen in der Statistik beim Straßenverkehr, man kann jedoch diesbezüglich feststellen, dass die Verminderung des Anteils des Massenverkehrs charakteristisch ist: in Budapest betrug dieser Anteil gegen Ende der 1980er Jahre noch 82 %, im Jahre 1998 jedoch nur mehr 60–62 %. Dies kann mit dem Fahrzeugpark und -netz und mit den ausfallenden Entwicklungen erklärt werden, die in erster Linie mit Finanzierungsschwierigkeiten im Zusammenhang stehen.
Tabelle 3.
EINIGE WICHTIGE CHARAKTERISTIKA DER NETZE IM VERKEHRS- UND FERNMELDEWESEN SOWIE JENE DER FAHRZEUGPARKS |
|||||
Sparte/Jahr |
1980 |
1990 |
1995 |
1996 |
1997 |
Eisenbahnlokomotiven (St.) |
2 041 |
1 665 |
1 352 |
1 356 |
1 272 |
Triebwagen (St.) |
252 |
220 |
219 |
240 |
254 |
Motortriebwagen (St.) |
44 |
62 |
68 |
72 |
68 |
Reisezugwaggons (St.) |
4 564 |
3 997 |
3 545 |
3 513 |
3 426 |
Güterwaggons (St.) |
73 158 |
63 716 |
34 632 |
30 999 |
24 691 |
Anteil des elektrifizierten Netzes (%) |
19,5 |
28,9 |
30,5 |
30,5 |
30,8 |
Fahrzeugpark auf den Straßen |
1 852,9 |
2401,9 |
3457,8 |
3 718,6 |
3 858,1 |
Personenkraftwagen (Tausend St.) |
1 013,4 |
1944,5 |
2883,9 |
3 012,4 |
3118,3 |
Autobusse (Tausend St.) |
22,2 |
26,1 |
32,0 |
33,0 |
33,9 |
Lastkraftwagen (Tausend St.) |
140,4 |
263,0 |
436,4 |
473,9 |
501,5 |
Länge der Autobahnen (km) |
130 |
267 |
335 |
365 |
382 |
Länge der Autostraßen (km) |
79 |
82 |
85 |
56 |
56 |
Anteil der Autobahnen und Autostraßen (%) |
0,7 |
1,2 |
1,4 |
1,4 |
1,4 |
Passagierschiffe (St.) |
53 |
56 |
67 |
61 |
60 |
Schleppschiffe und Schubschiffe (St.) |
46 |
45 |
39 |
39 |
40 |
Frachtkähne (St.) |
191 |
192 |
150 |
150 |
147 |
Flugzeuge (St.) |
18 |
22 |
32 |
30 |
32 |
Gesamtanzahl der Sitzplätze in Flugzeugen |
1 568 |
2 458 |
3 560 |
3 363 |
3 513 |
Länge des Flugliniennetzes (km) |
40 019 |
57 745 |
50 459 |
65 369 |
64 844 |
Länge des Telefonnetzes (Tausend Vkm) |
74 |
116,1 |
145,1 |
149,7 |
198,5 |
Alle Fernsprech-Hauptanschlüsse |
617,0 |
996,0 |
2 150,1 |
2 674,6 |
3 133,2 |
Fernsprech-Hauptanschlüsse/100 Einwohner |
5,8 |
9,6 |
21,0 |
26,2 |
30,8 |
Zahl der Mobiltelefon-Benutzer (Tausend) |
– |
– |
266 |
473 |
703 |
Quelle: Abschlußbericht zur Arbeit des strategischen Forschungsprogrammes „Technische Infrastruktur des Verkehrs” in den Jahren 1997–1999. |
– Die Leistungen des Schiffverkehrs verminderten sich zwischen 1990–1992 neben dem immer stärkeren Rückgang der Seefahrt um 64 %. Ab 1993 steht nur noch die Flussfahrt unter den Leistungsaufgaben, die 6–6,5 % der Gesamtleistung ausmachen. Die Schiffe sind veraltet und zu 35 % amortisiert.
– Der Flugzeugpark wurde erneuert, die sowjetischen Modelle sind durch Flugzeuge vom Typ Boeing und Fokker abgelöst worden. Die Fluggast-km-Leistung erhöhte sich um 76 %, so erreicht sie 3,5 % der gesamten Personentransportleistung.
– Im Warentransport bedeuten die „sonstigen” Leistungen die Lieferungen durch Rohrleitungen, deren Anteil etwa 15 % von der Gesamtleistung ausmacht.
– Im ungarischen Verkehrssystem macht der Anteil des kombinierten Warentransports (Straßen-Bahn, Straßen-Flussfahrt) nicht einmal 5 % aus (in Warentonnen gemessen), was in bedeutendem Maße auf die ungünstigen Kostenverhältnisse und den fehlenden Ausbau der logistischen Zentralen zurückzuführen ist.
– Die sich aus den Rückständen des Verkehrssystems ergebenden Unfalls- und Umweltschäden machen jährlich (auch einer vorsichtigen Schätzung nach) eine Summe in der Größenordnung von hundert Milliarden HUF aus.
– Die Entwicklung der Nachrichtenübermittlung ist sowohl in Hinsicht der Entwicklung der Netze als auch in Hinsicht der Dienstleistungen herausragend: die Zahl der Fernsprechhauptanschlüsse stieg zwischen 1990–1997 auf 100 Einwohner bezogen von 9,6 auf 30,8; im Jahre 1994 hatten 140 000 Einwohner ein Mobiltelefon, im Jahre 1997 703 000 und zur Zeit verfügen über 1 Million Einwohner über ein Handy. Das Leitungsnetz ist zu 72,5 % digitalisiert. Die Datenübertragungsnetze, die Internet-Netze sowie die Multimedia-Dienstleistungen müssen weiter entwickelt werden, in dieser Hinsicht ist ein bedeutender Rückstand zum EU-Niveau zu beobachten. Im Ganzen genommen näherte sich die ungarische Entwicklung aus der präinformativen Gesellschaftsentwicklungs-Periode bedeutend an jenen der Revolution der Informatik entsprechenden Zustand an.
Bestimmung der Förderungsziele
Die ungarische Verkehrsförderung wird – sowohl mittelfristig als auch langfristig – durch folgende Faktoren bestimmt:
– die gegenwärtige Situation des ungarischen Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung;
– die sich im Weltmaßstab und innerhalb dessen in der Europäischen Union durchsetzenden, für die rasche Entwicklung der Infrastruktur charakteristischen Tendenzen;
– die ungarische verkehrspolitische Konzeption.
Die im Weltmaßstab zur Geltung kommenden Entwicklungstendenzen der Infrastruktur:
– die sich beschleunigende Verbreitung der Mikroelektronik bedeutet zugleich einen Technologiewechsel sowie die Herausbildung von neuen Integralnetzen und berührt die vollen logistischen Systeme;
– die Integration der einzelnen Informationsflussprozesse wird nicht nur durch die Multimedia-Systeme, sondern auf allen Gebieten des sozialen-wirtschaftlichen Lebens verwirklicht; dies verändert entscheidend die Gestaltung der gesellschaftlichen Mobilitätsansprüche (Verkehrsbedarf) und auch deren Verwirklichungsprozesse;
– auch die Funktion der Netzinfrastrukturen wird sowohl in regionaler, internationaler als auch im Weltmaßstab modifiziert. Die gegenseitige Benutzung der nationalen Infrastrukturnetze der einzelnen Regionen wird charakteristisch und bildet die erste Stufe der weitreichenden integrierten Netze sowie verursacht die Herausbildung von Mobilitätssystemen im Weltmaßstab;
– die Rolle der Lieferungs- und Nachrichtenübermittlungsinfrastrukturen wird im Welthandel größer und ihre Leistungen bedeuten im Außenhandel einen immer größeren Anteil (10–15 %);
– auf dem Gebiet der Leistungen der Infrastrukturen (besonders bei der Nachrichtenübermittlung und im Straßenverkehr) wird die Rolle des Privatkapitals größer, dies bedeutet jedoch nicht den Schwund der staatlichen Beteiligung, sondern es bildet sich eher ein neuer Wettbewerb und ein neues Partnerverhältnis zwischen den Verkehrssparten heraus;
– auf dem Gebiet des Arbeitskräfteetats wird die Infrastruktur stufenweise Arbeitskräfte freigeben, paralell dazu jedoch steigt der Anspruch in bezug auf ihr Niveau;
– die wertproduzierende Rolle der Infrastrukturen – direkt bezüglich des GDP-Anteils besonders hinsichtlich der Informatik – wird immer bedeutender, und indirekt sind sie entscheidende Faktoren der sozialen-wirtschaftlichen Entwicklung (in der ersten Hälfte des Jahrzehntes entstanden in den EU-Staaten bereits über 15 % des GDP auf dem Informatikmarkt und in den Vereinigten Staaten hat diese Sparte eine führende Rolle bei den Investitionen inne).
Die Ziele der ungarischen Verkehrspolitik werden von vier strategischen Hauptrichtungen bestimmt:
– die Förderung der Integration in die Europäische Union;
– die Förderung einer ausgeglicheneren Entwicklung der Regionen sowie die Verbesserung der Verkehrsverbindungen zu den Nachbarländern;
– der Schutz des menschlichen Lebens und der vor Umweltsschäden;
– eine wirksame, marktkonforme Verkehrsregelung.
Die ungarische verkehrspolitische Konzeption steht im Einklang mit der EU-Konzeption. Die Systemkonzeption der europäischen Verkehrskorridore macht jedoch die Weiterentwicklung der ungarischen Verkehrspolitik notwendig, die außer den Gebieten der EU-Länder für die Zukunft das Netz eines einheitlichen europäischen Verkehrssystems bestimmt.
Allgemeine Verkehrsentwicklung
1. Die Entwicklungen auf dem Gebiet des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung sollen mit Zugrundelegung der – aus dem im weiten Sinne verstandenen Begriff der kontinuierlichen Entwicklung abgeleiteten – tragbaren Mobilität erfolgen.
Die haltbare Entwicklung bedeutet grundsätzlich, dass
– die Verwendung der sich erneuernden Kraftquellen das Maß ihrer Regeneration nicht überschreiten darf;
– die Verwendung der sich nicht erneuernden Kraftquellen das Maß der Entstehung der sich erneuernden Kraftquellen nicht überschreiten darf;
– die Umweltverschmutzungen die Assimilationskapazitäten der Umwelt nicht überschreiten dürfen.
Die tragbare Mobilität macht demgemäß die Erfüllung folgender Forderungen notwendig:
– die Verminderung des Schadstoffgehaltes des Abgases anhand der internationalen Normen im Interesse dessen, dass sich die Schadstoffbelastung der Atmosphäre auch neben dem immer größeren Fahrzeugpark und Kraftverkehr nicht erhöht, sich sogar vermindert und damit auch die Verminderung des Treibhauseffekts und des Ozonlochs erfolgt;
– die Verminderung der Lärmbelastung, auch eine Vorbeugung der Gesundheitsschädigung berücksichtigend;
– die Verminderung der Energie und der Geländenutzung während des Verkehrs (die Verminderung des spezifischen Energieverbrauchs) sowie die Limitierung der Terrainverwendung (empfohlener Wert: 10 %);
– Erhöhung der Verkehrssicherheit;
– Wiederverwendung von Fahrzeugmaterialien (Recycling).
2. Die tragbare Mobilität erfordert in der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur
– im Fahrzeugbau solche Konstruktionen, die eine umweltfreundliche Technologie, wiederverwertbare, den Energieverbrauch und die Schadstoffemission vermindernde Materialien mit erhöhter aktiver und passiver Sicherheit verwenden;
– die Verbesserung der Erreichbarkeit bei der Planung von Netzen, die Förderung des ungestörten Verkehrs sowie die Verbesserung der sich anschließenden Leistungen;
– die Steigerung der gesellschaftlichen Effizienz.
Dies alles muss im Fahrzeug- und Netzbetrieb verwirklicht werden.
3. Die Europäische Union bestimmte 1997 die Verkehrskorridore, durch die die Hauptverkehrsrichtungen des vereinten Europa verlaufen. Diese Korridore müssen im Interesse der Verwendbarkeit und Modernität in allen betroffenen Ländern das gleiche Niveau haben, weiterhin muss bezüglich aller Elemente und Prozesse des Verkehrssystems die Europakompatibilität gesichert werden.
4. Während der Entwicklungen muss die tragbare Mobilität verwirklicht werden, indem die gegenseitige Benutzung der Netze gewährleistet wird. Die Wahl zwischen den verschiedenen Verkehrstechniken (Multimodalität) sowie deren Benutzung als zusammenhängendes System muss gesichert werden.
Tabelle 4.
DIE SICH AUS DEM VERKEHR ERGEBENDEN BELASTUNGEN |
|||
Ebenen |
Zielsetzung |
||
|
Gesundheit |
Zustand des Ökosystems |
Schutz der Kraftquellen |
Global |
das Ozon gefährdende |
Gase aus dem Treibhaus-effekt, das Ozon gefährdende Stoffe, Biodiversität |
Energieverbrauch, Materialverbrauch, |
Global |
Ozon in der Troposphäre, organische Verbindungen |
Ozon in der Troposphäre, |
Territoriumsnutzung, |
Lokal |
O3, PAH, Festmaterialien, |
Wirkungen auf die städtische Umgebung, |
Sicherheit, Umwelt |
5. Bei den Entwicklungsprojekten der Verkehrsinfrastruktur beeinflussen zahlreiche Eigenarten die Finanzierung:
– für die Projekte sind in der Regel ein schwankender Ertrag, der unsicherer als der Durchschnitt ist, sowie eine lange Umschlagszeit und hochgradiges Risiko charakteristisch, was die Investitionen solcher Art für die kurzfristigen Kapitalanleger nicht gerade anreizend macht;
– da das Land an inneren Kraftquellen nicht reich ist – im Vergleich zu den Investitionsansprüchen –, begründet dies aus volkwirtschaftlicher Sicht „optimale” Allokation (infrastrukturelle, Unterrichts-, Gesundheits- usw. Entwicklungsziele) in bezug auf die von dem Lande, der Region und dem Sektor zu erwerbenden begrenzten Finanzquellen und lässt die Verwendung dieser für die Realisierung nur eines einzelnen Projektes fragwürdig erscheinen;
– die internationalen Geldinstitute verfügen innerhalb der infrastrukturellen Verkehrsinvestitionen über eine festgelegte Kreditstrategie (wie zum Beispiel die Investitionen bei der Bahn oder die die kombinierten Lieferungen befördern, sind preferiert und demgemäß wird ihnen in den Kredittransaktionen nur diesen Grundsätzen entsprechend ein Platz eingeräumt; bei der Behandlung der Frage muss deshalb in höherem Maße auf die Durchsetzung des integrierten Verkehrs-Systemdenkens geachtet werden.
In der EU-Praxis werden mehrere Finanzierungslösungen verwendet, angefangen von der rein staatlichen bis zu der Finanzierung, die auf dem Privatkapital beruht. Langfristig kann die gleichzeitige Beteiligung des staatlichen und Selbstverwaltungs- sowie des Privatkapitals in der Finanzierung als sehr vorteilhaft angesehen werden.
6. Die tragbare Mobilität hängt im Falle der ostmitteleuropäischen Staaten stark – auch hinsichtlich ihrer geopolitischen Gegebenheiten – von der Entwicklung der ungarischen Verkehrsinfrastruktur sowie der Gewährleistung der Europakompatibilität ab. Dies macht die Entwicklung der Netzteile im Transitverkehr sowie der hinsichtlich der wirtschaftlichen Kooperation bedeutenden Routen bzw. die Erweiterung der Kapazität bei den Grenzübergängen zu einer vorrangigen Aufgabe.
7. Die systemtheoretische Entwicklung des ungarischen Angebotes im Transitverkehr (Fahrzeugpark, Netze und die sich anschließenden Leistungen) stellen bezüglich der Entwicklung der Wirtschaft „Ausbruchsmöglichkeiten” dar und vertreten einen bedeutenden Wert (besonders langfristig) – auch für die Europäische Union. Damit kann Ungarn zu einem wichtigen euro-logistischen Zentrum werden.
Der Einfluss des Verkehrs auf die industrielle Entwicklung
1. Die Entwicklung des Verkehrs und die Gewährleistung der tragbaren Mobilität bedeutet für die Industrie aus vier Gesichtspunkten eine Herausforderung:
– der Massencharakter (im absoluten Sinne: die Vergrößerung des Fahrzeugparkes und der Leistungen, im relativen Sinne: ihre lokale Spitze bezüglich der Verteilung und des Betriebes der Fahrzeuge – auch Verkehrsstaus und -störungen); in diesem Zusammenhang: integrierte Verkehrssteuerung;
– die menschliche Inkompatibilität: der biologisch gesehen unveränderte Mensch muss Fahrzeuge mit immer größeren Leistungen sicher steuern, dabei für sich selbst und die anderen passiven und aktiven Teilnehmer des Verkehrs die Verantwortung tragen; in diesem Zusammenhang: die automatisierte Fahrzeugsteuerung;
– die verschwenderische Verwendung der Kraftquellen: der Leistungsgrad der Verkehrsprozesse bezüglich des sozialen-wirtschaftlichen Systems ist sehr gering (z.B. liegt der Leistungsgrad des Straßenverkehrs von der Rohölerzeugung bis hin zur für den Transport nötigen nützlichen Arbeit bei etwa 10 % und beim elektrifizierten Bahntransport – wenn man anstatt des Leistungsgrades des Bahnmaschinenbaus den Leistungsgrad betrachtet, der auch die Stromerzeugung betrefft – erreicht er auch nicht 20 %);
– die Umweltverschmutzung: der Verkehr verursacht etwa 50 % aller schädlichen Auswirkungen.
2. Die Industrie kann sich den Herausforderungen stellen, indem folgende grundlegenden Aufgaben gelöst werden:
– die Unfallgefahr, die sich durch den Massencharakter erhöht, muss verringert werden: die wichtigsten Mittel auf diesem Gebiet sind die elektrischen Systeme, die die Steuerung der Fahrzeuge sowie die Planung und den Betrieb der Strecken unterstützen; die integrierte, EU-kompatible Gestaltung der „intelligente Fahrzeug- und intelligente Strecken”-Systeme; wichtig ist darüber hinaus die harmonisierende Verbesserung der aktiven und passiven Sicherheit;
– die verschwenderische Kraftquellen-Verwendung macht die Verminderung der Treibstoffersparung auf drei Ebenen (Kraftquelle-Fahrzeug; Verkehrsorganisation und -steuerung) sowie eine Konstruktion erforderlich, die eine materialsparende Technologie und wiederverwendbare Materialien berücksichtigt;
– die Lösung des Problems des Umweltschutzes ist auch eine Frage der Konstruktion und der Verkehrsregelung, die mit dem Energieverbrauch verbundenen Zusammenhänge mit einbeziehend.
Die Aufgaben der Qualifikation von Verkehrsexperten
1. Es ist auch langfristig nicht anzunehen, dass Ungarn bei der Entwicklung kompletter Verkehrssysteme eine entscheidende Rolle spielen wird, die Qualifikation von Experten muss jedoch im Interesse der Euro-Kompatibilität sowie des modernen ungarischen Verkehrsbetriebes erfolgen.
2. Ein Grundelement ist dabei die Ausbildung von Verkehrsingenieuren. Dies könnte traditionell auf den Fahrzeugmaschinenbau oder auf den Bahnbau gestützt werden und in Zukunft könnte eine sich auf die Logistik stützende Bildung in den Vordergrund treten (mit besonderer Rücksicht auf die Informationssysteme), die den Beruf flexibel und offener zu gestalten vermag.
Verkehrsinfrastruktur bei der Bahn
1. Der Bahnverkehr ist – im Vergleich zu seinem größten Konkurrenten, dem Straßenverkehr – um vieles sicherer, energiesparender, umweltfreundlicher und raumsparender, sein Anteil an der Verkehrsarbeitsteilung dagegen wird immer geringer. Dies ist grundsätzlich auf subjektive Ansichten im Personenverkehr (Besitz eines PKW-s und das Erlebnis der individuellen Fahrt) sowie auf die bedeutend größere Handelsgeschwindigkeit im Warenverkehr zurückzuführen.
Die Rolle der Bahn kann und muss im Rahmen der modernen Verkehrssysteme gefunden werden, falls sie der Nachfrage besser entspricht, wenn sie flexibler und verkehrspolitisch den EU-Zielsetzungen gemäß eindeutiger subventioniert und finanziert wird.
2. Die Modernisierung der durch Ungarn führenden EU-Verkehrskorridore erfordert sehr hohe Investitionen (Ausbau eines zweiten Gleises, Ermöglichung der Fahrt mit größerer Geschwindigkeit) innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne.
3. Im Interesse der Bewertung und Erhöhung des Dienstleistungsniveaus im Personenverkehr mittels Bahn wurde ein System der Gütevorschriften ausgearbeitet, das System der Qualitätserfüllung und -sicherung (TQM).
Tabelle 5.
Geschwindigkeit T (iming)
Leistungsfähigkeit
Fähigkeit zur Netzbildung
Sicherheit Q (uality) T(otal)
Bequemlichkeit Q(uality)
Regelmäßigkeit M(anagment)
Pünktlichkeit
Umweltfreundlicher Betrieb
Kostenersparnis M (oney)
4. Im Rahmen der Ausarbeitung einer Methode zur vorläufigen Einschätzung der Leistungen des Gütertransports bei der Bahn wurden Gesichtspunkte der Wettbewerbsfähigkeit und Datenbanken ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass bei den Warentransportleistungen im Vergleich zu 1998 bis 2010 kein bedeutendes Wachstum zu erwarten ist, während bis 2015 jedoch mit einem wesentlichen Anstieg gerechnet werden muss.
5. Zu den schwierigsten Fragen der Entwicklung der ungarischen Bahn gehört die Frage der Nebenstrecken mit geringerem Verkehr. Die diesbezüglich verfertigte Studie empfiehlt eine spezifische Behandlung von in der Nähe der Grenzen betriebenen und der nicht dementsprechend betriebenen Nebenstrecken. In der Grenzregion würde die Erneuerung des Kleinregionsverkehrs und im Falle der nicht entsprechend betriebenen Nebenstrecken die Einführung des modernen (im Ausland weitverbreitet verwendeten) Betriebs mit wirtschaftlicher Technologie eine Lösung darstellen. Wichtig ist auf diesem Gebiet der Ausbau von regionalen Bahnen. Dieser bei der MÁV AG schon eingeleitete Prozess muss weitergeführt werden.
Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur
1. Die Planungskonzeptionen, die die Erneuerung, Kapazitätserweiterung und Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastrukturen begründen, müssen die Standpunkte des „Angebotes” und der „Nachfrage” gleichermassen berücksichtigen.
Die Seite „Angebot” wird von der Wettbewerbssituation in der Straßenbauindustrie, von Koordination und Kooperation der Kapazitäten charakterisiert, dazu gehören außerdem jene Regelungen, ohne deren Berücksichtigung eine Wettbewerbsfähigkeit oder Teilnahme auf dem Markt unvorstellbar ist. Diese das Angebot regelnden Vorschriften werden immer mehr auf internationaler Ebene formuliert mit besonderer Rücksicht auf den Anschluss an die EU.
Die Seite „Nachfrage” repräsentieren die Benutzer der Straßen, zweckmäßig in der Gruppierung Gütertransport, Massenverkehr und individueller Verkehr.
Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur muss von einem Systemmanagement versehen werden, das die Straßennetzfunktionen, die Beeinflussung des Verkehrs sowie des Verkehrsverhaltens in der Hand hält.
2. Während der Forschungen wurden bei einigen besonders wichtigen Themen – Straßenplanung, Verkehrsregelung – Sonderuntersuchungen bezüglich der eurokompatiblen Festlegung der Planungsgrundsätze durchgeführt. Solche Themenkreise waren:
– Planung von Durchfahrtstrecken auf lokalen Hauptstraßen und den Landesstraßen bzw. lokalen Nebenstraßen;
– Dämpfung des Verkehrs (auf den Strecken, die kleinere Gemeinden durchqueren bzw. auf Hauptstraßen der Gemeinden);
– Schaffung von Kreisverkehrs-Knotenpunkten, Vergleich dieser mit Ampel-Knotenpunkten.
3. Wir haben das ungarische Programm der Verkehrssicherheit im Vergleich mit dem entsprechenden EU-Aktionsprogramm und den Erwartungen der damit verbundenen Beschlüsse betreffs Infrastrukturentwicklung bewertet, und zwar mit besonderer Rücksicht auf die ungarischen Maßnahmen und die Gestaltung der Unfallstatistik.
4. Die Analysen – auf Grund von ausländischen Untersuchungen – wiesen nach, dass der Umbau von Knotenpunkten mit Verkehrsampeln zum Kreisverkehr die Unfallstatistik bedeutend (bis zu 70 %) verbesserte, so dass diese Tendenz auch in Zukunft fortgesetzt werden muss.
Eine Studie untersucht die aktuellen Fragen der Anwendung der intelligenten Verkehrsregelung und bewertet die Anwendungspläne der beiden Hauptsysteme in Ungarn (mit Schildern, deren Zeichen veränderbar sind und mit digitalen Funksystemen). Die Systeme können eine Verbesserung von 15–20 % in den Unfallstatistiken betreffs Landesstraßen erzielen, wobei sich ihre Kosten in 3–6 Jahren auszahlen!
Die Entwicklung der städtischen (lokalen) Verkehrsinfrastruktur
1. Im Interesse der Begründung der Entwicklung ist die Auswertung der von den vorhandenen Infrastrukturen gewährten Verkehrsmöglichkeiten und -angebote vonnöten. Die ausgearbeiteten Modelle determinieren die Verteilung des Verkehrs. Ein Sondermodell wird zur Qualitätsbewertung des Massenverkehrssystems (nach Verkehrsarten) verfertigt, die Bestimmung der Wirkungsmechanismen der Eingriffsmöglichkeiten inbegriffen.
2. Die Forschungen beschäftigten sich vorrangig mit zwei Fragen der städtischen Verkehrspolitik:
– Entwicklung in bezug auf Gegenstand und Inhalt der Verkehrspolitik der Hauptstadt im Systemdenken,
– Voraussetzungen der Gründung des Budapester Verkehrsverbundes.
Ein neues Ergebnis bezüglich der Verkehrspolitik ist, dass Wirkungsbeziehungen der Fahrgäste und damit Grundlagen der gesamten gesellschaftlichen Wirkungsbilanz festgelegt sind. Auf dieser Basis wiederum wird die Festlegung der Entwicklungspolitik und ihres Realisierungsarsenals ermöglicht. Von Bedeutung ist, dass der Anteil des öffentlichen Verkehrs nicht auf unter 40 % sinkt und sein Niveau mit der Nachfrage Schritt halten kann.
Die Forschung bezüglich des Verkehrsverbundes bietet detaillierte Vorschläge hinsichtlich der kritischsten Fragen (Tarif-Festlegung, Verteilung der Einnahmen, Kosten, rechtliche Regelung) und unterstützt somit wesentlich die Arbeit der Entscheidungsträger.
3. Die intelligente Stadt: das die modernen Mittel der Telematik anwendende System zeigt auf allen Gebieten des Lebens der Hauptstadt seine Auswirkungen. Die Anwendungen im Verkehr sind wichtige Mittel des Managements der städtischen Verkehrssysteme sowohl auf dem Gebiet der Organisierung des Verkehrs als auch auf dem Gebiet der Verkehrssteuerung. Die intelligente Stadt vergegenwärtigt auch die Auswirkungen der modernen telematischen Systeme, da sie die Fahrtbedürfnisse mindern.
Die Verkehrsinfrastruktur und der Informatikmarkt
1. Die Bestimmung des Modells einer Informatikinfrastruktur, die für das ganze Verkehrssystem gültig ist, klärte die Rolle der verschiedenen Ebenen des Informationssystems und auch der inhaltlichen Bestandteile. Auf Grund dessen konnten die Prozesssysteme der Planungs- und Durchführungsprozesse festgelegt werden. Diese bilden die informatische Grundlage der durch Computer integrierten (CIT) Lieferungsprozesse.
2. Die modernen telematischen Systeme, so die satellitengestützten Systeme der Ortsbestimmung heben bedeutend das Niveau der Organisierung und Steuerung des regionalen und globalen Verkehrs.
3. Die Verwendung von elekronischen Datenwechsel-Systemen (EDI) ermöglicht durch die Herausbildung der neuen computergestützten Syteme in den einzelnen Verkehrssparten schnellere Geschäftsbeziehungen, die mit geringerer Administration auskommen und demzufolge eine Kostenreduzierung erzielen können.
4. Eine besondere Rolle kommt der informatischen Entwicklung beim Transport von gefährlichen Stoffen zu. Die Forschungen zeigen, dass das im ungarischen Verkehr beim Bahntransport verwendete Lieferungssystem (und dessen Subsysteme) sich der internationalen Praxis annähert/n/, im Strassentransport jedoch ist der Rückstand riesig und bedarf einer schnellen Entwicklung.
5. Zur Entwicklung von satellitengestützten Navigationssystemen (der Ortsbestimmung), die aus der Sicht der telematischen Verkehrssysteme von grundlegender Bedeutung sind, kann Ungarn in erster Linie mittels der Analyse der Anwendungserfahrungen sowie mit eventuellen theoretischen Forschungen beitragen.
Die Entwicklung von logistischen Systemen
1. In dieser Hinsicht untersuchte die Forschung in der ungarischen Praxis die bedeutendsten Fragen, die Gründung von logistischen Zentralen und die Anwendungen der kombinierten Lieferungstechnologien. Auf beiden Gebieten sind relevante Entwicklungsaufgaben zu lösen.
In diesem Zusammenhang haben wir die Planung des Netzes von logistischen Zentralen in Ungarn bewertet, ebenso wie die Anwendungsmöglichkeiten der verschiedenen kombinierten Lieferungstechnologien und deren Infrastruktur- Bedürfnisse.
2. Die Konzeption zur Gründung und zum Ausbau von logistischen Zentralen in Ungarn entspricht den Anforderungen einer Angliederung an die Verkehrssysteme der EU und auch den internen Verkehrsbedürfnissen. Die Beschleunigung der derzeitigen Entwicklung ist – besonders im Interesse der Sicherung der Transitrolle – von größter Bedeutung.
3. Neben dem in den vergangenen Jahren bei den kombinierten Transporten eine verhältnismäßig schnelle Entwicklung aufweisenden Straßen- und Bahntransport treten langfristig hauptsächlich die Austauschkasten und die kombinierten Transcontainer-Lieferungstechniken in den Vordergrund, d.h. man muss sich auf die Entwicklung dieser Technologien vorbereiten. Die gegenwärtigen ungünstigen Wirtschaftsergebnisse der kombinierten Lieferungen müssen unbedingt verbessert werden, denn eine Steigerung ihrer Anwendung ist bei der Herausbildung der eurokompatibelen Güterverkehrstechnologie ein sehr relevantes Erfordernis.
Literatur
Glatz, Ferenc (Hrsg.): Közlekedési rendszerek és infrastruktúrák [Verkehrssysteme und ihre Infrastrukturen]. Magyar Tudományos Akadémia, Budapest, 2000.
Begegnungen12_Martonyi
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:24–25.
JÁNOS MARTONYI
Solidarität, Regionalismus, Subsidiarität
Herr Staatspräsident, liebe Freunde, lieber Andrei!
Ich kenne Dich noch nicht ganz ein Jahr, und ich erinnere mich gut an unser erstes Telephongespräch, als Du mich ein paar Tage nach meiner Ernennung angerufen hast. Ich fühlte an Deiner Stimme eine Unsicherheit, ob Du mich wirklich glücklich einschätzen sollst oder nicht, später habe ich immer mehr begriffen, woran Du gedacht hattest. Der Herr Staatspräsident hat schon darauf hingewiesen, dass der Präsident der Akademie die Begrüßungsrede schon gehalten hat. Ich denke, dass ich berechtigt darauf hinweisen darf, dass meine Würdigung im Rahmen der Laudatio schon gehalten worden ist. Ich möchte Ihre Geduld nicht strapazieren, ich möchte nur einige Gedanken kurz ausführen.
Andrei Pleşu stand immer auf der richtigen Seite. Vor 1989 stand er im Widerstand zur Diktatur. Nach dem Dezember 1989 hat er gefühlt, dass wir Mitteleuropäer jetzt auf eine der wichtigsten Fragen eine Antwort geben müssen. Nämlich darauf: was wir mit uns selber anfangen werden, nach dem Zerfall des Imperiums, der Implosion der Sowjetunion. Wählen wir die Zusammenarbeit oder wollen wir die auf Eis gelegten Konflikte, Konfrontationen wiederbeleben. Damals wählte die Mehrheit die Zusammenarbeit, und dies entschied die Zukunft von Mitteleuropa. Andrei Pleşu war einer derjenigen, der dabei eine herausragende Rolle gespielt hat. Es gab auch solche, die den anderen Weg gewählt haben. Jene, die heute vom Krieg auf dem Balkan gesprochen haben, wissen genau, dass die eigentliche Tragik in der Wahl jenes Weges besteht. Es gab Alternativen. Der Weg der Konfrontation, man konnte es so entscheiden, dass die Grenzen, die Macht wichtiger sind, auch die eigene Gemeinschaft, unsere eigene Macht, und daran könnte man bis in die Ewigkeit festhalten. Diese Tragödie auf dem Balkan begann nicht erst vor zwei Monaten, meine lieben Freunde, sondern vor acht oder neun Jahren. Es geht hier nicht nur um die Vertriebenen, sondern um die heute schon mehrere hunderttausend Toten und verstümmelten Kinder, denen man jedes Jahr neue Prothesen produzieren muss... ich höre hier auf. Nun deswegen war diese Wahl des Weges damals, 1989, eine so wichtige Frage. Andrei Pleşu gab nicht nur die richtige Antwort, sondern er begann zu handeln. Er fand sich bereit, ein Amt zu übernehmen. Es wäre für ihn sicherlich bequemer gewesen, bei seinen Gedanken und Formen – es sei hier vom Ästheten die Rede – zu verweilen, das hat er nicht getan. Als er es fühlte, dass er aus Gewissensgründen trotzdem etwas weiterarbeiten muss, da hat er sich für den Pflug entschieden. Der Pflug bedeutete hier offensichtlich seine Welt der Gedanken. Aber als sich die Umstände wieder änderten und sein Land ihn brauchte, im Dezember 1997, da kam er wieder zurück. Ich bin sicher, denn soweit kennen wir uns, dass ihn nicht der Titel, der Rang, der Ruhm und der Posten anzogen, denn er hätte sich viel mehr gefreut, wenn er, sagen wir, in seiner Welt der Formen hätte verweilen können, er hätte seine Reisen fortsetzten können in seiner Welt der Formen, wie er dies in einem seiner früheren Werke niedergeschrieben hat, oder er hätte gar an seinem wunderbaren Tagebuch des Tescani weiterschreiben können, das ganz Mitteleuropa mit grossem Interesse las. Nicht dies hat er getan. Er fühlte, wo sein Platz ist, und er kam zurück in den Dienst.
Andrei Pleşu hat keine leichte Aufgabe, denn auch in seinem Land bekämpfen sich das Alte und das Neue, stehen sich Intoleranz und Toleranz gegenüber, es bekämpfen sich die Vision eines homogenen Nationalstaates und jene europäische – das wurde hier schon aufgegriffen – mit vielfältigen, mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen Kulturen sich befruchtende Gemeinschaft, und Andrei Pleşu stand auch hier auf der richtigen Seite. Er bekämpft die Psychosen, er tritt gegen die Ängste auf, die von den falschen Gefühlen der Bedrohung geschürt werden, er spricht gegen die Verfälschung der Tatsachen, gegen die Demagogie, kurz er tut, was er zuvor schon jahrzehnte lang getan hat. Er handelt wie ein Intellektueller handeln muss, sei er nun schöpferisch oder politisch tätig.
Andrei Pleşu tat und tut für die Zusammenarbeit beider Länder sehr viel, und ich glaube, mit nicht wenig Erfolg. Er ist der Freund der Zusammenarbeit, deshalb ist er unser Freund, der Freund der Region und auch der Freund von Europa. Von jenem Europa, das sich fortwährend einheitlicher gestaltet, und auf solchen Grundsätzen basiert, basieren wird, wie Zusammenhalt, Solidarität, Regionalismus, Subsidiarität. Ich bin stolz darauf und wir alle dürfen stolz darauf sein, dass dieser Preis dieses Jahr an Andrei Pleşu geht. Deswegen bin ich sicher, dass all die Grundsätze, für die er sich so eingesetzt hat und sich weiter einsetzen wird, dass diese zum Erfolg gereichen werden.
Geschätzte Festgäste!
Es ist für mich eine Ehre und Auszeichnung, aus dem Nachbarland Ungarns kommend, das so viele Verbindungen in der Geschichte, in der Gegenwart mit Ungarn hat und in der Zukunft haben wird, die Laudatio zum Corvinus-Preis 1999 vornehmen zu dürfen. Die Anwesenheit des ungarischen Staatspräsidenten, meines Freundes Árpád Göncz, ist mir eine Freude, wie mich auch mit dem Hausherrn der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Prof. Ferenc Glatz seit seiner Ministerschaft eine enge Beziehung verbindet, wo wir 1989 einiges zur Verbesserung jener Situation beitragen konnten, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg so schmerzlich betroffen hat. Auch die Anwesenheit des ungarischen Außenministers János Martonyi, der sein Land auf dem Weg zur Europäischen Union mit sicherer Hand führt, ist ebenso eine Freude wie die des Stifters des Preises, Senator Prof. Dr. Dr. Herbert Batliner, der aus einem Mikrostaat kommend, aus Liechtenstein, zeigt, wie man europäische Verantwortung auch persönlich sichtbar machen kann. Wir sind zusammengekommen, um Andrei Gabriel Pleşu zu ehren, den ich einen Freund nennen darf, weil er ein Freund der Europäischen Demokratie, ein Freund des Denkens und ein Freund des Wortes und der Sprache ist. Seit jeher bewegen mich die biblischen Bilder und die Bedeutung der Sprache. Das Alte Testament hat mit der babylonischen Sprachenverwirrung ein Symbol für den Zustand unserer Welt geschaffen. Es wird von der Unfähigkeit der Menschen gesprochen, ein gemeinsames Werk zu verrichten, weil sie einander nicht verstehen. Als Kontrast hält das Neue Testament das Kommen des Geistes parat, der es den Jüngern ermöglicht, dass „ein jeder den anderen in seiner Sprache reden hört”.
Sie werden fragen, was das alles mit dem Matthias Corvinus-Preis zu tun hat? Nehmen wir doch mit, was dieser europäische Herrscher in seiner Zeit bedeutet hat und wo er nach wie vor aktuell für uns ist. Da ist zum einen die Supranationalität in Mitteleuropa, die kulturelle Qualität, die Matthias Corvinus eingefordert hat und die Weite des Geistes, die signifikant das Europa von damals mitgestaltet hat. Alle diese Eigenschaften brauchen wir auch heute, womit nicht nur die Bedeutung des Matthias Corvinus-Preises, sondern auch die Relevanz eines Schriftstellers vom Range des Andrei Pleşu gegeben ist, den wir heute durch Matthias Corvinus ehren.
Die Bedeutung des Schriftstellers, die Kraft des Wortes wurde mir durch ein Interview bewusst, das in der Neuen Zürcher Zeitung der bosnisch-muslimische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dzevad Karahasan gegeben hat: „Die Literatur trägt ohne Zweifel eine große Verantwortung. Sie ist neben Geschichtsschreibung, Religion und Philosophie die geistige Disziplin, die Werte formuliert und artikuliert, die also ein Wertesystem schafft, auf dem eine Gesellschaft ruht. In dieser Hinsicht trägt Literatur eine ganz wesentliche Verantwortung für die Geschehnisse, die Geschichte machen. Außerdem trägt die Literatur Verantwortung als eine Art des öffentlichen Sprechens. Das Wort ist sozusagen die Einführung zur Tat. Zum dritten trägt die Literatur Verantwortung als eine Art der öffentlichen Kommunikation.” Karahasan wird dann noch deutlicher, wobei seine Analyse des Geschehens im Kosovo die Gewichte der Verantwortung verschiebt: „Der Balkankrieg wurde eigentlich im voraus geschrieben. Die eigentliche Verantwortung dafür tragen weit mehr die Quasi-Literaten und die Quasi-Geschichtsschreiber als die Generäle und Politiker.”
Wer ist nun Andrei Gabriel Pleşu? Ich verzichte darauf, Ihnen einen Lebenslauf zur Kenntnis zu bringen, der meistens von der Banalität getragen ist, dass jemand irgendwann einmal geboren wurde, bestimmte Ausbildungen hinter sich gebracht hat, Funktionen wahrnahm oder sonst irgendwie tätig war oder ausgezeichnet wurde. Das kann alles nachgelesen werden und ist doch eigentlich nicht relevant. Wichtiger ist, welche Spuren jemand hinterlassen hat, wie er seine Zeit prägte und was ihm gelungen ist. Allein der Blick auf sein Werkverzeichnis zeigt schon die Richtung: Die Rolle des Intellektuellen wird sichtbar, wenn jemand eine Zeitschrift unter dem Titel „Die Lämmer” herausgibt. Der Ästhet wird sichtbar in „Picturesque and Melancholy. An Analysis of the Feeling of Nature in European Culture” oder in „The Eye and the Objects”. Der kritische Intellektuelle dokumentiert sich in „Minima Moralia. Elements for the Ethics of Space” wie auch in „Appearances and Masks of Transition”. Aber nicht nur analytisch war und ist Andrei Pleşu tätig, sondern auch in dem Transformationsprozess sehr aktiv als Präsident des New Europe College, das er zwischen seinen beiden Ministerschaften 1989, 1990 und 1997 bis jetzt geleitet hat.
Was aber noch viel wichtiger ist, ist wohl die Tatsache, dass jemand mit moralischer Dimension in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts und in Mitteleuropa lebend naturgemäß mit dem totalitären System in Konflikt kommen musste, mit dessen Folgen wir heute so viele Schmerzen zu bewältigen haben. Hätte es aber Menschen wie Andrei Pleşu nicht gegeben, wäre nie eine Metaebene des Geistes entstanden, die uns nach 1989 geholfen hat, die Folgen des Eisernen Vorhangs und der Ost–West-Teilung zu überwinden. Er gehört in die Gilde jener wie Vaclav Havel, Tadeusz Mazowiecki und Wladyslaw Bartoszewski, die slowenischen Literaten oder aber auch der hier anwesende Árpád Göncz. Ihnen ist bewusst gewesen, dass das Leben nicht nur eine politische und ökonomische, sondern vor allem eine geistige Funktion hat und Europa jedenfalls nur so bestehen kann. Julien Benda hat es in seinem „Discours à la Nation Europeene”, 1933 bereits formuliert: „Europa wird ein Produkt eures Geistes sein, des Wollens eures Geistes und nicht ein Produkt eures Seins. Und wenn ihr mir antwortet, dass ihr nicht an die Unabhängigkeit des Geistes glaubt, dass euer Geist nichts anderes sein kann als ein Aspekt eures Seins, dann erkläre ich euch, dass ihr Europa niemals bringen werdet. Denn es gibt kein europäisches Sein.” Die Worte von damals sind heute eine Herausforderung, die nach wie vor gilt.
Ein anderer Schriftsteller, Hugo von Hofmannsthal, hat es bereits 1917 mitten in der ersten großen Katastrophe dieses Jahrhunderts formuliert, was wir in der Mitte des Kontinents brauchen: „Dies Klare, Schöne, Gegenwärtige ist der geheime Quell des Glücksgefühls. Dies Schöne, Gesegnete würde ohne uns in Europa, in der Welt fehlen. Zum Schluss nenne ich den Sinn für das Gemäße, wovon uns trotz allem noch heute die Möglichkeit des Zusammenlebens gemischter Völker in gemeinsamer Heimat geblieben ist. Die tolerante Vitalität, die uns durchträgt durch die schwierigen Zeiten und die wir hinüber retten müssen in die Zukunft.” Das hat uns bei aller Verschiedenheit in diesem mitteleuropäischen Raum aneinander gebunden, eine Sehnsucht, die uns erhalten geblieben ist, eine Chance, die wir heute haben, es noch einmal zu versuchen. Was aber dazu notwendig ist, hat ein anderer Schriftsteller nämlich György Konrad bereits beschrieben: „Mitteleuropäer ist der, dessen staatliche Existenz irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt. Aus unserer Lage ergibt sich eine Philosophie, die Philosophie der paradoxen Mittel, die eigentlich auch das Wesen einer vorstellbaren europäischen Weltanschauung sein könnte. Wir sind ein Projekt, ein kulturelles Bündnis, ein literarischer Ritterorden, wir sind Rekordler der Ambivalenzen, professionelle Problememacher. In unseren Kulturen vermischen sich verschiedene zeitliche Schichten. Wir sind keine eindimensionalen Gesellschaften. Wir haben noch keine rationale Übersichtlichkeit, wir sind nicht identisch mit unseren formalen Institutionen, wir sind nicht problemlos identisch mit unserem Schein.”
Andrei Pleşu ist einer von diesem literarischen Ritterorden, von dem sich heute viele wieder aus der Politik zurückgezogen haben, weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben und vielleicht auch nicht jene sind, die das Geschäft des Tages besorgen. Eines aber haben Pleşu und seine Freunde geschafft: die Glaubwürdigkeit ihrer Länder sicherzustellen, weil sie von sich aus einen Beitrag des Geistes geleistet haben, um den Kommunismus zu überwinden. Sie stellen damit auch eine moralische und ethische Herausforderung für den Westen unseres Kontinents dar, der nicht in gleicher Weise in der Lage war, auf diese Herausforderung in Europa zu antworten. Nach wie vor besteht das Problem, dass der Transformationsprozess zu mechanisch und ökonomisch gesehen wird. Nicht alles ist der Euro, nicht alles ist die Marktwirtschaft, nicht alles sind die neuen Regeln, die in Europa aufgestellt wurden. Es bedarf vielmehr die Kraft des Geistes, nicht nur um die Trennung zu überwinden, sondern auch dem Kontinent eine Zukunftsdimension zu geben. Es gilt daher den Faktor Zeit zu erkennen, den es nämlich braucht, um in der Transformation all jene schrecklichen Folgen des totalitären Systems zu überwinden. Es braucht die Geduld in der Generationenabfolge, um wirklich ein gemeinsames Europa erstellen zu können. Wie einem da zumute sein kann, das hat Andrei Pleşu auch beschrieben. Es scheut nicht vor starken Worten zurück, die sich insbesondere jene zu Herzen nehmen sollten, die in der Sicherheit ihrer Freiheit auch den Wohlstand genießen konnten, zu dem andere erst den Zugang suchen. Der erhobene Zeigefinger des Westens gegenüber dem Osten des Kontinents ist hier nicht angebracht. Daher sollten gerade die Worte Andrei Pleşus, die er in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefunden hatte, eine Pflichtlektüre für Transformationstheoretiker sein: „Im Grunde genommen wird man mit unzähligen Prioritäten konfrontiert. Alles ist prioritär. Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass man gelähmt ist und zögert. Gleichzeitig müssen gelöst werden: die Löcher in der Straßendecke, die Rechtsunsicherheit, die Verschmutzung der Gewässer, die Inflation, die Armut, das Recht der Homosexuellen, das Verbot der Zigerettenwerbung, die Renovierung der Strafanstalten, die Entsorgung der öffentlichen Abfälle, der engstirnige Konfessionalismus, die Diskriminierung von Frauen, die Medikamentenkrise, die schwachen Dienstleistungen, die Polizeireform, das Reinigen der Züge, die Sozialisierung der Rentner, die Einschulung der Roma-Kinder, die Umbenennung von Straßen, die Finanzierung der Theater, der Tierschutz, der Druck neuer Reisepässe, die Modernisierung der öffentlichen WCs, die Privatisierung, die Umstrukturierung, die Ankurbelung der Volkswirtschaft, die moralische Reform, die Neudefinierung des Bildungswesens, das Auswechseln von Diplomaten, die Konsolidierung des Zivillebens, die Förderung der NGO’s, die Neuausstattung der Krankenhäuser, die ausgesetzten Kinder, die AIDS-Kranken, die neuen Mafia-Strukturen und so weiter und so fort. Alles ist Pflicht, alles ist dringend.”
Pleşu konstatiert folgerichtig, dass angesichts dieser Fülle es zwangsläufig zu Neurosen kommen müsse. Er befürchtet eine „ideologische Magenverstimmung”, wobei es die Menschen in der EU nachdenklich stimmen sollte, dass er unserer „civil society” eine Wirkungsweise zuschreibt, die er als „terrorisierende Gestalt eines Obersturmbannführers” beschreibt. Manchmal erkenne auch ich in der Phantasielosigkeit der Anforderung, dass alles dem „acquis communitaire” zu folgen hat, jene Kommandosprache, die ganz sicher nicht in die Welt des neuen Europa passt.
Da aber wird das Geistige notwendig. Da bedarf es jener, die eben Anwälte dieses Geistes sind. Menschen wie Andrei Pleşu haben den Eros zum Geist, die Fähigkeit zur Umsorgung mit oder ohne Seele. Er wird dann zum europäischen Mahner, jemand, der in der Kraft des Wortes einen Zustand sichtbar macht, in dem sich Europas Geist befindet. Das ist ein durchgehender Grundzug des Verhaltens, der oft den Geist ersticken lässt. Custos quid de nocte? Wächter, wie weit ist die Nacht – in Europa? Fast alle schlafen. Auch diejenigen, die gerade nicht schlafen, sind oft nicht deshalb wach und munter, um erwartungsvoll in den neuen Morgen zu blicken, sondern sie wälzen sich nur müde in ihrer Schlaflosigkeit herum, weil der Magen zu voll ist oder alles unerledigte von gestern im Kopf herumschwirrt. Die Wachheit, die es braucht, ist aber nicht eine bekümmerte und leidende Schlaflosigkeit, sondern ist Munterkeit, Aufgewecktheit, gespannte Erwartung, Nüchternheit, Rastlosigkeit, Neugier, Bewusstheit und Geistesgegenwart. Geistesgegenwart – das ist das Wort, das die Verheißung des Glaubens verspricht, Geistesgegenwart nicht nur als Eschaton, sondern als anbrechende Wirklichkeit schon in diesem Äon.
Und diese Wachheit der Sinne geht auf Wahrnehmung aus, Wahrnehmung im eigentlichen Wortsinn: nämlich auf geistig-sinnliches Erfassen der Welt und auf die Unterscheidung des Wahrens vom Unwahren, vom Falschen und Unechten.
Wahrnehmung heißt auf griechisch Aisthesis – Ästhetik. Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Wenn man damit meint, dass einer mit wachem Geist und allen fünf Sinnen die Botschaft wahrnimmt und dechiffrieren kann, dass er aus dem Wahrgenommenen sich auch die Geistesgegenwart erschließen kann – dann muss man ein Ästhet sein. Auch wenn es auf Kennerschaft, auf Geschmack, auf Eros ankommt, und auch auf die Gabe, das Gelungene zu erkennen und ein wahres Werk von einem Machwerk zu unterscheiden – dann ist man ein Ästhet.
Wenn man mit „Ästhet” aber jemanden meint, der den schönen Schein sucht und sich daran mit seinen Sinnen gütlich tut, der sich im Geschmäcklerischen und Genießerischen ergeht, dann ist es ein Missverständnis. Solche „Ästheten” waren und sind vor allem diejenigen, die sogenannte „Schöne” Kunst einmahnen wollen – Augenschmaus sozusagen, der der Iris Behagen verschafft, aber nichts mehr von dem durchblicken und wahrnehmen lässt, was den Menschen und die Welt wirklich bewegt. Augenschmaus ist nicht ästhetisch, er ist das Gegenteil davon. Er ist Opium, Narkotikum – und bewirkt damit nur Anästhesie: Einschläferung der Sinne und Verlust der Wahrnehmung dessen, was ist und rings um uns geschieht.
Da fällt mir die erste Seligpreisung der Bergpredigt ein, die ich noch mit „Selig die Armen im Geiste” in Erinnerung habe. Das ist durchaus missverständlich, denn in Wahrheit heißt der griechische Text, dass jene selig sind, die Begierde nach mehr Geist haben. Jene brauchen wir und selig sind sie, nicht in einem himmlischen, sondern in einem höchst irdischen Sinn, denn gerade der Geist gibt uns die Gabe der Unterscheidung, die wir brauchen, um die Vielfalt unseres Kontinents zu erkennen.
Was lässt uns die Frage nach der „Vielfalt”, nach der „kulturellen Zukunft” Europas stellen? Die Beantwortung dieser Frage zu verweigern ist „Einfalt” – Dummheit –, genauso wie zu meinen, dass nicht die Frage „kulturelle Zukunft” die Existenz Europas entscheide.
Es gibt eine Dichotomie, ja sogar Schizophrenie des Denkens. Wir sind stolz auf die Vielfalt der Kultur, und gleichzeitig müssen wir erleben, dass eine Verweigerung der Akzeptanz des „Anderen”, des Fremden, stattfindet. Dabei ist die kulturelle Landschaft so reich! Horizontal, also gleichzeitig, erleben wir eine Vielfalt von Völkern, Sprachen und Ausdrucksformen. Wir kennen die Unterschiede in unseren Tälern genauso wie die der Mode, der Literatur und der Musik. Der Reichtum umfasst aber auch das Vertikale, nämlich die Abläufe der Epochen. Was ist doch nicht alles in diesem Europa seit der Antike, der jüdisch-christlichen Welt, dem Mittelalter, der Renaissance und der Aufklärung geschehen, bis wir bei der „Postmoderne” gelandet sind!
Eigentlich ist der Begriff „Postmoderne” eine Verlustanzeige. Wie überhaupt von Verlust die Rede ist, wenn wir beklagen, wirklich Modernes nicht zu kennen oder die Werte zu vermissen. Haben wir das Selbstvertrauen verloren? Fehlt uns die Kraft zum Neuen? In der Tat: Zitate beherrschen uns, und offensichtlich ist an die Stelle der Kultur eine Art von Weltzivilisation getreten, die sich durch außerordentliche Gleichförmigkeit – Einfalt – auszeichnet. Was die Satelliten uns an Programmen über die Welt schicken, ist der Eintopf aus der Konserve, ist das „global village”, jenes Weltdorf, das sich zweifellos durch seinen simplen Charakter auszeichnet.
Aber das ist es nicht, denn noch immer besteht der Reichtum unserer Welt und unseres Kontinents. Vielmehr ist die menschliche Offenheit in einer Krise. Hier kann wirklich von der Veränderung der Vielfalt zur Einfalt gesprochen werden. Welche Antworten geistern durch die Gegend, welche Kritiken werden geäußert?
Wird die europäische Kultur zwischen Globalisierung und Regionalisierung zerrieben? Gibt es in dieser Vielfalt überhaupt eine Gemeinsamkeit, oder ist sie erst in der Weltzivilisation zu finden? Hat der Integrationsprozess Europas auf die Kultur vergessen? Ist die Kultur nur mehr ein Hobby einiger Sonderlinge oder eine marktgerechte Form eines internationalen Festspielbetriebs mit angeschlossener CD- und Video-Produktion?
Um es vorwegzunehmen: Ohne Kultur wird es Europa nicht geben! Europa hat es zwischen 1945 und 1989 eigentlich nicht gegeben. Der demokratische westliche Teil war über den Atlantik hinweg mit den USA verbunden und wohl auch kulturell von ihnen abhängig; der östliche Teil stand unter der Herrschaft des russisch dominierten Sowjetsystems; die Mitte des Kontinents war nicht mehr als eine literarische-intellektuelle Erinnerung. Von Vielfalt war nicht die Rede, der Ost–West-Konflikt war die binäre Unterscheidung Europas. Den Unterschied kann man auch heute noch sehen, wenn man mit offenen Augen im ehemaligen „Osten” durch Städte fährt.
Erstmals seit 1989 ist uns die Chance gegeben, Europa wieder als einen kulturellen Kontinent zu begreifen und seine Vielfalt zu nutzen. Damit verändert sich die Qualität der europäischen Einigung. War es mit Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunächst die Aufhebung des seit dem 17. Jahrhundert währenden deutsch-französischen Konflikts, dann die Vorstellung der Einheit eines freien Europa als Bollwerk gegen den Kommunismus, so ist es seit Maastricht die Chance eines freiwilligen Zusammenschlusses zu einer neuen politischen Realität. Europa hat noch einmal die Chance, Europa zu sein.
Der Europäer Andrei Gabriel Pleşu hat dazu seinen Beitrag geleistet und leistet ihn immer noch. Zum einen im Bereich der Literatur und der Kultur, zum anderen in der Politik. Sicher ist dieses Spannungselement für ihn nicht immer eine Freude. Manchmal wird er wohl die Versuchung verspüren, das alles hinter sich zu lassen, um sich wieder der Qualität des Geistes zu widmen. Andrei Pleşu wird aber am Hofe von Matthias Corvinus von heute gebraucht. Warum? Lassen Sie mich es in der Sprache des Hofes sagen: Andrei Pleşu ist ein Adeliger des Geistes, eine große Stimme am Hofe Europas, ein Anwalt der Zukunft im europäischen Reich des Matthias Corvinus von heute. Das allein schon verdient den Matthias Corvinus-Preis 1999, denn nicht nur wir zeichnen ihn aus, sondern er zeichnet uns aus – durch sein Wirken und sein Werk.
Die postkommunistischen Gesellschaften haben den Intellektuellen gegenüber eine äußerst zwiespältige Einstellung. Einerseits werden die Intellektuellen mit einem leicht scheinheiligen Respekt behandelt, sie werden ihrer „Gelehrtheit” wegen bewundert, stolz als „Werte” präsentiert und angehalten, „das Land aus der Sackgasse zu führen”. Andrerseits betrachtet man sie mit einer leichten, von Misstrauen durchsetzten Ironie: Als schwächliche, unzeitgemäße, von zu vielem Nachdenken etwas angegriffene Wesen. Sie sind ineffizient, elitär, kosmopolitisch und erhalten nur „mangelhaft” bei mehreren „bürgerpflichtigen” Rubriken – wie Patriotismus, Solidarität, Respekt gegenüber den Massen usw. Ein Großteil der Bevölkerung reagiert eher gelangweilt auf die Intellektuellen. Das sind im allgemeinen irgendwelche Leute, die sie nicht verstehen und von denen sie nicht verstanden werden, Personen, auf die man sich nicht verlassen kann, einfach Taugenichtse, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten, wenn sie schon nicht imstande sind, tatsächlich und wahrhaftig zu helfen.
Dieses Problem ist typisch für Übergangsperioden. Die großen Umsturze von 1989 haben überall angesehene Intellektuelle in den Vordergrund gebracht, die – gleichzeitig – Auslöser, Garanten und Wahrzeichen der Ereignisse sein durften. Menschen, deren Schicksal meist mit einem arbeitsamen Schattendasein in Verbindung gebracht wird, füllten plötzlich raumdeckend die Bühne in der Gestalt des „zivilisatorischen Heldens”, des aktiven Reformers. Und, wie es nicht anders zu erwarten war, alle postrevolutionäre Enttäuschungen wurden anschließend auf ihr Konto gesetzt. Die Wähler hatten die edlen Reden und moralisierenden Vorbilder schnell satt. Die Zeit der symbolträchtigen Gesten, der großartigen und überwältigenden Haltungen ist vorbei. Havel ist banal und Michnik unsympathisch geworden. Das Verhältnis zwischen Intellektuellen, Ethik und Politik wurde schnell thematischer Bestandteil koketter internationaler Symposien. Weg von der Straße und weg von den „Verhandlungstischen” sind die Intellektuellen zu mehr oder minder mondänen Schauspielern endloser „Rundtisch-Gespräche” geworden. Sie glossieren und adnotieren alexandrinisch rund um ihre Leistungen in der Vergangenheit, sie erklären sich, schlagen neue Utopien vor, sie debattieren Nuancen. In einem Artikel über Polen in „Le Nouvel Observateur” bringt Bernard Gueta die Situation auf den Punkt: „Der Krieg ist vorbei. Polen hat für normale Zeiten einen normalen Menschen gewählt. Alles ist in Ordnung – und sehr traurig.”
Soll das heißen, dass die Intellektuellen raus aus dem Spiel sind? Und sollte dies der Fall sein, müssen wir diesen Umstand sofort als Katastrophe einstufen? Als erstes liesse sich bemerken, dass der Terminus „Intellektueller” in den zu diesem Thema laufenden Diskussionen mit einer besonderen Bedeutung behaftet ist. Er bezeichnet eher die „künstlerische” Variante des Intellektuellen – den interessanten, „auserwählten” Menschen, der charismatisch über der Menge schwebt. Nicht einfach das Hochschulstudium, nicht die Vorherrschaft des Mentalen, des Geistigen über das Manuelle, Handwerkliche definieren zur Zeit den Status des Intellektuellen, sondern die Neigung zur spekulativen Erhabenheit, zur ethizistischen Gestikulation und zur kreativen Originalität. Niemand denkt an Václav Klaus, wenn er ein Beispiel sucht, selbst wenn man dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten nur schwer die Eigenschaft eines Intellektuellen absprechen könnte. Alle Welt denkt an Václav Havel. Nur als Verkörperung vom Typ Havel erlangt der Intellektuelle die Aura der missionären, von sybillischen Instanzen für unsere Rettung auserwählten Gestalt. Einem Buchhalter kann man die Rolle des „Erlösers” nicht anvertrauen.
Und hier treffen wir auf eine erste Form der „Verdrehtheit” unserer Mentalität. Eine unschuldig-treuherzige und romantische Verdrehtheit, aber deshalb nicht minder schädlich. Wir machen einen deontisch-logischen Fehler, das heißt, wir verteilen die Kriterien der Autoriät auf recht aberante Weise. Aus der Tatsache, dass er ein „inspirierter” und auf seinem Kompetenz-Gebiet effizienter Mensch ist, schlussfolgern wir, dass er universell kompetent ist. Genauer gesagt, wir setzen als selbstverständlich voraus, dass „inspiriert und effizient sein” eine Kompetenz an sich ist, die spektakuläre Ergebnisse zeitigt, egal auf welchem Gebiet sie eingesetzt wird. Einstein hat den Nobel-Preis für Physik erhalten, das bedeutet also, dass er uns – egal, was wir ihn fragen – mustergültige Antworten liefern muss. Wir werden folglich von ihm seine Meinung über Glück, über die Unsterblichkeit der Seele und über die Zukunft der Menschheit wissen wollen und dabei all seine Platituden als letzte Wahrheiten akzeptieren, weil wir auf seine allerhöchste Begabung dort setzen, wo er kaum mehr als ein rechtschaffener Mensch ist. Auf die Idee, dass ein genialer Schriftsteller ein Schuft oder ein Weichei sein kann, dass ein bedeutender Mathematiker in Sachen Politik ein Idiot oder ein heldenmütiger Mensch eher unterentwickelt in Verwaltungsfragen sein kann – auf diese Idee kommt man nicht. Für diese Idee ist kein Platz in unseren nach Geometrie und Konsequenz dürstenden Gehirnen.
Der Intellektuelle ist jemand, der gewisse Dinge, der viele Dinge weiß. Folglich ist er jemand, der alles weiß. Der Intellektuelle redet schön, demnach hat er Lösungen. Der Intellektuelle versteht alles – also kann er alles. Man verweigert dem Intellektuellen das Recht, manchmal und auf manchen Gebieten ein einfacher Mensch zu sein. Folglich hat der Intellektuelle die Pflicht und Schuldigkeit, mit seiner wundersamen Energie bei den Überwindungen aller Hürden mitzuhelfen. Tut er das nicht, so ist er egoistisch, er drückt sich, er ist faul. Die Intellektuellen unterliegen einem enormen öffentlichen Anspruchs-Druck. Sie sind dazu verdammt, ihrem Nimbus gerecht zu werden, sie können sich die alltäglichen Halbschatten des „einfachen Bürgers” nicht leisten. Verboten wird dem Intellektuellen selbst der Kommentar – seine ureigenste und allbekannte Spezialität. Es schicke sich nicht, vom Rande aus zu sprechen – er habe die Pflicht und Schuldigkeit einzugreifen.
Es gibt also eine richtige Mythologie des intellektuellen Auftrags, der von der Geschichte in manchen Momenten gefordert, in anderen in Abrede gestellt wird. Die Frage, die sich zwangsläufig ergibt: Innerhalb welcher Grenzen ist solch ein Auftrag vernünftig und legitim? Was kann man von den Intellektuellen erwarten, und was nicht? Und wie muss sich ein wahrer Intellektueller verhalten, um das Gleichgewicht zu wahren zwischen dem Risiko eines unangemessenen Aktivismus und jenem des schuldhaften Absentismus? Letzte Antworten können wir nicht bieten, zumindest aber versuchen, vorgefasste Meinungen und die allzu scharfen Richtlinien der Allgemeinheit zu relativisieren.
Die Mythologie des politischen Auftrags der Intellektuellen hat bislang zu drei großen Kategorien von Lösungen geführt.
Die zurückhaltende Kontemplation
Intellektuelle und Politiker haben auf derselben Bühne nichts verloren. Es ist nicht die Sache der Intellektuellen, sich ins Getümmel des Jahrhunderts einzumischen, sich im öffentlichen Leben zu verausgaben, sich in einer kontingenten Problematik aufzugeben. „Politik muss den Diplomaten und Militärs überlassen werden”, sagte Goethe mit einer Radikalität, der er nicht immer treu blieb. Das kontemplative Leben aufgeben, die großen geistigen Fragen durch triviale, konjunkturbedingte Sorge zu ersetzen – das heißt, das „Talent” zu opfern, das dir gegeben wurde. Ende der zwanziger Jahre machte Julien Benda diese These zum Kernpunkt eines Bestsellers. Für ihn sind die Gelehrten (les clercs) ganz besondere und eigenartige Lebewesen, die sich von der „weltlichen” Spezies der Menschheit deutlich unterscheiden. Sie führen eine Aktivität durch, der „jedwelches praktisches Ziel wesensfremd” ist. Frei von der Tyrannie der zeitgeprägten Interessen und zur Verzweiflung getrieben durch den „Realismus der Massen” sind die Intellektuellen „nicht von dieser Welt”. Zwangsläufig können sie von der Ebene der ewigen Prizipien auf das Niveau der momentanen Leidenschaften nur dann hinabsteigen, wenn sie eine Entstellung in Kauf nehmen. Der Wechsel der Intellektuellen ins Lager des Alltags-Pragmatismus und ihr Einstieg in den politischen Kampf stellen einen wahren „moralischen Umsturz” mit schwerwiegenden Folgen für die europäische Geschichte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar.
Als der rumänische Philosoph Constantin Noica seinen Jüngern nahelegte, sich nicht auf einen kräftezehrenden Verschleiß-Konflikt mit den kommunistischen Institutionen einzulassen, so handelte er im Geiste von Benda. „Politik ist Meteorologie” – lautete Noicas Urteil. Man unterbricht seine Lektüre und sein Schreiben nicht, um Regen, Dürre und Jahreszeiten zu bekämpfen. Nur um einen umgestürzten Wagen am Wegrand flottzumachen, verpasst man nicht den Einzug ins Paradies...
Die Partizipation
Die Intellektuellen haben die Pflicht, sich am politischen Leben zu beteiligen, gerade weil ihre außergewöhnliche Begabung einer höchsten Qualifikation in der Kunst des Regierens gleichkommt. Aus solch einer Überzeugung ist das Modell des „Philosophenkönigs” geboren worden. Um gut geführt zu werden, muss die Gemeinschaft von einem Meister des Geistes geführt werden. Also nicht von einem „Vertreter”, sondern von der Ausnahme. Der Besitz der Wahrheit und die Ausübung der moralischen Unbestechlichkeit sind schließlich keine überall vorkommenden und allgegenwärtigen Gaben, keine „volkstümlichen” Güter. Demzufolge ist es selbstverständlich, dass nur diejenigen, die solch seltene Tugenden verkörpern, bei dem Regieren der Menge etwas zu sagen haben. Rein theoretisch entbehrt diese These nicht einer gewissen kalten Konsequenz. In der Praxis aber hat sie durch klägliche Ergebnisse versagt. Die politische Leistung der Intellektuellen (und zwar beginnend mit jener von Platon, der dem „Philosophenkönig” die metaphysische Geburtsurkunde ausstellte) ist oftmals prekär, utopisch, wenn nicht sogar richtig gefährlich. Mit guten Recht wurde festgestellt (u.a. von Wolfgang Müller-Funk), dass weder Nazismus noch Kommunismus Erfindungen der Arbeiter und Bauern waren. Im Gegenteil – sie waren hartnäckige, zielstrebige intellektuelle Konstruktionen, „Phantasien” von „Elite-Hirnen”.
Es gibt zugegebenermaßen auch das Gegenbeispiel einiger aufgeklärter Herrscher, die das Image des Intellektuellen-Anführers einigermaßen verbessern. Der politische „Platonismus” wird, moralisch gesehen, nicht von Platon selbst, sondern von einer Gestalt wie Havel gerettet, dessen Haltung den Dogmatismus der Platon’schen „Republik” allerdings sprengt. Wir müssen desgleichen zugeben, dass das politische Engagement der osteuropäischen Dissidenten und ihr Beitrag zur Sturz des Totalitarismus einigermaßen die Schande der sich anpassenden und fügenden katastrophalen Allianzen mit allen extremistischen Ideologien hervortaten. Nur solche Haltungen und Leistungen (Dissidenz, Zivil-Wachsamkeit, konkret den wahren Werten dienen) berechtigen das Vertrauen einiger zeitgenössischer Autoren (György Konrád zum Beispiel) und den Glauben an die Chance der Intellektuellen, das Antlitz der Welt zum Guten zu verändern.
Die engagierte Kontemplation
Zwischen den Intellektuellen, der unmitelbar am politischen Spiel teilnimmt, und jenen, der es ignoiert, drängt sich in letzter Zeit der Intellektuelle, der den Gang der Dinge von außerhalb des Strudels der Ereignissse beinflusst. Das ist – laut Timothy Garton Ash, in einem Beitrag in „New York Review of Books” – die für diesen Abschnitt der Geschichte angemessenste Verhaltensstrategie. Die Zeit des totalen Engagements ist vorbei. Es ist nicht mehr erforderlich, dass Intellektuelle Minister, Premierminister oder Staatspräsidenten werden. Wollen die Intellektuellen ihre Interventions-Kraft wahren, sollten sie solche Ämter eher meiden. Von ihnen wird jetzt nur verlangt, dass sie die Taten der Regierenden kritisch kommentieren und zum sozialen „Pol” der Besonnenheit werden. Im Vordergrund taucht wieder das Amt des „engagierten Zuschauers” auf – der Terminus stamt von Raymond Aron –, das einzige, das dem Wesen des Intellektuellen wirklich zusagt. Übrigens war sogar Julien Benda bereit, dem Gelehrten gewisse politische Exkurse zuzugestehen. Mit zwei Bedingungen: Er dürfe nicht der Staatsverwaltung angehören (mit anderen Worten, er muss unabhängig bleiben), und er dürfe den gelegentlichen „Exkurs” nicht zur konstanten Beschäftigung werden lassen.
Jenseits der aufgezählten Varianten bleibt jede Menge Raum für Nuancen. Dasselbe Individuum kann Umstände, Zustände und Krisen durchmachen, die ihn berechtigterweise zu jedwelcher nur vorstellbaren öffentlichen Haltung hinorientieren. Es gibt historische Umstände, in denen der Absentismus einer schuldigen Demission gleichkommt, doch gibt es auch Zeiten, die Zurückhaltung erlauben und rechtfertigen. Es gibt Zeiten des öffentlichen Forums und es gibt Zeiten der Klausur. Und schließlich gibt es die unendliche Vielfalt der Temperamente. Zurückgezogenen, kontemplativen, diaphanen Geistern kann nicht der Prozess gemacht werden, einfach weil ihnen die Passion für das Konjunkturelle fremd ist. So wie auch feurige Temperamente, die vom gemeinschaftlichen Sinn ergriffen sind, nicht gezwungen werden können von heute auf morgen Bibliotheks-Gebahren anzunehmen... Wir befinden uns auf einem Gebiet, das sich keinen Schematismen, keinen Rezepten beugt. Und die Welt der Tat ist weitaus umfassender, reicht weit über äußerliche Agitation und prometheischen Aufstand hinaus.
Wie ich bereits eingangs erwähnte, ist das am häufigsten ins Feld geführte Argument für das politische Engagement der Intellektuellen deren moralische Autorität. Natürlich ist eine Gleichstellung von Kultur und Moralität nicht gerade selbstverständlich, doch Fakt bleibt, dass jedesmal, wenn ein Intellektueller die öffentliche Bühne betritt, von ihm ethische Radikalität, Kompromisslosigkeit, groß- und edelmütige Haltung erwartet werden. In Klammer sei dazu bemerkt, dass dies alles Eigenschaften sind, die im Widerspruch zu politischer Effizienz stehen. Wünschenswert wäre folglich, dass sich der aufs politische Parkett begebende Intellektuelle einem Politiker nicht ähnelt. Es ist keineswegs Pflicht – sagt Havel mit einer immer blasseren Stimme –, dass die Politik die Ethik ausschließt. Denn schließlich besteht die Aufgabe des „Philosophenkönigs” auch darin, den Beweis für die perfekte Kompatibilität von Politik und Ethik zu erbringen. Sowohl Havels Erfahrungen der letzten Jahre (nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der Tschechischen Republik) als auch die Erfahrungen anderer von der Politik angesteckter Intellektuellen beweisen aber letztendlich, dass die Bemühungen, für beide Bereiche einzutreteten, ab einem gewissen Zeitpunkt – auf beiden Seiten – zu Malformationen führen, die nur schwer remediabel sind.
Derselbe Mensch kann sowohl Politiker als auch Intellektueller sein. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Kann er beides zur gleichen Zeit sein? Der wahre Intellektuelle kann dem Protokoll des politischen Lebens, der Scheinheiligkeit der Diplomatie, der Ambiguität der Wahlreden nur Langeweile entgegenbringen. Er spürt seit einiger Zeit, wie er seine Identität verliert, dass seine von Regierungsgeschäften bestimmte Situation seine Sprache und Verhaltensweise ändert, dass die Fingerübungen des öffentlichen Lebens ihn zu unverdaulichen Allianzen und schroffen Aussagen zwingen. Genauso auch der Politiker – er verzweifelt an den Skrupeln und der Selbstironie des Intellektuellen, an dessen Hang zur Hamlet’schen Selbstergründung, an den analytischen Exzessen seines kontemplativen Geistes. Das Zusammenleben der beiden Gestalten unter ein- und demselben Dach entwicklelt sich zwangsläufig und fatalerweise in Richtung Schizophrenie. Um solch einen Ausgang zu vermeiden, gibt eine von ihnen nach: Entweder verblasst der Intellektuelle allmählich hinter dem Politiker (und so entsteht die Spezies des Politikers, der Bücher sammelt und Konzerte besucht, um seine alte Identität zu wahren), oder aber der Politiker lässt dem Intellektuellen die Oberhand, und dieser versucht – meist ohne Erfolg – seine alten Werkzeuge und Fertigkeiten wiederzuerlangen. In der Regel sind die Reflexe des intellektuellen Lebens nach einer intensiven Episode politischen Engagements stark beschädigt. Auf dem Weg von der Macht zurück in die Bibliothek stellt der Intellektuelle fest, dass er seine Unschuld verloren hat, dass er vom Virus der Kontingenzen, von der Leidenschaft des politischen Kampfes befallen ist. Gezwungenermaßen muss er Kant recht geben: „die unmittelbare Ausübung von Macht schadet zwangsläufig der freien Verwendung der Vernunft”.
Der Intelektuelle hofft – und so auch seine Anhänger –, dass seine Beteiligung am politischen Leben eine „Vergeistigung” der Macht als Ergebnis zur Folge hat. Doch existiert eine Kehrseite dieser Hoffnung: die exzessive Politisierung des intellektuellen Lebens. Wer eine Invasion der Werte auf die promiskuosen Mechanismen der politischen Welt starten will, der geht auf Schritt und Tritt das Risiko einer umgekehrten Kontamination ein: Heimtückisch und schleichend infizieren die Angewohnheiten, Fertigkeiten und Thematik der Macht den Metabolismus des Geistes. So geschah es im Falle vieler osteuropäischer Intellektuellen der jungen Generation, die sich nach 1989 von den verschiedenen mehr oder minder erhebenden und hohen Varianten der Politologie haben völlig absorbieren und aufzehren lassen. Toqueville und Hayek werden zu wahren „geistigen Meistern”, und die Fragen nach der optimalen Beziehung zwischen Staat und Individuum oder nach der Dynamik von Wahlsystemen werden in den Rang alles entscheidender Fragen erhoben. Selbstverständlich sollen und müssen Toqueville und Hayek gelesen und als hochklassige Gesprächspartner anerkannt werden. Das Problem aber ist, was man nicht mehr liest und welche Fragen man nicht mehr stellt, wenn man ihrer Faszination erliegt. Das Problem ist, wieviel Kontingenz kann der Geist ertragen und noch er selbst bleiben?
Was die osteuropäischen Intellektuellen nach 1989 experimentierten, das mussten die westeuropäischen Intellektuellen bereits in den fünfziger Jahren durchmachen. Die Verlockung der Agitation im Gegenwärtigen, das linksgerichtete Pathos der Debatten, das ideologische Fieber rund um edle „Sachen” und Belange haben den Mythos des „eingebundenen”, „verantwortlichen” und „wachsamen” Intellektuellen geboren, der die Stunden angeeigneter Lektüre durch eine äquivalente Zahl an Stunden legitimiert, die er auf der Straße, an Seiten des Volkes verbringt... In jenen Zeiten, als wir darunter litten, Platon nicht lesen und kommentieren zu können, genossen unsere westlichen Kollegen Marcuse und Garaudy. Nun sind wir an der Reihe, von Platon verwirrt und leicht gelangweilt zu sein. Diese fehlende Synchronität, der nicht vorhandene Gleichlauf zwischen östlichen und westlichen Intellektuellen ist ein Charakteristikum, eine bezeichnende Realität unseres Jahrhunderts, die noch nicht ausreichend analysiert worden ist.
Das Diagramm der intellektuellen „Schuld” verlief im Ablauf der Zeit zwischen diametral entgegengesetzen Grenzen: Vom Augenblick Benda, als der „Abstieg” in die Agora als Verrat eingestuft wurde, bis heute, da die Nicht-Teilnahme als unwürdiger Abschied gilt. Die „Wahrheit” in einem Mittelweg zu suchen, ist zwecklos. Ungeachtet aber dessen, wohin uns die eine oder andere Konjunktur drängt, müssen wir einsehen, dass wir nicht über die Intellektuellen sprechen können, ohne ihnen einen „spezifischen Unterschied” zuzugestehen. Und dieser spezifische Unterschied des Intellektuellen, dieser Bereich, den sich niemand an seiner Stelle anmaßen kann, hat nicht allzu viele Schnittpunkte mit dem Bereich der Politik. Der Politiker verfügt über die Kompetenz der für die Gemeinschaft nützlichen Werte, der Intellektuelle über die Kompetenz der Einsamkeiten. Der Politiker kann nur offensiv, dynamisch, handwerklich handeln, der Intellektuelle handelt eher durch das Ansehen seiner Präsenz, durch statische Ausstrahlung, durch Haltung. Der Intellektuelle kann – und muss manchmal – die politische Bühne betreten. Doch er tut es immer mit dem Gefühl, dass sein „Engagement” ein Exil ist und dass er früher oder später „nach Hause” zurückkehren muss. Ohne diese ständige Nostalgie dessen, was ihm ureigen ist, fällt der politisch aktive Intellektuelle unter seinen Status als Intellektueller, genauso wie Ulysses ohne die Besessenheit auf Ithaka nur ein gewöhnlicher, zu jedem nur vorstellbaren Schiffbruch und Scheitern bestimmter Abenteurer wäre.
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:9–15.
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Ungarn und Europa
Ansprache anlässlich der Inauguration als Staatspräsident am 4. August 2000
Geehrter Herr Präsident Göncz!
Geehrter Herr Ministerpräsident!
Geehrter Herr Parlamentspräsident!
Meine Damen und Herren!
Mit Hochachtung und herzlich begrüße ich alle jene, die sich hier auf diesem Platz oder mittels Rundfunk- oder Fernsehübertragung dies- und jenseits der Grenzen an unserer Feier beteiligen.
Auch in Anbetracht der gehaltenen Ansprachen ist es mir ein Bedürfnis, mich bei der Unabhängigen Partei der Kleinlandwirte, der Ungarischen Bürgerlichen Partei FIDESZ und dem Ungarischen Demokratischen Forum dafür zu bedanken, dass sie mich als Kandidat für den Posten des Staatspräsidenten als würdig erachtet haben.
Der Sozialistischen Partei und dem Bund Freier Demokraten danke ich für ihre Unterstützung und dem Parlament sowie den Abgeordneten dafür, dass sie mich unserer Verfassung gemäß mit einer Mehrheit von nahezu zwei Dritteln zum Staatspräsidenten wählten.
Ich danke dem Parlamentspräsidenten für seine verantwortungsvollen und mit ehrenvollem humanem Einfühlungsvermögen gesprochenen Worte.
Schließlich möchte ich mich noch an dieser Stelle bei unserem abdankenden Präsidenten Árpád Göncz – wie ich in meiner Parlamentsansprache bereits gesondert hervorhob – für all das bedanken, was er für unser Land getan hat. Ich bedanke mich für seine anerkennenden und anregenden Worte. Ich wünsche Frau Zsuzsa und dem Herrn Präsidenten für ihren weiteren Lebensweg noch viele Jahre Schaffenskraft sowie Gottes Segen.
Meine Damen und Herren!
András Sütő, einer der Großen der Literatur Siebenbürgens und Ungarns vermag neben individuellem und nationalem Schicksal, dem Unheil und den Sorgen ebenso die durch Leiden erfahrenen Freuden zu schildern. In seinem wunderbaren Werk „Meine Mutter verheißt leichten Schlaf“ bittet ihn seine Mutter: Du könntest über uns ebenfalls irgendein Buch schreiben – wenn auch nicht als Trost; es soll von diesem und jenem handeln, von dem, was mit uns geschehen ist, nur „wahr muss es sein“; achte auf dieses Problem und „Dein Schlaf wird ein leichterer sein“. Auf der Suche nach der Wahrheit ist es gut, „wenn wir dabei still lächeln“ schreibt dazu Sándor Márai (Füves-Buch, Budapest 1991, S. 134)
Während des mit der Wahrheit gemeinsam erlebbaren Lächelns des leichteren Schlafes denken wir für einen Augenblick an jenen Spruch, wonach der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen oftmals ein Lächeln sei.
Zuerst empfängt uns das Lächeln unserer Mutter, wenn wir auf diese Welt kommen.
Wir lächeln, wenn wir einander grüßen, wenn wir glücklich sind und wenn uns Freude widerfährt.
Wir lächeln, wenn wir Schwierigkeiten überwunden haben und nach Leiden über die Wahrheit zur Ruhe kommen.
In erhebenden Momenten unseres Lebens gibt es Augenblicke, da wir uns nur mit Tränen in den Augen zulächeln können.
Lächeln – das ist Geduld und innere Harmonie,
Ausgeglichenheit und Frieden,
das Zeichen innerer Kraft und der Hoffnung.
Wenn wir uns einander mit gesundem Frohsinn und verständnisvollem Vertrauen zuwenden, werden wir einander besser verstehen, unser Leben, das unserer Familie, das Leben aller wird dann leichter.
Ja, aber viele denken mit bitterer Ironie daran, dass wir Ungarn im Verlaufe unserer bisherigen Geschichte nicht viel Grund zum Optimismus hatten. Selbst heute noch belasten uns ernsthafte Sorgen.
Unser individuelles und nationales Selbstbewusstsein also ist hier das Problem. Ich persönlich bin einer Meinung mit jenen, die da mit guter Gesinnung sagen, dass die wichtigste Botschaft der vergangenen 1000 Jahre jene sei, dass wir unseren Platz in der Welt behauptet haben. Hier sind wir!
Wir als Ungarn können zu Recht stolz auf unsere bedeutenden historischen Persönlichkeiten, unsere wissenschaftlichen und künstlerischen Werte, unsere Nobel-Preisträger, die legendären Sportler und Erfinder sein, ebenso wie noch auf vieles andere.
Im Angesicht unserer Geschichte können wir stolz sein auf unseren von Opfern gezeichneten Freiheitswillen. Oftmals haben wir Europa und der Welt diesbezüglich ein Beispiel und auch Kraft gegeben.
Wir waren fähig, unsere Muttersprache beizubehalten, unsere mannigfaltige Nationalliteratur sowie die uns mit Europa verknüpfenden Glaubensideale sowie kulturellen Traditionen.
Wir können weiterhin stolz sein auf unsere mittels der Mahnungen des Heiligen Stephan weitervererbte Offenheit anderen gegenüber. Im Laufe der Jahrhunderte konnte sich Ungarn auf diese Weise zu einem multikulturellen Aufnahmeland entwickeln, in welchem alle sich verantwortlich fühlen für eine bessere Zukunft des Ungartums außerhalb der Landesgrenzen bzw. für unsere heimischen Nationalitäten, wo wir die Kämpfe unserer Vorfahren friedlich beilegen sowie unsere Probleme gemeinsam lösen.
In Vergessenheit geraten darf nicht unser historisches Erinnerungsvermögen, das nüchterne Urteilsvermögen. Wir haben Schuld auf uns geladen. Schwere Jahrzehnte und Jahrhunderte haben in unserer Sprache jene historische Erfahrung zum Spruch reifen lassen, wonach alte Sünden lange Schatten werfen. Diese bestmöglichst wieder gutzumachen ist unsere humane Aufgabe.
Um es mit Radnóti auszudrücken: wir müssen wissen, was „der in der sommerlichen Abenddämmerung von den Häuserwänden rinnende, glühende Schmerz“ bedeutet.
Selbst wenn jene Recht haben, die sich nun mit Zweifeln oder bitterer Ironie den Geschehnissen von Vergangenheit und Gegenwart stellen oder der Zukunft zuwenden – ich möchte am heutigen Tage doch auch sie an die Perspektiven der Zukunft und all die heranführen,
– die an Standhaftigkeit und Erneuerung des Menschen glauben;
– die daran glauben, dass sie die Gestaltung ihres Schicksals in die eigenen Hände nehmen können;
– die ein Wunder nicht nur erklären, sondern es selbst vollbringen: kein gewaltiges – nur das kleine unmittelbare, weil ja das Leben durch die kleinen Freuden schön wird.
Geehrte Damen und Herren!
Wir alle wissen sehr wohl, dass dieses Jahr für uns Ungarn in vieler Hinsicht ein feierliches darstellt. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend angelangt begehen wir gleichzeitig das Jubiläum des zweitausendjährigen Christentums, der tausendjährigen Staatsgründung durch den Heiligen Stephan sowie jenes unserer zehnjährigen bürgerlichen Demokratie.
Vor eintausend Jahren hat unser erster König dem Ungartum einen neuen Glauben und ein neues Gesetz gegeben, womit er sein Volk unter die staatsgründenden Nationen Europas erhob. Ein wenig auf das bisher Gesagte zurückverweisend möchte ich an dieser Stelle folgende Worte von Gyula Szekfű aus seinem Werk „Der Lebenslauf des ungarischen Staates“ zitieren: „Stephan der Heilige konnte am Ende seines Lebens vertrauensvoll in die Zukunft schauen und mit Stolz in die Vergangenheit zurückblicken ... Er ist tatsächlich eine der besten und politisch reifsten Gestalten der ungarischen Geschichte. Die Staatlichkeit Ungarns hat wahrlich keinen erfolgreicheren und gewissenhafteren unter seinen Werktätigen aufzuweisen. Dies sind die ehrenden Worte eines bedeutenden Gelehrten über den großen Staatsgründer.”
Damit bin ich bei einem der schönsten Abschnitte meiner Ansprache angelangt, denn ich habe eine wichtige Nachricht. Stephan, den die römisch-katholische Kirche im Jahre 1083 in die Reihe ihrer Heiligen aufnahm, ist im Jahre 2000 mittels Beschluss der Patriarchen und der Synode unter die Heiligen der orthodoxen Kirche des Ostens aufgenommen worden.
Davon haben uns der ökumenische Patriarch von Konstantinopel und sein Wiener Metropolit in Kenntnis gesetzt, die zur Feier am Tage des Heiligen Stephan unsere Gäste sein werden.
Diese Anerkennung bedeutet, dass das Land Ungarn und seine Einwohner sich nicht umsonst über 1000 Jahre hinweg bemühten, die Tugenden des Westens und Ostens zu nutzen, den zwiefachen Ursprung Europas zu überbrücken. Das mehr als tausendjährige Traditionen wahrende Byzanz bzw. Rom erkannten und erkennen gleichermaßen unsere Werte, unseren staatsgründenden König an.
Eine solche Anerkennung sowie ein solcher kirchenrechtlicher Akt stehen in der Geschichte der Kirche des Westens und Ostens ohne Beispiel da. Unser Dank gilt hiermit der orthodoxen Kirche des Ostens.
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Verlaufe der zurückliegenden 10 Jahrhunderte waren auf dem Fundament des Heiligen Stephans mehrmals neue Aufbauten zu errichten. Das war auch vor 10 Jahren der Fall, als wir nach gemeinsamem Beschluss den Weg des umfassenden Wandels einschlugen.
Wir träumten von einem Ungarn, wir kämpfen für ein Ungarn, in dem die Möglichkeit zu Freiheit und Wohlstand, zu einem würdigen bürgerlichen Leben für alle gegeben ist.
Erfolgreich haben wir für unsere Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft, mit Erfolg haben wir unser demokratisches Institutionssystem ausgebaut. Unsere Wirtschaft haben wir erfolgreich wettbewerbsfähig gestaltet und zu einem imponierenden Wachstum anregen können. Und im Rahmen des NATO-Verbundsystems können wir unser Land und unsere Nation in größerer Sicherheit als je zuvor wissen.
Viele Aufgaben aber liegen noch vor uns. Wir alle sind dafür verantwortlich, dass es
– mehr und besseres Brot für jede wertproduktivere Arbeit und einen noch verheißenderen Wirtschaftsaufschwung
– Solidarität den Bedürftigen gegenüber, ebenso wie
– bessere und gleiche Chancen auf den Gebieten von Bildung, Wissenschaft und Kultur gibt
– Überlebenschancen und Gesundheit sollen verbessert werden
– Lebensbedingungen der jungen und älteren Generationen, der natürlichen Umwelt des Planeten ebenso
– damit wir unsere Unabhängigkeit und unseren Frieden erhalten können.
Schön ist, dass wir frei für diese Ziele kämpfen können.
An der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend und vor dem Tor zur Europäischen Union ist Ungarn an der Grenze einer neuen Epoche angelangt. Davon wird viel gesprochen. Ich möchte an dieser Stelle nur so viel betonen, dass allein von uns abhängt, ob wir mittels verstärkten nationalen Zusammenhaltes, besser zusammenarbeitend, indem jeder persönliche Aufgaben übernimmt und dann mit gemeinsamer Kraft all das verwirklichen, wovon zuvor bereits die Rede war und was wir den Träumen vom Wandel noch schuldig sind;
– würdig und würdevoll in die Europäische Union gelangen;
– in Ungarn eine solche Werteordnung geltend machen, in deren Mittelpunkt die Achtung der Arbeit, Ehre und Liebe des Individuums, der Familien sowie Gemeinschaften stehen und mit denen die Hoffnung auf unseren moralisch-kulturellen Aufschwung eine verheißende Kraft darstellt;
– die Ergebnisse des wirtschaftlichen Wachstums weiter für Ziele eines umfassenden Aufschwunges nutzen können. In diesem Sinne muss das Gemeinschaftsdenken erstarken, denn wenn zwei Menschen je 100 Forint haben und diese austauschen, dann bleiben ihnen je 100 Forint. Wenn aber diese beiden Menschen je eine ihrer Ideen austauschen, so sind zwei Menschen im Besitz zweier Ideen und beide können auch finanziell weiter vorankommen als zuvor.
Wenn wir uns jetzt neue Ziele setzen, so wünsche ich mit den Worten Széchenyis, dass bei keinem in unserer Heimat Magen, Kopf oder Geldbörse leer seien, niemand solle hungern oder frieren, damit ein jeder – auf seinen ehrlich erworbenen Gütern basierend – selbstbewusst den Blick nach oben richten und seinem Schöpfer zuflüstern kann – Gott sei Dank, ich habe eine Heimat. (Politische Programmsplitter 141–142).
Nationale Selbsteinschätzung und der Zusammenhalt verlangen zwecks Verwirklichung zuvor erwähnter Zielsetzungen nach einer von vielen Gesichtspunkten her neuen politischen Haltung und Kultur.
Dabei denke ich nicht an die Kultur allgemein, sondern ebenso an die Kultur des Alltagslebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Es ist nicht einerlei, wie wir einander im alltäglichen Leben anreden, wie Mann und Frau miteinander sprechen, Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler, Chef und Angestellte – d.h. wie sich ein Mensch dem anderen zuwendet.
Hinsichtlich unserer gemeinsamen Angelegenheiten ist noch weniger gleichgültig, ob wir im Parlament oder auf anderen Schauplätzen des öffentlichen Lebens die Chancen der Zusammenarbeit durch Behauptung von Unwahrheiten und mit hasserfüllten Worten schmälern oder durch gute Worte steigern, ob wir unsere human-kulturellen Werte ausmerzen oder sie häufen. Plutarch, eine der bedeutendsten Gestalten der griechischen Antike und europäischer Denker, schreibt in seiner tiefsinnigen Parabel: Kinder bewerfen Frösche spielend mit Steinen, die Frösche aber sterben tatsächlich.
Spielen wir doch in Frieden unser Leben, damit wir mehr Grund zum Lächeln haben, damit unser Schlaf ein leichter sei.
Geehrte Damen und Herren!
Der heutige Tag stellt auch in meinem persönlichen Leben ein bedeutendes Ereignis dar.
Als Staatspräsident wünsche ich – neben den sich streng aus der Verfassung ergebenden Aufgaben – wo es nur geht besser zu helfen, als es mir bisher möglich war:
Die Presse und die freien Institutionen der Öffentlichkeit dabei zu unterstützen, dass sie ein wahres Bild von der Realität zeigen;
Die Parteien der Opposition dahingehend, dass sie ihre demokratische Funktion immer besser erkennen und versehen;
Die Beteiligten der Welt von Wirtschaft und Arbeit dabei, dass Zweck und Ergebnis ihres Schaffens tatsächlich eine bessere Qualität des menschlichen Lebens sei;
Ich möchte die Zusammenarbeit von Kirche und Staat unterstützen, damit sie wirksam dem moralischen und kulturellen Aufschwung von Bürgern, Familien und Gemeinschaften dienen;
Das Ungartum außerhalb der Landesgrenzen bei der Wahrung seiner Identität, bei seinem Wohlergehen im Geburtsland und jedermann bei der Stärkung des nationalen Zusammenhaltes;
Die heimischen nationalen Minderheiten dabei, ihre Kultur zu wahren und zu bereichern;
Im Geiste möchte ich all jene ethisch-humanen sowie gemeinschaftlichen Bestrebungen und Anregungen unterstützen, die unserer gemeinsamen Zukunft bzw. der Vertiefung der Solidarität dienen;
Und schließlich möchte ich das Parlament und die Regierung dabei unterstützen, mittels der Beihilfe der für das persönliche und gemeinschaftliche Fortkommen etwas tun zu könnender und wollender Bürger, die der Verbürgerlichung unseres Landes dienenden Aufgaben zu versehen.
Geehrte Damen und Herren!
Zum Schluss meiner Ansprache kommend habe ich noch eine erhebende Angelegenheit zu erwähnen, die Tatsache nämlich, dass wir – mit Hilfe der Medien viele Millionen – am heutigen Tage hier sein können, an diesem wunderschönen von Natur und Menschen geschaffenen Schauplatz, nahe der Donau, auf dem blutgetränkten, durch die Kraft des ungarischen Nationalgeistes geschaffenen Platz vor dem Parlament. Unsere Ahnen haben auch dieses Stück Land zur Heimat erklärt, so dass heute für jeden Ungarn, Abgeordneten und Bürgermeister, Regierung und Staatspräsidenten, parlamentarische Institutionen, die Ungarn außerhalb der Landesgrenzen und für die heimischen Nationalitäten, Kirchen und Konfessionen, die Akteure von Kultur und Wirtschaft sowie Zivilorgane, für so viele von überall her dieser Ort einer der Landesversammlung werden konnte. Dies ist das Ehrfurcht abverlangende Wunder der Natur, menschlicher Kultur und nationalen Lebenswillens.
Uns alle durchströmt sicherlich das Gefühl von Freude, Dankbarkeit und Tatendrang, weil dieser Ort, dieses Land, dieses Erlebnis unser ist. Albert Szent-Györgyi fühlte das, als er im 5. Psalm seines wunderbaren dichterischen Bekenntnisses „Die Erde“ schrieb:
Herr! Du hast uns diesen teuren Planeten /es sei hinzugefügt:
diese Heimat gegeben,
damit dies unser Wohnsitz sei.
Herr! Seien wir doch Schöpfungspartner.
Arbeiten wir doch weiter an Deinem großen Werk,
damit unser Planet /es sei hinzugefügt: unsere Heimat/
verlässlicher Sitz des Überflusses und der Harmonie sei.
Ich danke Ihnen allen für die ehrende Aufmerksamkeit!
Universitätsprofessor Ferenc Mádl, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ist seit der Gründung des Europa Institutes im Jahre 1990 Mitglied seines Wissenschaftliches Beirates. Von 1993 bis 1994 ist er Kultusminister, später Vorsitzender der Bewegung “Für ein bürgerliches Ungarn”. Dieser Bewegung bekam große Bedeutung zu, als sich der 1998 die Regierung übernehmenden konservativen Parteikoalition die Gesellschaftsbewegung der Intelligenz anschloss. Es folgt der Wortlaut der anlässlich der Inauguration als Staatspräsident gehaltenen Rede.