Begegnungen25_Andrasfalvy
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 25:194–203.
BERTALAN ANDRÁSFALVY
Bildungs- und Kultusminister (1990-92)
In wie weit betrachteten, bzw. betrachten Sie die Bewahrung der Minderheiten als Aufgabe der staatlichen Kulturpolitik, und welche Mittel standen, bzw. stehen Ihnen zu diesem Zweck zur Verfügung?
Die Bewahrung der nationalen Kultur ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Entfaltung und Perfektion des Individuums. Die Aufgabe des Staates ist, allen zu ermöglichen, den Weg zur Selbstentfaltung und Perfektion zu finden, und dadurch ein volles, reiches Leben zu führen. Um ein volles Leben führen zu können, braucht man auch zu wissen und zu erleben, dass man zu einer Nation gehört.
Alle Menschen sind großartig. Wie Endre Ady an einer Stelle formulierte, ist der Mensch „ein individuelles, unersetzliches und einmaliges Wunder”. Es genügt aber nicht, das von sich selbst zu wissen, man muss es auch zeigen können, damit es den Anderen klar wird, wer man ist, welche Werte, eigenartige Eigenschaften und Gedanken man in sich trägt. Das ist der einzige Weg, sich in der Gesellschaft allgemeine Achtung zu erwerben, und sich von Anderen geliebt zu machen. Dadurch gehört man zu Personen, die einen lieben: zu einem gewählten Partner oder zu den Eltern, die einem die Sprache beibrachten, mit deren Hilfe man seine Menschlichkeit, Persönlichkeit und Großartigkeit ausdrücken kann. Es gibt ja nicht nur die gesprochene Sprache und das verbale Zeichensystem. Die Melodie, die Musik, die Bewegungen und Verhaltensweisen haben auch eine Sprache, die sich in Jahrhunderten ausbildete, und die wir noch in unserer Kindheit zum Ausdruck und Erleben unserer Gedanken und Gefühlen lernten. Die Liebe hat bestimmte „Kreise”. Die gegenseitige Liebe der Eltern und Kinder ist auch in der Tierwelt zu beobachten. Später erwächst eine noch größere Liebe, man wählt jemanden, für den man seine Eltern verlässt, und so werden sie „ein Körper und eine Seele”. Man sucht immer seine andere Hälfte, jemand, der sein Leben vollständig machen kann. Meine Gattin ist eine dieser vollständig machenden Hälften, aber es gibt noch zahlreiche Andere, von denen ich meine Sprache, die Lieder und Tänze, die Verhaltensweisen und Wertordnungen, bzw. die Benutzung von Formen und Farben, d.h. die Kultur lernte. Für diese würde ich sogar meine Frau und Kinder verlassen. (Viele historische Persönlichkeiten hatten das für die Freiheit ihrer Nation getan).
Der Staat und die Bildungspolitik soll die Übergabe dieses Kulturerbes an späteren Generationen versichern und unterstützen, um dadurch das Identitätsbewusstsein zu verstärken, und das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit zu steigern. Darüber hinaus soll er dafür sorgen, dass alle die Möglichkeit zum Erwerb des nötigen Wissens, und die Mitteln zum Erlernen des geistlichen Erbes der Menschheit haben. Es ist auch die Aufgabe des Staates, die ungestörte Übergabe der moralischen Werte, und die Integrität und Ganzheit der Nation zu versichern. Der Freiheits- und Nationsschutz, das Militär-, und Gesundheitswesen und die Bildung sind also Aufgaben des Staates, die nicht an Unternehmern, Söldnern, nicht einmal an lokalen Selbstverwaltungen übergeben werden können. Die Bildung darf nicht von den unterschiedlichen finanziellen Umständen der Selbstverwaltungen, bzw. der Laune der politischen Elite und verschiedenen Parteiinteressen abhängen. Die Bildung ist eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, und soll genauso unabhängig sein, wie das Rechtswesen, die Judikatur, das Gesundheitswesen und das Militärwesen.
Das öffentliche Ausbildungswesen hat mehrfache Aufgaben. Es soll nicht bloß das Wissen vermitteln, das zum materiellen Wohlsein, zur wirtschaftlichen und technischen Effektivität erforderlich ist, es soll auch zum Glück der einzelnen Menschen, und ihrer geistigen und seelischen Bildung beitragen. Daneben soll es auch das die grundlegende Prinzip der Solidarität und Liebe verkünden, und der Idee des Guten und Wahren dienen. Die Frage ist nun, wie soll das erreicht werden?
Im Kindergarten soll die schöne, gewählte, dichterische Sprache beliebt gemacht werden, womit alle Gedanken und Gefühle ausgedrückt werden können. Das soll vor allem durch Singen, Tanzen und Rollenspielen erreicht werden. Wie Zoltán Kodály schrieb: „Das Aufrechterhalten von alten Spielen ist ein primäres kulturelles und nationales Interesse. Sie sind einerseits echte Fundgruben des unbewussten Ungarnseins. Diese unbewussten Elemente haben eine bisher kaum erkannte Rolle in der Herausbildung des nationalen Charakters. Wer diese Spiele als Kind nicht gespielt hatte, ist weniger ungarisch. Das komplexe Gefühl des Gehörens zu einer Nation ist geringer und mangelhafter bei einer solchen Person. Eine Reihe von typisch ungarischen Formen, Melodien, Sprüchen und Bewegungen fehlen aus ihrem seelischen Leben. Die Erziehung soll dafür sorgen, dass der Ausdruck „ich bin ungarisch” für jeder eine möglichst reiche und bunte Bedeutung hat, sonst wird es zu einer leeren Phrase. Andererseits ist das menschliche Wert dieser Spiele auch groß: sie steigern das Sozialgefühl und die Lebensfreude. Es gibt kein besseres Medikament gegen die Altklugheit der heutigen Kinder. Jedes Volk, jede Nation kann dasselbe von ihren traditionellen Kinderspielen sagen: sie vermitteln Patriotismus, ohne dass sie zum Hass, der Verachtung oder Besiegung von Anderen erziehen würden. Warum ist es so?
Es ist so, weil es in den traditionellen Volksspielen keinen Sieger oder Besiegter gibt, keinen erster, zweiter oder letzter Platz. Die Freude des Spieles ist nicht daran, einen Anderen zu besiegen – wie es heute in fast allen Spielen der Fall ist: in olympischen Spielen, Wettkämpfen, Quiz-Spielen, Sing-, Tanz-, Studienwettbewerben, und Schönheitskonkurrenzen, auch in Gesellschafts- und Kartenspielen. Die traditionellen Volksspielen vermitteln das Gefühl und die Freude der Zusammengehörigkeit, die Ringeltänze z.B. geben das Erlebnis des gemeinsamen Singens und der harmonischen Bewegung. Die Kinder haben sehr viel Spaß an solchen Aktivitäten, sie bekommen eine Rolle, können sich als Mitglieder einer Gemeinde wichtig fühlen, und freuen sich über die Liebe und „Solidarität” der Anderen. Zur gleichen Zeit werden die Kinder ganz entmutigt und verbittert, wenn sie in einem wettbewerbartigen Spiel nicht gewinnen – das sehe ich an meinen eigenen Enkelkindern. Man sagt, dass die Kinder auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet werden sollen, und auch Niederlagen erleiden sollen. Aber wann? Erst danach, dass sie das Gefühl der Solidarität und Gemeinde kennen gelernt haben. Fünf- oder zehn-jährige Kinder sollen auch nicht über die Sexualität aufgeklärt werden!
Die Freude an Schöpfung soll auch schon im Kindergarten beigebracht werden. Dies kann aufgrund der Volkstraditionen mit einfachen, billigen Grundmaterialen (Kolben, Liesch, Stroh oder Ton) verwirklicht werden. Laut Adler, dem österreichischen Psychologe, werden die Leute, die im Kinderalter die Schönheit der Schöpfung nicht erlebten, gewalttätige, machtsuchende Erwachsenen. Sehr einfache Sachen können als Schöpfung betrachtet werden, z.B. eine Zeichnung, eine Stoffpuppe, ein schönes Lied, Gedicht, Tanz oder Spiel. Wenn man die Freude an Bauen und Schöpfung nicht erlebt, sucht man seinen Spaß in sinnloser Zerstörung. Denken wir nur an zerkritzelte Mauern, zerschlagene Bushaltestellen oder den weggeworfenen Müll. Diese Leute zerstören nicht, weil sie keine andere Wahl zum Überleben haben. Für so ein Benehmen ist die Armut keine Entschuldigung, diese Frechheit kann nur mit Adlers These erklärt werden. Leider kann man sich dagegen nicht einmal mit drastischen Strafen währen. In den meisten Fallen sind es nicht ungebildete, ungeschulte Jugendliche, die diese Weise der Zerstörung wählen, was zeigt, dass die technische Bildung und die Vermittlung von praktischen Informationen nicht genügt. Etwas sehr Wichtiges fehlt aus dem heutigen Schulsystem – die Erziehung auf Schönheit, Gemeinde und Schöpfung. Neulich wurde aber die Stundenzahl gerade bei den Fächern niedriger, die für diese Erziehung die Möglichkeit gegeben hatten (Musik, Sport etc.) Das Mathe-, Physik-, Chemie-, Fremdsprachen- und Computerunterricht ist wichtiger heute als die Literatur, Geschichte, Kunstgeschichte und Religion. Die Förderung der Kunst- und Musikschulen nahm zurück, es gibt immer weniger Schulen, die in Musik spezialisiert sind (ihre Zahl sank in ein paar Jahren von 240 auf 100), es gibt immer weniger Chor-Proben, literarische Selbstbildungsvereine und Theatervereine in den Schulen. Demzufolge steigert sich das Interesse an Kunststunden, die außerhalb des Unterrichts zur Verfügung stehen. Zwischen 1990 und 2002 nahm die Zahl solcher Schulen stark zu (von 175 auf 648), und die Zahl der Lernenden steigerte sich von 71725 auf 230667. In Sportstunden werden die Kinder eher auf die Wettbewerbsmentalität vorbereitet, die Schule muss ja in möglichst vielen Bereichen Erfolge erreichen, sowohl in Fußball, Basketball und Schwimmen, als auch in Mathe- und Physikwettbewerben, sogar in Musik. Demzufolge widmen die Lehrer den talentierten Kindern mehr Zeit und Energie, und die weniger talentierten oder sportlichen Kinder bekommen oft wenige Aufmerksamkeit.
Es sind aber gerade diese weniger sportliche, ungeschicktere Kinder, die die Sport-Stunden bräuchten. Die Schüler, die in naturwissenschaftlichen und praktischen Fächern besser sind, bräuchten bestimmte Übungen, mit deren Hilfe sie ihre Emotionen, Leidenschaften, Einsamkeit und menschliche Beziehungen behandeln und verbessern könnten. Neulich wurden die Kinder, die in einer spezifizierten Schule an Musikunterricht teilnahmen, mit Kindern verglichen, die keinen solchen Unterricht hatten, und das Ergebnis wurde an einem Symposium dargestellt. Hier erfuhr ich, dass die Kinder die an Musik-Unterricht teilnehmen können, wesentlich kreativer und ausgeglichener sind, als die, die so etwas nicht mitmachten. Die Kreativität von Kindern, die Musik spielen und singen können war auch in den Fällen größer, wenn der IQ des jeweiligen Kindes niedriger war. Der Psychologe, der die Studie ausführte, wies darauf hin, dass es gefährlich werden kann, wenn jemand klug, intelligent und talentiert, aber nicht kreativ genug ist, weil man sein Talent und Intelligenz nicht ausnützen kann. An diesem Symposium wurde es auch erörtert, dass die Kinder mit musikalischer Ausbildung die Welt als ein zusammengehörendes Ganzes sehen, und weniger von der zu Hause spürbaren, oft negativen Stimmung abhängen, als die Kinder, die keine „Sprache” zum Ausdruck und Behandlung ihrer Emotionen und Erregungen haben.
Die Voraussetzung für die Bewahrung der kleinen Nationen und das Aufrechterhalten der nationalen Minderheiten ist, dass ihre Mitglieder glückliche, ausgeglichene Menschen seien. Dazu sollen die Erscheinungsformen der nationalen Kultur und Bildung, die leicht verfügbaren künstlerischen Übungen und die Freude an Schöpfung unterrichtet werden. All das kann mit Hilfe der traditionellen Volkskunstarten, Volksdichtung, Volksmusik und Volkstanz beigebracht werden, die zum Ausdruck der Emotionen und zur Kontrolle der Erregungen dienen können. Leute, die ausgeglichen sind und Freude an Schöpfung und Schönheit haben, suchen nicht die Wege der Zerstörung, und wollen keine Feinde haben. Sie wissen auch die Identität und Nationalität des Anderen zu schätzen. Nur eine Mutter versteht die Sorgen und Freuden einer anderen Mutter, nur ein Wissenschaftler versteht die Ergebnisse eines anderen Wissenschaftlers, und nur ein Sportler weiß einen Sieger richtig zu schätzen. Nur diejenigen Leute schätzen die Werte einer anderen Kultur und Sprache, die ihre eigene Nationalität schätzen und erleben können. Die Globalisierung behindert das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den kleinen Nationen dieser Region, und das beeinflusst auch die Durchsetzung der Minderheitenrechte negativ. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass die amerikanischen Immigranten, die auf ihrer nationalen Minderheitskultur beharren, viel ausgeglichener und glücklicher sind, als die, die ihre Traditionen ablehnen, und der Mehrheit ähnlich werden wollen.
Welche Verfügungen haben Sie während Ihrer kulturpolitischen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung der nationalen Minderheiten gefördert? Welche kulturpolitischen Aktionen wurden während Ihrer Amtszeit durchgeführt mit dem Ziel die Kultur der kleinen Nationen oder das Identitätsbewusstsein der nationalen Minderheiten innerhalb der Staatsgrenzen zu stärken?
Es folgt aus meiner Antwort auf die erste Frage, dass ich auch in meiner Amtszeit für die Durchsetzung der nationalen Werte in dem Unterricht war. Als Ethnograph untersuchte ich verschiedene Bereiche der Volkskunst. Ich veröffentlichte meine Ergebnisse in Fachartikeln, beschäftigte mich mit der Bedeutung und Rolle der Volkskunst in unserer jetzigen und zukünftigen Bildung. Daneben hielt ich Vorlesungen und schrieb Lehrbücher. Ich unterstützte das Zustandebringen und die Arbeit der Kunstschulen, und die Ergänzung des Unterrichts in Musikschulen mit Volkstanz und Volksspiele. Die Fachschule für Volkskunst in Fót wurde, zum Beispiel, auch so gegründet.
Es folgt aus den oben geschilderten Prinzipien, dass in meiner Amtszeit die Unterstützung der Minderheitskulturen und die Entwicklung ihrer muttersprachlichen Bildung wichtige Prioritäten waren. Die Zahl der Minderheitsschüler, die an muttersprachlichem Sprachunterricht teilnehmen konnten nahm zwischen 1989 und 1995 zu. In Kindergärten steigerte sich ihre Zahl von 1197 auf 20551, in Grundschulen von 39225 auf 51034, in Gymnasien von 882 auf 1409.
Was die Lage der ungarischen Minderheiten jenseits der Grenze betrifft, verhandelte ich mit rumänischen, slowakischen, ukrainischen, kroatischen und österreichischen Ministern. Meines Erachtens waren die Verhandlungen mit den Rumänen die Bedeutendsten. In 1991 konnten wir erreichen, dass die Studenten, die aus Rumänien nach Ungarn kamen, um ihre Studien an ungarischen Universitäten und Hochschulen zu führen, nicht als Militärflüchtlinge betrachtet wurden. Um diese Studenten unterstützen zu können, wurde das Márton Áron Kollegium zustande gebracht. Die Verhandlungen über den gegenseitigen Austausch von Studenten und Professoren waren vielversprechend, ähnlich zu den Plänen über die Abstimmung von Lehrbüchern, die gegenseitige Akzeptanz von Diplomen und Zeugnissen, die Neueröffnung von ungarischen Bildungsinstitutionen, die Ausgabe von zweisprachigen Büchern und der Gastauftritt von Theatergruppen usw. Es war nicht unsere Schuld, dass in den kommenden Jahren diese Verhandlungen erfolglos abgebrochen wurden und unsere Zielsetzungen nur teilweise verwirklicht wurden. Die Verhandlungen mit der ukrainischen Ministerin über das ungarische Gymnasium in Beregszász (Berehovo), die Zusammenarbeit der Universität in Ungvár (Uzhhorod) und die Hochschule in Nyíregyháza, bzw. das Ungarische Theater in Subkarpatien (Karpato-Ukraine), dessen Schauspieler in Budapest ausgebildet wurden, halte ich auch für erfolgreich. Wir verhandelten über ähnliche Themen mit der kroatischen Bildungsministerin.
Zur Zeit meines Ministeramtes wurde auch mit den Russen eine gute Zusammenarbeit herausgebildet. Es wurde einer ungarischen Ethnologe, Éva Schmidt ermöglicht, unsere kleinsten Sprachverwandten, die Obi-Ugrier, Mansen und Chanten zu besuchen, und ihre Sprache und Kultur zu untersuchen. Es ist ihr gelungen, die Sammlung und Einordnung ihrer Traditionen zu organisieren, und dadurch kam eine moderne volksdichterische Sammlung zustande. Ihre Arbeit ist nicht nur für unsere Sprachverwandten von besonderer Bedeutung, sondern auch für die menschliche Kultur. Ich stellte die nötigen finanziellen Mittel zu dieser neuen, eigenartigen Aufgabe aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen bereit. Eine Konferenz wurde in Moskau über die Revolution in 1956 veranstaltet, wo auch die Kommandanten der damals in Budapest kämpfenden russischen Truppen auch zum Wort kamen.
Mit meinem österreichischen Kollegen konnten wir eine besonders gute Beziehung ausbauen, die sowohl in offiziellen Angelegenheiten, als auch in grundlegenden, prinzipiellen Fragen aussichtsvoll war. Der österreichische Minister veranstaltete auch eine Konferenz über die kulturelle Zusammenarbeit und den Schutz der Minderheitskulturen.
Gibt es Ihrer Meinung nach einen bedeutenden Unterschied zwischen der Anwendung von kulturpolitischen Strategien bei großen, bzw. kleinen Nationen?
Ich sehe keinen bedeutenden Unterschied zwischen den kulturpolitischen Strategien der großen und kleinen Nationen. Wenn eine Nation die Pflege der nationalen Kultur als Priorität behandelt, kann das auch die Anerkennung der Kulturen der kleineren Nationen und Minderheiten positiv beeinflussen.
Hat die politische Wende aus strategischer Sicht positiv auf die Aufrechterhaltung der kleinen Nationen eingewirkt?
Der wichtigste Ertrag des Systemwechsels war die Betonung der Gewissensfreiheit, und der politische Wille, diese Freiheit zu versichern.
Die Auffassung, nach der es eine private Angelegenheit des Individuums ist, zu welcher Nation, Religion, politische Überzeugung und Ursprung man sich bekennt, steht im Gegensatz zu der geschilderten Absicht. Die bei der Zusammenstellung des nationalen Zensus gestellten Fragen wurden aufgrund dieser Strebung formuliert. Die Tatsache, dass etwas zu verbergen ist, weist darauf hin, dass das Bekenntnis bestimmter Sachen gefährlich ist. Ich bin überzeugt, dass die Demokratie und Freiheit und ein menschenwürdiges Gesellschaftsleben nur dort existieren kann, wo man nichts zum Verbergen hat. Das ist unmöglich ohne Werten- und Interessenschutz.
In der Zeit der Integration der Verwaltungsgebiete kamen nach 1990 sehr oft Interessensgemeinschaften zwischen den ostmitteleuropäischen kleinen Nationen zustande. Worauf ist es Ihrer Meinung nach zurückzuführen, dass die kleinen Nationen der Regionen die zwischenstaatlichen Kontakte nicht verstärkt zur Bewahrung der kleinen Nationen nutzen, und daran anknüpfend nicht enger im Interesse der auf dem Gebiet der Nachbarstaaten lebenden Minderheiten zusammenarbeiten?
Das größte Hindernis der Zusammenarbeit der Nationen ist, dass die nationale und emotionale Kultur der Leute mangelhaft ist, und die gegenseitige Anerkennung der Kulturen in dem Schulunterricht nicht genug betont wird. In der Volkstradition gibt es merkwürdige Beispiele darauf, wie andere Kulturen bekannt gemacht werden können (durch Familienkontakte zwischen Volksgruppen und Sprachgemeinden, und durch Kinderaustausche).
Was halten Sie über die oben angesprochenen Themenbereiche hinaus wichtig für die Förderung der kleinen Nationen?
Unser Schulsystem und die Richtlinien des ungarischen Bildungswesens müssen durchgedacht und umstrukturiert werden.
a) Die öffentliche Bildung und Erziehung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Diese Aufgabe kann nicht den Selbstverwaltungen überlassen werden, weil dadurch das Schulwesen der unterschiedlichen finanziellen Lage der einzelnen Siedlungen, und der Laune der jeweiligen politischen Elite ausgeliefert wäre. Die Schule ist eine öffentliche Angelegenheit. Die Schulen dürfen nicht aufgrund finanzieller Überlegungen geschlossen oder verschmolzen werden. Die Siedlungen, die ihre Schulen aufgeben, können nicht lange am Leben bleiben. Besonders die ländlichen Schulen sollen den Jugendlichen dabei helfen, ihren Beruf, Unterhalt, ihre Zukunft und Gemeinde zu Hause finden zu können. Das Aufrechterhalten der nationalen Minderheiten hat eher in kleineren, homogeneren Siedlungen und in Großstädten wahre Perspektiven. Die talentierten Jugendlichen, die aus kleineren Dörfern kommen, sollen besonders unterstützt werden, weil sie sich in Universitäten und Hochschulen im Nachteil befinden können, was ihre technische Kenntnisse und Fremdsprachen betrifft. Das bezieht sich auch auf die Jugendlichen, die als Vertreter einer Minderheit aus kleineren Dörfern kommen. Diese Jugendliche haben jedoch Eigenschaften, die an Aufnahmeprüfungen nicht getestet werden.
Während des Ministeramts von Zoltán Pokorni kam das „Arany János Programm” zustande, die zur Unterstützung der aus Dörfern kommenden Jugendlichen gemeint war. Gleichzeitig sollte den Jugendlichen beigebracht werden, wie sie ein erfolgreiches Leben an Ort und Stelle, mit Hilfe der natürlichen Umgebung führen können. Mehr Wert sollte auf die landwirtschaftlichen Kenntnisse, und auf die Erkennung der lokalen Gegebenheiten und kulturellen Traditionen gelegt werden. Vieles wird heute in Schulen unterrichtet, nur das nicht, was man mit dem Land anfangen kann, wie man Obst, Traube, und Getreide bauen, und Tiere züchten soll, wie man Wein und andere Agrarprodukte, bzw. „Hungarica” herstellen kann. Früher war dieser praktische Agrarunterricht Teil des öffentlichen Schulsystems. Am Ende des 19. Jahrhundert trug es dazu bei, dass der durch den Mehltau zerstörte Weinbau in Zusammenarbeit des Innen- und Bildungsministeriums wiederhergestellt werden konnte. Der Schutz der kleinen Dörfer und die Unterstützung der bäuerlichen Lebensweise bedeuten gleichzeitig den Schutz der Minderheiten. Ortsgeschichte, die kulturelle Traditionen der Dörfer, bzw. die Vergangenheit und Zukunft des bäuerlichen Lebens sollte im Unterricht mehr betont werden. Leider ist heute eher die Abschätzung der bäuerlichen Lebensweise zu beobachten. In vielen Dörfern gibt es keine Urproduzenten mehr, es gibt viele Brachacker und unbebaute Felder, nicht einmal die Gärten werden kultiviert. Über die ungünstigen wirtschaftlichen Umstände hinaus, fehlt es bei Agrarunternehmen an nötigen Kenntnissen, Lust und Motivation. Das beeinflusst die Minderheiten noch negativer.
b) In Kunó Klebelsbergs Zeit (Ungarischer Minister für Kultur 1922-1931) wurden ungeteilte Gehöftschulen zustande gebracht. Es wurde durch wissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass der Unterricht in ungeteilten Schulen auch Vorteile hat. Die Schüler sind, zum Beispiel, selbständiger und kreativer. In Kindergärten wirkte die Zusammenziehung von verschiedenen Altersgruppen, und die drei Altergruppen konnten gemeinsam spielen. Die Verschmelzung von Schulen hindert nicht nur die Herausbildung der kleinen, lokalen Gemeinden, sie bringt auch eine bestimmte physische und moralische Gefahr mit sich für die Kinder, die dadurch mehr reisen müssen. Solange sie reisen, können sie sich nicht erholen, sie können nicht lernen oder spielen – sie werden nur müde. Sie werden nie gleichrangig mit den Kindern des anderen Dorfes sein. Es kann unabsehbare Folgen haben, wenn die Herausbildung der kleinen Gemeinden gehindert wird, weil sie das Gefühl des Zusammengehörens vermitteln. In Klebelsbergs Zeit wurde der Schuldirektor auch in den kleinsten Dörfern von dem Minister ernannt, und ihr Gehalt war unabhängig von der finanziellen und gesellschaftlichen Lage ihrer Schüler. Die Arbeit der Schuldirektoren wurde von unabhängigen Schulinspektoren aufgrund fachlicher Aspekten geleitet. Heute gehen viele Lehrer aus der Nachbarstadt in die kleinen Dorfschulen, sie leben also nicht zusammen mit der Dorfgemeinde. Das betrifft auch die Minderheitskulturen negativ.
c) Der Kunstunterricht und die Zahl der Stunden, die zur Herausbildung des Charakters und der Identität beitragen, d.h. die Musik-, Sport-, Literatur- und Geschichtsstunden darf nicht vermindert werden. Die Problematik des Religionsunterrichts ist bis heute bestritten. Die beste Lösung wäre gewesen, allen Schülern bestimmte Informationen über Religionen, Moral, Kulturgeschichte und Weltanschauungsweisen zu vermitteln. Diese Informationen könnten von zu diesem Zweck gebildeten Fachleuten vermittelt werden, die Theologie und Philosophie studierten, bzw. von Geistlichen und Priestern verschiedener Religionen. Die Schüler wären nicht in dem Glauben abgefragt worden, sondern in ihrer Kenntnis über Religionen. Das wäre die echte Ökumene gewesen. Der Religionslehrer wäre ein Mitglied der Lehrkörperschaft gewesen (heute ist es meist nicht der Fall). Die Religionsstunden wären nicht erst am Nachmittag gewesen, wenn es sowieso zahlreiche andere Extrastunden und Kurse gibt. Diese Lehrer hätten ihr Gehalt nicht nur nach der Stundenzahl, sondern auch in den Sommerferien bekommen, wie alle anderen Lehrer. So hätte ein gebildeter Religionslehrer aus seinem Gehalt auskommen können. Das betrifft die nationalen Minderheiten auch negativ.
Dieses System hätte stufenweise eingeführt werden sollen, aber nicht einmal die Vertreter der größeren Kirchen waren mit dieser Lösung einverstanden. Sie äußerten sich dafür, dass die Religionsstunden den Kindern einer bestimmten Religion von den Geistlichen jener Religion unterrichtet werden sollen. Dadurch wurde ein Teil (oft die Mehrheit) der Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschlossen. Wie sollte ein Kind unter unbekannten Begriffen, Weltanschauungsweisen und Religionen wählen? Ich weiß, dass es Versuche zur moralischen Erziehung gibt. Das hat aber schon eine Tradition, die sich in Jahrhunderten ausbildete – warum muss das jetzt neugeplant werden?
d) Der Kunstunterricht in Grundschulen und Fachschulen soll gefördert werden, und die ungarische Folklore, bzw. die Volkskunst der Minderheiten soll hier auch bekannt gemacht werden. Alle Initiativen im Bereich der Kunst, Chöre, Tanzgruppen, Handwerks- und Tanzlager, und die Vereine zur Bewahrung der Traditionen sollen unterstützt werden. Diese Bewegungen verstärken die Kultur der kleineren Nationen und nationalen Minderheiten, und dadurch das Aufrechterhalten der universellen Werte der Menschheit.
Begegnungen22_Zaimova
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:327–334.
RAÏA ZAÏMOVA
Les Bulgares dans le contexte de la grande et de la petite nation
(XIXe siècle)
Sur le plan européen les recherches interdisciplinaires dans le domaine de d’Imagologie (Image of the Other) ont été inspirées par l’idée qu’après la seconde guerre mondiale l’Allemagne et la France ont progressivement réussi à disperser l’ancien stéréotype du “voisin austère et belliqueux, de l’assassin” formé à la suite des guerres mondiales. Après 1990 des chercheurs bulgares, parfois en collaboration avec des représentants de plusieurs autres pays, ont réalisé plusieurs projets dans le même domaine. On accentue sur l’image de l’autre dans les manuels scolaires, sur les identités et les mythes. Le spectre d’activités dans ce domaine est assez large. En suivant l’exemple de l’Europe occidentale et centrale on essaye à tracer une tendance pareille dans la région balkanique où les frontières politiques et mentales du XXe-XXIe siècles ne sont pas surmontées et la recherche des mythes et des identités européennes ou autres continue à préoccuper les esprits humains.1
Les Bulgares ont organisé leur Etat moderne après 1878 à la suite de la guerre russo-turque. Leur sort est étroitement lié à celui des peuples voisins des Balkans et des bords du Danube, aussi bien qu’à la politique des grandes puissances. Etant une petite nation comme celle des Hongrois, ils sont toujours curieux – même à nos jours – à connaître leurs images d’autrefois. Ces images évoluent au cours des années, parfois elles demeurent intactes et significatives pour les identités des Bulgares provoquées par des représentants des autres nations en Europe. Dans cet article on suivra parallèment les images des Bulgares formées au sein d’une grande nation occidentale (qu’est la France moderne) et au sein d’une petite centrale européenne (qu’est la Hongrie). Notre étude à caractère comparatif a pour objectif de tracer quelques lignes générales concernant les frontières mentales qui ne sont qu’un reflet des frontières politiques et culturelles au XIXe siècle.
Jusqu’au XVIIIe-XIXe s. l’Europe moderne collectionne les sources de l’histoire humaine surtout des peuples de l’Europe et de l’Asie qu’elle interprète à sa manière.2 Cette littérature historique qui traite un grand nombre de sujets et de problèmes s’avère le plus grand transmetteur de la mémoire écrite de l’Orient en Occident. Le monde occidental et central européen demeure chrétien et représente globalement la latinité européenne qui suit sa propre voie de développement facilitée par la grande invention de Gutenberg. Pendant ce temps (XVe-XIXe s.) les Balkans font partie des provinces ottomanes et les peuples balkaniques connaissent un sort commun. Une partie d’eux sont voisins des provinces des Habsbourg et ainsi, liés avec celles-ci sur le plan commercial et culturel. Dans cette situation les Bulgares apparaissent d’abord dans les recueils d’histoire publiés en latin et parfois en langue nationale.
L’historiographie humaniste nous présente ce peuple soit comme « scyte » professant le catholicisme, soit comme originaire du fleuve de la Volga ayant abandonné la barbarie et le Mal en embrassant le christianisme. Dans la plupart des cas les Occidentaux les considèrent comme de bons catholiques. Cette image coîncide parfois avec une autre qui est réelle et porte sur leur situation actuelle de sujets du sultan ottoman.3
Le développement des sciences et des arts, les idées nouvelles de la nature de l’homme et de sa langue changent aussi bien les stéréotypes occidentaux des Bulgares. Dans ses études l’allemand August Ludwig Schlözer (1735-1809) prétend que la langue joue un rõle prépondérant et détermine l’origine des peuples. Ses contemporains (Assemanius, Peysonnel) commencent à déterminer les Bulgares comme un peuple qui a tiré son origine de la Volga, mais après avoir adopté la langue slave au bord du Danube, il doit être considéré comme un peuple «slave». Ce stéréotype devient très répandu dans toute l’Europe et décisif pour l’identité bulgare. A ce sujet, un politicien anglais du début du XXe s. résume ainsi «Les Bulgares se sont unis avec les peuples autochtones et bientõt se sont transformés eux-mêmes en Slaves».4
A l’époque des Lumières des hommes de lettres de la génération de Voltaire adoptent le terme de civilisation qui vise surtout la France.5 D’après leurs réflexions on se heurte aux frontières mentales déterminées comme frontières entre l’Occident et l’Orient selon les moeurs humaines, le mode de vie et le gouvernement. A leur tour les Anglais commencent à employer la civilization et les Allemands la Cultur (synonyme d’Aufklärung et Zivilisation) qui s’oppose à la barbarie et à tout ce qui n’est pas policé. Il paraît que l’abbé Baudeau (physiocrate français) a formulé pour la première fois «La civilisation européenne» (1766) en réfléchissant sur les moeurs et les coutumes des Indiens en Amérique qu’il cherchait à «…convertir ces naturels non seulement à la fois chrétienne, mais encore à la civilisation européenne, en faire à peu près de vrais français par adoption. ». 6 Il est évident que l’abbé Baudeau visait le christianisme comme le premier niveau nécessaire pour la civilisation, complété par le progrès occidental et spécialement français. Le rapport civilisation-barbarie devient très fréquent au XIXe s. et tous les peuples, colonisés ou pas, sont traités d’après ce modèle selon leur développement actuel.
Des voyageurs et des historiens, des explorateurs et des écrivains continuent à se rendre dans le sud-est européen pour des raisons différentes. Ainsi, on constate quelques traits d’européanisation dans les milieux bulgares. Il s’agit non seulement d’éléments de leur vie matérielle,7 mais aussi bien du désir de s’informer, de s’instruire et de s’ouvrir pour le monde étranger et les idées modernes.
Ami Boué, huguenot d’origine d’Alsace, savant géologue et Imre Frivaldszky, membre de l’Académie hongroise des sciences8 traversent la partie européenne de Turquie pendant les années 30 du XIXe s. Tous les deux ont pour objectif de faire analyser la flore et la faune de quelques régions balkaniques. Frivaldszky s’avère le premier hongrois qui a eu une mission d’exploration dans ce coin du continent. Il est l’un des fondateurs de la Société hongroise des Sciences naturelles (1841). Le savant considère le développement spirituel comme un développement commun et en général, humain. Celui des sciences n’est qu’un processus qui progresse de l’Occident vers l’Europe orientale et mérite d’être étudié aussi bien dans son pays. Ses descriptions balkaniques portent sur la nature et les villes, dont quelques-unes (Plovdiv et Salonique) lui paraissaient aussi civilisées que les villes européennes de son époque.9
Par contre, son contemporain Ami Boué réfléchit non seulement dans son domaine professionnel. La situation géographique et physique du pays, la richesse et la diversité de chaînes de montagnes sont en liaison étroite avec un déplacement possible des armées. Il ne pensait qu’aux grands obstacles, tel que le Danube et le Balkan et à la possibilité d’aider les Bulgares à obtenir leur liberté. Ami Boué n’a pas tracé de projet concret. Sa position vis-à-vis aux Bulgares diffère sensiblement de la politique officielle de son pays occidental qui soutenait déjà l’intégrité de l’Empire ottoman.10
Alfonse de Lamartine (1790-1869), homme politique, poète et écrivain constate quelques années plus tard la «situation semi-barbare des Bulgares», mais selon lui ce n’était pas un obstacle pour obtenir leur indépendance politique. Ce sont les années qui suivent après l’indépendance des Serbes et des Grecs: «Ils sont complètement m~rs pour l’indépendance, et formeront avec les Serviens, leurs voisins, la base des Etats futurs de la Turquie d’Europe. Le pays qu’ils habitent serait bientõt un jardin délicieux, si l’oppression aveugle et stupide, non pas du gouvernement, mais de l’administration turque, les laissait cultiver avec un peu plus de sécurité; ils ont la passion de la terre. » 11
Si l’on se fie à Lamartine, la liberté et l’indépendance d’un peuple opprimé sont les catégories ou le critère pour la civilisation méritée. Il est notoire que pendant les années 40-50 les Bulgares ont fait déjà leurs premiers pas dans le domaine de l’éducation laïque qui s’avère très importante pour leur ouverture vers les acquisitions de la pensée européenne.
Dans les réflexions de Lamartine l’islam et le gouvernement ottoman correspondent à la grande catégorie de “barbarie” qui s’oppose à la civilisation et à la raison. Mais sur un autre niveau, ses idées concernent une civilisation moderne et laïque où l’islam n’est pas un obstacle à franchir.
Etant député au Parlement (1834-1841), Lamartine discute l’épineuse “Question d’Orient”. Il fait appel aux gouvernements occidentaux de faire une “alliance de la civilisation”, c’est à dire. une alliance pour la protection des chrétiens balkaniques non seulement contre les Ottomans, mais aussi bien contre les «Moscovites» qui cherchaient à soumettre l’Europe et l’Asie au même joug. Une fois le pouvoir ottoman rejeté, les Grecs se sont trouvés sous l’influence et les intérêts impérialistes de la Russie. C’est pour cette raison que Lamartine cherche à convaincre ses compatriotes et les politiciens occidentaux du danger russe qui s’impose en Europe orientale. «Nous nous trompâmes, écrit-il dans son « Histoire de la Turquie », l’Europe n’est pas réduite à se résigner à l’omnipotence de la Russie comme on se résigne à un fléau de la destinée. »12 Ainsi, l’usurpation d’une race, quoi qu’elle soit chrétienne, est un mauvais signe pour l’Europe. Lamartine s’éloigne de la thèse de l’abbé Baudeau qui considérait la chrétienté comme nécessaire et obligatoire pour les fondements de la civilisation européenne. La catégorie de civilisation s’élargit dans le discours de Lamartine par un modèle de société où les religions ne doivent pas déterminer l’existence et le mode de vie des peuples. Seules les libertés, la tolérance, le patriotisme ou, en général, le modèle dix-huitiémiste des philosophes trouve un bon canevas dans la pensée du politicien Lamartine.
Pendant les mêmes années et plus spécialement après 1849 des révolutionnaires Hongrois, tels que Bertalan Szemere, chef du gouvernement (1849) et Gábor Egressy (1808-1866), ami fidèle de Sándor Petõfi, sont des émigrants dans les terres bulgares, toujours provinces ottomanes. Ils ont laissé des témoignages intéressants concernant leurs contacts avec les autorités ottomanes et aussi bien le mode de vie dans la région danubienne.13 Szemere aussi bien que Lamartine fait la critique du régime despotique et barbare de la Turquie en faveur des chrétiens qui méritaient leur liberté. Le “Journal de Turquie” d’Egressy a été publié en 1851 après son retour en Hongrie.14
Sans chercher à réfléchir sur la civilisation et à ses paramètres il accentue au problème du despotisme qui lui paraissait à un labyrinthe pareil aux labyrinthes des rues dans les villes balkaniques où les rebelles pouvaient facilement se cacher. Si l’on fait confiance à Lamartine la liberté et l’indépendance d’un peuple opprimé sont les catégories ou le critère pour la civilisation méritée. On s’aperçoit que pendant les années 40 les Bulgares ont fait déjà leurs premiers pas dans leur éducation tout en cherchant leur liberté. Selon le comte László Teleki (1811-1861),15 ambassadeur à Paris (1848), les Hongrois ont déjà fait preuve par leur révolution de 1848 de leur civilisation.16 La même idée est partagée par Szemere dans ses mémoires publiés à Paris (sous le nom de Barthélemy de Szemere). Ayant pour problème principal la liberté et l’indépendance de son pays natal, celui-ci considère le panslavisme de la Russie comme nuisible pour les Hongrois et l’Autriche comme un pays central européen qui a manqué de faire avancer le progrès et la civilisation dans ses provinces et en général tout au long du Danube. Or, si le petit peuple hongrois avait les droits constitutionnels et la liberté d’organiser sa vie, il aurait pu en profiter et transmettre la marche civilisationnelle dans l’Empire ottoman:
”Elle [la Hongrie] est dans l’intérêt de la question d’Orient, tout sous le rapport politique, que sous le rapport de la civilisation. Par sa position géographique, par son origine, par ses langues, par ses moeurs semi-orientales, c’est à la Hongrie qu’appartient éminemment la mission de transmettre aux peuples d’Orient tous les éléments du progrès et toutes les idées de la civilisation occidentale.”17
Szemere trouve que tous les chrétiens des Balkans (y compris les Bulgares) peuvent s’organiser dans une fédération et avoir une constitution à l’exemple hongrois, américain et suisse. Ses observations portent aussi bien sur le fait que les grands pays d’Europe ne se préoccupaient pas de la question d’Orient et n’avaient pas l’intention à aider les chrétiens des Balkans d’organiser leur vie nationale selon les critères de la modernité européenne. Dans un certain sens, les idées de Szemere s’avèrent presque prophétiques dans les décennies qui suivent – l’histoire nous a prouvé les tentations impérialistes de la Russie par rapport aux Bulgares et autres petites nations.
En général, les Hongrois n’ont pas eu besoin de découvrir les Bulgares comme la grande nation occidentale qui prétendait être le centre de la civilisation moderne, ni à chercher à situer ce peuple balkanique au niveau du progrès matériel et mental. Leurs réflexions n’ont pas de préoccupations idéologiques, politiques ou autres tout en cherchant à contribuer pour l’intégration de la petite nation bulgare à l’Europe. En même temps, des représentants de la grande civilisation continuent à caractériser les Bulgares comme un peuple courageux et instruit qui en se retrouvant déjà libéré de la barbarie ottomane, s’était engagé dans la voie de la civilisation. Quant aux Bulgares ils se tournent, même aujourd’hui vers le miroir de la grande nation, porteuse aussi bien des idées de la révolution, pour chercher leur identité ou pour rattraper le développement européen.
Sur un autre niveau des idées j’aimerais mentionner un phénomène ou processus qui est entièrement lié aux activités culturelles au bord du Danube et en Transylvanie. Il s’agit des annales, des chroniques et d’histoires nationales des Bulgares écrites pendant la seconde moitié du XVIIIe s. et la première moitié du XIXe s. Les franciscains hongrois Blasius Milli et Blasius Kleiner inspirés par le sort des émigrés Bulgares catholiques en Transylvanie ont rédigé des ouvrages en latin consacrés à l’histoire médiévale et contemporaine des Bulgares, leurs migrations, etc.18 Ces ouvrages sont placés exclusivement dans le contexte des besoins spirituels de Rome et une partie demeurent toujours en manuscrits. Ces Hongrois s’avèrent de très bons historiens, fidèles aux textes des chroniques latines et aux témoignages des Bulgares catholiques qui ont émigré en Banat et en Transylvanie après la défaite de leur insurrection de 1688.19 Selon eux les Bulgares sont d’origine turque et demeurent toujours sous la protection de St François. Dans leurs ouvrages il n’est pas question des problèmes des «autres», c’est à dire des orthodoxes.
Les minorités bulgares dans l’Empire des Habsbourg s’occupaient surtout du commerce et du jardinage. Il en est de même à nos jours.20 Certains parmi eux, commandaient et sponsorisaient la publication de livres. Les statistiques montrent que pendant la première moitié du XIXe s. on a publié 800 livres à sujets divers. A partir de la seconde moitié du siècle, cette activité est assimilée par l’imprimerie d’Istanbul.21 Au début du XIXe s. à Vienne et à Buda paraissent en caractères cyrilliques encore d’autres «Histoires» rédigées par des orthodoxes bulgares et serbes. Celles-ci diffèrent sensiblement des textes catholiques des Hongrois de Transylvanie. D’abord, elles sont écrites en slavon et en bulgare, quasi-moderne. (A cette époque il n’y avait pas de langue littéraire.)
L’«Histoire des peuples slaves et surtout Bulgares, Croates, Serbes » de Jovan Raïć, publiée à Vienne en 1794-5 et l’« Histoire slavo-bulgare » de Nesković (1801) ont pour sources surtout l’ »Histoire des Huns » de l’historien hongrois Georg Pray (1723-1801) et celle de l’allemand Johann Stritter.22 Le livre intitulé «Tzarstvenika » de Hristaki Pavlović a paru en 1844.23 Cette édition est une adaptation du texte de Paissij de Hilendar de 1762. C’est la première histoire, dite «slavo-bulgare » d’un moine orthodoxe qui a fait appel à son peuple de prendre conscience et de chercher sa liberté.
En cherchant son identité nationale et en faisant le remodelage des sources, l’auteur accentue à l’origine « Moscovite » et slave de son peuple en niant sciemment son origine turque. Le pouvoir étranger s’avère l’une des causes de ce modèle et ne correspond pas aux conceptions linguistiques des chercheurs dix-huitiémistes comme Schlözer et encore d’autres cités ci-dessus. Par l’histoire des royaumes bulgares du Moyen Age Paissij suggère l’importance de l’histoire pour l’actualité et l’avenir de son peuple qui est assujetti aux Ottomans. Les copies manuscrites du XIXe s. et l’édition de Buda trouvent une grande propagation dans les terres bulgares, parmi l’intelligentsia qui est en train de se former et aussi bien dans les milieux scolaires des orthodoxes.24 Il en est de même pour tout le XXe s. et tous les manuels scolaires où l’on reprend le modèle de l’identité slave et orthodoxe.25 En même temps, les catholiques et leurs «Histoires» ne sont même pas mentionnées dans la littérature scolaire. Leur présence dans la société actuelle bulgare paraît toujours marginale. Au niveau populaire, le «catholique» est souvent synonyme d’»étrange, étranger» ou représentant d’une secte quelconque – donc un stéréotype formé au cours du régime communiste. 26
En effet, les milieux catholiques des Hongrois s’avèrent les milieux les plus proches des Bulgares catholiques habitant autrefois des régions près du Danube. Leurs images de l’histoire bulgare révèlent la position de la grande famille catholique guidée uniquement par ses propres besoins spirituels. Cette société est demeurée isolée du développement laïc et moderne. Ainsi, le stéréotype catholique et le stéréotype orthodoxe forment une seule image, celle de l’histoire nationale. Créés surtout sur le sol hongrois ils peuvent être considérés comme le résultat d’un «voisinage » de deux cultures: catholique et orthodoxe. Ce même voisinage détermine les frontières mentales qui ont existé à l’époque et existeront tout en révélant une diversité culturelle dans le bassin danubien.
Réferences
1
Pedstavata za “drugija” na Balkanite, Sofia, 1995; Pride and Prejudice. National Stereotypes in 19th and 20th Century Europe East to West, Budapest, CEU, 1995; Obrazat na “drugija”, Sofia, 1998; Tarih eæitimi ve tarihte “öteki” sorunu, Istanbul, Tarih vakìf Yurt Yayìnlarì, 1998; Da mislim “drugoto”. Obrazi, steretypi, krizi (18-20 v.), Sofia, 2001; The Image of the “Other”/Neighbor in the School Textbooks of the Balkan Countries, Athens, George Dardanos, 2001; Balkanski identicnosti, R"FH 1 4 2, Sofia, Open Society, 2001; Balkanski identicnosti v balgarskata kultura, T. 4, Sofia, Kralitza Mab, 2003.
2
Fueter, E. Histoire de l’historiographie moderne. Paris, 1914.
3
Zaimova, R. Balgarskata tema v zapadnoevropejskata kniznina (XVI-XVIII v.). Sofia, 1992; Patiat kam “drugata” Evropa (iz frensko-osmanskite kulturni obstuvanija, XVI-XVIII v.). Sofia, 2004.
4
Will S. Monroe, Bulgaria and her people, 1914 by the Page Company, Balgarija i nejnite hora. Prev. ot angl. Vl. Germanov. Sofia, 1997, p. 28.
5
V. Par exemple: Moeurs et usages des Turcs, leur religion, leur gouvernement civil, militaire et politique, avec un abrégé d’histoire ottomane. t. 1-2 par [Guer]. Paris, 1747; Voltaire, Le siècle de Louis XIV. Berlin, 1751, 2 éd. 1768; Voltaire, Essai sur les moeurs. T.1-2. Paris, 1990; Gouch, G. P. History and historians in the 19th Century. 2 ed. Beacon Press Ed., 1962, p. 523 sq.
6
The History of the Idea of Europe, ed. by K. W. an Jan der Dussen. London/New York, The Open University, 1995, p. 63-64.
7
Grâce au commerce par la voie danubienne les Bulgares ont emprunté des formes architecturales (surtout à Plovdiv). D’autre part, ils ont connu la porcelaine „viennoise” et les vêtements richement ornés portaient l’empreinte de la prospérité des commerçants (XIXe s.). Les exemples de la modernité dans la vie matérielle de cette époque sont nombreux. Il est à noter qu’à nos jours on garde toujours un certain lexique où l’élément “viennois” y est conservé: la grande roue est «la roue viennoise» en bulgare, la pâtisserie en style baroque est une «pâtisserie viennoise», les chaises au siège à la paille sont toujours des «chaises viennoises», le «Kipfel» allemand correspond au «Kifli» en hongrois et au «Kifla» en bulgare, etc.
8
L’Académie hongroise a été créée en 1825; «arrêtée dans ses travaux civilisateurs en 1849» selon Bertalan Szemere; rétablie 10 ans plus tard.
9
Magyarski patepissi za Balkanite. XVI-XIX v. Sast. P. Miatev. Sofia, 1976, p. 65-69; Ungarski uceni za Balgarija, XIX v.-sredata na XX v. Sast. i red. P. Pejkovska. Sofia, 2003, p. 351-380; Gjurov, Al. Évszázadok öröksége. A Magyarok nyomai Bolgár földön. Szófia, 2003, p. 141-145.
10
Frenski patepissi za Balkanite (XIX v.), Sofia, 1981, p. 249-250.
11
Souvenirs, impressions, pensées et paysages pendant un voyage en Orient. 1832-1833 ou notes d’un voyageur par M. Alphonse de Lamartine. T. 3. Bruxelles, J. P. Meline, 1835, p. 381-382.
12
Histoire de la Turquie par A. de Lamartine. T. 1. Paris, Librairie du constitutionnel, 1854, p. 2-5.
13
Gjurov, Al. Op. Cit., p. 111 sq.
14
Egressy, G. Törökországi Naplója. 1849-1850. Pesteu, Nyomatott Kozma Vazulnál, 1851. [Reprint Terebess collection 1997].
15
Disciple de Victor Hugo dans son oeuvre littéraire et partageant les idées de Lajos Kossuth pour l’indépendance de la Hongrie, László Teleki séjourne plusieurs années en France. Sur les activités de l’émigration hongroise voir: Mil ans d’histoire hongroise. Histoire de la Hongrie de la Conquête jusqu’à nos jours éd. par I. G. Tóth. Corvina/ Osiris, 2003, p. 454 sq.
16
„La Hongrie aux peuples civilisés” est publié en 1849 à Paris: Encyclopedia of Eastern Europe from the Congress of Vienna to the fall of communism. Ed. By Richard Frucht. New York-London, 2000, p. 345.
17
Barthélemy de Szemere, La question hongroise. 1848-1860. Paris, E. Dentu, 1860, p. 128.
18
Istorija na Balgarija ot Blasius Kleiner, sast. v 1761. Red. Iv. Dujcev i K. Telbizov. Sofia, 1977; Telbizov, K. Oste edna istorija na Balgarija ot sredata na XVIII v. – Vekove (Sofia), No 6, 1978, 24-35, Hronika na balgarskoto frantziskanstvo (XIV-XVIII v.) sast. v 1775 v grad Alvinz ot Blasius Kleiner (Archivium tripartitum – III). Sofia, 1999.
19
Giurov, Al. Nasledstvo na stoletijata. Sledite na balgarite v ungarskite zemi. Sofia, 2003, p. 108- 165.
20
On garde toujours à Budapest les noms des rues „Bolgár kertész”, „Bolgár”, “„Bolgár Elek” qui témoignent de la présence de la petite minorité bulgare dans la capitale hongroise. Celle-ci garde aussi ses biens immobiliers et actuellement organise ses activités culturelles à l’église orthodoxe «Saints Cyrille et Méthode» et au centre culturel auprès d’elle.
21
Sivriev, S. Atanassij Neskovic i negovata „Istorija slavenobolgarskog naroda” (Budim, 1801). – In: Modernostta vtchera i dnes, Sofia, 2003, 75-82.
22
Atanasie Neskovic, Istorija slaveno-bolgarskog naroda iz g-na Raica Istorija. V Budim grad, 1801; Jovan Raïć, Istorija na vsicki slavianski narodi I naj-pace na bolgari, horvati I serbi. Prev. N. Dilevski, red. N. Dragova. Sofia, 1993; Stritter, J. G. Memoriae populorum olim ad Danubium, Pontum Euxinum… Petropoli 1774.
23
Hristaki Pavlović (1804-1848), fondateur de l’école helléno-bulgare à Svistov (sur le Danube), éditeur de littérature scolaire bulgare.
24
Danova, N. L’image de l’autre dans les manuels bulgares du XIXe s. et le début du XXe s. – Revue des Etudes sud-est européennes (Bucarest), 1-2, 1995, p. 31-39.
25
Dimitrova, Sn. The „external political „other” and the images of Europe, articulated by the post 1917 obligatory textbooks in Modern Bulgarian History. – In: The Image of the „Other”/Neighbour in the Balkan countries, Op. Cit., p. 213-232.
26
Il n’y a que 6% de catholiques en Bulgarie (2001).
Begegnungen22_Vermes
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:31–37.
GÉZA VERMES
The Changing Faces of Jesus1
According to an oft-repeated saying, books on Jesus tell more about their authors than about Jesus himself. I would like to dissent or at least to claim that my case is an exception. If justification is needed, it may be found in my autobiography, Providential Accidents.2 In a nutshell, my interest in Jesus was not the product of my religious toing and froing. I was born in an assimilated and religiously detached Hungarian Jewish family. At the age of six together with my parents I was baptized Roman Catholic in the provincial town of Gyula by the local parish priest, Baron Vilmos Apor, the future bishop-martyr of Győr. I remained in that church as a student, a seminarian of the diocese of Nagyvárad, the member of the religious order of Notre Dame de Sion and for six years as a priest, until I reached the age of thirty-two years. Then followed a period of groping at the end of which by the end of the 1960s I found myself quietly, without a spiritual storm, back at my Jewish roots. But my fascination with the figure of Jesus was not the fruit of these wanderings. If personal experience had anything to do with my way of understanding Jesus, it can be located in an insider’s knowledge of both Christianity and Judaism.
During my student days at Louvain in Belgium I was never attracted to the New Testament. My teachers were too theological for my liking. My enthusiasm was first focused on the Hebrew Old Testament, and afterwards on the then newly discovered Dead Sea Scrolls which have kept me busy throughout my whole academic life. My doctoral dissertation discussed the historical framework of Qumran and was published in French in 1953.3 A translation of the Scrolls into English followed in 19624. The original booklet of 250 pages has grown over the years into a volume of close to 700 pages5. The Scrolls led me to a study of ancient Jewish Bible interpretation, and there for the first time I had to pay serious attention to the treatment of the Old Testament in the New.6 From the mid-1960s I found myself involved in a twenty-year long collective labour aimed at revising, enlarging and rewriting a nineteenth-century modern classic, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ by Emil Schürer7. After completing the first of the three volumes of this gigantic monument, I decided to take a little time off, relax and enjoy myself by using the historical knowledge freshly gained for a new approach to the Gospel account of Jesus. To be more precise, I wanted to plunge the New Testament into the sea of the Judaism of its age in order to discover what the figure of Jesus might look like when perceived, not through the distorting lens of two thousand years of evolving Christian belief and theology, but through the eyes, ears and mentality of Jesus’ own Jewish contemporaries. Out of this endeavour emerged in 1973 “Jesus the Jew”,8 intended to describe what kind of person Jesus was. The book made an impact and was followed at ten yearly intervals by “Jesus and the World of Judaism”,9 sketching the message of the Gospels, and “The Religion of Jesus” the Jew,10 a full scale endeavour to portray Jesus as a religious man.
“The Changing Faces of Jesus” 11 has much in common with and often relies on the trilogy which preceded it, yet it also greatly differs from it. The approach is broader: instead of depending only on the first three Gospels which are considered closest to historical reality, it investigates also the Gospel of John, the letters of Paul and the rest of the New Testament. Moreover, it is addressed to a wider readership and in particular has a different scenario. In the trilogy the inquiry was essentially historical, here it is both literary and historical. The purpose of “The Changing Faces of Jesus” is to sketch four different portraits in the various levels of New Testament literature before trying to guess the fifth one lying beneath the earliest layer of Gospel tradition.
The arrangement of the portraits follows their degree of sophistication rather than a strictly chronological line. I begin with the Gospel of John, the Everest of New Testament Christology, a Gospel which happens to be not only the most advanced, but also the latest New Testament representation of Christ, dating to the opening years of the second century AD. John fundamentally departs from the earlier Synoptic Gospels of Matthew, Mark and Luke in its religious outlook. Its story telling, too, has little in common with the Synoptic with the exception of the section leading to the crucifixion and death of Jesus. John’s Gospel largely ignores Jesus’ teaching about the kingdom of God, and replaces the pithy proverbs and vivid, God-centred parables of the Jesus of the Synoptic with long, rambling speeches in which Jesus continuously reflects on himself. In the Fourth Gospel we encounter not a real, flesh and blood Galilean charismatic, but a Stranger from heaven, temporarily exiled on earth, who is longing to return to his celestial home. The 252 brilliantly chosen Greek words of the Prologue offer a pellucid abstract of John’s Gospel, the summit of New Testament theology. The eternal and divine Word of God, who took part in the creation of the world, in time became incarnate to reveal to men the face of the invisible God.
The Johannine portrait of Jesus foreshadows and epitomizes later Christianity, as we know it. The great doctrinal controversies of the church in the first millennium of its history mostly revolved around ideas first mooted in the Fourth Gospel . The orthodox doctrine relating to Christology – the one person and two natures of Jesus-Christ – and the Holy Trinity, all spring from the spiritual Gospel of John. John is the father of the theology of eastern Christianity.
Here ends my synopsis of the first two chapters of the Changing Faces, dealing with John. The next two are devoted to the high peaks of the teaching of St.Paul.
The letters of Paul chronologically precede John by half-a-century, but from the point of view of doctrinal development stand only a little below him. As is well known, Paul is held by many to be the true founder of the church and the chief inspiration of the atonement-redemption theology of Western Christianity. Closing his eyes to the earthly Jesus whom he never met, and about whom he had nothing original to report, Paul’s gaze was fixed on Christ, the universal Saviour of both Jews and of non-Jews. This superhuman, but not quiet divine Christ, reminiscent of the heroes of the mystery religions then so popular in the Graeco-Roman world, played the ultimate lead part in a cosmic drama of redemption. Adam, the first man, left death and sinfulness to posterity, but the last Adam (Jesus-Christ) brought to all forgiveness, life and salvation. Paul’s astonishing success in the non-Jewish world, contrasted with the failure of the early Christian mission among Jews, was itself part of his mystery play. The Second Coming of Jesus, fervently expected by Paul and the primitive church, could not happen – he thought – before the gospel had reached all the Gentile nations. He also imagined that its progress among the heathen would kindle the jealousy of the Jews who would not suffer passively the take-over of their spiritual patrimony by non-Jews. And once the Jews decided to enter the race, they would advance by leaps and bounds and soon catch up with, and overtake the leaders. Thus the whole of mankind, both Jews and Gentiles would enjoy the salvation mediated through Christ.
Paul believed that he himself was commissioned by God to preach Christ to all the nations on the Eastern and Northern shore of the Mediterranean Sea, starting with Syria , Asia Minor, and Greece. He then planned to travel to Rome and convert Italy, and finally rush to Spain. No doubt, it was in Spain, at the westernmost extremity of the inhabited universe, that Paul expected to hear the trumpet signalling the day of Christ’s return, hailed by the mixed alleluia chorus of Gentiles and Jews.
As is often the case with beautiful dreams, they end before their climax is reached. Paul never arrived in Spain. Jews and Christians are still divided, and two millennia have passed without the Second Coming. But Christianity still endures, and this is largely due to the spiritual vision of Jesus sketched by the odd-man-out among the apostles who never saw him in the flesh.
This takes us in Chapter 5 of The Changing Faces, to the third portrait of Jesus, the one contained in the first half of the Acts of the Apostles: the Jesus seen and preached by Palestinian Jewish Christianity. It is far distant from John’s mystical vision of the divine Christ and from Paul’s mystery drama of salvation. The Jesus of the Acts is a Galilean charismatic character, elevated by God to the dignity of Lord and Messiah after raising him from the dead. Instead of considering Jesus as God or a temporary expatriate from heaven, according to a crowd in Jerusalem as “a man attested… by God with mighty works and wonders and signs”, that it is to say a Jewish prophet.
Stepping further back, at least as far as the nature of the tradition transmitted by them is concerned, we encounter in Chapter 6 the Jesus of the Synoptic Gospels of Mark, Matthew and Luke. He is depicted as still living and moving along the dusty and rocky paths of rural Galilee and comes onstage as an itinerant healer, exorcist and preacher, admired by the simple folk, the sick and social outcasts – the sinners, the prostitutes and the tax-collectors – but case of scandal and annoyance to the petit bourgeois village scribes and synagogue presidents. His sympathizers venerated him as a miracle-working prophet and from an early stage, though apparently without his encouragement, his name began to be linked to that of the Messiah, son of David. His beneficial charismatic actions were seen as representing the portents of the messianic age in which the blind see, the deaf hear, the lame walk and the lepers are cleansed. He was not a revolutionary, and entertained no political ambition. The main subject of his proclamation was the imminent arrival of a new regime, and saw himself as the person entrusted by the Father, whom he loved and worshipped, to lead the Jews through the gate of repentance into the spiritual promised land. “Repent for the Kingdom of God is at hand”!
He fell foul of the high-priestly authorities in a politically unstable Jerusalem because he did the wrong thing in the wrong place at the wrong time. The wrong thing was the disturbance which Jesus caused by overturning the stalls and tables of the merchants of sacrificial animals and the money-changers who sold the correct silver coins prescribed for gifts to the Sanctuary. The wrong place was the Temple of Jerusalem where large crowds of locals and pilgrims foregathered and formed a potential hot bed for explosive revolutionary activity. And the days leading to Passover, the feast of Liberation and the expected date of the manifestation of the Messiah, was the worst possible time because at that very tense moment the nerves of the guardians of law and order reached breaking point. Hence the tragedy of Jesus. Seen as a potential threat to peace, he was arrested by the Jewish leaders, who, however, preferring not to take the responsibility for his death on themselves and handed him over to the secular power. So Jesus was executed on a Roman cross by the notoriously cruel governor of Judea, Pontius Pilate.
This portrait painted by the Synoptic of a charismatic, messianic, healer, exorcist and preacher of God’s Kingdom is what one might call the gospel truth about Jesus. But this picture needs to be immersed into the real world of first century Palestinian Judaism as it is known form the Dead Sea Scrolls, the works of the first century Jewish historian Flavius Josephus and the rest of post-biblical literature pre-rabbinic and rabbinic, in which we encounter other prophetic- charismatic characters, albeit of lesser stature than Christ, such as Honi, Hanina ben Dosa or Jesus, son of Ananias, with whom he can be compared. It is by looking through that prism that we may discover, concealed beneath the writings of Matthew, Mark and Luke the shadowy face of the “real” Jesus. I will not give away all the secrets of Chapter 7 of the Changing Faces – the reader will have to turn to the book to discover them – but I will offer here my summation of the Jesus of history.
Here is the conclusion: The face of Jesus, truly human, wholly theocentric, passionately faith-inspired and under the imperative impulse of the here and now, impressed itself so deeply on the minds of his disciples that not even the shattering blow of the cross could arrest its continued real presence. It compelled them to carry on in his name their mission as healers, exorcists and preachers of the Kingdom of God. It was only a generation or two later, with the increasing delay of the Second Coming, that the image of the Jesus familiar from experience began to fade, covered over first by the theological and mystical dreaming of Paul and John, and afterwards by the dogmatic speculations of church-centred Gentile Christianity.
By the end of the first century Christianity had lost sight of the real Jesus and of the original meaning of his message. Paul, John and their churches replaced him by the Christ of faith. The swiftness of the obliteration was due to a premature change in cultural perspective. Within decades the message of the historical Jesus was transferred from its Aramaic-Hebrew linguist context, from its Galilean-Palestinian geographical setting, and its Jewish religious framework to the primarily Greek-speaking pagan Mediterranean world of classical cultural background. The change took place at too early a stage. The clay was still soft and malleable and could easily be moulded into any shape the potter cared to choose. As a result, the new church, by then mostly Gentile, soon lost awareness of being Jewish, indeed, it became progressively anti-Jewish.
Another twist exerted an adverse effect on the appeal of the Christian message to Palestinian and diaspora Jews. Jesus, the charismatic religious Jew, was metamorphosed into the transcendent object of the Christian faith. The Kingdom of God proclaimed by the fiery prophet of Nazareth did not mean much to the average new recruit from Alexandria, Antioch, Ephesus, Corinth or Rome. During the second and third centuries, the leading teachers of the church, trained in Greek philosophy, such as Irenaeus of Lyons, Clement, Origen and Athanasius of Alexandria, substituted for the existential manifesto of Jesus advocating repentance and submission to God, a program steeped in metaphysical speculation on the nature and person of the incarnate Word of God and on the mutual tie between the divine persons of the Most Holy Trinity. They could proceed freely, since by that time there was no longer any Jewish voice in Christendom to sound the alarm.
It is, of course, true that if Christianity had not taken root in the provinces of the Roman empire, it would have remained an insignificant Jewish sect with no external appeal. So when the early church decided that non-Jews could be admitted into the fold, it was logical to attempt a “translation” of the Christian message for the benefit of the non-Jewish world. This inculturation or acculturation is valid provided it does not lead to substantial distortion. To avoid such distortion, it is necessary that the process of adoption remains in the hands of the representatives of the home culture (Judaism in the present case.) However, in the case of Christianity the inculturation was handled by Gentiles who were only superficially acquainted with the Jewish religion of Jesus. As a result, within a relatively short period no Jew was able to find acceptable the new uncultured doctrines of Jesus presented by the church. In fact, I think Jesus himself would have failed to acknowledge it as his own.
Thereafter the growing anti-Judaism of the church distanced Christian culture from the world of Jesus. At the beginning of the fifth century Saint Jerome, the only Hebrew expert of Christendom, compared the sound made by Jewish synagogue worshippers to the grunting of pigs and the braying of donkeys.12 His contemporary, Saint John Chrysostom, bishop of Constantinople, referred to the synagogues of the Jewish Christ-killers as brothels, the citadel of the devil, and the abyss of perdition.13 Later Christian anti-Semites, Luther among them, had such models to imitate. It is worth recording that Julius Streicher, the editor of the notorious Nazi journal, “Der Stürmer”, claimed in his defence before the Allies’ tribunal that if he was guilty of anti-Semitism, so was Luther. His magazine simply repeated Luther’s slogans.
As is well known the age-old religious anti-Semitism continued largely unabated until after the Second World War. Yet it is to be recognized that the Protestant reformation in the sixteenth century caused a considerable change. The reformers, inspired by the spirit of the Renaissance, resurrected the Bible and proclaimed the Hebrew Old Testament and the Greek New Testament the ultimate sources of divine revelation. So the Protestant scholars and Scripture-reading believers were brought closer to the biblical religion, and indirectly closer to Jesus. Still under the impact of the ideals of the Renaissance, Protestant New Testament scholars began to interest themselves in post-biblical Jewish literature. The seventeenth century renowned Cambridge divine, John Lightfoot, recommended to Christians the study of rabbinic literature.14 The Talmud would be useful to them for a deeper understanding of the Gospels, although it poisons the mind of the Jews !
The strange bed-fellowship of anti-Judaic attitude and expertise in Jewish studies continued in Christian circles until the middle of the last century. This is scandalously exemplified in the person of Gerhard Kittel, the editor of the classic ten-volume “Theological Dictionary of the New Testament” 15, who was also a regular contributor to official German Nazi anti-Semitic publications. Only the realization of the horror of the Holocaust put this line of “scholarship” beyond the pale.
By then New Testament criticism, begun in the eighteenth century, had made considerable progress and the discovery of many ancient Jewish documents, chief among them the Dead Sea Scrolls, further enriched the field of comparative study. Thus a new era opened in the quest for the original meaning of Christianity. During the last thirty years dozens of books on the historical Jesus began to sprout from every corner of the religious and non-religious scholarly world.
Since 1945 the perspective has changed to an almost unrecognizable extent. Today the Jewishness of Jesus is axiomatic whereas in 1973 the title of my book, “Jesus the Jew”, still shocked conservative Christians. To accept that Jesus was a Jew means not only that he was born into the Jewish people, but that his religion, his culture, his psychology, and his mode of thinking and teaching were all Jewish. Over the last fifty years, Christian and Jewish scholars have worked together and a significant dialogue has developed between enlightened Christians and Jews. The recent penitential pilgrimage of Pope John Paul II to Israel has further strengthened the atmosphere of friendship.
Jesus the Jew, the charismatic Hasid, meets today with growing recognition, and not just in academic circles or exclusively among professing Christians. With the arrival of the third millennium the time appears ripe for a concerted effort aimed at improving and refining our understanding of the real Jesus and the birth of the Christian movement that arise in his wake.
Notes
1
A lecture delivered at the Hungarian Academy of Sciences on 8 June 2001 under the presidency of Professor Ferenc Glatz, President of the Academy
2
SCM Press, London – Rowman and Littlefield, Lanham, MD, 1998. Hungarian edition: Gondviselésszerű véletlenek (Osiris, Budapest, 2000)
3
Les manuscripts du désert de Juda, Desclee, Paris
4
The Dead Sea Scrolls in English , Penguin , London
5
The Complete Dead Sea Scrolls in English , Penguin, London, 1997
6
Scripture and Tradition in Judaism , Brill, Leiden, 1961
7
Volumes I-III, T.&T. Clark, Edinburgh, 1973-1987
8
Jesus the Jew: A Historians’ Reading of the Gospels, Collins, London. It is now available from SCM Press, London. For a Hungarian translation, see A zsidó Jézus, Osiris, Budapest, 1995.
9
SCM Press, London, 1983
10
SCM Press, London, 1993.
11
Penguin, London, 2000 – Viking Penguin, New York, 2001. Hungarian edition: Jézus változó arcai, Osiris, Budapest, 2001.
12
In Amos: 5:23 (Patrologia Latina XXV, 1054.
13
Homilia I (Patrologia Graeca XIVIII, 847)
14
Horae Hebraicae et Talmudicae, Leipzig, 1658-1675
15
Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart, 1933-1976
Begegnungen22_Suppan
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:137–150.
ARNOLD SUPPAN
Bilanz Balkan März 2004
Am 18. März 2004 titelten Belgrader Zeitungen: „Krieg!” und: „Kosovo im Blut!” – Bei schweren Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben in der unter UN-Verwaltung (Unmik) stehenden und von der KFOR – von der NATO geführte friedenssichernde Truppen – kontrollierten Provinz Kosovo/Kosovë waren etwa 30 Personen ums Leben gekommen, mehr als 500 verwundet, einschließlich einiger KFOR-Soldaten. Die ethnische Herkunft der Todesopfer – ob Kosovo-Albaner oder Serben – wurde absichtlich nicht bekannt gegeben. Die jüngsten Gewalttätigkeiten hatten mit dem Tod eines jungen Serben begonnen, der am 15. März in Čaglavica, einem Dorf südlich von Priština/Prishtinë aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen worden war. Bereits am nächsten Tag waren drei zwölfjährige albanische Knaben in der Nähe der zwischen Albanern und Serben geteilten Stadt Mitrovica/Mitrovicë im Ibar ertrunken, nachdem sie – so die Aussage eines ebenfalls jugendlichen albanischen Augenzeugen – von jungen Serben mit einem Hund in den Fluss getrieben worden waren. Daraufhin versuchten am 17. März Hunderte albanische Demonstranten über die von französischen KFOR-Soldaten und polnischen UN-Polizisten bewachten Ibar-Brükken in den nördlichen, serbischen Stadtteil zu stürmen. Auf Steinwürfe der albanischen Demonstranten antworteten die KFOR-Soldaten und UN-Polizisten mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen; serbische Heckenschützen aber schossen scharf und töteten einige Demonstranten. Nun wurde auch von albanischer Seite geschossen. Erst als am Nachmittag US-Soldaten eintrafen und scharfe Schüsse in Richtung serbische Seite abgaben, beruhigte sich die Lage.1
Parallel zu diesen schwersten Auseinandersetzungen in Mitrovica seit 1999 griffen Albaner in anderen Städten und Dörfern des Kosovo orthodoxe Klöster und Kirchen, sowie Häuser von serbischen Rückkehrern an und setzten sie in Brand. Über 300 Häuser in serbischen Enklaven wurden niedergebrannt, 41 teilweise aus dem Mittelalter stammende serbische Klöster und Kirchen durch Feuer ganz oder teilweise zerstört; über 3.000 Serben und Roma wurden zur Flucht gezwungen. „Das war eine Art Volksaufstand”, erklärte der ehemalige UÇK-Führer und nunmehrige Parteichef der AAK, Ramush Haradinaj, die tausenden Kosovo-Albaner hätten vor allem gegen ihre schlechte soziale Lage und gegen die hohe Arbeitslosigkeit protestiert, aber auch gegen die Forderung des neuen serbischen Ministerpräsidenten Vojislav Koštunica, den Kosovo in Kantone aufzuspalten. Ein hoher NATO-Offizier sprach jedoch unmissverständlich von versuchten ethnischen Säuberungen. Laut UN-Verwaltung seien an diesem „interethnischen Konflikt” insgesamt rund 50.000 Personen beteiligt gewesen, über 160 Personen seien bereits festgenommen worden. Waren die Kosovo-Serben diesmal eindeutig die Opfer, so attackierten andere Serben Moscheen in Belgrad und Niš und zündeten sie an. Auch albanische Geschäfte wurden geplündert – und die serbische Polizei sah zu. Parolen von 1989 tauchten wieder auf: „Gebt uns Waffen, wir gehen in den Kosovo”. Die serbische Regierung forderte von der internationalen Gemeinschaft nichts weniger als die Entsendung serbischer Truppen in den Kosovo, und die russische Duma – Russland hatte im Sommer 2003 sein KFOR-Kontingent aus finanziellen Gründen abgezogen – verabschiedete eine einhellige Resolution, in der die Entsendung serbischer Truppen zum Schutz der Bevölkerung und der orthodoxen Kirchengüter gefordert wurde.2
Daut Dauti, ein albanischer Analyst aus dem Kosovo lamentierte: „It’s back to the old days,” und: Die Gewaltausbrüche erfolgten, weil seit Sommer 1999 „nothing really happened.” Kosovo sei noch immer nicht unabhängig und die Wirtschaft nicht in Schwung gekommen; die Arbeitslosigkeit betrage noch immer 70%. Für die kosovo-albanische Tageszeitung „Zeri” aber war der Gewaltexzess Wasser auf Belgrads Mühlen. Die in Serbien erhobene Behauptung, wonach ein friedliches Zusammenleben unmöglich sei, habe sich bestätigt, und die von Belgrad geforderte Teilung des Kosovo entlang ethnischer Grenzen werde aktueller denn je. Der Herausgeber der Zeitung „Koha Ditore”, Veton Surroi, schrieb in einem Kommentar, dass das Kosovo nun zur Geisel jener Scharfmacher geworden sei, die nach dem Abzug der jugoslawischen Truppen im Juni 1999 gegen die serbische Bevölkerung mit den Mitteln ethnischer Säuberungen vorgegangen seien. Tatsächlich signalisierten für Dušan Janjić, den Chef des Belgrader Forums für ethnische Beziehungen, die neuen Gewalttätigkeiten ”the final collapse of the ideology of multicultural society in Kosovo.”3
KFOR und UN-Polizei; die vom plötzlichen Ausbruch der Gewalttätigkeiten – trotz einiger Warnzeichen – auch in Prishtinë, Gračanica, Peć/Pejë und Prizren offenbar völlig überrascht worden waren, reagierten umgehend. Verschiedene KFOR-Kontingente griffen sofort ein, um serbische Zivilisten vor albanischen Angriffen zu schützen. In Prishtinë musste die Polizei sogar die Erstürmung des Unmik-Hauptgebäudes verhindern. Daher wurden 150 in Bosnien stationierte US-Soldaten in den Kosovo in Marsch gesetzt, weitere 200 in Bereitschaft gestellt; die britische Regierung kündigte an, 750 zusätzliche Soldaten in den Kosovo zu schicken, die deutsche Regierung sagte weitere 600 Bundeswehrsoldaten zu. Die bisherige internationale Streitmacht von etwa 17.000 KFOR-Soldaten und 10.000 UN-Polizisten erhält somit eine deutliche Aufstockung. Sogar Österreich, das mit Deutschland und der Schweiz das „Task Force Dulje” im Gebiet von Suva Reka und Orahovac unterhält, verstärkte sein Kontingent von 504 Mann um zusätzliche 90 Mann. Das Kosovo-Schutzkorps, die offiziell mit Zivilschutzaufgaben betreute Nachfolgeorganisation der UÇK-Rebellen, bereitete gleich einen Strategieplan vor, in dem die Gründung einer Armee von 30.000 Mann gefordert wurde.4
Mitrovica/Mitrovicë oder Kosovska Mitrovica, wie die Stadt in der Tito-Ära hieß, wurde nicht zufällig Mittelpunkt der jüngsten albanisch-serbischen Auseinandersetzungen. Nach der Volkszählung von 1981 lebten in dieser Stadtgemeinde noch 105.000 Einwohner, darunter fast 67.000 Albaner, 28.000 Serben und knapp 11.000 Roma, Bošnjaken und andere Minderheiten. Schon damals hatte allerdings der Niedergang des Firmenkonglomerats „Trepča” begonnen, in dem 20.000 Arbeiter und Angestellte nicht nur den Abbau von Blei, Zink und Silber betrieben, sondern auch zahlreiche andere Fabriken, Hotels und Ländereien bewirtschafteten. Bereits im Frühjahr 1981 war es hier zu größeren Streikaktionen und Ausschreitungen, sowie zum Einsatz von Polizei und Armee gekommen. Im Verlauf der 1980er Jahre wurde „Trepča” immer mehr zum Zuschussbetrieb, und auch heute noch – nachdem die Spekulationen der sozialistischen Großmannssucht längst ausgeträumt sind – bewachen und verwalten 2.000 Lohnempfänger die Reste des einstigen Firmenimperiums. Seit dem Krieg im Kosovo ist die Stadt freilich entlang des Ibar geteilt, und serbische „Brückenwächter” sorgen dafür, dass sich kein Albaner in den serbisch kontrollierten Nordteil der Stadt wagt. Dies bekam im Dezember 2003 auch der albanische Ministerpräsident der Übergangsregierung des Kosovo, Bajram Rexhepi, zu spüren, als er sich mit einer Delegation der Weltbank im Norden der Stadt aufhielt und in einem Restaurant „entdeckt” wurde. Sofort versammelten sich einige Dutzend serbische Gewalttäter und begannen mit Steinen zu werfen, so dass Rexhepi mit seinen Leibwächtern nur die Flucht durch eine Hintertür blieb. Zwar bewachen seit 1999 KFOR-Truppen und internationale Polizei die ethnisch geteilte Stadt, der Waffenstillstand blieb aber äußerst fragil. Ob eine „Paketlösung” – wie jüngst von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) vorgeschlagen – mit Aufhebung der Teilung der Stadt und vollständiger Rückgabe des Eigentums (z.B. der Wohnungen) an die jeweils Vertriebenen umsetzbar wäre, muss derzeit freilich stark bezweifelt werden. Denn bereits Präsident Milošević hatte den serbischen Nordteil der Stadt mit dem angrenzenden, ebenfalls serbischen Bezirk Zvečan verwaltungsmäßig zusammengeschlossen und damit die Teilung vertieft.5
Auch der neue Ministerpräsident Koštunica – der frühere Präsident der Bundesrepublik Jugoslawiens und Gegenspieler sowohl von Slobodan Milošević als auch von Zoran Djindjić – hatte vor einigen Wochen die „Kantonisierung” des Kosovo vorgeschlagen, was natürlich die Albaner strikt abgelehnt hatten. Aber auch der UN-Verwalter im Kosovo, der Finne Harri Holkeri, stellte nach einem Treffen mit Koštunica in Belgrad unmissverständlich fest, dass eine Aufteilung des Kosovo nicht zur Diskussion stehe, da ein solcher Vorschlag in der UN-Resolution 1244 – der gültigen Rechtsgrundlage für die ehemalige serbische Provinz Kosovo – nicht vorgesehen sei.6 Koštunica war erst nach einer schwierigen Regierungsbildung in Serbien neuerlich an die Macht gekommen, nachdem bei den Parlamentswahlen im Dezember 2003 die ultranationalistische Radikale Partei des in Den Haag als mutmaßlicher Kriegsverbrecher einsitzenden Vojislav Šešelj als stärkste und die nationalistische Demokratische Partei Serbiens Koštunicas als zweitstärkste Partei hervorgegangen waren. Koštunica stellte sich nun, am 19. März, an die Spitze eines Protestzuges und marschierte durch das Stadtzentrum von Belgrad zur neu errichteten Sava-Kathedrale. Zu Mittag läuteten im ganzen Land die Kirchenglocken. Der nationale Schulterschluss zwischen serbischer Politik und serbisch-orthodoxer Kirche war offensichtlich.
Noch am 12. März 2004, am ersten Jahrestag der Ermordung des Ministerpräsidenten Djindjić, hatten – relativ einträchtig – Koštunica, sein Vorgänger Zoran Živković und der serbische Kronprätendent, Alexander Karadjordjević, am Trg republike in Belgrad eine Gedenktafel enthüllt und Kränze am Ort des Attentats, im Hof des Regierungsgebäudes, niedergelegt. Allerdings hatte Koštunicas Partei, die Demokratische Partei Serbiens, in den letzten drei Jahren den proeuropäischen Kurs Djindjić immer wieder verteufelt. Die Belgrader Zeitschrift „Vreme” warf nun Djindjić7 posthum vor, ein institutionelles Vakuum hinterlassen zu haben, das von unfähigen Erben nur teilweise ausgefüllt worden sei. Dieses Vakuum stelle aber eine akute Gefahr für die serbische Gesellschaft dar. Tatsächlich hatte Djindjić zur Erreichung seiner Ziele manchmal rechtsstaatliche und moralische Prinzipien vernachlässigt und hatte auch zweifelhafte Kontakte zu Milošević-Günstlingen unterhalten. Andererseits war es aber Djindjić, der Milošević an das UN-Tribunal in Den Haag ausliefern ließ und somit den nun schon zwei Jahre dauernden Kriegsverbrecherprozess ermöglichte. Und Djindjić, der seine größte Verantwortung darin sah, sein „Land nach Europa zurückzuführen”, hatte auch schon vor drei Jahren die mehr als problematische Haltung vieler Serben zu Europa erkannt: „Wir geben uns zu viel Bedeutung als Land und als Leute. Viele denken hier, die Welt schulde uns etwas.” Europa aber warte nicht auf Serbien.8
Nach dem Bomberkrieg der NATO gegen Serbien zwischen März und Juni 1999 hatte Milošević die serbischen Truppen aus dem Kosovo abziehen müssen, und der größte Teil der in den Jahren 1998 und 1999 vertriebenen etwa 800.000 Kosovo-Albaner war wieder in ihre Heimatprovinz zurückgekehrt. Freilich verließen nun – nicht ohne albanischen Druck – mehr und mehr Kosovo-Serben ihre Heimat, so dass heute neben den 1,8 Millionen Albanern nur mehr etwa 100.000 Serben und andere Nicht-Albaner (hauptsächlich Roma) im Kosovo leben, vor allem in zwei Gemeinden nördlich von Mitrovica, sowie in mehreren Gemeinden an der Grenze zu Makedonien. Trotz intensiver Bemühungen der internationalen Gemeinschaft nahm in den vergangenen Jahren der Wille zum Zusammenleben im Kosovo eher ab und – parallel dazu – die politische Polarisierung zu. Auf der Seite der Kosovo-Albaner fehlt einfach die Bereitschaft zur Aussöhnung mit den Kosovo-Serben. Und für viele Serben muss Kosovo nach wie vor ein Teil Serbiens bleiben.9
Ende August 2003 hatte das noch von den sogenannten Reformkräften des im Spätherbst 2003 abgewählten DOS-Bündnisses dominierte serbische Parlament einstimmig eine Deklaration verabschiedet, wonach Kosovo ein integraler Teil Serbiens bleiben solle, mit weitreichender Autonomie für die albanische Bevölkerung. Die serbische Historikerin Latinka Perović10 sah darin ein deutliches Beispiel, „dass die politische Elite Serbiens die neuen Realitäten bezüglich Kosovos nicht akzeptieren will”. Dazu gehöre, dass die überwiegend albanische Bevölkerung des Kosovo mit Belgrad einfach nichts mehr zu tun haben wolle. Aber in Belgrad und in Serbien bestimme nach wie vor ein nationalistischer Konsens den öffentlichen Diskurs. Weder die serbische Gesellschaft im Allgemeinen, noch die früheren Regierungsparteien hätten eine historische Bilanz gezogen. Aber auch frühere Gegner der Kriege Milošević’ hätten das ethnische Programm, in dessen Namen die Kriege geführt worden seien, nie kritisch hinterfragt – zum Teil auch aus Angst vor Wählerverlusten.
Lediglich der ermordete Ministerpräsident Djindjić habe begriffen, dass Serbien einen Schlussstrich unter das ethnische Programm setzen müsse, um Partner in der EU und in den U.S.A. zu finden. Daher habe er auch die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal intensiviert und Milošević nach Den Haag überführen lassen. Diese beachtliche Entscheidung habe aber keine tiefere Wirkung in der serbischen Gesellschaft gezeitigt – fast im Gegenteil: Viele Serben sähen sich mit Milošević auf der Anklagebank und das, obwohl sich der frühere Staatschef ausschließlich als Individuum zu verantworten habe.11
Die Beharrungskraft des nationalistischen Konsenses in Serbien erklären manche interne und externe Beobachter nur teilweise mit den schwierigen Lebensbedingungen in Serbien, wo ein Großteil der Bevölkerung um das tägliche Überleben kämpfen muss. Entscheidend ist vielmehr die nationalistische Weichenstellung, die zuerst serbische Intellektuelle (vornehmlich Schriftsteller und Historiker), ab 1987 immer mehr gesellschaftliche Kräfte vorgenommen hätten. Die von Slobodan Milošević seit seinem legendären Auftritt im Kosovo im April 1987 initiierte nationalistische Massenbewegung – als „antibürokratische Revolution” getarnt – zielte nun darauf ab, alle serbischen Siedlungsgebiete – auch die, in denen Serben nur eine Minderheit ausmachten – in einem Staat zu vereinen, sei dies in einem von Serbien dominierten Jugoslawien oder in einem „ethnisch reinen Staat”. Dieser nationalistische Konsens erfasste innerhalb kürzester Zeit so gut wie alle Gruppen der Serben in allen jugoslawischen Teilrepubliken und autonomen Regionen, mit Ausnahme der Republik Slowenien, in der es keine autochthone serbische Minderheit gab. Dadurch wurden aber längst fällige wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Reformen blockiert, und dies angesichts des Falles des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer. Nicht einmal als das großserbische Programm in Kroatien und teilweise auch in Bosnien- Herzegowina eine Niederlage erlitten hatte, wurde dieses Scheitern intellektuell und moralisch verarbeitet. Dazu gehört, dass territoriale Ansprüche durchaus mit sich widersprechenden Prinzipien begründet werden: Nach allgemeiner Meinung gehöre Kosovo zu Serbien, weil es das angebliche Kernland des mittelalterlichen Serbien gewesen sei; die Vojvodina aber gehöre zu Serbien, weil die Mehrheit der Bevölkerung heute serbisch sei. Dass die mittelalterliche Herrschaft der serbischen Könige und Zaren im Kosovo nur gut 150 Jahre gedauert hatte, und dass die Albaner dort seit Jahrhunderten die Bevölkerungsmehrheit stellen, stört hierbei ebenso wenig wie die Tatsache, dass die schon im Mittelalter und dann wieder seit dem frühen 18. Jahrhundert zu Ungarn gehörende Vojvodina erst nach 1945 eine serbische Mehrheit erhielt.12
Die Langlebigkeit des nationalistischen Konsenses ist zweifellos Ausdruck einer tiefen Identitätskrise in der serbischen Gesellschaft. Die meisten Menschen wünschten sich zwar den materiellen Wohlstand des Westens, lehnten jedoch den europäischen Geist ab, dem dieser Wohlstand entspringt. Daher werden die westlichen Standards bezüglich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und globaler Marktwirtschaft nicht angenommen. Dem europäischen Geist wird eine populistische Mischung aus Bauerntum, Orthodoxie und Folklorismus entgegengesetzt und darin die eigentliche Bestimmung des Serbentums gesehen. Diese Ideologisierung vormoderner Lebensformen bringt auch ein autoritäres Syndrom hervor: Die Macht soll nicht von der Gesellschaft ausgehen, sondern die Macht soll jenem zukommen, der das vermeintliche Serbentum am besten verkörpere. Diese Vorstellung lehnt sich an die russische Ausprägung von Sozialismus im 19. Jahrhundert an: Die Gesellschaft wird als Volksdemokratie verstanden, die auf traditionellen Einrichtungen wie der Dorfversammlung und dem Ältestenrat gründet. Daraus aber entsteht eine autoritäre politische Kultur, die sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Schwäche der Gesellschaft stets reproduziert. Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass es im Verlauf der serbischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder nur relativ kurze Phasen einer Europäisierung – mit politischer Demokratisierung, Industrialisierung und Ausbildung zu qualifizierter Arbeit – gegeben hat, die auch immer wieder – etwa 1912 oder 1929 oder 1941 oder 1972 – jäh unterbrochen worden waren. Daher ist der Prognose Latinka Perović’ zuzustimmen: „Solange die [serbischen] Politiker nicht einsehen, dass kollektivistische Gesellschaftsvorstellungen überholt sind, kann man nicht erwarten, dass in Serbien eine neue Orientierung entsteht.”13
Das 1993 in Den Haag eingerichtete UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia) sollte bei Serben, Kroaten, Montenegrinern und bosnisch-herzegowinischen Muslimen eine nationale Selbstbesinnung einleiten. Durch Individualisierung von Schuld und umfassende juridische Aufarbeitung sollten auch die verheerenden Feindbilder abgebaut werden. Aber die meisten Politiker in Belgrad, Zagreb, Sarajevo und Podgorica waren bisher nicht bereit, ihrer Bevölkerung die Aufgaben des UN-Tribunals zu erklären. Als allgemeine Ausrede galt und gilt, alle hätten Kriegsverbrechen begangen. Bestenfalls politischer Pragmatismus zwang sie, mit dem internationalen Gericht zu kooperieren, da andernfalls die weiteren Kontakte zu EU und NATO gefährdet waren. Änderte das Ableben der Präsidenten Franjo Tudjman und Alija Izetbegović zumindest die Haltung mancher Kroaten und mancher Muslime, so scheint der endgültige Bruch mit dem Milošević-Regime in Belgrad noch immer nicht vollzogen. Immerhin hatte ein großer Teil der politischen, ökonomischen und geistigen Eliten in nationalistischer Verblendung Milošević unterstützt. Mittlerweile haben aber Schuldeingeständnisse serbischer Angeklagter eine Fülle von Einzelheiten über Kriegsverbrechen ans Tageslicht gebracht. So hat ein ehemaliger bosnisch-serbischer Offizier vor dem UN-Tribunal zugegeben, dass das Massaker an etwa 7.500 muslimischen Bošnjaken in Srebrenica im Juli 1995 sorgfältig geplant und unter dem Kommando von General Mladić systematisch durchgeführt worden sei. Freilich ist es nach wie vor ein Skandal – auch der in Bosnien stationierten NATO-Truppen –, dass die beiden Hauptverantwortlichen für den Krieg in Bosnien, der Arzt Radovan Karadžić und General Ratko Mladić, neun Jahre nach der Anklageerhebung noch immer in Freiheit sind. Immerhin lässt nun der neue Hohe Repräsentant in Sarajevo, Paddy Ashdown, die beiden bosnisch-serbischen Kriegsherren verstärkt suchen. Und immerhin wurde in Den Haag von den insgesamt 94 Angeklagten bereits die Hälfte abgeurteilt (darunter Milan Babić der ehemalige Führer der Serben in Kroatien), acht stehen derzeit vor Gericht (darunter Momčilo Krajišnik, der Führer der Serben in Bosnien), 25 warten noch auf den Prozess und 20 werden noch gesucht. Zu den Gesuchten gehört auch der ehemalige kroatische General Gotovina, der sich aber als ehemaliger Fremdenlegionär mit französischem Pass möglicherweise in Südfrankreich versteckt hält.14
Ende Februar 2004 hat die Anklagevertretung des UN-Tribunals (Chefanklägerin Carla Del Ponte und Ankläger Geoffrey Nice) nach zweijähriger, ziemlich mühsamer Arbeit die Beweisführung gegen den Machthaber Serbiens zwischen Herbst 1987 und Herbst 2000 beendet. Da Slobodan Milošević kaum schriftliche Dokumente zurückließ, die seine Schuld hätten beweisen können, musste die Anklage ihre Beweisführung vor allem auf die Aussagen von knapp 300 Zeugen abstützen. Der seit über zwei Jahren in der Nähe des mondänen holländischen Seebades Scheveningen wegen vermuteten Völkermords (in Bosnien), wegen vermuteter Verbrechen gegen die Menschlichkeit (im Kosovo und in Bosnien), sowie wegen vermuteter Verstöße gegen die Genfer Konventionen und vermuteter Verletzung des Kriegsrechts einsitzende Milošević kann im Mai mit seiner Verteidigung beginnen, wofür ihm 150 Prozesstage eingeräumt wurden. Bisher waren bei ihm keine Anzeichen von Einsicht oder gar Reue zu erkennen. Allerdings haben bereits frühere enge Vertraute, ehemalige jugoslawische Politiker (so der ehemalige slowenische Präsident Milan Kučan) und westliche Vermittler (wie Paddy Ashdown, David Owen und Wesley Clark) ausgesagt, dass Milošević nicht nur alle politischen Institutionen in Belgrad und Serbien beherrscht, sondern auch entscheidenden Einfluss auf die Jugoslawische Volksarmee sowie – zumindest am Beginn – auf die militärische und politische Führung der kroatischen und bosnischen Serben ausgeübt habe.15
Auch für die Zukunft des Staates Bosnien und Herzegowina gibt es ganz unterschiedliche Visionen.16 Die „Wesire und Konsuln” der von Ivo Andrić so meisterhaft beschriebenen Zeit um 1800 in seiner Geburtsstadt Travnik sind nach dem verheerenden Belagerungs- und Vertreibungskrieg zwischen 1992 und 1995 längst von der neuen Spezies der sogenannten „Internationalen”, der Vertreter internationaler Organisationen (EU, NATO) aber auch privater NGOs, abgelöst worden. Eine in Berlin und Sarajevo angesiedelte Europäische Stabilitäts-Initiative (ESI) unter Leitung des Österreichers Gerald Knaus machte in einer Studie jüngst den Vorschlag, Bosnien und Herzegowina nach helvetischem Vorbild zu föderalisieren und die beiden bisherigen „Entitäten” abzuschaffen. Die zwölf Kantone der Bošnjakisch-Kroatischen Föderation, die Republika Srpska und der Distrikt von Brčko sollten als nunmehr 14 gleichberechtigte Kantone in einen Föderalstaat eingebunden werden, um die bisher übermäßige Bürokratisierung durch Reduzierung von vier auf drei Verwaltungsebenen zurückzubinden und die Gemeinsamkeiten des Staates stärker sichtbar zu machen. In einer von den vier deutschen Parteien-Stiftungen nach Sarajevo eingeladenen Diskussion mit bošnjakischen, kroatischen und serbischen Politikern verteidigte der Präsident der Serbischen Demokratischen Partei den Sonderstatus der Republika Srpska, während ein Vertreter der regierenden bošnjakischen Demokratischen Aktion die fortgesetzte Präsenz der „Internationalen” wünschte und nur ein sozialdemokratischer Vertreter für eine überethnische Neuaufteilung des Landes nach wirtschaftlich sinnvollen Regionen eintrat. Zwar gab es Lob, dass im Lande wieder völlige Bewegungsfreiheit herrsche, und dass über die Hälfte der Vertriebenen zurückgekehrt seien, dennoch sei die Ineffizienz eines gigantischen und teuren Verwaltungsapparats sichtbar und nach wie vor die Durchführung einer Volkszählung unmöglich, ohne die jedoch keine verlässlichen Daten zu erheben seien.17
Auch der Hohe Repräsentant der Staatengemeinschaft (OHR), der britische Liberale Paddy Ashdown, denkt laut über Verwaltungskonzentrationen nach. Das 1175 km2 große und etwa 100.000 Einwohner umfassende Stadtgebiet von Mostar in der Herzegowina wurde 1996 in sechs Verwaltungsbezirke unterteilt, drei kroatisch und drei bošnjakisch kontrollierte. In einem Erlass vom 28. Jänner 2004 bestimmte nun Ashdown für den 15. März die formelle Auflösung dieser sechs Verwaltungsbezirke (mit zusammen 700 Mitarbeitern) und deren Ersetzung durch ein einheitliches, 35-köpfiges Stadtparlament mit einem Bürgermeister. Mit der neuen Struktur ließen sich wöchentlich immerhin 315.000 Dollar einsparen. Natürlich sind mit dieser autokratischen Weisung weder die im Westteil der Stadt regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), noch die im Ostteil dominierende Bošnjakische Demokratische Aktion (SDA) einverstanden, denn Ashdown trifft damit mehrere, seit dem Krieg etablierte Machtsysteme, die mit ihrer Korruption zum Teil direkt an die jahrhundertelange osmanische Herrschaft erinnern. Obwohl für alle wichtigen künftigen Beschlüsse im Stadtrat eine Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre, lamentieren HDZ und SDA von der Gefahr einer Beherrschung durch die andere Seite. Tatsächlich wollen beide Seiten in dem von ihnen beherrschten Stadtteil absolut regieren können und notfalls auch einer Teilung der Stadt zustimmen. Nach Meinungsumfragen scheint aber eine Mehrheit der Bevölkerung den Absichten Ashdown’s zuzustimmen. Ein bošnjakischer Arzt, der nach 1995 aus dem westeuropäischen Asyl zurückgekehrt war, resumierte daher treffend: „Wir lebten immer unter irgendeinem fremden Diktat. Offenbar geht es auch heute nicht anders.”18
Auch Makedonien lebte immer unter irgendeinem fremden Diktat – ich meine natürlich das slawische Makedonien und nicht das Imperium Alexander des Großen. Nach erstaunlich friedlicher Verselbständigung im Herbst 1991, die der alte politische Fuchs Kiro Gligorov im Windschatten des serbisch-kroatischen Krieges geradezu meisterhaft durchgeführt hatte, geriet der neue Staat „The Former Yugoslav Republic of Macedonia” – so verlangte es das NATO- und EU-Mitglied Griechenland – recht bald in slawisch-albanische Auseinandersetzungen. Die slawischen Makedonier betrachteten den neuen Staat als ihren Nationalstaat, während sich die starke albanische Minderheit mit Recht an den Rand geschoben sah. Dabei begann sie mit Hilfe ihrer westlichen Diaspora und auf Grund der geringen Involvierung in die zusammenbrechende ex-jugoslawische Staatswirtschaft die slawischen Makedonier wirtschaftlich zu überholen. Als albanische Intellektuelle unter Führung von Fadil Sulejmani Ende 1994 die private „Tetovo-Universität” gründeten, verlangte die Regierung in Skopje die sofortige Schließung; es folgten Proteste, Schießereien und Tote. Das Projekt aber wurde zur „nationalen Sache” der Albaner, und heute werden nach Schätzung der OSZE an dieser Universität etwa 2.500 Studenten ausgebildet, nach Schätzungen der Albaner bis zu 10.000. Als Kompromiss im Bildungsstreit richteten westliche Geldgeber im Herbst 2001 die ebenfalls private „Südosteuropäische Universität” in Tetovo ein, die albanisch-, makedonisch- und englischsprachig geführt wird und fünf auf den Arbeitsmarkt ausgerichtete Fakultäten betreibt (Recht, Verwaltung, Betriebswirtschaft, Kommunikationstechnologie und Lehrerausbildung). Ende Jänner 2004 beschloss nun die multiethnische Regierungskoalition in Skopje die Etablierung einer dritten, einer albanischsprachigen Universität in Tetovo. Freilich wird vorerst zu klären sein, welche Fakultäten der „Tetovo-Universität” allenfalls übernommen werden könnten. Schon jetzt forderte der Vorsitzende der albanischen Regierungspartei, Arben Xhaferi, von der neuen Universität „höchste Anforderungen”: „Unsere Bürger sollen nicht in Cambridge studieren. Cambridge wird in Tetovo sein.” – Davon haben schon viele geträumt; das wird auch in Tetovo noch etwas dauern.19
Trotz dieser erfreulichen Bildungsoffensive sollte nicht vergessen werden, dass der unabhängige Staat Makedonien noch im Sommer 2001 am Rande eines Bürgerkriegs zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der albanischen UÇK-Guerilla stand. Nur unter massivem Druck der internationalen Staatengemeinschaft kam das Abkommen von Ohrid zustande, das durch eine Reihe von Reformmaßnahmen die verstärkte Integration der Albaner in das makedonische Staatswesen vorsah. Tatsächlich wurde während der Präsidentschaft des bekennenden Methodisten Boris Trajkovski die angeordnete Cohabitation ausgebaut und scheint auch nach dem tragischen Flugzeugabsturz des Präsidenten Ende Februar 2004 zu funktionieren. Jedenfalls konnte am 22. März 2004 eine makedonische Regierungsdelegation unter Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Branko Crvenkovski das Gesuch um Aufnahme in die EU in Dublin abgeben. Kein geringerer als der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hatte am Grab Trajkovskis dazu ermuntert: „Wir freuen uns, das Gesuch Makedoniens für den Beitritt in die Union entgegenzunehmen.” Tatsächlich waren in den letzten Jahren unter westlichem Druck wesentliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Reformen erfolgt, die nun auch die albanische Bevölkerungsminderheit – immerhin zwischen 25 und 30% stark – wesentlich besser einbanden. Freilich, verglichen mit Kroatien, das vor einem Jahr sein Gesuch an die EU eingereicht hatte, weist Makedonien noch gewaltige wirtschaftliche und soziale Rückstände auf, die nicht zuletzt auch gegenüber seinem südlichen Nachbarn Griechenland bestehen.20
Zur Versöhnung zwischen den slawischen und albanischen Makedoniern könnte der nahezu 50jährige serbisch-makedonische Kirchenstreit beitragen. Bereits 1958 schufen die orthodoxen Bischöfe der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien eine eigene Kirchenorganisation, und 1967 erklärte sich die makedonisch-orthodoxe Kirche als autokephal – natürlich mit Zustimmung Titos. Weder die serbisch-orthodoxe Kirche noch der ökumenische Patriarch in Konstantinopel erkannten jedoch die makedonische Schwesterkirche an. Der serbische Patriarch Pavle forderte daher auf Anraten einiger seiner nationalistischen Bischöfe zum diesjährigen orthodoxen Neujahr die „makedonischen Brüder und Schwestern” auf, in den Schoß seiner Kirche zurückzukehren. Schon im Mai vergangenen Jahres hatte Belgrad in Ohrid eine Erzdiözese einzurichten versucht; Erzbischof Jovan war aber nach Beeinflussung einiger Klöster verhaftet und wegen „Aufwiegelung zu nationalem, religiösem und ethnischem Hass” zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Weder Präsident Trajkovski noch der serbisch-montenegrinische Außenminister Goran Svilanović wollten sich in den Kirchenstreit hineinziehen lassen. Allerdings verabschiedete das makedonische Parlament eine überparteiliche Deklaration, welche die „Angriffe” der serbisch-orthodoxen Kirche als Infragestellung der Souveränität und Integrität des Landes verurteilte. Denn die autokephale orthodoxe Kirche sei für die geistige Prosperität des Landes von größter Bedeutung.21
Die Aussichten für die Entwicklung in den kommenden Jahren sind also in Serbien, im Kosovo und in Bosnien nach wie vor mehr als kritisch:
1) Für die Neuwahl eines serbischen Präsidenten im Juni 2004 hat bereits Tomislav Nikolič, der stellvertretende Chef der Radikalen Partei des in Den Haag einsitzenden mutmaßlichen Kriegsverbrechers Vojislav Šešelj, seine Kandidatur angekündigt. Laut Meinungsumfragen wäre nur Koštunica in der Lage, diesen Kandidaten der ultranationalistischen Radikalen zu schlagen, doch dieser äußerte bisher kein Interesse an einem Wechsel ins höchste Staatsamt. Eine Nagelprobe für die Bereitschaft der neuen Regierung zur Zusammenarbeit mit dem Westen wird sehr rasch die Frage der weiteren Kooperation mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag darstellen. Weder der neue Ministerpräsident Koštunica noch die überwiegende Mehrheit der Serben sind zu weiteren Auslieferungen von gesuchten Kriegsverbrechern bereit. „Serbs believe that The Hague has blackmailed them, and they now hate it more than they hate NATO,” schrieb unlängst eine serbische Journalistin. Und man fragt in Serbien, warum die Untersuchungen gegen den nun verstorbenen bosnischen Präsidenten Izetbegović verzögert worden seien, und warum in Den Haag noch kein Kosovo-Albaner abgeurteilt worden sei. Vier warten dort derzeit auf einen Prozess, mit weiteren Verhaftungen von ehemaligen albanischen Rebellen ist aber zu rechnen. Da diese freilich als Volkshelden gelten, könnte dies durchaus zu neuen Unruhen führen.22
2) Wie die jüngsten Unruhen zeigten, ist das Frustrationspotential unter den Albanern und Serben im Kosovo so hoch angestiegen, dass jederzeit mit weiteren gewalttätigen Ausschreitungen zu rechnen ist. Die Kosovo-Albaner wollen eine Klärung des völkerrechtlichen Status zu ihren Gunsten herbeiführen; die serbische Minderheit will eine Absicherung ihrer gefährdeten Lage innerhalb Serbiens. Die neue Belgrader Regierung, gestützt auf die von der internationalen Gemeinschaft merkwürdigerweise zugelassenen serbischen parallelen Verwaltungsstrukturen im Kosovo, spricht von einer Aufsplitterung der Unruheprovinz in albanische und serbische Regionen, ohne den Souveränitätsanspruch auf die gesamte Provinz aufzugeben – vorerst. Die inhaltliche Bewegung auf serbischer Seite könnte bei entsprechender Reaktion auf albanischer Seite zu serbisch-albanischen Verhandlungen über eine Teilung des Kosovo führen, die von der westlichen Staatengemeinschaft bisher strikt abgelehnt wurde. UNO, NATO und EU aber werden sich entscheiden müssen, ob sie das bisherige Provisorium auch weiterhin mit viel Geld, Beamten, Polizisten und Soldaten aufrecht erhalten wollen – ohne in naher Zukunft eine wirkliche Aussöhnung zwischen Albanern und Serben erreichen zu können –, oder ob sie nicht doch zu wirklichen Friedensgesprächen ohne Vorbedingungen (wie etwa die weitere Gültigkeit der UN-Resolution 1244) einladen sollten, um wenigstens das „Pulverfass” Kosovo zu entschärfen. Immerhin sollte die Geschichte lehren, dass es zwischen Albanern und Serben niemals ein wirkliches Zusammenleben gegeben hatte, weder unter osmanischer noch unter jugoslawischer Herrschaft. In Perioden des titoistischen Jugoslawien gab es wenigstens ein friedliches Nebeneinander, das derzeit nur bei deutlicher Trennung erreichbar scheint.23
3) Ein Blick in die Geschichtsbücher – in westliche wie in jugoslawische – könnte den EU-Beauftragten Janvier Solana lehren, dass sich das montenegrinische Volk selten freiwillig einem anderen Staatswesen unterordnete. Das mussten im Verlauf der Geschichte auch die Osmanen, Venetianer oder Habsburger erfahren. Sogar die Eingliederung ins erste Jugoslawien war im November 1918 nicht ganz freiwillig erfolgt, und auch der montenegrinische Partisanenführer Milovan Djilas hatte nicht alle Landsleute auf seiner Seite. Dies bedeutet dass, der EU früher oder später nichts anderes übrig bleiben wird, als in Montenegro das Volk befragen zu lassen, ob die serbisch-montenegrinische Staatsgemeinschaft bestehen bleiben soll oder nicht. Die jüngsten Krisen in Serbien haben den Befürwortern einer montenegrinischen Unabhängigkeit sicher Auftrieb gegeben.24
4) Da die Zerstörung Bosniens und der Herzegowina in erster Linie von der politischen Strategie Milošević’ und Karadžić’ und ihrer Helfershelfer ausging und von jungen städtischen outlaws wie Arkan durchgeführt wurde, könnte nach Auslieferung und Aburteilung aller Kriegsverbrecher doch eine Annäherung zwischen den drei Volksgruppen eingeleitet werden. Allerdings hat in weiten Teilen Bosniens und der Herzegowina, trotz der Rückkehr vieler Flüchtlinge, doch eine, noch immer anhaltende Separierung zwischen Serben, Kroaten und Muslimen stattgefunden, die höchstens einem stark föderalisierten Staatswesen größere Überlebenschancen einräumt. Marie-Janine Calic sah in einer Publikation aus dem Jahre 1996 vier Faktoren als entscheidend für die Umsetzung des Vertrages von Dayton bzw. Paris: die Geschwindigkeit der Demokratisierung in Bosnien-Herzegowina; die Garantie der Freizügigkeit innerhalb des neuen Staates einschließlich der Rückkehr der Flüchtlinge; das Tempo des wirtschaftlichen Wiederaufbaues; und die praktische Umsetzung der militärischen Vereinbarungen. Freilich, sollte die Implementierung wichtiger politischer Vereinbarungen an der mangelnden Kompromissbereitschaft der Konfliktparteien scheitern, wären auch die militärischen Befriedungsbemühungen hinfällig. Ob die Volksgruppen Bosniens und der Herzegowina wieder in einem gemeinsamen Staat zusammenleben wollten, hänge einerseits von der Besserung der allgemeinen Lebensverhältnisse ab, andererseits von der Bereitschaft der politischen Führungen, von ihrem exklusiv-nationalistischen Kurs abzurücken, nicht zuletzt aber auch von der Frage, in welchem Maß die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.25
5) Eine entscheidende Frage für die Zukunft des Balkans wird schließlich sein, ob alle Albaner in Albanien, im Kosovo, im südlichen Montenegro, im westlichen Makedonien und im nördlichen Griechenland im Grunde ihrer Herzen ein „Großalbanien” anstreben oder nicht. Zum historischen Hintergrund: Bis 1912 waren alle albanischen Siedlungsgebiete innerhalb des Osmanischen Reiches vereinigt, zwischen 1941 und 1944 zuerst unter italienischer, dann unter deutscher Herrschaft. Eine vor kurzem erschienene Studie einer Brüsseler Expertengruppe über „Pan-Albanismus” kommt nun zum Schluss, dass ein solches pan-albanische Bestreben eindeutig nicht zutreffe. Die ehemaligen albanischen Rebellen im Kosovo und in Makedonien hätten – trotz ursprünglicher pan-albanischer Rhetorik und entsprechender nationaler Insignien – erkannt, dass sie nur dann politisch Erfolg haben, wenn sie sich mit den konkreten Bedürfnissen ihrer Bevölkerungsgruppen beschäftigen. Daher sei es notwendig, in Makedonien die Albaner in den dezentralisierten Staat zu integrieren und im Kosovo eine konditionierte Unabhängigkeit anzustreben. Der albanischen Führung in Prishtinë sei es mittlerweile ziemlich klar, dass sie vor Erreichung dieser Unabhängigkeit rechtsstaatliche Prinzipien und umfassende Minderheitenrechte glaubwürdig einhalten muss. Darüber hinaus stelle sich die Frage nach dem Interesse der Republik Albanien, die derzeit von der Sozialistischen Partei unter Führung des Ministerpräsidenten Nano regiert werde. Fatos Nano, ein gebürtiger Toske, halte sich bisher strikt an die UN-Resolution 1244 und spreche lediglich von Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Hilfe einer neuen Strassenverbindung von Prishtinë über Prizren nach Tirana und dem Hafen Durrës. Tatsächlich spaltet der alte Gegensatz zwischen den im südlichen und mittleren Albanien siedelnden Tosken und den Gegen im Norden, zu denen auch die Kosovo-Albaner gehören, das albanische Ethnikum. Allerdings bekennt sich in beiden Bevölkerungsgruppen eine Mehrheit zum Islam, während eine Minderheit der Tosken zu den orthodoxen Christen gehört, eine Minderheit der Gegen zu den Katholiken. Bei einem „Anschluss” des Kosovo an Albanien würde sich also das demographische Gewicht zugunsten der Gegen verändern, unter denen derzeit die Demokratische Partei unter Führung von Sali Berisha dominiere. Schließlich seien die Einflüsse der finanzstarken albanischen Diaspora – je 400.000 leben in Deutschland und in den U.S.A., 160.000 in der Schweiz – nicht zu unterschätzen.26
Aus Erfahrungen mit Prozessen der südosteuropäischen Nationalstaatsbildung seit 1830 kann man daher resumieren, dass ein „Offenhalten” der Kosovo-Frage Tendenzen zur Sammlung aller Albaner unter dem schwarzen Adler auf rotem Grund fördern könnte, also zur Suche nach einer gesamtalbanischen Lösung. Ob dies in Brüssel, New York und Belgrad rechtzeitig erkannt wird, muss derzeit bezweifelt werden.
Anmerkungen
1
Die Presse, 19. März 2004, S. 2: „Nach dem blutigen Mittwoch am Ibarfluss: ‚Die Verlierer werden die Albaner sein’” (Erich Rathfelder).
2
Die Presse, 25. März 2004, S. 5: „Das war ein Volksaufstand” (Interview von Wieland Schneider mit Ramush Haradinaj); Neue Zürcher Zeitung, 22. März 2004, S. 3: „Bemühungen zur Beruhigung in Kosovo” (Wok.).
3
The Economist, March 20th, 2004, p. 32: „Another eruption”; Neue Zürcher Zeitung, 21./22. März 2004, S. 1 f.: „Serbische Zivilisten in Kosovo evakuiert” (Wok.).
4
Die Presse, 19. März 2004, S. 1-3: „Unruhen im Kosovo eskalieren. Nato schickt weitere Truppen” (Wieland Schneider, Gertraud Illmeier).
5
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Februar 2004, S. 10: „Zwang zur Verständigung” (Michael Martens).
6
Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2004, S. 5: „Uneinigkeit über Kosovos Zukunft” (Wok.).
7
Vgl. das letzte Interview von Zoran Djindjić, gegeben am 7. März 2003 für „Večernje Novosti”; Zoran Djindjić’ last interview. In: The South Slav Journal, Vol. 24, No. 1-2, Spring-Summer 2003, pp. 70-79.
8
Neue Zürcher Zeitung, 13./14. März 2004, S. 4: „Gedenken an Djindjić in Belgrad” (Wok.).
9
Wolfgang Petritisch, Als die Hoffnung starb. In: Die Presse, 13. März 2004, spectrum, S. III; Neue Zürcher Zeitung, 19. März 2004, S. 3: „Auftrieb für die Extremisten in Kosovo” (C.Sr.).
10
Die 1933 geborene serbische Historikerin Latinka Perović hatte Anfang der 1970er Jahre der KP-Führung der Republik Serbien angehört, die von Tito 1972 wegen ihres Reformkurses in marktwirtschaftlicher und demokratiepolitischer Hinsicht abgesetzt worden war. Nach dem Sturz von Milošević war Perović von Koštunica in eine Kommission berufen worden, die sich mit der jüngsten Geschichte auf dem Balkan auseinandersetzen sollte. Perović erklärte aber gleich nach der ersten Sitzung wieder ihren Austritt, nachdem sie gemerkt hatte, dass Koštunica vor allem eine für Serbien vorteilhafte Geschichtsschreibung beabsichtigte. – Neue Zürcher Zeitung, 2. März 2004, S. 5: „Serbien und das autoritäre Syndrom” (ven.).
11
Ebenda.
12
Zur umstrittenen Siedlungsgeschichte des Kosovo vgl. Radovan Samardžić, Kosovo und Metochien der serbischen Geschichte (Lausanne 1989); dagegen: Noel Malcolm, Kosovo. A Short History (New York 1998). Zu den Nationalitätenverhältnissen in der Vojvodina nach der Volkszählung 1931 vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld (Wien – München 1996), Karte 8.
13
Neue Zürcher Zeitung, 2. März 2004, S. 5: „Serbien und das autoritäre System” (ven.).
14
Neue Zürcher Zeitung, 21. Februar 2004, S.1: „Verbrechen und Versöhnung auf dem Balkan” (C.Sr.); The Economist, February 28th 2004, p. 29-30: „Justice on trial”; Neue Zürcher Zeitung, 5. Februar 2004, S. 4: „Lob für Kroatiens neue Regierung” (Wok.).
15
Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2004, S. 3: „Pause im Milošević-Prozess in Den Haag” (vau.).
16
Zur Geschichte vgl. Noel Malcolm, Bosna. A Short History (London 1994).
17
Gerald Knaus and Felix Martin, Lessons from Bosnia and Herzegovina: Travails of the European Raj. In: Journal of Democracy, Vol. 14, No. 3, July 2003, pp. 60-74; Making Federalism work – a radical proposal for practical reform. In: www.esiweb.org.; Neue Zürcher Zeitung, 28./29. Februar 2004, S. 4: „Trennen oder Teilen in Bosnien?” (Wok.).
18
Neue Zürcher Zeitung, 12. März 2004, S. 5: Martin Woker, „Verordnete Einigkeit in Mostar”.
19
Neue Zürcher Zeitung, 26. Jänner 2004, S. 2: „Bessere Bildung für Mazedoniens Albaner”.
20
Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2004, S. 5: „Boris Trajkovski – eine moralische Instanz.” (ahn.); vgl. Makedonien. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Kultur – Politik – Wirtschaft – Recht , hg. von Walter Lukan und Peter Jordan (Österreichische Osthefte, Sonderband 14, Wien etc. 1998).
21
Neue Zürcher Zeitung, 19. Jänner 2004, S. 4: „»Brutaler Terror« im geistlichen Gewand” (ahn.).
22
The Economist, February 28th 2004, p. 30: „A Balkan mess”.
23
Gale Stokes, Solving the Wars of Yugoslav Succession. In: Yugoslavia and Its Historians. Understanding the Balkan Wars of the 1990s, ed. by Norman M. Naimark and Holly Case (Stanford 2003), pp. 193-207; Neue Zürcher Zeitung, 24. März 2004, S. 3: „Wie weiter in Kosovo?” (Wok.).
24
Vgl. Florian Bieber (Ed.), Montenegro in Transition (Baden-Baden 2003).
25
Malcolm, Bosna, pp. 251-52; Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina (Frankfurt am Main 21996), S. 277-281.
26
International Crisis Group (Ed.), Pan-Albanism: How Big a Threat to Balkan Stability?, Europe Report, No. 153; vgl. Neue Zürcher Zeitung, 17. März 2004, S. 4: „Großalbanien – Lüge oder Wunschtraum?” (Wok.); vgl. Albanien. Geographie – Historische Anthropologie – Geschichte – Kultur – Postkommunistische Transformation, hg. von Peter Jordan, Karl Kaser, Walter Lukan, Stephanie Schwandner-Sievers und Holm Sundhaussen (Österreichische Osthefte, Sonderband 17, Wien etc. 2003).
Begegnungen22_Seewann
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:111–122.
GERHARD SEEWANN
Typologische Grundzüge der Vertreibung der Deutschen
aus dem östlichen Europa
Die Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa war Teil gewaltiger Bevölkerungsverschiebungen des 20. Jahrhunderts. Für die zweite Hälfte der 1940er Jahre lässt sich in diesem Zusammenhang sagen: Auf jeden deutschen Vertriebenen und Flüchtling kommen zwei andere in den osteuropäischen Ländern, die zur selben Zeit ähnliche Prozesse erdulden mussten.1 Allen diesen Bevölkerungsverschiebungen gemeinsam ist, dass die davon Betroffenen überwiegend Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten sind und zum Opfer der Bestrebungen nach ethnischer Homogenität in ihren Heimatländern werden. Mit ihrer Vertreibung werden sie ihrer bisherigen Existenzgrundlage beraubt. In der Sprache und in den einschlägigen Programmschriften der Täter bleiben solche Zusammenhänge im allgemeinen ausgeklammert, und wird der Leidensdruck der Betroffenen tabuisiert, was schon in der bevorzugten Verwendung steriler und objektivierter Begriffe wie „change or transfer of population”, „Abschub”, „Aussiedlung” „Umsiedlung” etc. zum Ausdruck kommt.
1. Prinzip „ethnische Entmischung”
Zur Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa hat ein ganzes Bündel von Motiven geführt. In einer synoptischen Darstellung der strukturellen Aspekte und Motive wie der damit verbundenen Verfahrensweisen ist als erstes das Prinzip der „ethnischen Entmischung”2 zu setzen, das als Denkschule internationaler Politik bereits von den politischen Eliten der späten 1930er Jahre in England, Frankreich, Deutschland und den von der deutschen Aggression betroffenen ostmitteleuropäischen Staaten positiv rezipiert und auf Minderheitenfragen angewendet wurde. Dem kategorischen Imperativ der „Entmischung” folgend eine Neuordnung der ethnischen Verhältnisse durch Umsiedlung zu erreichen und damit einen wesentlichen Konfliktherd in der europäischen Friedensordnung der Zukunft zu beseitigen, darauf haben sich alle berufen, die seit 1939 einen „population transfer” in irgendeiner Form propagierten: Den Anfang machte Adolf Hitler mit der Heimholung der „unhaltbaren Splitter des deutschen Volkstums” aus Osteuropa ins Reich, die er in seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 programmatisch verkündete3 und von der SS Himmlers durchführen ließ.
2. Vorbildcharakter der NS-Deportationen
In den seit Kriegsausbruch entstandenen Entwürfen zur Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei findet sich von Anfang an die Berufung auf die Umsiedlungsaktionen Hitlers, und dies unter ausdrücklicher Bezugnahme sowohl auf die Konzeption als auch auf die Methode, die – wie es in einer polnischen Denkschrift heißt – ja von Hitler erfolgreich vorexerziert wurde. So beruft sich ein Memorandum des polnischen Generalstabs vom 6.11.1940 in der Frage des Transfers der deutschen Bevölkerung aus Polen nach Deutschland ausdrücklich sowohl auf das nazistische als auch auf das sowjetische Vorbild solcher Deportationen. Und der tschechische Politiker Stránskÿ bezeichnete im Dezember 1940 in einer Auseinandersetzung mit Beneš die Vertreibung ablehnend als eine „nazistische Erfindung”.4
3. Ethnische Homogenität als Endziel nationalstaatlicher Politik versus ethnischer Pluralismus als Konfliktquelle der internationalen Politik
Die ethnische Definition des Nationalstaats forderte seine ethnische Homogenität, der die Existenz ethnischer Minderheiten im Wege stand. Deshalb ging es darum, diese als Konfliktherde herauszustellen und daraus die Legitimation abzuleiten, sie zu beseitigen und mit ihnen auch das Prinzip der Minderheitenschutzverträge der Pariser Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, das man für politisch gescheitert erklärte.5
4. Dämonisierung deutscher Minderheiten
Mit diesem Argumentationsstrang ist unmittelbar ein weiterer verknüpft: Die Dämonisierung der deutschen Minderheiten als Instrument der deutschen Aggression und Expansion, als „fünfte Kolonne”, als „Staat im Staat”, als „Quartiermacher Adolf Hitlers” im eigenen Land, das deshalb dem Dritten Reich zum Opfer fällt wie die CSR durch das Münchner Abkommen im Herbst 1938, Jugoslawien im Angriffskrieg vom April 1941 oder Ungarn durch die deutsche Besetzung vom 19. März 1944. Klarzustellen ist hier zweierlei: Es gab Kollaboration innerhalb der deutschen Minderheit, insbesondere auch dadurch, dass sich die SS in Gestalt der VOMI der deutschen Minderheitenorganisationen bemächtigte, dies zum Teil unter Zustimmung des betreffenden Staates, wie das Beispiel Ungarn zeigt; aber es gab auch andauernde Loyalität gegenüber den Heimatländern, beispielsweise zahlreiche Versuche, sich der ab 1941 durchgeführten SS-Rekrutierung zu entziehen, aber auch Zeichen des Widerstandes der im allgemeinen unpolitischen bäuerlichen Bevölkerung.6
5. Vertreibung aller deutschen Minderheiten
Aus der Dämonisierung wurde das Axiom der Vertreibung aller deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa abgeleitet. Von Anfang an findet sich in Memoranden und Plänen, die die Nachkriegsordnung und -grenzen zum Thema haben, die Vorstellung, alle Deutschen sollten aus den Gebieten vertrieben werden, die nach dem Krieg zu Polen bzw. zur Tschechoslowakei gehören würden.7 Dieses Axiom ist unmittelbar mit dem Verfahren der wilden, anarchisch-chaotischen Vertreibung vor und unmittelbar nach Potsdam bis Ende 1945 verknüpft. Da sich die Politiker im Exil wie im Widerstand vor Ort schon Anfang der 1940er Jahre darüber im klaren waren, dass solche Maximalforderungen international schwer durchsetzbar sein würden, bzw. deren Umsetzung bald den Protest der öffentlichen Meinung in Großbritannien und den USA erregen würde, setzte man gleichfalls von Anfang auf die Macht des Faktischen durch sogenannte wilde, rechtlich ungedeckte Vertreibungen, die von Beneš als Akte einer unausweichlichen sozialen und nationalen Revolution von vornherein sanktioniert wurden.8
6. Rache und Vergeltung
Was sich am Anfang des Krieges noch selten findet, im Verlauf des Krieges und seinem Ende zu jedoch immer mehr betont wurde, sind Motive der Rache und Vergeltung nach dem Prinzip der Kollektivschuld. Zur Operationalisierung desselben wurde die Verwirkungstheorie bemüht, nach der aufgrund deutscher Kriegsschuld und Kriegsverbrechen alle Deutschen als frühere Bürger ihrer Heimatländer ihre Bürger- und Eigentumsrechte verwirkt hatten. Darüber noch hinausgehend wurde die Rechtsfigur der entschädigungslosen Enteignung des deutschen Eigentums und des daraus abgeleiteten Rechts auf Vertreibung 1945 vom polnischen Staat beispielsweise in den ehemaligen deutschen Ostgebieten angewendet.9
7. Umverteilungspotential deutschen Eigentums
Ein weiteres wichtiges Motiv der Vertreibung war das gewaltige Umverteilungspotential des deutschen Eigentums. Die Historikerin Emilig Hrabovec schreibt dazu im Hinblick auf die tschechische Gesellschaft:
„Das, was die Politiker euphemistisch als Verbindung der nationalen und der sozialen Revolution bezeichneten, präsentierte sich dem kleinen Mann auf der Straße als eine einmalige Chance, beim allgemeinen Ausverkauf des deutschen Besitztums auch für sich etwas zu erbeuten, seine materielle Lage zu verbessern und den sozialen Aufstieg zu schaffen.”10
Wo es eine Auswahlmöglichkeit unter den zu Vertreibenden gab wie beispielsweise in Ungarn, wurden primär und konsequent alle diejenigen vertrieben, die einen verteilenswerten Besitz aufzuweisen hatten, völlig unabhängig von ihrer tatsächlichen politischen Einstellung und Aktivität vor 1945, die unter den pauschalen Nazismusverdacht gestellt, als offizielle Begründung für ihre Vertreibung diente. Die ungarische Historikerin Ágnes Tóth hat in ihrem kürzlich auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buch nachgewiesen, dass gerade dieses Umverteilungspotential sowohl der Binnenmigration und der nach 1945 vorgenommen Bodenreform als auch der Vertreibung in Ungarn nach Kriegsende die Richtung gewiesen hat.11
Wie wirkungsmächtig das Umverteilungspotential des deutschen Eigentums anzusetzen ist, verdeutlicht die Tatsache, dass alle Vertreibungsregime bereits in den ersten Tagen ihrer Handlungsfähigkeit, ihrer „Staatswerdung”, Dekrete und Gesetze zur Konfiskation und Enteignung deutschen Besitzes und Vermögens erlassen haben: So Jugoslawien am 21. November 1944, Ungarn am 27. Februar, Polen am 2. März, schließlich die Tschechoslowakei am 19. Mai und am 21. Juni 1945.
8. Verlust der politischen Rechte
Mit Konfiskation und Enteignung war meist der Verlust aller politischen Rechte und in der darauffolgenden Phase auch der Staatsbürgerschaft verknüpft. Die Vertreibung wird dann als unausweichliche rechtliche Konsequenz der Aberkennung der Staatsbürgerschaft ausgegeben. Dies geschah allerdings erst in der Phase der geregelten Vertreibung nach Potsdam, insbesondere ab Januar 1946.
9. Geschichtspolitische Argumente zur Legitimation von Enteignung
Zur Legitimation von Enteignung und Umverteilung werden auch geschichtspolitische Argumente bemüht: So hieß es in Ungarn in Anspielung auf die Einwanderung der „Schwaben” im 18. Jahrhundert:
„Nur mit einem Bündel sind die Schwaben ins Land gekommen, mit einem Bündel sollen sie wieder gehen.”12
In Tschechien wurde die Vertreibung der Sudetendeutschen als logischer Höhepunkt der nationalen Geschichte herausgestellt, an dem historische Gerechtigkeit geübt und die vom Feind angerichteten Schäden zum Teil wiedergutgemacht werden sollten.13
10. Gesellschaftliche Billigung
Die Vertreibung wurde in allen betroffenen Ländern von einem breiten Grundkonsens innerhalb der Gesellschaft getragen und damit gebilligt. Es gab nur wenige Stimmen und kleine Gruppen, die sich kritisch bis ablehnend geäußert haben. Herausgegriffen werden soll hier als ungarisches Beispiel nur Kardinal Mindszenty, der – selbst ungarndeutscher Abstammung – in einem Brief vom 12. Mai 1946 an die britische Regierung die Einstellung der Vertreibung mit folgenden drei Argumenten forderte: zum einen sei diese inhuman und ungerecht, weil auch patriotische Deutschen vertrieben würden; zum anderen würde Deutschland durch die Vertriebenen allzu schnell wieder gestärkt und schließlich würde durch diesen Vorgang die Macht der Slawen und Russen in Mitteleuropa gefährlich zunehmen.14
11. Durchsetzung der politischen Ziele der Parteien.
Ein gesamtgesellschaftlicher Grundkonsens in puncto Vertreibung stellte sich deshalb so rasch und reibungslos ein, weil sich mit der Vertreibung die politischen Ziele sowohl des bürgerlich-rechten Lagers als auch der Linken, insbesondere der Kommunisten realisieren ließen. Die Rechte feierte mit der Vertreibung den Vollzug des Nationalstaates; mit den Worten von Edvard Beneš in dessen Rundfunkansprache vom 17. Februar 1945:
„Die Endlösung der Frage unserer Deutschen und Magyaren muss vorbereitet werden, da die neue Republik ein tschechoslowakischer Nationalstaat sein wird”.
Die Linke stellte die durch die Vertreibung möglich gewordene Umverteilung in den Dienst ihrer politischen Klientel, auch um die Zahl ihrer Anhängerschaft zu vergrößern. Die Beseitigung des Klassenfeindes, nämlich des westlich orientierten deutschen Bürgertums und der wohlhabenden deutschen Bauern, verbunden mit der Förderung des deutschen Agrar- und Industrieproletariats, das ganz gezielt in Ungarn, zum kleineren Teil auch in Tschechien und in Polen von der Vertreibung verschont blieb, die Welle der Enteignungen, die über das deutsche Element hinausgehend alsbald nationale Züge annahm, das alles bildeten wichtige Stationen auf dem Weg zur kommunistischen Machtergreifung gegen Ende der 1940er Jahre.
12. Veränderte Haltung der Großmächte
Die Haltung der Großmächte und hierbei insbesondere die Anpassungsleistung Großbritanniens und der USA an die Kriegsziele der Sowjetunion (vollständigen Satz machen!) Denn bis zum Kriegseintritt der Sowjetunion hatten die tschechoslowakische und die polnische Exilregierung von Großbritannien keine offizielle Stellungnahme zu ihren Vertreibungsplänen erreichen können. Eine Wende trat hierin in dem Augenblick ein, als die britische Regierung wesentliche Details der sowjetischen Kriegsziele, insbesondere die dezidierte Befürwortung der Vertreibungspläne seitens Stalins in Erfahrung gebracht hatte. Der britische Außenminister Eden gab nach seinen im Dezember 1941 geführten Gesprächen mit Stalin seinem Ministerium den Auftrag, ein Gutachten zur zukünftigen Westgrenze Polens, der CSR und Jugoslawiens zu erstellen und dabei einen Bevölkerungstransfer einzukalkulieren).15 Das darauf erstellte Gutachten mit der Aussage, Deutschland könne 3 bis 6,8 Millionen Vertriebene aufnehmen, bildete die Grundlage für die am 6. Juli 1942 gefallene Entscheidung des Kriegskabinetts
„in geeigneten Fällen den Transfer deutscher Minderheiten aus Ostmittel und Südosteuropa nach Deutschland zu befürworten”.16
Nach Ansicht des Foreign Office konnten die Staaten dieser Region ihre Unabhängigkeit zwischen Deutschland und einer nach Westen vorgeschobenen Sowjetunion nur bewahren, wenn sie sich zumindest zu Konföderationen zusammenschließen, ihre strategische und wirtschaftliche Position auf deutsche Kosten stärken und nicht durch große deutsche Minderheiten in ihrem Innern geschwächt würden. So reagierte London auf die für die britische Politik überraschend deutlich gewordenen sowjetischen Kriegsziele, durch die Westverschiebung Polens und den Transfer der deutschen Minderheiten aus Osteuropa Polen die Abtretung seiner Ostgebiete zu erleichtern und es zusammen mit der Tschechoslowakei in eine dauerhafte antideutsche Front zu zwingen. Im Falle Polens ist die Besonderheit hervorzuheben, dass hier die Vertreibung primär als Folge von Gebietskompensationen durch die von der Sowjetunion diktierte Ost-West-Verschiebung des Landes in Gang gesetzt wurde. Sie war somit untrennbar mit der Regelung der zukünftigen Grenzen des Landes verbunden.
Mit Beneš teilte die britische Regierung zwar die Meinung, dass das Vorkriegssystem der Minderheitenschutzverträge versagt habe, ging aber mit ihren eigenen und ganz selbständigen Überlegungen weit über die anfänglich eher gemäßigten und auf eine Teillösung orientierten Vorstellungen von Beneš hinaus, der – wie Detlef Brandes vor kurzem dargelegt hat – „erstaunlich lange”, nämlich noch bis 1944 an seiner Kompromisslösung: Teilabtretung, Teilvertreibung, Assimilation der Restminderheit, festgehalten hat.17 Die harte britische Linie ist auch an der Schlussfolgerung des britischen Interministeriellen Ausschusses für den Transfer deutscher Bevölkerung vom Mai 1944 erkennbar, dass die vollständige Aussiedlung aller Deutschen einer Teilvertreibung vorzuziehen sei.18 Außenminister Eden bezeichnet es daher im Juli 1944 als das erklärte Ziel der britischen Regierungspolitik, „dass alle Deutschen zurück nach Deutschland gehen sollten19.” Der besagte Ausschuss warnte auch vor einer Garantie von Minderheitenrechten, da eine solche den Transfer nur erschweren würde. Wer dennoch bleiben wolle, werde mit seiner völligen ‘Entgermanisierung’ zu rechnen haben. Im Unterschied zu Beneš legte aber London großen Wert darauf, dass der Transfer nicht sofort und spontan, sondern auf organisierte Weise innerhalb eines festen, auf mehrere Jahre anberaumten Zeitplanes abgewickelt werden müsse, denn
„schnelle und ungeordnete Transfers würden ein unkalkulierbares Maß menschlichen Leidens verursachen, wie dies Hitlers Vertreibungen gezeigt haben.”20
Die USA haben sich diesem britischen Standpunkt, wie er auch im Vertreibungsbeschluss der Potsdamer Konferenz seinen Ausdruck fand, angeschlossen, nämlich den „transfer of populations in orderly und human manner” durchzuführen. Die entscheidende Diskussion auf der 8. Plenarsitzung der Potsdamer Konferenz am 31. Juli 1945 machte den eigentlich nur formalen Dissens zwischen Ost und West noch einmal deutlich. Gegenüber dieser von den Westmächten mit Nachdruck gewünschten Vertragsformel demonstrierte Stalin sein tiefgehendes Unverständnis mit dem Argument, dass der Prozess bereits im Gange sei und jede Regelung zu spät komme.21 Die Westmächte benötigten diese Vertragsformel jedoch aus zwei Gründen: Einmal um die wilde Phase der Vertreibung in die geregelte zu überführen, zum zweiten um den ungeheuerlichen Vorgang vor der eigenen Öffentlichkeit zu kaschieren.
13. Zum Ablauf der Vertreibung
Zu unterscheiden sind lokale Aktion und zentrale Stimulierung22 in der bis Potsdam anhaltenden sogenannten. „wilden”, anarchisch-chaotischen Phase der Vertreibung. Sie war gekennzeichnet durch Terrormaßnahmen und Gewalttaten bis hin zu Massakern und Todesmärschen. Danach, manchmal auch zeitlich parallel, setzte die Internierung in Lagern und Zwangsarbeit ein, abgelöst schließlich von der zentral gelenkten Vertreibung in Form des geregelten Abtransports durch Eisenbahnzüge jeweils mit 1200 bis 1700 Menschen und 30 bis 50 kg Gepäck pro Einzelperson. In Polen und in der Tschechoslowakei sind alle drei Phasen deutlich auszumachen, in Ungarn nur Phase 2 und 3, in Jugoslawien mit wenigen Ausnahmen nur Phase 1 und 2.
Die Initiative zur Vertreibung der Deutschen aus Ungarn ging einerseits von der politischen Führung des Landes, anderseits von der tschechoslowakischen Regierung aus. Mit Ausnahme der Sozialdemokraten traten alle im Provisorischen Parlament vertretenen ungarischen Parteien für eine teilweise oder vollständige Vertreibung der Ungarndeutschen ein.23 Von Anfang an stand Ungarn jedoch auch unter dem Druck seitens der Tschechoslowakei, die möglichst viele der in der Slowakei beheimateten Magyaren nach Ungarn abschieben wollte und – um für diese Platz zu schaffen – sich bei den Siegermächten für die Vertreibung aller Ungarndeutschen einsetzte.24 Aus diesen Gründen ersuchte die ungarische Regierung bereits im Mai 1945 die Siegermächte um deren Zustimmung zur Vertreibung von 200.000 bis 250.000 „faschistischen” Ungarndeutschen.25 Eine solche wurde schließlich mit dem Potsdamer Abkommen erteilt. Nachweisbar ist eine direkt nach Potsdam einsetzende enge Zusammenarbeit der tschechischen mit der ungarischen Kommunistischen Partei mit dem erklärten Ziel, die Vertreibung so vieler Ungarndeutschen und so schnell wie möglich durchzusetzen.26 Die vom damaligen kommunistischen Innenminister Imre Nagy verantwortete Regierungsverordnung Nr. 12330/1945 vom 29. Dezember 1945 über die „Aussiedlung” der Ungarndeutschen sah vor, aufgrund des Prinzips der Kollektivschuld mit 500.000 Personen eigentlich alle Deutschen zu vertreiben, das heißt alle diejenigen, die sich bei der Volkszählung von 1941 sowohl zur deutschen Nationalität als auch zur deutschen Muttersprache bekannt hatten.27 Der damalige Repräsentant der Kleinlandwirtepartei und Minister für Wiederaufbau, József Antall (Vater des gleichnamigen Ministerpräsidenten 1990-1994), hat die zur Jahreswende 1945/46 vorherrschende Meinung der politischen Entscheidungsträger dahingehend zusammengefasst:
„Vom nationalitätenpolitischen Standpunkt ist es unzweifelhaft im Interesse Ungarns, dass die Deutschen in umso größerer Zahl das Land verlassen. Niemals wird eine solche Gelegenheit wiederkehren, sich von den Deutschen zu befreien”28
Eine „wilde Vertreibung” hat es in Ungarn nicht gegeben. Allerdings setzte bereits mit den ersten Verordnungen ab Ende Februar 1945 die Entrechtung, Enteignung und massenhafte Internierung der Donauschwaben in Sammellagern und ihre Umsiedlung innerhalb des Landes ein. Ziel dieser Maßnahmen war es, ungarndeutsche Bauernhöfe mit ihrem Grund und Boden einerseits an ungarische Flüchtlinge vor allem aus der Tschechoslowakei, andererseits an landhungrige Zwergbauern aus Ostungarn zu verteilen.29 Die geregelte Massenaussiedlung in die amerikanische Besatzungszone begann am 19. Januar 1946, wurde wegen wachsenden innen- und außenpolitischen Drucks Anfang Juni unterbrochen, am 8. November wieder aufgenommen und nach wenigen Transporten im Dezember von den amerikanischen Behörden überhaupt eingestellt. Insgesamt kamen ca. 150.000 Ungarndeutsche in die amerikanische Zone nach Süddeutschland. Im Zeitraum vom 19. August 1947 bis zum 15. Juni 1948 wurden noch einmal 40.000 bis 50.000 Personen in die sowjetische Besatzungszone abgeschoben. An die 200.000 Ungarndeutsche blieben zurück.
In Jugoslawien war bis zum Herbst 1944 ein großer Teil der Jugoslawiendeutschen bereits evakuiert oder geflüchtet. In einem Memorandum des Research Department des Foreign Office vom 8. März 1944, das ein Szenario aller möglichen „Minority Transfers in South Eastern Europe” entwirft und von dem Historiker Arnold Joseph Toynbee unterzeichnet ist, wird die Massakrierung von mindestens 35.000 Deutschen als wahrscheinlich antizipiert.30 Ein förmlicher Vertreibungsbeschluss ist – soweit bisher bekannt – niemals gefasst worden. Erst im Januar und erneut im Mai 1946 hat die jugoslawische Regierung die Forderung erhoben, unter Berufung auf das Potsdamer Abkommen die Zustimmung zu einem „Transfer der gesamten deutschen Minderheit” nach Deutschland zu erlangen,31 was die Regierung der USA strikt ablehnte. Zu einer direkten Vertreibung kam es deshalb nur partiell, nämlich der Deutschen aus Slowenien und aus Teilen Slawoniens, die Übrigen wurden in Arbeits- und Todeslagern interniert; die Überlebenden bis 1949 aus den Lagern entlassen und über die Grenze nach Ungarn und Österreich abgeschoben.32 An der Jahreswende 1944/45 wurden – wie übrigens auch in Ungarn – zahlreiche Deutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert.
In Rumänien wurde gegen Ende des Jahres 1944 mit der Deportation vieler Deutschen in die Arbeitslager der Sowjetunion begonnen, was britische Diplomaten als den Beginn ihrer allgemeinen Vertreibung interpretierten.33 Zu einer solchen kam es allerdings nicht, obwohl nach 1989 gemachte Aktenbefunde belegen, dass aufgrund detaillierter Personenlisten offenbar eine größere Vertreibungsaktion geplant war.34 Warum diese unterblieben ist, konnte bis heute nicht befriedigend geklärt werden.
14. kurze Überschrift/Inhalt
In allen Vertreibungsländern blieben kleinere oder größere Gruppen deutscher Bevölkerung zurück, deren Leben sich erst in den 50er Jahren allmählich normalisierte. Um der Vertreibung zu entgehen, waren beispielsweise in Ungarn zahlreiche Deutsche in die Städte geflüchtet, um dort als Industriearbeiter „unterzutauchen". Von dem Trauma der Vertreibung, die zahlreiche Familien zerrissen hat, haben sich auch die „Daheimgebliebenen” kaum befreien können. Ungarn leistete nach der Wende von 1989 an die Vertriebenen eine symbolische Wiedergutmachtung und entschuldigte sich 1996 bei den Opfern im Namen seiner Regierung.35
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die SS-Deportationen demonstrierten wie das Ziel der ethnischen Entmischung in die Praxis umgesetzt werden konnte. Ethnische Homogenität als Axiom einer zukünftigen Nachkriegsordnung verlangte danach, sich der Minderheitenbevölkerung durch Transfer oder Tausch zu entledigen, und zwar primär der deutschen Bevölkerung, die als „Quartiermacher Hitlers” kollektiv für deutsche Kriegsschuld und Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wurde. Mit deren Vertreibung und der Umverteilung des Eigentums der Vertriebenen ließ sich sowohl die nationale als auch die soziale Revolution in Szene setzen. Den größten politischen Profit zogen hieraus die kommunistischen Parteien, für die die Nationalisierung von Eigentum und die Beseitigung des Rechtsstaates wichtige Stationen auf dem Weg zu ihrer Machtergreifung bildeten. Die Anpassung der beiden westlichen Großmächte an die Kriegsziele der Sowjetunion zog ihre Zustimmung zum Prinzip der Vertreibung nach sich und sie waren weder willens noch fähig, die damit losgetretene Lawine riesiger Bevölkerungsverschiebungen aufzuhalten, obwohl sie sich der damit verbundenen Risiken und Opfer – wie das die intensiven, im Foreign Office geführten Diskussionen zeigen – durchaus bewusst waren.
Anmerkungen
1
Robert Streibel, Robert: Vorwort. In: Ders.: Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Wien 1994, S. 10. Die Gesamtzahl der deutschen Vertriebenen wird auf 14 bis 15 Millionen geschätzt. Siehe dazu Ueberschär, Gerd R.: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten und die alliierten Grundsätze von der „Besseren Welt”. In: A.a.O., S. 21-40. Noch immer heranzuziehen ist auch Kulischer, Eugene M.: Europe an the Move. War and Population Changes, 1917-47. New York 1948. Einen epochenübergreifenden Überblick bietet Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000, hier insbesondere Kapitel III: Die Epoche der Weltkriege: Flucht, Vertreibung, Zwangsarbeit, S. 232-300.
2
Ein Begriff, den nach Lemberg, Hans: Mehr als eine Völkerwanderung. In: Franzen, K. Erik: Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer. Berlin, München 2001, S. 15, als erster der britische Außenminister George N. Curzon 1923 verwendet hat. Näheres dazu bei Lemberg, Hans: „Ethnische Säuberung”. Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte,l(1992) 46, S. 29.
3
Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers vom 1. September 1939 bis 10. März 1940. München 1942, S. 82f.
4
Die Belegstellen bei Brandes, Detlef: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer” der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2001, S. 48, 51-53 und 96. Im Memorandum der polnischen Exilregierung vom 1. Dezember 1942 wird beispielsweise damit argumentiert: „Hitlers Umsiedlung fremder Völker, aber auch deutscher Minderheiten, führt zu dem Schluss, dass die Methode des Bevölkerungstransfers schon von Deutschland als auf Deutsche anwendbar sanktioniert worden ist.” – Zitiert nach Brandes, Detlef: Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939.1943. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsausbruch bis zur Konferenz von Teheran. München 1988, S. 406.
5
So Edvard Beneš: The new order in Europe. In: The Nineteenth Century and After. Sept. 1941. Der britische Diplomat Frank Kenyon Roberts, 1942-1945 Leiter des Central Department des Foreign Office, fasste die Verurteilung der Minderheitenverträge im Hinblick auf die Vertreibungspläne 1944 wie folgt zusammen: „The Minority Treaties as such were neither a positive advantage nor a positive handicap. They work when conditions were favourable and did not work when they were not."- Public Record Office London-Kew Garden, FO 371/39012-C 1002.
6
In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1943 wurde auf dem Hauptplatz der ungarndeutschen Bergarbeitersiedlung Pécsbányatelep ein Grab aufgebaut und mit der Inschrift versehen: „Itt nyukszik Hitler Adolf” – Hier liegt Adolf Hitler, geschrieben in einem Ungarisch, das durch seine Orthographie die ungarndeutsche Hand verrät. Die Aktion wird dokumentiert von Szita, László: A baranyai pécsi munkásmozgalom története [Geschichte der Arbeiterbewegung von Baranya und Fünfkirchen]. Bd. 2., Pécs 1985, S. 368-370. Auch die in Apatin vom dortigen Pfarrer Adam Berenn herausgegebene Zeitschrift „Die Donau” ist hier zu nennen. Vgl. dazu die Publikation: Adam Berenn. Weitblick eines Donauschwaben. Dokumentation eines Abwehrkampfes 1935-1944 gegen nationalsozialistische Einflüsse unter den Donauschwaben in Jugoslawien und Ungarn im Wochenblatt für das katholische Deutschtum Jugoslawiens und Ungarns „Die Donau”, erschienen in Apatin. Verantw.: M. Merkl. Dieterskirch 1968.
7
Siehe dazu Brandes (Arm. 4 ).
8
So Beneš am 7. und 8. Januar 1942 im Gespräch mit Wenzel Jaksch: Man müsse sich auf das Ende des Krieges vorbereiten. Seine Gesprächspartner wüssten ja, welch „radikaler Nationalismus” unter den Tschechen herrsche, „dass unsere Leute zu Hause denken, dass sie alle Deutschen Ioswürden, dass es ein Massaker geben werde und dass sie die übrigen vertreiben werden.” Er wolle die Elemente Abtretung von Gebieten, Vertreibung der Schuldigen und Transfer kombinieren, „für die Deutschen im Geiste einer sozialen Revolution, d.h. sich von den Schuldigen befreien, wenn möglich von allen aus der Klasse der Bourgeoisie und der Intelligenz.... Bei ihnen wird es sich um eine soziale, bei uns um eine nationale Revolution handeln.” – Zitiert nach Brandes, Detlev: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. München 2001, S. 129.
9
Koslowski, Peter: Unerlaubte Gegenaggression. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als naturrechtliches und pragmatisches Problem. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.2000, S. 10-11.
10
Hrabovec, Emilia: Die Vertreibung der Deutschen und die tschechische Gesellschaft. In: Streibel, Robert (Hg.): Flucht und Vertreibung zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Wien 1994, S. 134-157; Zitat S. 135.
11
So der zusammenfassende Bericht eines Beamten des Landwirtschaftsministeriums im Frühjahr 1946 über die Zustände in Transdanubien, als die Vertreibungsaktionen einen Höhepunkt erreicht hatten: „In den Komitaten Moson-Győr, Tolna und Somogy hält die Ansiedlung mit der Aussiedlung nicht Schritt. Die Aussiedlung selbst geht nicht der Gerechtigkeit entsprechend vor sich. Die Kommission oder Partei, die die Aussiedlungsaktionen durchführt, arbeitet vielerorts einseitig. Als Ergebnis bleiben Personen zurück, die wegen ihres früheren Verhaltens hätten ausgesiedelt werden müssen. Andererseits wurden zahlreiche Personen ausgesiedelt, die sich an der Widerstandsbewegung beteiligt haben oder wegen ihres jüngsten Einsatzes für das Ungarntum hätten bleiben müssen. Die letzteren wurden nur deshalb in die Aussiedlerliste aufgenommen, weil sie vermögend waren. Im Kreis Völgység zum Beispiel haben die Gemeinden, die die Aussiedlung durchführten, von den Behörden die Namensverzeichnisse jener deutschen Bauern angefordert, deren Grundbesitz 20 Katastraljoch überstieg und daraufhin erstellten sie Nachtragslisten. Manche schwäbischen Landwirte wurden veranlasst, auf ihren Grundbesitz zu verzichten und als Gegenleistung dafür hat man ihnen das Bleiben garantiert.” – Tóth, Ágnes: Migrationen in Ungarn 1945-1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001, S. 170f. (Ungarisches Original: Telepítések Magyarországon 1945-1948 között. Kecskemét 1993.)
12
Ein Ausspruch von Imre Kovács, dem führenden Politiker der Nationalen Bauernpartei.
13
Hrabovec (Anm. 10), S. 137.
14
FO 371/55305-C6426.
15
Brandes, Detlef. Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939-1943. München 1988, S. 246f.
16
War Cabinet Conclusions vom 6.7.1942. CAB 65/27. Hier zitiert nach Brandes (Anm. 8) S.149.
17
Brandes, Detlef: Eine verspätete tschechische Alternative zum ‘Münchener Diktat’. Eduard Beneš und die sudetendeutsche Frage 1938-1945. In: Viertel Jahreshefte für Zeitgeschichte, 42 (1994) Heftnummer ??, S. 221-241.
18
FO 371/39092-C6391. Report vom 12.5.1944.
19
F0371/39092-C9721.
20
FO 371/39092-C6110.
21
F0371146811-C4538.
22
So Lemberg (Anm. 2), S. 22.
23
Tóth (Anm. 11), S. 45. Die Konferenz der in der Regierung vertretenen Koalitionsparteien vom 14. Mai 1945 machte dies hinlänglich deutlich.
24
So berichtet der britische Diplomat Sir Alvary D. F. Gascoigne am 4. Juni 1945 aus Budapest: „Die Angelegenheit [der Vertreibung] ist nicht so sehr deshalb so dringend, weil Ungarn seine frühere fünfte Kolonne los werden möchte, sondern weil der Zustrom ungarischer Deportierter aus der Tschechoslowakei und Rumänien ansteigt und für diese Haus und Hof benötigt werden. Mit anderen Worten, es wird gewünscht, die Schwaben, wo möglich, durch ungarische Deportierte zu ersetzen, doch will man hier darüber nicht öffentlich diskutieren.” – FO 371/46810-C3176.
25
Eine Untersuchung der ungarischen Regierungsaktivitäten in puncto Vertreibung aufgrund britischer Archivquellen bietet Seewann, Gerhard: Der Vertreibungsprozess in und nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund britischer Quellen. In: Ders.: (Hg.): Migrationen und ihre Auswirkungen. Das Beispiel Ungarn 1918-1995. München 1997, S. 5589, hier insbes. S. 61 ff.
26
Dazu, wenn auch mehr zwischen den Zeilen zu lesen, das Buch von Kövágó, László: A magyar kommunisták és a nemzetiségi kérdés 1918-1948 [Die ungarischen Kommunisten und die Nationalitätenfrage]. Budapest 1985, S. 288ff.
27
Die in der Historiographie zum Teil bis heute referierte „Potsdam-Legende”, wonach der Alliierte Kontrollrat bzw. die Potsdamer Konferenz diese Zahl vorgegeben habe, – was die ungarische Regierung von ihrer Verantwortung entlasten würde -, wird beispielsweise nicht nur von den englischen, vom Autor eingesehenen Archivquellen des Foreign Office im Public Record Office London widerlegt (siehe Anm. 25), sondern auch von den kürzlich edierten Protokollen der Alliierten Kontrollkommission für Ungam: Vida, István; Bendegúz Gergő (eds.): Cseh Documents of the meetings of the Allied Control Commission for Hungary 1945-1947. Budapest 2000, S. 123.
28
Ministerratsprotokoll vom 22. Dezember 1945. Hier zitiert nach Tóth (Arm. 8), S. 62; in der ungarischen Ausgabe S. 44.
29
Detailliert dazu die Studie von Tóth, (Arm. 8).
30
FO 371/43659-R5229. Eine Edition des Textes findet sich bei Seewann (Anm, 25), S. 77-89. Der Jugoslawien betreffende Abschnitt auf S. 79.
31
FO 371/55391-C1504. So berichtet der britische Botschafter R. Stevenson am 22.1.1946 aus Belgrad, dass die jugoslawische Regierung 110.000 Jugoslawiendeutsche nach Deutschland transferieren wolle. Am 22.3.1946 nennt Stevenson die genaue Zahl von 109.994 für den Transfer vorgesehen Personen – 32.278 männliche, 55.209 weibliche und 22.507 Kinder -, von denen 90% auf dem Territorium Serbiens leben. By occupation they are 80 percent agricultural labourers, 13 percent workmen, 5 percent intellectuals and 2 percent unclassified.” – FO 371/55398-C3904. In weiteren Berichten aus Belgrad vom Frühjahr und Sommer 1946 wird auf die katastrophale Lage der jugoslawiendeutschen Frauen und Kinder in den jugoslawischen Internierungslagern hingewiesen, die mit Konzentrationslagern wie Dachau verglichen werden. Mit dem Hinweis auf die Überbeanspruchung der britischen Besatzungszone durch Flüchtlinge wird die Möglichkeit des Transfers auf die amerikanische Besatzungszone eingeschränkt und die Entscheidung damit deren Behörden überlassen. – FO 371/55392C2129.
32
Vgl. dazu Vogel, Detlef: Vertreibung, Verfolgung und Ausrottung in Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs und danach. In: Streibel, Robert (Hg.): Flucht und Vertreibung zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Wien 1994, S. 77-91.
33
FO 371/48593-R2256. Hier berichtet der britische Diplomat Marjoribanks am 21.1.1945 aus Bukarest von der Deportation 120.000 Rumäniendeutscher und über die Reaktion des führenden Politikers Iuliu Maniu (1873-1955): „I have heard Mr. Maniu speaks in violent terms against the Transylvanian Germans and it was his Intention to raise the question of their deportation to Germany at the Peace Conference. Now, the problem has been solved, in part, for him."
34
Baier, Hannelore: 1947 sollte die Umsiedlung von über 96.000 Personen aus dem Banat und aus Siebenbürgen stattfinden. In: Banatica, 9 (1992) 3, S. 5-8. Laut Baier konnte die Vertreibung aufgrund einer Intervention des Bischofs Dr. Friedrich Müller-Langenthal (18841969) verhindert werden. Zur Deportation in die Sowjetunion: Weber, Georg; Renate Weber; Armin Nassehi; Ursula Maurer: Die Deportation der Siebenbürger Sachsen in die UdSSR 1945-1949. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde, 34 (1991), S. 26-37. Zur Deportation in die Bărăgan-Steppe Anfang der 1950er Jahre: Geier, Christian: Bărăgan – der rumänische Gulag. Zum Leben in der kommunistischen Deportation. In: Banatica, 11 (1994) 3, 5.5-27.
35
Neuer Pesten Lloyd, 6. März 1996, Rede des für Minderheitenfragen zuständigen Staatssekretärs Csaba Tabajdi: „ ... Mit der Aussiedlung ließ sich die damalige ungarische Politik ein schweres Versäumnis zu Schulden kommen und beging einen großen Fehler. Ich bitte alle aus Ungarn verschleppten, aus ihrer Heimat vertriebenen, unschuldigen Ungarndeutschen um Vergebung... Das Prinzip der Kollektivstrafe verurteilend rufe ich nach 50 Jahren alle zur Selbstprüfung auf, denn nur die Selbstbesinnung, die ehrliche Erforschung des Gewissens, berechtigen zur gegenseitigen Versöhnung und zur Verzeihung von Seiten der Vertriebenen.”