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Begegnungen22_Naglo

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:303–326.

KRISTIAN NAGLO

Multilingualität und Identitäten in Europa

Eine theoretische Annäherung anhand der Beispiele Luxemburg und Südtirol

 

Einleitung

Der vorliegende Beitrag wendet sich der Frage zu, welche Rolle Sprache bei der Herausbildung kollektiver Identitäten in mehrsprachigen Gesellschaften Europas einnimmt. Diesbezüglich werden zwei Fallstudien, Luxemburg und Südtirol, im Sinne einer vergleichenden Strukturanalyse vorgestellt. Der Fokus liegt hier von den Prozessen der Staats- und Nationenbildung des 19. Jahrhunderts bis heute.

Auf der Grundlage des Zusammenhangs von Sprache und Identität im Rahmen der Fallbeispiele, sollen potentielle Implikationen hinsichtlich der Ausbildung einer Identifikation mit der europäischen Ebene abgeleitet werden. Das Konzept (europäischer) Identität wird hier nicht aus-, sondern eingrenzend verstanden. Diesbezüglich kommt Mehrsprachigkeit1 ein zentraler Nutzen zu, da sie die Erfahrung der Relativität der eigenen Sprach- und Denkwelt vermittelt. Mehrsprachigkeit ist in diesem (normativen) Sinne eine kommunikative Notwendigkeit (vgl. Ehlich 2002). Ferner wird mit Lilli (vgl. 1998) argumentiert, dass eine potentielle europäische Identität nur als Bindestrich-Identität denkbar ist, d.h. entweder als Ergänzung der positiven oder als Ausgleich der defizitären relevanten (nationalen/regionalen/lokalen) Vergleichsidentitäten.

Bezogen auf die beiden Fälle gilt die Annahme, dass im Rahmen des Umgangs mit Sprache – im Sinne von Sprachpolitik, -gesetzgebung und -nutzung (-kontakt) – in der luxemburgischen Gesellschaft inklusive Elemente überwiegen, indes die sprachliche Regelung in Südtirol insgesamt geprägt ist von exklusiven Tendenzen, wenn in Südtirol auch zwischen den verschiedenen Sprachgruppen differenziert werden muss. Die Dialektik ‘inklusiv-exklusiv’ beschreibt hier den Grad des Konsenses innerhalb einer Gesellschaft, die Themen ‘Gebrauch mehrerer Sprachen’ und ‘Toleranz anderen Sprachgruppen gegenüber’ betreffend.

Es bieten sich demnach unterschiedliche Perspektiven von Mehrsprachigkeit, die sich in den Identitätsbildungsprozessen der jeweiligen Sprachgruppen ausdrücken. In diesem Sinne wird der Umgang mit Sprache zum Spiegel des identitären Selbstverständnisses und der Wahrscheinlichkeit bestimmter Interpretationen.

Die Vergleichbarkeit der beiden Fälle ergibt sich zunächst aufgrund des jeweils multilingualen Charakters, mit unterschiedlichen Sprachen, die je unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Zwar existiert ein deutlicher Unterschied auf der Systemebene, da Luxemburg den Status eines souveränen EU-Mitgliedsstaates inne hat, Südtirol hingegen eine autonome Provinz in der Region Trentino/Südtirol im Rahmen des italienischen Nationalstaats verkörpert. Jedoch bieten einerseits die vergleichbaren Bevölkerungszahlen (Luxemburg ca. 440.000, Südtirol ca. 460.000) eine gute Basis für die Analyse. Neben der gegenwärtigen Lage als ‘prosperierende Inseln’2 zwischen zwei wesentlich größeren Staatsgebilden (Luxemburg zwischen Frankreich und Deutschland, Südtirol zwischen Italien und Österreich) wird hier andererseits die besondere (politische und ökonomische) Bedeutung der europäischen Integration nach dem II. Weltkrieg für beide Gebiete hervorgehoben.3

Zunächst soll ein historisch-funktional argumentierender Ansatz nach Stein Rokkan und Derek W. Urwin (vgl. 1983), der sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Identität sowie Zentrums-Peripherie-Strukturen auseinandersetzt, eingeführt werden. Dieser wird im Anschluss durch sozialpsychologische Konzepte (Soziale Identitätstheorie; Theorie der Sprachanpassung) ergänzt (vgl. u.a. Giles et al. 1977; Tajfel 1981). Die Interdisziplinarität der Vorgehensweise begründet sich durch die Komplexität des Untersuchungsgegenstands: die analytische Betrachtung der kulturell-historischen Wurzeln und Zusammenhänge ist unerlässlich, um die Entstehung und Entwicklung von sprachlichen Strukturen und Identitätsbildungsprozessen nachvollziehen zu können. Ein problematischer Aspekt des Rokkan/Urwinschen Ansatzes liegt in dem Fokus auf Zentrums-Peripherie-Strukturen, da dies mitunter zu simplifizierenden und idealtypischen Betrachtungsweisen verleitet, die dem gegenwärtigen europäisierten und globalisierten Kontext u.U. nicht mehr gerecht werden4 (vgl. Schmidtke 2003). Gleichzeitig erlaubt der Rekurs auf die genannten Theorien der Sozialpsychologie, deren Defizit es wiederum ist, den Kulturbegriff nicht explizit zu machen (vgl. Graumann 1999), spezifische (und aktuelle) Fragestellungen an die Fallbeispiele heranzutragen und dabei mikro-individuelle Aspekte mit makro-kollektiven Ebenen bi- und multilingualer Kommunikation zu verbinden (Sachdev/Bourhis 1990). Die Kombination der unterschiedlichen Theorieansätze ermöglicht somit eine integrative Vorgehensweise, die kulturelle, normative, motivationale und soziostrukturelle Aspekte zur Analyse der Funktion von Sprache beinhaltet.

 

1. Theoretische Ansätze zur Analyse sprachlicher Identität

1.1 Stein Rokkan und Derek W. Urwin: Quellen sprachlicher Identität5 und das Überleben sprachlicher Eigenständigkeit

Während sowohl kulturelle als auch ökonomische Quellen der Unterscheidung im Kontext von Identitätsbildungsprozessen wichtig sind und gegenseitigen Beeinflussungen ausgesetzt sind, liegt der Fokus hier auf den erstgenannten. Zwar gibt es ‘ökonomische Peripherien’ – im Sinne ökonomisch weniger entwickelter Regionen – in Europa, jedoch kann keine territoriale Identität ausschließlich aufgrund ökonomischer Bedingungen oder auf der Basis von Klassenzugehörigkeit definiert werden, da keine ‘ökonomische Situation’ immer die gleiche ‘kulturelle Reaktion’ hervorruft.6 Identität ist vielmehr vor allem Teil der kulturellen Dimension. Als Muster der Orientierung dient dem Individuum eine Ansammlung von Einstellungen und Vorurteilen – die gleichzeitig als Kategorien des Vergleichs fungieren –, welche wiederum durch die spezifische, kulturelle und soziale Umwelt geprägt werden und Teil derselben sind. Diese Orientierungsmuster versorgen das Individuum mit einer Identitätsgrundlage und bieten ihm einen Maßstab, durch den es die Welt interpretieren und seine Reaktionen anpassen kann. Der Rokkan/Urwinsche Ansatz muss hier freilich dahingehend ergänzt werden, dass Identitätsbildungen einem fortlaufenden Kreislaufprozess unterliegen: so existiert auch eine Prägung (in Gegenrichtung) durch das Individuum/die Individuen, in der wiederum Maßstäbe für die Zukunft festlegt werden.

Sprache ist vor diesem Hintergrund eine der diversen Ausdrucksformen von Identität, gleichzeitig aber der offensichtlichste Begriff von Eigenständigkeit. So ist sie nicht nur eine Angelegenheit privater und individueller Präferenz: „the ability to speak a language is of little value if there is no way in which the individual can use it. It is also a question of public recognition, of the legitimization of standards: the use of a language is a collective act in which everyone in a territory must share, and it becomes politicized when a set of elite groups establish a standard of written communication and lodge claims for its recognition in public life” (Rokkan/Urwin 1983, 68). Diese Forderungen rufen wiederum Konflikte in zwei Hinsichten hervor: intern, zwischen Verteidigern bestimmter Dialekttradititonen, und extern, im Rahmen der Interaktion mit der Administration des ‘Zentrums’. Der Fokus liegt hier auf der Entwicklung und dem Status von Standardsprachen, wie früh/wie leicht sie etabliert wurden und welches Maß an Anerkennung sie erreichten, bzw. welche Konflikte sich im Prozess der Anerkennung einstellten. Rokkan und Urwin betonen in diesem Kontext die Bedeutung bestimmter Möglichkeitsstrukturen, entstanden durch politische Konflikte und ökonomische Transaktionen, die den Rahmen für tägliche Abläufe vorgeben: so ist es z.B. von entscheidender Bedeutung, welche Sprache im Bereich der öffentlichen Medien dominiert, ob mehr als eine Unterrichtssprache in den Schulen etabliert ist oder welche linguistischen Fähigkeiten wichtig sind, um eine Arbeitsstelle im öffentlichen Bereich besetzen zu können.

Um nun Fragen bezüglich der Ursprünge und Variationen im Status von ‘peripheren Sprachen’ beantworten zu können, ist es notwendig, den Interaktionsprozess zwischen politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen zu berücksichtigen. Die Wellen von Eroberung, Okkupation und Rückzug in der europäischen Geschichte7 erzeugten ein spezifisches Muster ethnisch-sprachlicher Gruppierungen. Diese komplexe territoriale Verteilung fungierte als Infrastruktur für die institutionellen Entwicklungen im Hochmittelalter (wie z.B. zentralistische Monarchien, Städtebünde und die ersten bundesgenossenschaftlichen Strukturen). In der Folge bestimmte die ‘ethnische Verteilung’ Art und Kosten der Sprachstandardisierung in den Territorialstrukturen. Die einsetzende territoriale Konsolidierung – insbesondere nach dem Westfälischen Frieden 1648 – erweiterte die Möglichkeiten der Durchsetzung gemeinsamer Standardsprachen für die zeremonielle, administrative und juristische Kommunikation.8 Parallel zu diesen Prozessen ergaben sich Änderungen im ökonomischen Bereich. So stieg im Zuge der kommerziellen Revolution9 die Nachfrage nach Arbeitskräften, die in der ‘Kunst’ des Lesens und Schreibens ausgebildet waren: „the universities, once important agents responsible for the maintenance of Greek and Latin, also began to produce professionals in the vernacular languages“ (ebd., 69).

Für die Bedeutung des Begriffs der (modernen) Nation stellt die Französische Revolution eine historische Wasserscheide dar: verstand man ursprünglich darunter die Gesamtheit der Personen, die innerhalb eines bestimmten Raums geboren wurden (pays de naissance), umfasste er nun alle Personen, die innerhalb des Territoriums des französischen Staats lebten und den Dialekt der Île-de-France sprachen. Durch die Nationenbildung wurde also die wechselseitige Verstehbarkeit der Dialekte innerhalb eines Territoriums betont, um strategisch eine größere Identität mit dem ‘Zentrum’ herzustellen. An dieser Stelle soll auf die Arbeit Benedict Andersons verwiesen werden, der die Nation als vorgestellte (‘kreierte’) Gemeinschaft definiert.10 Er betont die Bedeutung neuer Wahrnehmungsformen von Zeit (bzw. Gleichzeitigkeit). Als zentral für die Geburt der vorgestellten Gemeinschaft der Nation nennt Anderson in dieser Hinsicht Roman und Zeitung (später das Radio), welche die technischen Hilfsmittel im Sinne von Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewusstsein der Nation lieferten (vgl. Anderson 1997, 32).

Einen weiteren Schritt stellte die Industrielle Revolution dar. Aus ihr wuchs die Nachfrage nach Arbeitskräften, welche in der Lage waren, Instruktionen zu lesen sowie sich neue Fertigkeiten und Techniken über den Weg der Schriftsprache anzueignen. Diese Entwicklungen beschleunigten das Aufbrechen der alten Strukturen. Es entstand ein territorial erweiterter Markt, gekennzeichnet durch eine Vielzahl neuer Berufsgruppen. Die Folge war, dass eine große Anzahl von Personen ihre peripheren und marginalen Konditionen verließen und zunehmend in Kontakt mit der sich neu ausprägenden und zunehmend auf der schriftlichen Kommunikation basierenden territorienweiten Kultur kamen. Diese Entwicklungen stärkten einerseits die etablierten linguistischen Standards und schwächten andererseits die vererbten patois und Dialekte der Peripherien. Der Wandel der ökonomischen Prozesse schuf wiederum neue Möglichkeitsstrukturen bezüglich der Sprachwahl, was einen zentralen Einfluss auf das Schicksal peripherer Idiome hatte. Grundsätzlich gilt, dass sich die Überlebenschancen dieser Sprachen erheblich reduzierten, wenn sie vor dem Einsetzen der industriellen Entwicklung noch nicht standardisiert waren.

Auf der Grundlage des bisher Dargestellten propagierten Rokkan und Urwin (vgl. 1983, 70) ein analytisches Modell (four-step model), welches die drei zentralen Ebenen (Ökonomie, politischer und sprachlicher Wandel) zusammenführt. Die abhängige Variable stellt dabei die ‘Stärke der peripheren Sprache’ dar: ihre offizielle Anerkennung, die Zahl der Sprecher, ihre Position in den Massenmedien und ihre Rolle im Bildungswesen. Die vorangehenden kulturellen Entwicklungen – frühe/späte Alphabetisierung, frühe/späte Standardisierung und die chronologische Entwicklung des Bildungswesens – gingen jeweils einher mit parallelen ökonomischen und territorialen Entwicklungen. Durch die Kombination zweier Dimensionen, nämlich des Status jeder einzelnen Sprache und des Sprachsystems des jeweiligen Territoriums, ergeben sich sechs Kategorien der Sprachklassifizierung, die als Ansatz bei der Analyse ‘peripherer Eigenständigkeit’ dienen11 (vgl. Rokkan/Urwin 1983, 71-107):

(1) erfolgreiche Zentren: in diesen Fällen wird die einzige zentrale Sprache kontinuierlich gestärkt (Beispiele: Portugal, Dänemark, Schweden, Niederlande England, Frankreich, Deutschland und Italien).

(2) multilinguale Strukturen: in diesen Fällen koexistieren zwei oder mehrere Sprachen innerhalb desselben politisch definierten Territoriums durch Föderalisierung relativ friedlich (Schweiz, Belgien, Spanien).

(3) siegreiche Peripherien: hier konnte ein eigenständiger Standard erfolgreich etabliert und erhalten werden, dem die Mehrheit der Territorialbevölkerung loyal verbunden blieb. Darüber hinaus erlangten diese Gebiete die politische Unabhängigkeit (Finnland, Norwegen, Schweden, Island, Dänemark und Luxemburg).

(4) Peripherien mit schwachem Standard, aber einem gewissen Grad an Autonomie: in diesen Fällen erwiesen sich die Peripherien als unfähig, einen eigenen Standard wirkungsvoll zu etablieren oder zu erhalten. Dennoch schafften sie es, ein gewisses Maß an politischer (und später auch sprachlicher) Autonomie oder Unabhängigkeit zu erlangen (Baskenland, Galizien, Sardinien).

(5) marginale12 Peripherien: in diesen Fällen konnte weder ein effektiver Standard noch ein signifikanter Grad an Autonomie erlangt werden (die okzitanisch- und bretonischsprachigen Gebiete Frankreichs, Ladinien).

(6) Pufferzonen-Lösungen: hier geht es um Fälle im ‘Kreuzfeuer’ zentraler Sprachgemeinschaften. Durch den langen Prozess der territorialen Restrukturierung Westeuropas nach dem Ende Roms entstanden verschiedene Gebietseinheiten unterschiedlicher Größe entlang der Staatsgrenzen (Südtirol, Val d’Aosta, Elsaß, Lothringen).

Nach der Einführung dieses historisch-funktionalen Ansatzes als Grundlage zur Analyse sprachlicher Besonderheit in multilingualen Territorien werden im Folgenden sozialpsychologische Theorien in den Analyserahmen aufgenommen, um motivationalen und soziostrukturellen Elementen Geltung zu verschaffen. Grundsätzlich scheinen diese Ansätze auch geeignet, die europäische Ebene in die Untersuchung einzubeziehen.13

1.2 Gruppenidentitäten und Sprache aus sozialpsychologischer Sicht

Dem Grundkonzept der Sozialen Identitäts-Theorie (SIT) folgend (vgl. u.a. Tajfel 1981; 1982), dienen die (kognitiven) Prozesse der sozialen Kategorisierung und des sozialen Vergleichs zur motivationalen Aufrechterhaltung und Verteidigung der sozialen Identität, welche sich durch die Zugehörigkeit zu positiv bewerteten Gruppen ableitet. Eine weitere wesentliche Komponente im Kontext der SIT stellt das Modell der sozialen Struktur dar, das sich mit den Statusrelationen zwischen den jeweiligen Gruppen respektive Kategorien und dem Wettbewerb um Ressourcen (Macht, Rechte) beschäftigt. Den Statusunterschieden (z.B. zwischen Staaten oder Regionen) kommt insbesondere im Konfliktfeld des sich erweiternden EU-Europas eine besondere Bedeutung zu, da diese ein Hauptproblem der Integration bilden (vgl. Lilli 1998). Die Theorie der Sprachanpassung (Speech Accomodation Theory, SAT) von Howard Giles (vgl. Giles et al. 1977), welche auf der SIT aufbaut, verdeutlicht in dieser Hinsicht, dass insbesondere die Sprache in den genannten sozialen und psychologischen Prozessen eine zentrale Stellung einnimmt. Ziel der SAT ist es, das Phänomen des code switching14 vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Prozesse, sowohl auf der interpersonalen als auch auf der Intergruppenebene zu erklären.15 In diesem Kontext kommt den sozialen Kategorisierungsprozessen eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Tajfel 1982). Das Hauptaugenmerk der SAT liegt diesbezüglich auf den Phänomenen der sprachlichen Konvergenz (speech convergence), der sprachlichen Abweichung (speech divergence) und der sprachlichen Aufrechterhaltung (speech maintenance). Speech convergence bezieht sich auf Gesprächspartner (interlocutor), die sich im Prozess der Konversation dem Gegenüber angleichen. Im Gegensatz dazu beschreibt speech divergence Gesprächspartner, die linguistische Unterschiede zwischen ihnen und anderen akzentuieren. Diese Phänomene ereignen sich oft gleichzeitig auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (Inhalt, Stil, Akzent, etc), wobei sich die Sprecher ihres ‘Codewechsels’ nicht immer bewusst sind. Verschiedene Untersuchungen (vgl. u.a. Bourhis 1983) legen in dieser Hinsicht nahe, dass die Ebene des Bewusstseins der Sprecher im Rahmen von speech divergence höher ist als bei speech convergence (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 296f.).

Der Wunsch nach psychologischer Distinktheit ist im Sinne des Konzepts der SIT das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen dem Prozess der Kategorisierung, (sozialer) Identitätsbildung und sozialem Vergleich. Nach Tajfel und Turner reicht soziale Kategorisierung per se (z.B. durch willkürlich zusammengestellte Gruppen) aus, um Intergruppendiskriminierung zu bewirken. So zeigte sich, dass selbst die Diskriminierung ‘minimaler Gruppen’ die motivationale Erfüllung positiver sozialer (Eigengruppen)Identitäten befriedigte (vgl. Tajfel/ Turner 1986). In multilingualen Intergruppenkontexten nutzt SAT die SIT als Basis zur Analyse von language maintenance, divergence und convergence. Diesbezüglich sind zwei Gründe zu nennen, die für die Bedeutung von Sprache stehen: erstens ist Sprache ein sich ständig aktualisierendes und bedeutendes menschliches Attribut. Zweitens ist sie ein komplexer Prozess und das Hauptinstrument der interpersonalen Kommunikation. In mehrsprachigen Kontexten dient Sprache als zentrales Hilfsmittel zur Erstellung sozialer Kategorien und wird häufig als die bedeutendste Dimension von Gruppenidentitäten angesehen. So bedient sie Individuen mit einem Vorrat von Verhaltensweisen, um psychologische Andersheit zu kommunizieren. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen von (ethnischen) Gruppen, sich auf der Basis von Sprache zu unterscheiden, lassen sich, nach der Theorie der Sprachanpassung, als Strategien zur Herstellung von psycholinguistischer Distinktheit beschreiben (vgl. Giles et al. 1977).

Neben den motivationalen Aspekten spielen auch soziostrukturelle Faktoren eine bedeutsame Rolle. Die Kontrastierung ethnolinguistischer Gruppen wird beeinflusst durch Anzahl, Macht und Status der Gruppen. Aus diesem Grund führten Giles et al. (vgl. ebd.) das Konzept der ethnolinguistischen Vitalität ein. Es beinhaltet eine Taxonomie von Faktoren, die hypothetisch die ethnolinguistische Vitalität von Gruppen beeinflussen, d.h. die Fähigkeit, sich als eigenständige und aktive Einheiten in Intergruppensituationen zu behaupten. Nach Giles et al. machen der Status der Gruppen, die demographische Stärke, die institutionelle Unterstützung und Kontrollfaktoren die ethnolinguistische Vitalität aus. Statusvariablen beziehen sich auf das soziohistorische Prestige der Sprachgruppen, den sozialen und ökonomischen Zustand, sowie auf den nationalen und internationalen Status der jeweils benutzten Sprachen. Demographische Stärke meint die zahlenmäßige Stärke und ihre Verteilung in urbanen, regionalen und nationalen Räumen. Außerdem beinhaltet diese Kategorie auch Raten und Bedeutung von Ein- und Auswanderung, Endogamie und Geburtenraten. Institutionelle Unterstützung bzw. Kontrollfaktoren schließen die verschiedenen Bildungssysteme, politische, religiöse, ökonomische sowie kulturelle Institutionen und die Massenmedien ein (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 299).

Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der (sozialen) Funktion von Sprache in multilingualen Gesellschaften zwangsläufig zum Gegensatz von Funktionalität und den Einstellungen der Sprecher gegenüber den unterschiedlichen Idiomen führt. Sprache besitzt offensichtlich einen funktionalen Aspekt, da wir sie benutzen, um zu kommunizieren. Sie bezieht sich also einerseits auf die unterschiedlichen Kompetenzen von Individuen und Kollektiven und fungiert als Mittlerin. So dient sie dem Menschen als Medium, durch das er seine Kultur und Umwelt erfasst und begreift und sich ihr begreifbar macht.

Andererseits verkörpert sie aber auch den Anspruch auf Eigenart. Die Benutzung von Sprache als Ausdruck des Selbst führt in der Regel zu Grenzziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten durch Eigen- und Fremdkategorisierungen. In diesem Kontext dient Sprache auch als Symbol für (ethnische) Identität und kulturelle Solidarität und kann so zu einer Art politischer Währung mutieren. Bezogen auf Intergruppenbeziehungen wird sie beispielsweise benutzt, um die ingroup an ihr kulturelles Erbe zu erinnern, Gruppengefühle zu vermitteln, und Mitglieder der outgroup von ihren internen Transaktionen auszugrenzen. Weiterhin kann Sprache (unter Bedingungen ethnischer Bedrohung) durch den zielgerichteten Gebrauch von Akzent, Inhalt und bestimmter lexikalischer Spezifika ingroup membership signalisieren bzw. betonen (vgl. Giles et al. 1977).16 Dabei stehen Sprachen in der Regel für die nationalen/regionalen/lokalen Gruppen die sie sprechen, sowohl in der Selbstwahrnehmung der Gruppen als auch in der Fremdwahrnehmung durch die outgroup. In diesem Zusammenhang wird hier davon ausgegangen, dass die Zukunft der jeweiligen Sprache verbunden ist mit dem Schicksal der Gruppe, die sie spricht. Aufstieg und Niedergang einer Sprache hängen nicht von ihren linguistischen Eigenschaften ab, mit ‘stärkeren’ oder ‘besseren’ Sprachen die ‘weniger starke’ oder ‘schlechte’ ersetzen. Vielmehr ist der symbolische und kommunikative Status von Sprache untrennbar verbunden mit dem sozialen und politischen Vermögen der Sprecher (vgl. O´Reilly 2003, 20; Fishman 1991).

Aufgrund des hier entwickelten Theorierahmens lassen sich zusammenfassend folgende Fragen an die Fallanalysen herantragen:

1. Welche historischen Zusammenhänge zwischen Sprache und Identitätsbildungsprozessen (bezogen auf die sprachliche, kulturelle und politische Eigenständigkeit) lassen sich in Luxemburg und Südtirol identifizieren?

2. Wie ist die Bedeutung der Sprache bei der Durchsetzung psychologischer Distinktheit der jeweiligen Sprachgruppen einzuschätzen?

3. Welche Implikationen ergeben sich für den Begriff der Mehrsprachigkeit und eine Identifikation mit der europäischen Ebene?

 

2. Luxemburg und Südtirol: ein sprach- und soziohistorischer Vergleich

2.1 Luxemburg

Historischer Überblick

Luxemburg gilt nach der Kategorisierung Rokkans und Urwins (vgl. 1983) als siegreiche Peripherie. Die historische Situation Luxemburgs, nach der Gründung im Jahr 963, war bereits früh geprägt durch konstanten kulturellen und politischen Einfluss aus dem germanischen und romanischen Sprachraum. So entstand schon bald eine multilinguale Situation (vgl. Gilles/Moulin 2003). Seit dem späten 14. Jahrhundert dominierte zunehmend die kulturelle Abkapselung von der Germania, charakterisiert durch die ausgeprägte Einbindung in den romanisch-flandrischen Kulturkreis. Diese Situation änderte sich auch nicht, als Luxemburg 1482 an die spanischen Habsburger fiel, 1684 wiederum Frankreich einverleibt wurde und von 1714 bis 1795 unter der Herrschaft der österreichischen Habsburger existierte. Im Zuge der Französischen Revolution kam Luxemburg, als Département des Fôrets, wieder an Frankreich. Auf dem Wiener Kongress (1815) wurde es dann zu einem souveränen Staat erhoben. Obwohl es nun als unabhängiges Großherzogtum galt, beherbergte Luxemburg, paradoxerweise, als Mitglied des Deutschen Bundes preußische Truppen und wurde andererseits dem König der Niederlande (Wilhelm I.) als persönliches Eigentum zugesprochen. Unter dem Einfluss Wilhelms I. wurde Französisch alleinige Amtssprache. Als Luxemburg in der Folge der Belgischen Revolution (1830) alle wallonischen Gebiete (die heutige belgische Province du Luxembourg) an Belgien abtreten musste, wurde der verbleibende germanophone Landesteil zum unabhängigen Großherzogtum Luxemburg (in den Grenzen von heute) ernannt (festgelegt im Londoner Vertrag, 1839). Dies führte zu einer zunehmenden Germanisierung, auch, weil Wilhelm I. den romanischen Westen durch die belgischen Annexionsgelüste nun als Gefahr ansah und entsprechend einen Politikwechsel forcierte. Das Gebilde blieb Mitglied im Deutschen Bund und durch Personalunion mit den Niederlanden vereint (vgl. Berg 1993,15f.).

Nach dem Erreichen politischer Autonomie stieg das nationale Selbstbewusstsein, und Merkmale einer genuinen Identität der Luxemburger wurden, zunächst ex negativo, also als Ablehnung alles Nicht-Luxemburgischen (vgl. ebd.), formuliert. In der nationalen Identitätskonstruktion berief man sich gleichzeitig auch auf Einflüsse des romanischen und germanischen Kulturraums. So prägte die flexible Anpassung an die beiden gewichtigen Nachbarn Frankreich und Deutschland stets die Sprachenfrage: beide exoglossischen Standards fanden und finden bis heute in Verwaltung und Justiz Verwendung, und die Akademikerelite Luxemburgs wurde in der Regel in einem der beiden großen Nachbarländer ausgebildet. Die erstmalige Festschreibung der offiziellen Zweisprachigkeit (Französisch und Deutsch) ist in der Verfassung von 1848 verankert (vgl. Weber 2002). Gleichzeitig übernahm die in Luxemburg gesprochene Sprachvarietät eine bedeutende Rolle und konnte bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts, vor allem aber nach dem II. Weltkrieg17, zum Nationalsymbol aufsteigen, als die Aversion gegen alles Deutsche bewusst identitätsbildend wirkte (Rokkan 2000).18

Von gesellschaftshistorischer Relevanz ist die steigende Bedeutung der Stahlindustrie (um 1870) im Kontext der Industrialisierung, die relativ spät einsetzte. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Luxemburg als armes Agrarland ohne städtische Kultur zu charakterisieren. In der Folge des Prozesses der Industrieansiedlung, der im Wesentlichen auf den Süden des Landes beschränkt blieb, kam es zu einer vermehrten Zuwanderung auch ausländischer Arbeitskräfte – zunächst waren dies überwiegend Deutsche und Italiener. Die Ausrichtung auf die Stahlindustrie (bis zur Stahlkrise zu Beginn der 1970er Jahre) machte Luxemburg nach dem II. Weltkrieg zu einem europäischen Land der ‘ersten Stunde’ (Montanunion). Luxemburg gehörte später als Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Römische Verträge, 1957) quasi zum ‘Kern’ des befriedeten und sich vor allem ökonomisch integrierenden Westeuropas nach 1945. Die europäische Ebene spielt seitdem eine besondere Rolle für die luxemburgische Gesellschaft und die Politik des relativ kleinen Landes: so ermöglicht der Europabezug einerseits die Konturierung einer genuinen Außenpolitik. Andererseits verstärken die Ansiedlung der EU-Institutionen und die geographische Nähe zu Brüssel das Selbst- und Fremdverständnis als eine zum Zentrum (West)Europas gehörende Gesellschaft. Darüber hinaus trägt die ökonomische Prosperität fraglos zur Aufwertung der nationalen Eigengruppe im europäischen Kontext bei.19 Potentiell fördert dies aber auch Zweifel an der Effizienz der (erweiterten) transnationalen Ebene und Skepsis gegenüber der EU-Erweiterung.20

Bis heute ist der hohe Ausländeranteil prägend für die luxemburgische Gesellschaft. Eine weitere Einwanderungswelle von hauptsächlich Portugiesen erfolgte zu Beginn der 1970er Jahre. Diese stellen seit 1978 die größte Einwanderergruppe dar. Gegenwärtig beläuft sich der Ausländeranteil der Gesamtbevölkerung auf ca. ein Drittel. Hinzu kommen ca. 90.000 tägliche ‘Grenzgänger’ aus Frankreich, Belgien und Deutschland, die in Luxemburg arbeiten (vgl. Schmit 1998). Dieser ‘multinationale’ Arbeitsmarkt (ca. 50% der Arbeitskräfte sind Ausländer) bildet die Grundlage für die ‘gelebte’ Mehrsprachigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft Luxemburgs.

Der sprachliche Kontext

Die heutige Sprachpolitik Luxemburgs wird, der Typologie Siguans (vgl. 2001) folgend, als institutionalisierte Mehrsprachigkeit bezeichnet. In diese Kategorie fallen jene Staaten, die zwei oder mehr Sprachen als Nationalsprachen betrachten und deren Sprachpolitik ihren Gebrauch uneingeschränkt im ganzen Land berücksichtigt. Luxemburg stellt, aufgrund der drei dort offiziell verwendeten Sprachen – Lëtzebuergesch, Französisch, Deutsch –, in dieser Hinsicht das eindeutigste Beispiel in Europa dar.

Die drei Sprachen der luxemburgischen Gesellschaft stehen in einem triglossischen Verhältnis zueinander. Geht es um die Kommunikation der Luxemburger untereinander, wird in der Regel von medialer Diglossie gesprochen und zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch unterschieden (vgl. Gilles/Moulin 2003). Die einzige Umgangssprache der Luxemburger untereinander ist Lëtzebuergesch (sie findet z.B. auch in den meisten Parlamentsreden oder der Ansprache des Großherzogs zum Nationalfeiertag Verwendung). Nur im sprachlichen Umgang mit Ausländern sprechen Luxemburger Französisch oder Deutsch. Nach Gilles (vgl. 1999, 9) lässt sich die ‘intranationale Mündlichkeit’ Luxemburgs demnach als strikt einsprachig bezeichnen. Auch existiert kein code switching innerhalb der luxemburgischen Sprachgemeinschaft. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Deutsch und Französisch reine Funktionssprachen sind, die dem Lëtzebuergeschen so fern stehen, dass emotionaler bzw. unbewusster Sprachwechsel (in den Richtungen Lëtzebuergesch–Deutsch und Lëtzebuergesch–Französisch) nicht auftritt (vgl. Berg 1993, 134).

Am Arbeitsplatz wird in der Regel Französisch gesprochen, wobei erwähnenswert ist, dass die Kompetenz der ausländischen Bevölkerung und der Grenzgänger im Lëtzebuergeschen in den letzten Jahren signifikant gestiegen ist (vgl. Fehlen 2002). Die Domänen des Schriftgebrauchs dominieren das Französische (Verwaltung, Justiz) und das Deutsche (Presse). Allerdings genießt das Lëtzebuergesche mittlerweile auch einen gewissen Status als Literatursprache (vgl. Gilles 1999, 8).

Der mehrsprachige Charakter des Landes wird besonders auf der Bildungsebene deutlich: in den Vorschulen wird ausschließlich Lëtzebuergesch gesprochen. Es bleibt auch später die mündliche Verkehrssprache zwischen Schülern und Lehrern. Mit Beginn der Schulpflicht wird Lesen und Schreiben zunächst in deutscher Sprache unterrichtet. Ein Jahr später wird das Französische eingeführt. In der Folge werden einige Fächer in deutscher, andere in französischer Sprache unterrichtet. Hinzu kommt eine Wochenstunde Lëtzebuergesch, die häufig zur Vertiefung von Lehrinhalten genutzt wird (vgl. Siguan 2001, 77; Gilles 1999). Insgesamt kommt dem Lëtzebuergeschen im Bildungssystem Luxemburgs die Funktion einer Hilfssprache zu. Für die Kinder ausländischer Herkunft, die durch die ‘Schulsprache Deutsch´ teilweise vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt werden, dient das Lëtzebuergesche auch als Integrationssprache (vgl. Weber 2002).

Das Lëtzebuergesche gilt seit 1984 (Loi sur le régime des langues) offiziell auch als Amtssprache. Jedoch hatte diese Hervorhebung zur Nationalsprache keine praktischen Konsequenzen zur Folge (vgl. Kramer 1992), weder hinsichtlich einer weiteren Standardisierung, noch eines vermehrten Gebrauchs im Schulsystem. Ziel war wohl vielmehr, die Bedeutung der Sprache als Nationalsymbol hervorzuheben, weniger jedoch die funktionale Stellung des Lëtzebuergeschen gegenüber den beiden anderen Standards auszubauen (vgl. Gilles 1999, 10). Neben dem symbolischen Wert der Sprache als Zeichen der nationalen Identifikation kann die Aufwertung als Schutzmaßnahme für eine – durch die niedrige Sprecherzahl und das relativ geringe Prestige – vom Aussterben bedrohte Sprache gesehen werden. Weber (vgl. 2002, 158) weist diesbezüglich darauf hin, dass sich die Aufwertung des Lëtzebuergeschen bereits positiv ausgewirkt hat: einerseits ist eine erhöhte Nachfrage nach Sprachkursen, Lern- und Bildmaterial etc. im Land und in den angrenzenden Regionen zu verzeichnen. Andererseits besteht die Bereitschaft auf luxemburgischer Seite, dieser zu entsprechen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass den verschiedenen offiziellen Sprachen in Luxemburg jeweils unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zukommen. Während das Lëtzebuergesche als zentrales Symbol nationaler Identifikation zur Herstellung positiver psycholinguistischer Distinktheit fungiert, tragen die exoglossischen Standards Französisch und Deutsch zur Ausbildung einer spezifischen und komplexen multilingualen Situation bei, die, auch bedingt durch den von Ausländern geprägten transnationalen Arbeitsmarkt, ein zentrales Merkmal der luxemburgischen Gesellschaft ist. Die spezifische Art der Mehrsprachigkeit fungiert als Teil der luxemburgischen Identitätskonstruktion. Natürlich gibt es auch in Luxemburg abgrenzende (nationalistisch-sprachpuristische) Strömungen, und die politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse innerhalb des Landes sind oft unübersichtlich und werden auf verschiedenen und sich teilweise überlappenden Ebenen geführt. Insgesamt ergibt sich aber die Perspektive einer Gesellschaft, die in der Lage war, eine inklusive Form der Mehrsprachigkeit erfolgreich (politisch) zu integrieren.

2.2 Südtirol

Historischer Überblick

Südtirol ist nach Rokkan und Urwin (vgl. 1983) ein Beispiel für eine (historische) Pufferzonenlösung zwischen zwei zentralen Sprachgemeinschaften, nämlich der italienischen und der deutschen, sowie einer marginalen Sprachgemeinschaft, der ladinischen21, die über keinen signifikanten Autonomiegrad verfügt. Von den etwa 460.000 Einwohnern Südtirols gehören ca. zwei Drittel der deutschen, ca. 30.000 der ladinischen und ein schwaches Drittel der italienischen Sprachgruppe an (vgl. Rainer 2002).

Tirol war seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Teil des Habsburgerreichs und in Phasen des 19. Jahrhunderts auch Teil Bayerns. Als Venedig und dessen Hinterland 1866 von Österreich an den neu konstituierten italienischen Staat abgetreten wurde, blieb ein Landdreieck südlich der Alpen, Südtirol, österreichisch. Dieser Gebietserhalt Österreichs war einerseits strategisch, andererseits durch den großen deutschsprachigen Bevölkerungsteil auf diesem Territorium motiviert. Allerdings gab es dort bereits eine starke italienischsprachige Minderheit sowie eine kleine ladinische Bevölkerungsgruppe in den Dolomitentälern.

Die italienischsprachigen Gebiete Südtirols galten in Italien fortan als Irredenta – d.h. als unerlöstes italienisches Territorium. Nach dem I. Weltkrieg wurde Südtirol Italien als Gegenleistung für dessen Kriegseintritt auf der Seite der Alliierten zugesprochen (1919).22 Unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis (seit 1922) erfolgte die Initiierung einer Italianisierungspolitik, die das Problem der unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen verschärfte. Ziel des faschistischen Programms war die zwanghafte Integration der lokalen Bevölkerung in die nationale Einheitskultur. Dies sollte erreicht werden durch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen wie Umsiedlungen und die gewaltsame Durchsetzung der (italienischen) Nationalsprache.23 Die durchgeführten Umsiedlungen betrafen die italienische und die deutsche Sprachgruppe: während italienischsprachige Bevölkerung aus allen Teilen Italiens angesiedelt wurde, fand eine Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung als Folge der zwischen Hitler und Mussolini vereinbarten Option24 statt (vgl. Baur et al. 1998).

Nach der Besetzung Südtirols und Norditaliens durch Deutschland, die viele Südtiroler als eine Befreiung vom ‘italienischen Joch’ empfanden, kam es zu einem de facto Anschluss Südtirols an das Reich. Staatsrechtlich aber blieb Südtirol ein Teil Italiens. Als Italien 1945 die Regierungsgewalt wieder übernahm, wurde eine ‘Re-Italianisierung’ initiiert (z.B. durch die Wiederaufnahme einer verstärkten Einwanderungspolitik und die Einrichtung gemischtsprachiger Schulen) (vgl. Steininger 2000).

Grundlage für die Rechte der deutschen Sprachminderheit in Südtirol ist der Pariser Vertrag von 1946.25 In der Folge gestand der italienische Staat in Verhandlungen mit Österreich dem Gebiet ein erstes Autonomiestatut (1948) zu, allerdings für eine erheblich größere Region, genannt Trentino/Alto Adige, in dem sich nun die Deutschsprachigen insgesamt deutlich in der Minderheit befanden. Durch den andauernden Unwillen Roms zur Umsetzung des Abkommens, sich ausdrückend in ethnischer, sprachlicher und ökonomischer Diskriminierung der nicht-italienischen Sprachgruppen, lag die (politische) Hauptlast der Verwirklichung bei der 1945 (von ‘Dableibern’) gegründeten südtiroler Sammelpartei SVP (Südtiroler Volkspartei), die gleichzeitig die ladinische Bevölkerungsgruppe vertrat, da diese in dem Vertragstext nicht berücksichtigt wurde (vgl. Steininger 2000). Der konstruktive Politikansatz eines autonomiepolitischen modus vivendi zwischen Bozen und Trient scheiterte zu Beginn der 1950er Jahre an der zunehmenden Polarisierung wie auch an den vergeblichen Versuchen der Südtiroler, ihr Autonomiestatut zu verbessern, und dem dadurch entstehenden inneritalienischen Konfliktpotential. Dieses doppelte Konfliktfeld führte zu einer belastenden regionalpolitischen Stimmung und in der Folge zur Eskalation der Situation, sich manifestierend in terroristischen Anschlägen, die bis in die Mitte der 1960er Jahre anhielten (vgl. Langer 1996).

Die von Österreich (als Schutzmacht) – vor allem nach der Wiedererlangung der Souveränität und der Anerkennung der Neutralität nach dem Grundlagenvertrag 1955 – unterstützte Opposition der Deutschsprachigen und die zunehmende Bereitschaft auf italienischer Seite, das Problem anzugehen,26 führte zum so genannten Paket (1969) bzw. im Jahre 1972 zu einem zweiten Autonomiestatut, das die Grundlage für die heutige Regelung des Zusammenlebens in Südtirol nach dem Konkordanzprinzip darstellt. Im Rahmen dieses zweiten Autonomiestatuts übertrug man den beiden Provinzen Trient und Bozen weitgehende wirtschaftliche und kulturelle Kompetenzen. Weiterhin wurden auf der Basis des zweiten Autonomiestatuts Durchführbestimmungen zum ethnischen Proporz und zur Zweisprachigkeit erlassen (vgl. Zappe 1996: 79).27

Neben dem Konflikt der Sprachgruppen in Südtirol soll hier noch auf die zentrale Bedeutung hingewiesen werden, die die europäische Einigung nach dem II. Weltkrieg für Südtirol hatte. Italien gehörte – wie Luxemburg –zu den Gründungsmitgliedern der EGKS und der EWG. So profitierte Südtirol während der gesamten Nachkriegsperiode von EU-Förderprogrammen.28 Die intensive Regionalpolitik im Kontext der europäischen Integration verstärkte in der Folge die Ausbildung einer spezifischen südtiroler Identität, die sich z.B. auch von Nordtirol abgrenzt. In der Selbstwahrnehmung unterscheidet sich Südtirol von seinen Nachbarn vor allem durch die Mehrsprachigkeit und das Zusammenleben verschiedener Kulturen, was gleichzeitig als Grundlage für die ökonomische Prosperität angesehen wird.29 So ist die nationale Ebene der Identifikation für die deutschsprachigen Südtiroler kaum noch von Bedeutung. Als Ebene der Identifikation gilt vornehmlich die lokale bzw. regionale, wobei die europäische Ebene die nationale als zusätzliche Ebene der Identifikation verdrängt hat. Ähnliches gilt für die Ladiner Südtirols, obwohl hier die Loyalität zum italienischen Nationalstaat die zu Europa noch übertrifft. Die italienische Sprachgruppe identifiziert sich wiederum hauptsächlich mit dem italienischen Nationalstaat und erst an zweiter Stelle mit der Region. Europa spielt hier nur eine marginale Rolle.30

Der sprachliche Kontext

Zwar ist die Mehrsprachigkeit in Südtirol auch institutionalisiert, jedoch in einem juristisch viel restriktiveren Maße als in Luxemburg. Südtirol ist daher in der Kategorie sprachliche Autonomie im Rahmen der sprachpolitischen Typologie Siguans (vgl. 2001) zu verorten. Die Bezeichnung sprachliche Autonomie ist kennzeichnend für die Sprachpolitik in Staaten, die zwar über eine Nationalsprache verfügen, anderssprachigen Gebieten aber politische Autonomie einräumen. Diese Gebiete innerhalb der Nationalstaaten erhalten dadurch die Möglichkeit, ihre eigene Sprachpolitik voranzutreiben und einen co-offiziellen Status ihrer Sprachen durchzusetzen.

Die aktuelle Situation in Südtirol ist durch die formal-juristische Festlegung der Sprachgruppenzugehörigkeit als Volksgruppenzugehörigkeit gekennzeichnet. Diese, aus Gründen des Minderheitenschutzes für die deutsche und ladinische Sprachgruppe eingeführte Regelung, hat beispielsweise den Besuch strikt getrennter Schulen bis hin zur Vergabe von Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst und sozialen Förderungsmaßnahmen nach dem ethnischen Proporz zur Folge.31 Die Ausnahme im Schulsystem bilden die ladinischen Ortschaften in Südtirol, die eine paritätische Regelung einführten, in deren Rahmen zu gleichen Teilen Deutsch und Italienisch unterrichtet wird und Ladinisch als Hilfssprache dient. Deutsch und Italienisch sind offizielle Sprachen, das Ladinische genießt einen besonderen Schutz, erfährt allerdings im restlichen Italien keine Förderung. So sind die Ladiner als zahlenmäßig kleine Minderheit zwar rechtlich anerkannt, vom Proporz allerdings in der Regel nur unzureichend berücksichtigt.

Alle drei südtiroler Sprachgruppen verfolgen das Ziel der sprachlich-kulturellen Eigenständigkeit. Insbesondere die deutsche Sprachgruppe beharrt auf dem Schulseparatismus, weil sie den Verlust der Gruppenidentität durch Sprachassimilierung sowie Niveauverlust durch gemischte Schulen fürchtet. Initiativen wie der so genannte Immersionsunterricht an italienischsprachigen Schulen, in dem auch Sachkunde in der zweiten Sprache gelehrt werden soll, gelten der deutschen Sprachgruppe als existenzielle Bedrohung für ihre Sprache in der Region (vgl. Atz 1999: 131). Andererseits gibt es in der sehr heterogenen italienischen Sprachgruppe32 – nicht zuletzt wegen der obligatorischen Zweisprachigkeit – auch einen Widerstand gegen das Erlernen der deutschen Sprache. Hinzu kommt das Problem des deutschen Dialektes in Südtirol, der auch auf deutschsprachige Italiener ausgrenzend wirkt.33 Die ladinische Sprachgruppe scheint durch das effizientere Schulsystem von der gegenwärtigen Sprachsituation zu profitieren. Es ist jedoch fraglich, ob der sprachliche Assimilierungsprozess der Ladiner, trotz eines relativ starken Bewusstseins der Eigenständigkeit, aufgehalten werden kann, da die Bedeutung des Deutschen und des Italienischen, aber auch des Englischen, im europäischen Kontext zunimmt.

Die ethnopluralistische Regelung in Südtirol im Zuge der Paketlösung, welche den sprachlichen Bekenntniszwang mit dem ethnischen Proporz z.B. bei der Stellenvergabe verknüpft, hat zu einer Verfestigung ethnonationaler Denkmuster und zu Re-Ethnisierungsprozessen geführt. Die obligatorische Zweisprachigkeit und die Tatsache, dass es außer im Berufsleben kaum sprachgruppenübergreifende Kontakte gibt, bewirken eine Spaltung der südtiroler Gesellschaft in verschiedene Subgesellschaften. So erzeugt der Hegemonieanspruch der deutschsprachigen Mehrheit gleichzeitig eine Revitalisierung des Nationalbewusstseins der italienischen Sprachgruppe. Als Konsequenz dominiert die ethnisch-nationale Zuordnung andere identitätsstiftende Faktoren (vgl. Baur et al. 1998, 271ff.). Sprache dient hier vor allem als exklusiver Identitätsmarker.

Der südtiroler Fall bietet daher unterschiedliche Perspektiven: auf der einen Seite die gelungene Befriedung eines ethnischen (Minderheiten-)Konfliktes auf gesetzlicher Basis. Andererseits ergibt sich vor allem in Bezug auf Sprache ein Bild der Kategorisierung und Abgrenzung der Sprachgruppen voneinander, das dem Gedanken eines vereinten Europas widerspricht. Hier besteht die Gefahr, dass eine historische Chance vertan wird: zwar existieren alle Voraussetzungen und Strukturen für die Umsetzung einer gelebten Mehrsprachigkeit, faktisch wird dies jedoch durch politische Verteilungskämpfe verhindert. Andererseits führt das südtiroler Beispiel die möglicherweise nicht zu überwindenden Grenzen vor Augen, denen sich eine idealisierte, stark normative Vorstellung Europas stellen muss.

 

3. Exkurs: Erweiterung der Perspektive am Beispiel Ungarns

Während die Perspektive hier bisher die Westeuropas war, soll nun ein Blick auf die neuen Mitgliedsländer der EU geworfen werden. Im Zuge der Erweiterungsprozesse ist es zukünftig unabdingbar, die oft noch vorherrschende (stillschweigende) Gleichsetzung von Europa und europäischer Kultur mit dem geographischen Westen zu überwinden (vgl. Jaworski 1991). Insbesondere die Frage nach der sprachlichen Identität und – eng mit ihr verbunden – die Minderheitenfrage, ist bei der Betrachtung der Länder, die am 1. Mai im Zuge der Osterweiterung der EU beitreten, von großer Bedeutung. Der hier vorgeschlagene Theorierahmen könnte auch als Hintergrund für eine diesbezügliche Untersuchung dienen. Nachfolgend werden einige zentrale Aspekte skizziert, die bei der Betrachtung sprachlicher und identitärer Prozesse in den Ländern Ost-, Ostmittel- bzw. Südosteuropas – insgesamt verstanden als Raum zwischen Deutschland und Russland34 –, im Unterschied zu Westeuropa, von zentraler Bedeutung sind:

1. Die Auseinandersetzung mit Identitätsbildungsprozessen verlangt eine intensivere Betrachtung der komplexen Geschichte des Raums (Wanderungsbewegungen und Neuansiedlungen seit dem 12. Jahrhundert; der Auflösungsprozess der Habsburger Monarchie und des Osmanischen Reichs; Grenzziehungen nach den Weltkriegen; kommunistisches Zeitalter; politische Wende nach 1989 und national-ethnisches ‘Revival’). Das ‘historische Bewusstsein’ ist grundsätzlich ausgeprägter und spielt auch in der aktuellen politischen Auseinandersetzung eine relativ bedeutende Rolle (exemplarisch zu Ungarn, vgl. Kiss 1996). Verglichen mit den hier untersuchten Fällen sind diesbezüglich Parallelen zu Südtirol erkennbar.

2. Die Komplexität der Minderheitenproblematik lässt sich am Beispiel Ungarns verdeutlichen: dort leben 13 nationale und ethnische Minderheiten, die, je nach Erhebung und Schätzung, zwischen zwei und zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (ca. 10 Millionen) ausmachen35 (vgl. Eiler/Kovács 2002). Gleichzeitig leben ca. vier Millionen Ungarn in den angrenzenden Staaten (die Mehrzahl in Rumänien und der Slowakei). Hier werden zwei politische Konfliktlinien deutlich: (a) die internationale, etwa zwischen Ungarn und der Slowakei bezüglich der Behandlung der jeweiligen Minderheit durch die Titularnation, und (b) eine nationale, zwischen der ungarischen Regierung und den Minderheiten in Ungarn bezüglich der Verteilung der (finanziellen) Ressourcen.

3. In Bezug auf Sprache ist es von Interesse, (a) wie weit sprachliche Assimilierungstendenzen36 fortgeschritten sind, (b) welche Mittel aufgewendet werden, um das Fortbestehen der Minderheitensprachen zu sichern (z.B. Lehrerausbildung, Schulen, Kindergärten, etc.) und die diesbezüglichen politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, (c) unter welchen Einflüssen traditionelle Varietäten verschwinden bzw. neue Kontaktvarianten entstehen und (d) ob Auswirkungen durch Europäisierung und Globalisierung (Einflüsse des Englischen und neuer Medien, wie des Internets) zu beobachten sind.

4. Ein letzter Punkt beinhaltet die gesetzliche Regelung des sprachlichen Minderheitenschutzes bzw. dessen tatsächliche Umsetzung.

 

4. Fazit

Der Vergleich von Luxemburg und Südtirol verweist zunächst auf die zentrale Rolle geopolitischer und eigenständiger (staatlicher) Strukturen, die unterschiedliche Voraussetzungen bzw. Grundlagen für die jeweiligen gesellschaftlichen (und identitären) Differenzierungsprozesse schufen. Bezogen auf die sprachliche Situation bietet der Fall Luxemburg strukturell die Perspektive einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, die das Konzept der Identität inkludierend vermittelt und somit eine zentrale gesellschaftliche Funktion erfüllen kann. Dem Lëtzebuergeschen kommt dabei eine wichtige Funktion bei der Ausbildung einer positiven psycholinguistischen Distinktheit der nationalen Eigengruppe zu. Gleichzeitig wurden aber auch Einflüsse aus den angrenzenden Kulturräumen in die Identitätskonstruktion aufgenommen. Bei allen Problemen im Kontext von Europäisierung und Globalisierung, denen sich natürlich auch die luxemburgische Gesellschaft gegenüber sieht, erleichtert die institutionalisierte Mehrsprachigkeit die Integration des großen Anteils ausländischer Arbeitskräfte sowie die vermehrte Identifikation mit der europäischen Ebene. Allerdings fördert die gesellschaftliche und politische Verortung des Landes im ‘Kern’ (West-)Europas die Skepsis gegenüber Erweiterungsfragen.

In Südtirol führt die Segregation der Sprachgruppen zu einer exklusiven Form der Mehrsprachigkeit, die dem idealtypischen Grundsatz einer unity in diversity (der offiziellen kulturellen Formel für Europa) widerspricht. Der prägende Einfluss der konfliktbehafteten Vergangenheit und des ethnischen Proporzes auf die Gesellschaft Südtirols sowie das Politikverhalten im Rahmen des Konkordanzsystems verhindern die Durchsetzung integrativer Tendenzen. Die Dominanz der Vergangenheitsperspektive in der politischen Auseinandersetzung wird hier als Hindernis im europäischen Integrationsprozess angesehen, da es die Konstruktion emotionaler Konventionen und den Abbau kultureller Schranken, hervorgerufen durch Ideologisierung und Stereotypisierung, letztlich erschwert.

Europäische Identität?

Obwohl die Anzahl der Studien zu ökonomischen Organisationen und politischen Institutionen der europäischen Gemeinde kaum noch überschaubar ist, wird den kulturellen und psychologischen Fragen nach der Bedeutung von Werten und Symbolen im europäischen Kontext relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst nach der Auflösung der Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam, verstanden als europäische Wiedervereinigung, und vor dem Hintergrund des ‘Mythos des friedlichen Verständigungshandelns’ der ostmitteleuropäischen Revolutionen setzt sich langsam das Bewusstsein durch, dass ökonomische Prosperität nicht (mehr) ausreicht, um Europäizität zu demonstrieren (vgl. Kraft 2003, 35).

Im Rahmen der Beantwortung der Frage nach einer (kulturellen) europäischen Identität, die potentiell in der Lage ist, lokale, regionale und nationale Identitäten zu transzendieren, stößt man zwangsläufig auf gesellschaftliche Ungleichheiten: die Diversität kulturellen Zusammenlebens, die Schwierigkeit, sich über die Grenzen Europas zu einigen (Stichwort: Türkei), die anhaltende Stärke der Nationalstaaten sowie die charakteristische ethnische und linguistische Pluralität. Europäer unterscheiden sich also untereinander und gegenüber Nicht-Europäern37 in Bezug auf Sprache, Territorien, Rechtstraditionen, Religionen, politischen Systemen und Geschichte sowie den ethnischen und kulturellen Kontext. Andererseits werden verschiedene Traditionen und kulturelle Erbschaften – wenn auch nicht von allen in gleichem Maß – doch geteilt. Vor dem Hintergrund dieser nur partiell gemeinsamen kulturellen Traditionen erscheint es sinnvoll, dem normativen Begriff der unity in diversity mit Anthony D. Smith den einer family of cultures zur Seite zu stellen (vgl. Smith 1992, 70).

Es existieren verschiedene Bereiche, in denen gemeinsame europäische Charakteristika und Erfahrungen vermutet werden. Der hier fokussierte ist Sprache. Dabei wird davon ausgegangen, dass Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle bei der Ausbildung einer potentiellen europäischen Identität spielen kann. Ein bedeutender Faktor könnte diesbezüglich das Erlernen der Sprache des Nachbarn im Kontext grenzübergreifender (auch kultureller) Kooperation sein. Weiterhin erscheint eine europaweite Kompetenz des Englischen sinnvoll, da es schon jetzt als die de facto lingua franca Europas anzusehen ist.38 Der Unterricht des Englischen ist demnach wichtig, jedoch nur als Ergänzungssprache, nicht aber als glottophagische Verdrängungssprache (vgl. Nelde 2003). Ein weiterer zentraler Punkt ist die ‘positive Diskriminierung’ (affirmative action) von (Sprach-) Minderheiten, um Assimilierungstendenzen entgegenzuwirken und die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas als Charakteristikum aufrechtzuerhalten.

Letztlich geht es hier um die Auflösung des Dilemmas bezüglich des Raums für Individualität bzw. für spezifische Solidaritäten und der (sprachlichen) Effizienz. Eine Erweiterung der analytischen Perspektive um die Länder, welche im Zuge der Osterweiterung der EU beitreten, verspricht in dieser Hinsicht – wie das Beispiel Ungarn verdeutlicht – neue Aspekte, Fragestellungen und Erkenntnisse.

 

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Anmerkungen

1

Mehrsprachigkeit bedeutet hier Bi- oder Multilingualität, verstanden als psychologischer Zustand eines Individuums, welches Zugang zu zwei oder mehreren linguistischen Codes (Sprache, Dialekt) als Kommunikationsmittel hat. Im Kontext bi- oder multilingualer Kommunikation sind in der Regel verschiedene ethnolinguistische Gruppen beteiligt (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 293).

2

Die Arbeitslosigkeit liegt jeweils unter drei Prozent.

3

Luxemburg war eigenständiges Mitglied der ersten supranationalen Koordinations- und Kontrollbehörde (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, 1952), Südtirol wiederum durch die Mitgliedschaft Italiens in die Organisation eingebunden. Beide können demnach als Gründungsmitglieder des sich vereinenden und gleichzeitig integrierenden (zunächst West) Europas angesehen werden.

4

So werden die Fälle Luxemburg und Südtirol in der zugrunde liegenden Arbeit (vgl. Rokkan/Urwin 1983) als Peripherien kategorisiert. Wenn es hier auch im Wesentlichen um Sprache geht, so würde im gegenwärtigen Kontext der EU niemand ernsthaft Luxemburg als Peripherie bezeichnen. In Bezug auf das Überleben von (sprachlicher und identitärer) Eigenständigkeit bietet das Modell dennoch eine ideale Grundlage für komparative Analysen.

5

Dieser Abschnitt basiert auf der bereits erwähnten Arbeit Stein Rokkans und Derek W. Urwins (1983).

6

So wird in der Regel ein Zusammenhang in Richtung ‘relative Armut = kulturelle Abgrenzung und umgekehrt’ angenommen. Diverse Beispiele (Baskenland, Katalonien, Schottland) widerlegen diese vereinfachende Kausalität.

7

Rokkan/Urwin (1983, 22) identifizieren in dieser Hinsicht mindestens sieben zentrale Ereignisse: „(1) the Celtic expansion; (2) the long series of Roman conquests; (3) the multiple invasions of Germanic tribes into the crumbling western Roman Empire during the fourth and fifth centuries; (4) the eighth century wave of Arab conquests; (5) the succession of Viking raids and conquests; (6) the westward drift of the Slavs and Finno-Ugric peoples into the territories to the landward side of the Germanic tribes; (7) finally, from the twelfth century, the return expansion eastwards of the Germans, part of the great drive to Christianize the rest of Europe, but accompanied by well-planned efforts to colonize and improve poorly used agricultural land“.

8

Rokkan/Urwin (1983, 69) schreiben: „In Western Europe these processes of standardization advanced between the eighth and twelfth centuries. The alphabetization of vernaculars in the monasteries and church schools tended to stabilize standards and to prepare the ground for the unification of national languages. The first standard languages owe much to Gutenberg and the early printers (…). At least in the Protestant countries, the introduction of compulsory mass education later increased the pressures of standardization.”

9

Diese war gekennzeichnet durch einen sprunghaften Anstieg sowohl administrativ-juristischer als auch militärischer Einrichtungen und in der Folge durch die Ausbildung eines territorienweiten Marktes.

10

Anderson unterscheidet sich diesbezüglich wiederum von Ernest Gellner, einem weiteren prominenten Vertreter der Nationsforschung, für den Nationen ‘dort’ (vom Nationalismus) erfunden werden, wo es vorher keine gab. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt nach Anderson darin, dass Gellner ‘Erfindung’ mit ‘Herstellung von Falschem’ assoziiert. Auf diese Weise gibt er zu verstehen, dass Gemeinschaften existieren, die sich von der Nation vorteilhaft absetzen. Nach Anderson ist jedoch jede Gemeinschaft oberhalb von (dörflichen) Face-to-Face-Kontakten eine vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Anderson 1997, 16). Die übermäßige ‘Betonung des Konstruierten’ ist jedoch gleichzeitig eine Grundkritik am Ansatz Andersons.

11

Im Zusammenhang mit der getroffenen Kategorisierung räumen Rokkan und Urwin ein, dass einige dazwischenliegende Fälle ‘übrig’ bleiben, deren Klassifizierung schwierig und zweifelhaft sei.

12

Rokkan/Urwin weisen darauf hin, dass es offensichtliche Probleme bei der Einteilung unterschiedlicher Klassen von Peripherien gibt, da Marginalisierung nur eine zusammenfassende Bezeichnung für einen multidimensionalen Klassifizierungskomplex ist.

13

Mit ‘europäischer Ebene’ ist hier die sich gegenwärtig erweiternde EU gemeint, bzw. der Rahmen, der durch sie vorgegeben wird. Die historische Betrachtung europäischer Entwicklungen zeigt, dass die sprachlichen und identitären Probleme nicht der EU entspringen, diese aber momentan als die geeignetste politische Form erscheint, sie besser zu behandeln, mildern und vielleicht sogar lösen zu können (vgl. Schmierer 1996, 28).

14

Code switching in multilingualen Kontexten kann definiert werden als der wechselnde Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen in derselben Äußerung bzw. Konversation (vgl. Grosjean 1982 nach Sachde’/Bourhis 1990, 294).

15

Giles ‘neuer´ theoretischer Ansatz zur Erklärung des code switching stellte ursprünglich die Antwort auf die ‘normative Verzerrung’ der traditionellen Soziolinguistik dar. Diese führte den Sprachwechsel in multilingualen Kontexten ausschließlich auf soziale Normen, Regeln und Grundsätze zurück. Die SAT geht hingegen davon aus, dass Sprachwechsel auch in Abwesenheit von bzw. trotz bestehender Normen auftritt (Sachdev/Bourhis 1990, 296).

16

Sprache wird vor diesem Hintergrund zum wichtigsten der vom Bewusstsein der Beteiligten weitgehend unabhängigen (objektiven), im Gegensatz zu den handlungsrelevanten (subjektiven), Ausprägungen des Wir-Bewusstseins.

17

Als zentrales Ereignis ist hier die von der deutschen Besatzungsmacht durchgeführte Volkszählung im Jahre 1941 zu nennen: die Luxemburger gaben einstimmig ‘Luxemburgisch’ oder ‘Lëtzebuergesch’ als Muttersprache an, obwohl die Suggestivfragen im Rahmen des Plebiszits darauf hinwiesen, dass es keinen luxemburgischen Staat mehr gebe, und dass auch nur noch eine wahre Hochsprache existiere, nämlich das Deutsche. Das peinliche Ergebnis aus Sicht der Nationalsozialisten führte zum Scheitern des Plebiszits und zur Aufwertung der nationalen Identität der Luxemburger über die Sprachenfrage (vgl. Berg 1993; Trausch 1995).

18

Die lokale Sprachvarietät wurde 1912 als Pflichtsprache in den Schulunterricht eingeführt.

19

Luxemburg konnte, bedingt durch vorteilhafte Steuerregelungen, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Bankenzentrum etabliert werden, was wesentlich für den heutigen Wohlstand und die Ausbildung und Ausweitung des gegenwärtigen transnationalen Arbeitsmarktes verantwortlich ist.

20

Umfragen des Eurobarometer nach der ‘europäischen Identität’ ergeben für Luxemburg europaweit die höchsten Werte in den Kategorien ‘nur europäisch (15%)’ und ‘erst europäisch, dann national (14%)’. Gleichzeitig ist die Zahl der befragten Luxemburger am geringsten, die sich nur über die Nationalität identifizieren (24%). 77% der Luxemburger sehen die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als vorteilhaft (ebenfalls der höchste Wert). Die Erweiterungsfrage wird in Luxemburg eher negativ beantwortet: ein Drittel der Befragten sind gegen eine Erweiterung. Nur 15% sind offen gegenüber einer Vergrößerung um alle Staaten, die Teil der EU sein wollen (vgl. Eurobarometer 2003 u. Eurobaromètre 2003).

21

Ladinisch wird in der Sprachwissenschaft unter das Rätoromanische subsumiert. Dieses wiederum gilt als eine der zehn romanischen Sprachen (vgl. Siller-Runggaldier 1999).

22

Dies wurde den Italienern in Verhandlungen im Jahre 1915 vor ihrem Kriegseintritt auf Seiten der Entente-Mächte zugesichert.

23

Den ideologischen und sprachlichen Unterbau lieferte der italienische Nationalist Ettore Tolomei. Die vollständige Verbannung der deutschen Sprache aus dem alltäglichen Leben (Auflösung der deutschen Kindergärten und Schulen, Zwangsversetzung der deutschen Lehrkräfte und deren Ersetzung durch italienische) führte in der Folge zur Gründung der so genannten Katakombenschulen (in Erinnerung an die verfolgten Christen im alten Rom), als Inbegriff des südtiroler Widerstands gegen den Faschismus. Mit Hilfe dieses Geheimschulnetzes (auf Dachböden, in Kellern und Scheunen) konnte die deutsche Sprache weiter unterrichtet werden. Aufgrund der Lateranverträge von 1929 durfte zumindest der Religionsunterricht in deutscher Sprache – allerdings außerhalb der Schule – durchgeführt werden (vgl. Steininger 2000, 198f.).

24

Die Option stellt ein trauriges Kapitel der südtiroler Geschichte dar, welches von den Südtirolern selbst geschrieben wurde: sie spaltete die deutsche Sprachgruppe in ‘Geher’ (Optanten) und ‘Dableiber’. Die südtiroler Nationalsozialisten, organisiert im Völkischen Kampfring Südtirols (VKS), der sich anfangs noch gegen die Umsiedlung aussprach, schwenkten radikal um. Es folgte ein Propagandakrieg, in dem auch vor Terror gegenüber ‘Dableibern’ nicht halt gemacht wurde, was zu einer starken Polarisierung führte (vgl. Steininger 2000, 200). Insbesondere nach dem II. Weltkrieg hatte dies freilich auch Auswirkungen auf Identitätsbildungsprozesse.

25

Auch bezeichnet als Gruber-Degasperi-Abkommen nach den beiden Außenministern Österreichs und Italiens, die das Abkommen aushandelten.

26

Ein wichtiger Aspekt war in dieser Hinsicht die Internationalisierung des Konflikts durch Einschaltung der UNO.

27

1992 deklarierte Österreich offiziell die Beilegung des Konfliktes mit Italien über Südtirol vor den Vereinten Nationen.

28

Dies betrifft vor allem den Agrarbereich, der in Südtirol einen besonderen Stellenwert einnimmt (vgl. Magliana 2000).

29

So wird häufig von ‘deutscher Disziplin’ und ‘italienischer Lebensfreude’ gesprochen, um die besondere südtiroler Identität zu charakterisieren (vgl. Magliana 2000, 90). Trotz der fehlenden gesellschaftlichen Integration sind hier – vergleichbar mit Luxemburg – Tendenzen der Aufnahme zweier Kulturräume in die jeweilige Identitätskonstruktion festzustellen.

30

Die hier getroffenen Aussagen werden durch Erhebungen im Rahmen der ASTAT Jugendstudie (1994) bestätigt (vgl. Magliana 2000, 89f.).

31

Rechtliche Voraussetzung für alle öffentlichen Stellen ist der Nachweis der Zweisprachigkeit (Deutsch und Italienisch) durch einen Test (patentino=Zweisprachigkeitsschein).

32

Diese Heterogenität ist auf die starke Zuwanderung der Italiener nach Südtirol aus allen Teilen des Landes zurückzuführen. Außerdem ist eine klare Stadt-Land-Trennung zu beobachten: während die Italiener überwiegend in den Städten siedeln (Bozen ist z.B. zu 80% italienischsprachig) und vornehmlich im Dienstleistungsbereich arbeiten, ist das durch die Landwirtschaft geprägte Umland von Deutschsprachigen dominiert.

33

Eine aktuelle Tendenz unter den deutschsprachigen Südtirolern ist die Angst vor Fehlleistungen bei der Benutzung der deutschen Hochsprache. Dadurch entwickelt sich der Dialekt in der deutschen Sprachgruppe mehr und mehr zur Hauptkommunikationssprache (z.B. auch für das Verfassen von E-Mails am Arbeitsplatz).

34

Die Begriffe sollen hier nicht weiter spezifisiert werden. Zu Definitionen vgl. Segert (2002), Jaworski (1991), Seewann (2000).

35

Die größte Minderheit in Ungarn stellen die Roma (ca. 500.000). Aufgrund großer linguistischer bzw. kulturellen Unterschiede und vorherrschender Stereotype wird diese Gruppe in Ungarn, im Gegensatz zu den anderen Minderheiten, vornehmlich als soziales Problem wahrgenommen (vgl. Eiler/Kovács 2002). So sind die Roma kaum in die ungarische Gesellschaft integriert. Ähnliches gilt für die Roma in der Slowakei.

36

Hier muss zwischen natürlicher und erzwungener Assimilierung unterschieden werden.

37

Im Rahmen der Konstruktion eines gemeinsamen europäischen Raums taucht natürlich auch die Frage auf, gegen was sich das zukünftige Europa abgrenzen sollte. Hier besteht die Gefahr der verstärkten Exklusion nicht-europäischer Gruppen im Sinne eines Euronationalismus.

38

Es spricht Vieles dafür, dass sich bereits eine europäische Varietät des Englischen sui generis herausgebildet hat, die man als euroenglish bezeichnen könnte.

Begegnungen22_Mora

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:207–213.

VERONIKA MÓRA

Reception of Genetically Engineered Living Organisms by Environmental Organizations

 

The introduction of gene modification technology in agriculture created severe disputes worldwide from the moment it began; some considered it a miracle, others saw it as a source of new dangers. The disputes have been the most vehement in countries of the European Union; it was here that the widest range of social organizations was involved and the disputes had the greatest effect on shaping governmental policies. The result was a de facto moratorium, in effect since 1998, meaning the suspension of permission to the marketing of gene modified products and recently enacted new directives, including labelling and tracking dissemination. Environmental associations played a major role in the mobilization of public opinion and the introduction of government regulations.

When the first shipments of gene modified (GM) soy products arrived in Europe, the subject immediately came to the focus of public interest. This was different than previous environmental disputes for instance, protests against the application of nuclear energy followed the introduction of relevant technologies only several decades later; in contrast, arguments objecting to the application of gene technology emerged promptly from the moment of its introduction. Many associations dedicated to the environment and consumer protection made their position clear within a few months. At the beginning of October, 300 associations from 30 countries announced a boycott of such products worldwide. The rejection of the gene modified products was an open expression of resistance by public opinion; according to some surveys, consumers reacted to food products containing gene modified vegetables with great resistance. This was the more significant because the first gene modified crops – soybeans and corn – are important components of processed food, their derivatives could be found in 60-70 % of marketed products, which means that they can hardly be avoided.

Responding to the demands of consumers, more and more food producers and wholesalers refused to accept components from plants that were genetically modified and promised to voluntarily exclude them in one way or other from their products or at least to label their merchandise accordingly.

In the first four weeks of the boycott, there was a 10 % decline in the import of soybeans from the US to Europe. Today, the loss of income is valued at $300 million a year. In other regions of the world, such as in India, similar movements began that were initiated by the state or by certain segments of society.

The response did not elude Hungary, even if it happened with some delay. Local environmentalists held their first news conference in April 1997, in which they informed the public of the issues involved. A good opportunity was provided for them by the newly introduced rules based on those of the European Union. As a result, a law of 1998 [XXVII] was passed by the Parliament dealing with activities of gene modification technology.

The major effort of the environmentalists was directed toward ensuring openness and the right of society to participate in decisions concerning gene modification technology. These efforts were mostly successful, because representatives of the “greens,” dealing with this issue, had been included in the work of the Gene Technology Advisory Committee and had the opportunity to voice their opinion. In addition, the most important pieces of information concerning permits were made accessible for the public.

 

Background of Disputes Concerning Gene Modification Technology

Disputes concerning the application of gene modification technology – especially in plants – have not abated since then. In fact, opinions tend to become more extreme on both sides. Some participants in the dispute consider the opposition to represent nothing more than innate fears and irrational or protectionist economic interests. However, the issues cannot be reduced to such simple explanations. The assertion that the major source of opposition originates in ignorance is difficult to maintain because, according to the latest survey conducted by “Eurobarometer”, the rejection of the application of gene modification technology increases with the level of available information. The disputes really originate in fundamental disagreements about differences in points of view. In fact, the cause of gene modification technology cannot be separated from modern agricultural practices and, therefore, it is related to the general goals and desirable future sustainable development of agriculture in the wider context.

Sustainable agricultural production, considered from society’s and nature’s interests, must include, in addition to production functions, the maintenance of the landscape and culture; in other words, beside producing food the task of agriculture includes the protection of the elements of the landscape (biodiversity, the soil, water and air purity), the reduction of its impacts and the maintenance of relations between human beings and nature. The basic principle of sustainable agriculture practices is accommodation, because, in the long run, only those systems will survive that will be fully able to respond to conditions that are changing in time and space. Only small-scale systems developed organically in response to local needs and practices, depending on local energy resources and ecological conditions, are able to fulfil this role.

A natural objection may be that, regardless of the desirability of changing over to such systems, the need of fundamental changes makes such transformation possible only in distant future. However, literature and theories dealing with sustainable agricultural practices have risen above such levels for a long time; in Hungary, there already exists a framework that is approved by the government; this is the National Agri-Environmental Program. The major issue is, therefore, the question, whether the use of gene modified plants and animals would promote the maintenance of a sustainable agricultural paradigm, or be necessary for its success.

Today, the admitted goal of gene modification technology used on a large scale in agricultural commerce is the effort to increase the volume of plant production. The professed goal is the production of insect and disease resistant plants and the creation of new species of such plants in the near future. However, it would be possible to increase the production of food by making better use of the potentials of existing plant species. For instance, in the Hungarian case, it is not desirable to increase the volume of agrarian production in light of a declining population, since the marketing and sale of food products already cause problems every year. In a world wide context, we are producing enough food for the support of the population and the causes of starvation and malnutrition are not to be found in the insufficient volume of available food but in the uneven availability and distribution of food resources. The starving populations either have insufficient amount of available land, or are forced to abandon their land because of wars or the expansion of large estates, or they are simply lacking money to pay for their food. This problem cannot be alleviated simply by increasing production; political and social changes are necessary for a proper solution.

The currently available genetically modified plant species have been created with the needs of modern, intensive agricultural practices in mind and will probably be used mostly in the developed countries. Concerning their transfer to areas where hunger prevails – in light of currently existing tendencies – is at least a questionable proposition. In fact, the increase of agricultural production in the developed countries undermines the security of the food supplies of the poorer countries, because cheaper production methods – themselves the results of agricultural subsidies – will exclude local producers from the market.

As far as the promised decrease for the need of chemical insecticides is concerned, protection of plants is related to accommodation to local conditions prevailing in respective areas, and therefore their purpose is first of all the prevention of crop damage. Such protection suggests various solutions, depending on the selection of the location of production, the structure of poly-cultural plant varieties, crop rotation systems, as well as biological and physical means. Chemicals used in this process serve, first of all, as substitutes or they may play preventive roles.

Recent research, conducted mostly in America, concerning genetically modified plants do not support assertions of increasing yields or the reduction of the need for chemicals; in fact, in cases of glifozat-resistant soybeans they show 5-10% reduction in the volume of crops depending on the climate and the locality where it is used. The sole advantage of the new crop may be – it seems – in the simpler agrarian technology it needs.

The largest problem of the new gene modification technology is that agricultures that are already based on mono-cultural production systems, will become even more uniform. In fact, not only one species of plant are produced in the process. Individual plants will be of the same genetic type, because it will be more profitable for the producers to raise “super varieties” created by gene modification technology in order to ensure larger crops. Gene modification technology, therefore, reduces the security of agricultural production, because plants consisting of the same gene-type will be more vulnerable to insect damage and to changes in the living environment.

The survival of the variety of species and kinds of plants could provide a basis for future selectivity and improvement, and the creation of new kinds of plants. This is a process that ensures adaptability to changing environmental circumstances. Gene-banks cannot preserve species by themselves because individuals withdrawn from production will become sooner or later barren and will be inbred; consequently, they will be extinct forever. During the past 40-50 years of intensive agricultural practices, species and regional kinds have already disappeared at an increased pace and have been replaced by modern varieties producing larger crops.

 

Sources of Hazards in Gene Modification Technology in Agriculture

Scientific arguments supporting gene modification technology employ, by necessity, coarse simplifications. They cannot do otherwise, because living organisms are so complex. In fact, a genome cannot be considered simply as a mathematical sum of genes. It is a unit that has developed during millions of years of evolution. If we included in this system – which we do not fully understand as yet – one (or more) elements in a haphazard way, we cannot be sure that such element(s) will operate smoothly. The procedures of gene modification technology include huge uncertainties (and it is successful only in 10% of the cases). It is by mere coincidence if unexpected consequences become immediately apparent. It is more likely, however, that such consequences will not surface incidentally but rather over generations in time.

The impact of consequences will be further increased if the gene modified plants were introduced through open plough lands or in the natural environment in general. The lack of scientific knowledge decreases the possibility of trustworthy prognoses. What is true for processes taking place within cells, is also true for nature as a whole, including entire ecosystems, with the difference that we know even less about emerging mutual influences. Genetically modified plants do not exist in isolation from their environment. For instance, when gene modified plants enter the environment of their naturally developing counterparts, they may have an advantage of survival over the original local plants, thanks to their modified genes. They may pass their genes on to the local species or kinds, providing them with special advantages or disadvantages. In Canada, where they produce several species of gene modified canola, resistant to certain chemicals, they discovered wild species of canola being resistant to two or three weed killer chemicals. Most of the genetically modified species produced today also speed up the growth of weeds and insects that are resistant to weed killer chemicals. All this makes the introduction of newer chemicals of greater efficiency – and more poisonously effective – necessary. Genetic pollution – the escape and spread of modified genes – can be determined with difficulty or not at all, and when it occurs, there is no way to turn the process back. One of the central issues in the disputes in the European Union is the so-called “co-existence” of gene modified agriculture and traditional agricultural methods, or whether there are sufficient security measures that would prevent their intermixing? Several opinions maintain that there are none.

Besides serious ecological hazards, there are also problems concerning health issues. In the absence of general studies, we do not know how our human bodies will react to proteins produced by genes originating from viruses or bacteria; could these be causing allergies or could they even be poisonous? Data from certain experiments suggest that we must count on the appearance of undesirable side effects. Food products containing modified genes do not enter high quality foodstuffs but satisfy the need for mass produced junk food. This is indicated by the fact that the first marketed products of gene modified technology, soybeans and corn, serve explicitly the goals of manufactured food products and provide fodder for large scale animal husbandry.

The secure insulation of traditionally raised and genetically modified plants proved to be impossible in spite of the most stringent measures. There is plenty of evidence to prove that, through pollination or the loss of kernels, the gene modified plants did indeed enter transported products that were believed to be free of them.

When evaluating a new technology, its developers usually do not attempt to examine its effects systematically and in their totality; we are now experiencing their effect in our polluted world. The problems suggested by the system of gene modification technology seem to be inappropriate to break with this practice; instead – and before – under taking increased efforts at their marketing, we should become better acquainted with the processes that occur within the cells influenced by the appearance, activities and impact of alien genes.

 

Society, Economy and Morals

In the disputes over the hazards of gene modification technology we must consider other points of view as well, because sustainability has not only an environmental, but also social and economic aspects. Since the decade of the 1980’s, large companies previously engaged in producing chemicals for agriculture and medicines for humankind, as well as many smaller firms dealing with the so-called “life sciences” invested many millions of dollars in the promising new market of gene modified plant production. This gave hope for the solution of the problems of modern agriculture. The advertisements suggested that the new technology will produce more crops with less chemicals and under more severe conditions. The appearance of gene modified products on the market was accompanied by an unprecedented series of company mergers and hostile takeovers. As a consequence, there are only a handful [about four or five] companies dominating the seed-, chemical- and grain markets, as well as the marketing and manufacturing of foodstuffs. Although the process appears to be independent of gene modified plants, copy right laws connected with the process opened new opportunities for these corporations. While the borderline between discovery and invention is becoming more and more transparent, it becomes possible, for the first time in history, for someone to become the owner of genes, entire species and varieties and determine who can gain access to them, and under what conditions they will be used. Current intellectual property laws being valid the world over – internationally regulated by the World Trade Organization – moved in this direction. The ownership-rights of genes, cells and even entire species, are very effective means of controlling the market. The overwhelming purchasing power of the strongest participants of the market secures a dominant position for them, because they are able to use their copy rights to avoid increasing competition. Therefore, the engine of the application of gene modified living organisms is the intellectual property rights system, which helps to recover the costs of investments in research and contributes to the acquisition of other companies. The purpose of acquisitions is the ownership of patents that seem to become profitable. Besides economic considerations, the introduction of rules of compensation for the use of patents also damages conditions of further scientific research, a process which is based on the free flow of information.

Besides socioeconomic considerations, ethical issues cannot be ignored; although there are no general principles for such considerations. Humankind is responsible for the preservation of life in the world; it cannot do anything with life as it pleases. Because of the novelty of the gene modification process and its unprecedented intervention in nature, secular or religious viewpoints may also be decisive for acceptance or rejection and this is, of course, a matter for individual considerations. This also concerns the labelling of foodstuffs containing gene modified ingredients, whose application is important not only for ensuring the safety of such foods, (if they are harmful, then they must immediately be removed from circulation), but for providing information for decisions by consumers, based on ethical or moral considerations. It is possible that the choices would be emotionally based, but emotions cannot be excluded from human life and they are necessary and useful. The supporters of gene modification technology are themselves not free of emotions.

 

The Demands of Environmentalists

Gene modified agricultural products are being created not because of the demands of consumers, but because of the interest in profits by large corporations. However, the hazards of such a large-scale experiment on humans and nature will be born by the consumers. According to the environmentalists, negative consequences that will likely be felt sooner or later, perhaps even causing large scale catastrophes, will affect everybody. The promised but yet unfulfilled results are not in proportion to the hazards.

Most environmental associations demand the following:

– End to all activities resulting in the penetration of gene modified plants and living organisms into the environment, including experiments conducted in open fields, and in any foodstuffs. Such moratoria should be maintained until human knowledge reaches the level that will be sufficient to judge and prevent possible hazards.

– The practice of applying patents to living organisms must be discontinued.

– Financial resources used for the creation of gene modified products should be applied instead to the development of biological processes that will be sustainable in the long run.

Begegnungen22_Juhasz-GlatzH

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:249–302.

EDIT JUHÁSZ–FERENC H. GLATZ

Beschleunigung des zivilgerichtlichen Verfahrens in Ungarn

 

I. Die wichtigsten Änderungen im ungarischen Zivilprozessrecht nach dem Systemwechsel

Nach dem Systemwechsel wurde es auch auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts notwendig, jene Rechtsinstitute aus der Rechtsordnung zu entfernen, die den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit nicht entsprachen.

In einigen Fällen forderten Entscheidungen des Verfassungsgerichts die Durchführung von Änderungen, in anderen Fällen kam es im Rahmen der ohnehin anfallenden legislativen Aufgaben zur Realisierung konzeptioneller Modifikationen, so zum Beispiel bei der Änderung der Grundsätze des Zivilverfahrens.

Einen wesentlichen Teil der Änderungen forderte die Rechtspraxis von der Gesetzgebung; die vom Verfassungsgericht ausgearbeiteten theoretischen Lehrsätze, z. B. im Bereich der Rechtsbehelfe, und die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates zu Gerichtsverfahren wurden aber im Zuge der Durchführung der Änderungen berücksichtigt.

Infolge der zahlreichen Gesetzesänderungen kann heute konstatiert werden, dass das Gesetz Nr. III/1952 über die ungarische Zivilprozessordnung (in der Folge ungZPO)1 eine Kodifikation darstellt, welche grundsätzlich moderne Rechtsinstitute, die den Anforderungen der Zeit großteils gerecht werden, enthält. Trotz dieser Änderungen – und gerade wegen ihrer großen Anzahl – können Struktur und Text des mittlerweile ein halbes Jahrhundert alten Zivilprozessgesetzes nicht als einheitlich und in jeder Hinsicht kohärent angesehen werden. Die Zeit ist zweifellos reif für die Schaffung eines neuen Zivilprozessgesetzes in nicht allzu ferner Zukunft. Eines Gesetzes, in dessen Rahmen auch die Einführung neuer Rechtsinstitute erfolgen muss, wie etwa der Empfang elektronischer Dokumente, bzw. deren Zustellung durch die Gerichte.

 

A. Neuregelung der Grundsätze des Zivilverfahrens

Das Zivilprozessrecht muss eine Verfahrensordnung schaffen, die zu einer schnellen und dynamischen Abwicklung der Prozesse geeignet ist. Aufgrund der hierzu durchgeführten Modifikationen und der Änderung des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systems bedurften auch die prozessrechtlichen Grundsätze neuer Auslegungen. Gleichzeitig stellte eine Verletzung der Grundsätze die objektive Grenze der dem Zweck der Beschleunigung dienenden Normänderungen dar. So dürfen auch die modifizierten Bestimmungen die Gleichberechtigung der Parteien, die Grundsätze der Mündlichkeit oder die Unmittelbarkeit nicht verletzen.

Für die Richtung der Änderungen war die Vervollständigung und Stärkung der Geltung der früher deklarierten Grundsätze charakteristisch, so zum Beispiel beim Verhandlungsgrundsatz (das Beibringen der Entscheidungsgrundlagen obliegt den Parteien) und beim Dispositionsgrundsatz. Die Regelung stärkte die Verantwortung der Parteien; infolge der größeren individuellen Verantwortung stand einer stärkeren Sanktionierung (z. B. der Säumnis) kein Hindernis mehr im Weg. Dies kann wiederum die Grundlage eines schnelleren Verfahrens bilden.

Auch die Wahrheitsfindungspflicht der Gerichte rückte in ein neues Licht: Das Gesetz enthält nicht mehr eine allgemeine Belehrungspflicht des Gerichts; eine solche wird nunmehr bezüglich der prozessualen Rechte und Pflichten verlangt. So belehrt etwa das Gericht die – rechtlich nicht vertretene – Partei darüber, dass sie die Erlassung eines Zahlungsbefehls beantragen kann (wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind), nicht aber darüber, welche materiell-rechtlichen Ansprüche bei Nichterfüllung des Vertrags gestellt werden können oder ob das Klagebegehren alle der Partei zustehenden Rechte umfasst. Die Aufgabe des Gerichts, die Wahrheitsfindung zu versuchen, kann nur zusammen mit der Achtung des Dispositionsrechts der Parteien und des Verhandlungsgrundsatzes zur Geltung kommen.

Dies hängt damit zusammen, dass sich die Beziehungen zwischen den Zielen des Gesetzes, dem Gericht und dem rechtlichen Wahrheitsbegriff mit dem Systemwechsel und der Verfassungsänderung grundlegend geändert haben. Die Grundsätze des Zivilprozesses dienen nicht dem Zugestehen einer absoluten Wahrheit im materiell-rechtlichen Sinne. Die Zivilprozessordnung muss vielmehr garantieren, dass die Ordnung der Entscheidung des Rechtsstreits, die Art und Weise, wie über die Streitsache entschieden wird, fair ist. Ziel des Gesetzes als Ganzes, wie auch das der einzelnen gesetzlichen Bestimmungen, ist es, zu ermöglichen, dass die in Kapitel I der ungarischen Zivilprozessordnung (in der Folge ungZPO) festgelegten Grundsätze einheitlich zur Geltung gelangen.

Das Gesetz hat – die vorgenannte Richtung der Regelung bestätigend – auch deklariert, dass die „Herren der Sache” die Parteien selbst sind; sie bestimmen den Gegenstand des Prozesses und damit auch den Spielraum des Gerichts. Die Gerechtigkeit im prozessrechtlichen Sinn bietet demgegenüber keine Möglichkeit z. B. dazu, dass der Richter das Beweisverfahren so lange fortsetzt wie es von seinem Standpunkt aus notwendig wäre. Die Parteien sind berechtigt, in Kenntnis der Regelungen und Grundsätze der Beweislast, über die Einbringung oder Unterlassung eines Beweisantrags zu entscheiden. Die diesbezügliche Aufgabe des Gerichts ist die Sicherung der redlichen Rechtsausübung und die Sanktionierung eines dieser widersprechenden Verhaltens.

Mit der Achtung des Dispositionsgrundsatzes ist verknüpft, dass die Zivilprozessordnung die Möglichkeit der amtswegigen Beweisaufnahme im Allgemeinen abgeschafft hat. Die amtswegige Beweisaufnahme erschien als eine Maßnahme, die in Hinblick auf die Unparteilichkeit des Gerichts bedenklich und auf die Dauer der Prozesse ungünstig ist und im Widerspruch mit dem freien Dispositionsrecht der Parteien und der von diesen zu erwartenden aktiven Teilnahme steht. Das Gesetz erlaubt dem Gericht die amtswegige Beweisaufnahme nunmehr dann, wenn dies die Zivilprozessordnung oder ein anderes Gesetz ausdrücklich genehmigt. (Den ersten Schritt in Hinblick auf den neu geregelten Dispositionsgrundsatz unternahm das Gesetz Nr. LX/1995.)

Kapitel I der ungZPO, das die Prozessgrundsätze enthält, wurde durch das Gesetz Nr. CX/1995 neu formuliert. Dabei wurden einige wichtige Grundsätze unverändert übernommen, andere aber konzeptionell überarbeitet. Es kam auch zur Eingliederung neuer, in der ungZPO bisher nicht enthaltener Grundsätze.

Die ungZPO wollte jene Ordnungsprinzipien, die in den einzelnen Vorschriften des Gesetzes zu konkreten prozessualen Regeln werden, eindeutig festlegen (die Zurückdrängung der Amtswegigkeit, die Förderung der Prozessökonomie, die Chancengleichheit der Streitparteien, die Garantie des mit der Europäischen Charta der Menschenrechte konformen Öffentlichkeitsgrundsatzes).

Die gesetzlich normierten Grundsätze erwarten nicht nur von den Parteien oder anderen am Prozess teilnehmenden Personen, dass sie von der unredlichen Behinderung des Streitverfahrens Abstand nehmen, sondern schreiben auch dem Gericht vor, für die Beendigung des Prozesses binnen einer angemessenen Frist Sorge zu tragen. Das Gesetz verweist auch unter Berücksichtigung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf jene Aspekte, die für die Beurteilung der Beendigung der Prozesse in angemessener Frist relevant sind. Die ungZPO versagt es jener Partei, die ihre prozessualen Rechte missbräuchlich ausübt, trotz ihrer Säumnis oder ihres gegebenenfalls unredlichen Verhaltens vom Gericht Rechenschaft für die Verzögerung des Prozesses zu verlangen. Die Berücksichtigung der Eigenheiten des Verfahrens (des Gegenstands und der Natur des Rechtsstreits) im Zuge der Bestimmung der angemessenen Prozessdauer bedeutet jedoch nicht, dass Arbeitsbelastung und Rückstand des Gerichts per se schon als Erklärung für den Verzug der Rechtspflege dienen dürfen. Das Gesetz entspricht auf dieser Weise jenem konstitutionellen Erfordernis, welches im § 57 Abs. 5 deklariert wird.

Die ungZPO normiert in den Grundsätzen unverändert, dass aus der Unkenntnis der ungarischen Sprache niemandem ein Nachteil erwachsen darf. Des Weiteren legt sie fest, dass – in Einklang mit den Pflichten, die Ungarn in internationalen Verträgen übernommen hat – in den von den Verträgen geregelten Bereichen jeder zur Benützung seiner Muttersprache oder seiner Regional- oder Minderheitensprache berechtigt ist. Entsprechend verfügt das Gesetz, dass in diesen Fällen der Staat die Kosten des Dolmetschers vorstreckt oder übernimmt. So stellt die ungZPO die Harmonie mit den Bestimmungen der durch das Gesetz Nr. XL/1999 implementierten Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen her.

 

B. Änderungen im Rechtsmittelsystem

Die Regelung der ungZPO hat sich seit dem Systemwechsel vor allem hinsichtlich des Systems der ordentlichen und außerordentlichen2 Rechtsmittel geändert.

1. Errichtung der Tafelgerichte

Die Änderung des ordentlichen Rechtsmittelsystems steht in enger Verbindung mit der Errichtung der neuen Berufungsinstanzen, den Tafelgerichten. Die Errichtung der Tafelgerichte wurde in den Gesetzen von 1997 über die Änderung der Verfassung und über die Durchführung der Reform der Gerichtsorganisation angeordnet.

Die Landesversammlung entschied sich aber noch vor Inkrafttreten des Tafelgerichtsgesetzes mit dem Beschluss des Gesetzes Nr. LXXI/1998 über die Änderung einzelner Gesetze in Verbindung mit der Rechtssprechung im Dezember 1998 für die Verschiebung der Errichtung der Tafelgerichte. Gleichzeitig nahm sie den Beschluss Nr. 80/1998 an, in dem sie der Regierung auftrug, unter Einbeziehung des Landesrats für Rechtspflege und des Obersten Staatsanwaltes zu prüfen, wie und in welchem Zeitraum die personellen und materiellen Rahmenbedingungen zur Errichtung von Tafelgerichten gewährleistet werden können. Der Beschluss erstreckte die Prüfung auch auf das System der prozessualen Rechtsmittel.

Diesen Aufgaben diente auch das Gesetz Nr. CX/1999 über die Bestimmung des Sitzes und die Zuständigkeit des Landestafelgerichts, sowie über die Änderung einzelner den Betrieb der Rechtspflege berührenden Gesetze. Diesem Gesetz zufolge hätte ab 2003 ein einziges, in Budapest ansässiges und mit landesweiter Zuständigkeit ausgestattetes Tafelgericht seinen Betrieb aufnehmen sollen. Der Beschluss des Verfassungsgerichts Nr. 49/2001-AB zu den Tafelgerichten schuf jedoch eine gänzlich neue Situation: Das Verfassungsgericht stellte fest, dass die Landesversammlung durch ihre Säumnis eine Verfassungswidrigkeit herbeigeführt hatte, da sie nicht die Errichtung mehrerer Tafelgerichte innerhalb der Gerichtsorganisation verfügt hatte.

Gemäß § 45 Abs. 1 der ungarischen Verfassung sind nämlich in der Republik Ungarn „Tafelgerichte” eingerichtet, was klarstellt, dass der Verfassungsgesetzgeber die Errichtung und den Betrieb von mehr als einem Tafelgericht im Institutionssystem der Rechtspflege angeordnet hatte. Laut Erläuterung und Begründung der Verfassungsänderung zielt die Organisationsreform mit der Errichtung der Tafelgerichte einerseits auf eine zweckmäßigere Arbeitsteilung zwischen den örtlichen und den Komitatsgerichten und andererseits auf die Minderung der Arbeitsbelastung des Obersten Gerichts zur besseren Erfüllung seiner rechtsvereinheitlichenden Funktion ab.

Der Entscheidung des Verfassungsgerichts entsprechend wurden gemäß den Bestimmungen des Gesetzes Nr. XXII/2002 ab dem 1.1.2003 drei Tafelgerichte eingerichtet (mit Sitz in Budapest, Szeged und Pécs), die ihre Arbeit mit 1. Juli 2003 aufgenommen haben. Diesem Gesetz zufolge werden am 1.1.2005 zwei weitere Tafelgerichte ihren Betrieb aufnehmen. Die Eingliederung der Tafelgerichte in das ungarische Gerichtsorganisationssystem bedeutet eine Rückkehr zu ungarischen Rechtstraditionen und eine Harmonisierung mit den in den Staaten der Europäischen Union eingerichteten Organisationssystemen.

Mit der Aufnahme des Betriebs der Tafelgerichte als Berufungsgerichte ändert sich natürlich die Geschäftsverteilung nach Zuständigkeit zwischen den örtlichen und den Komitatsgerichten. In die erstinstanzliche Zuständigkeit der Komitatsgerichte fallen nun mehr Arten von Streitsachen bzw. mehr Streitsachen, da zur zweitinstanzlichen Entscheidung die Tafelgerichte berufen sind und die Berufungen nicht mehr das Oberste Gericht belasten. Das kann eine Senkung der Arbeitsbelastung der örtlichen Gerichte herbeiführen.

2. Neue Rechtsmittelregelung bei Streitsachen mit geringem Streitwert

In Anbetracht der Rahmenbedingungen, die durch die seit dem Ende der 80er Jahre des 20. Jh. immer schneller voranschreitenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen geschaffen wurden und die vor allem im Bereich des materiellen Rechts zu grundlegenden Änderungen geführt haben, konnte das Prozessrecht seine Funktion in einem immer eingeschränkteren Maße erfüllen. Die praktische Folge war, dass sich die Prozessdauer so erheblich verlängerte, dass dies bereits die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als Ganzes infrage stellte. In diesem Zusammenhang wurde der berechtigte Vorschlag eingebracht, dass sich die Tätigkeit der Gerichte in Streitsachen mit geringem Streitwert – entsprechend der auch international entstandenen Praxis – nach dem Gewicht des Falles richten solle.

In Fällen mit geringem Streitwert ist es unzweckmäßig, eine Prozessordnung beizubehalten, die für die Gesellschaft (für die Parteien einer streitigen oder potentiell streitigen Sache einerseits und für den die Gerichte erhaltenden Staat, also wiederum für die den Staat erhaltende Gesellschaft andererseits) eine über den Streitwert der Sache weit hinausgehende materielle Belastung darstellt. Nichtsdestotrotz muss die Rechtsbefolgung und die einheitliche Rechtsanwendung als ein wesentlicher Teil der Rechtssicherheit gewährleistet werden; eine Überprüfung der richterlichen Entscheidungen erster Instanz ist also notwendig. So ist auch bei Streitsachen mit geringem Streitwert der Ausschluss der Berufung gegen das Urteil nicht vorstellbar. Um ein Grundrecht der Verfassung zu gewährleisten, kann das Recht ein Rechtsmittel zu erheben laut einer diesbezüglichen Verfassungsänderung nur in Ausnahmefällen beschränkt werden; Streitsachen mit geringem Streitwert stellen aber keine solche Ausnahme dar.

Ziel des Gesetzgebers bei der Einführung der für Streitsachen mit geringem Streitwert maßgeblichen Berufungsregeln war, dass das Gesetz die Geltendmachung des Rechts zur Erhebung von Rechtsmitteln und die Forderung der Verfassung, Prozesse in angemessener Frist abzuschließen, dahingehend einheitlich regelt, dass es die beiden durch die Verfassung garantierten Rechte bzw. deren Wert „zu Gunsten beider” gegenseitig beschränkt. Mit der Beschränkung des Rechts zur Berufung soll nicht nur für die unmittelbar betroffenen Streitsachen eine Beendigung in angemessener Zeit ermöglicht, sondern vor allem auch die auf der Rechtssprechung insgesamt lastende Arbeitsbelastung gemindert werden.

Das Gesetz führt ein Rechtsmittelsystem ein, nach dem in Streitsachen von geringer Bedeutung (mit geringem Streitwert) die Erhebung eines Rechtsmittels nur hinsichtlich der Rechtmäßigkeit (in prozess- und in materiellrechtlichem Sinne) des erstinstanzlichen, aufgrund des Vorbringens der Parteien gefällten Urteils möglich ist. Diese Entscheidung wird vom Gericht zweiter Instanz in einem einfacheren als dem ordentlichen Berufungsverfahren gefällt, welches dennoch die Anforderungen des Artikel 6 EMRK und des § 57 Abs 1 der ungarischen Verfassung erfüllt. Der Sinn des vereinfachten Berufungsverfahrens liegt darin, dass der Prozess in zweiter Instanz nicht in der Sache fortgesetzt wird, sondern nur die Entscheidung des Gerichts erster Instanz überprüft wird.

Besondere Bedeutung kommt dem Umstand zu, dass es neben der Schmälerung des „Umfangs” des Berufungsverfahrens auch zur Vereinfachung desselben gekommen ist. Nach der allgemeinen Regel entscheidet das Gericht zweiter Instanz über eine Berufung dieser Art ohne Streitverhandlung, ist aber auf Verlangen der Parteien zur Anberaumung einer solchen verpflichtet. Diese Lösung entspricht dem Charakter des Berufungsverfahrens: Da hier hauptsächlich eine Revision unter rechtlichen Gesichtspunkten stattfindet, wäre die Abgabe mündlicher Erklärungen durch die Parteien – welche sie aber sehr wohl durch einen entsprechenden Antrag unentbehrlich machen können – vorwiegend formeller Natur.

Eine Berufung ist nur bei Behauptung einer wesentlichen Verletzung einer prozessualen Rechtsvorschrift oder der unrichtigen Anwendung einer materiellen Rechtsnorm zulässig.

Als wesentlich ist jene Verletzung einer prozessualen Rechtsvorschrift anzusehen, die sich auf die Entscheidung in der Sache selbst ausgewirkt hat. Die unrichtige Anwendung einer materiellen Rechtsnorm bedeutet eine dem Inhalt der Rechtsnorm widersprechende, falsche Rechtsanwendung, also eine rechtswidrige Entscheidung. Damit das Verfahren in zweiter Instanz auf die Überprüfung der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung beschränkt bleibt, verbietet das Gesetz das Vorbringen neuer Tatsachen und neuer Beweise, die Klagsänderung und die Kompensationseinrede.

Diese Regelung wurde durch das Tafelgerichtsgesetz im Jahre 1997 eingeführt3 und durch das Gesetz Nr. CX/1999 bezüglich der Ordnung der Entscheidung über die in sog. Streitsachen mit geringem Streitwert erhobenen Berufungen geringfügig abgeändert.

Für die Frage, ob über die Streitsache nach den Bestimmungen des § 256 lit b bis e ungZPO zu entscheiden ist, ist nach den geltenden Vorschriften nicht der im Urteil des Gerichts festgestellte Wert, sondern der Wert der im Berufungsantrag aufscheinenden streitigen Forderung maßgeblich. Überschreitet dieser Wert 200.000 Forint, sind bei der Entscheidung über die Berufung die bereits erwähnten Bestimmungen anzuwenden. Bei der Feststellung des Werts bleiben Nebenforderungen und Prozesskosten unberücksichtigt.

Für die Entscheidung über die Berufung sind diese Bestimmungen auch dann anzuwenden, wenn der im Berufungsantrag bestrittene Wert 10 Prozent der Klagsforderung nicht übersteigt.

Die Änderung beschränkte den sachlichen Geltungsbereich für die Anwendung der speziellen Berufungsregel in Streitsachen mit geringem Streitwert dadurch, dass sie in Prozessen um Unterhalt und Rente selbst dann unbeschränkte Berufungsmöglichkeit bietet, wenn der Wert der streitigen Forderung unter 200.000 Forint liegt. In diesen Rechtsstreitigkeiten entscheidet das Gericht nämlich über die Anerkennung oder Abweisung von Interessen, die von existenzieller Bedeutung sind; zur Erhebung einer Berufung kommt es meist nicht wegen Rechtswidrigkeit, sondern aus anderen Gründen.

3. Neues Rechtsmittelsystem in Verwaltungssachen

Da nach dem Systemwechsel der Gerichtsweg gegen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden durch die Verfassung und das Gesetz über das staatliche Verwaltungsverfahren mit allgemeiner Wirkung eröffnet wurde und die Parteien von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machten, wurde die rechtskräftige Beendigung der Verwaltungsverfahren außerordentlich in die Länge gezogen, wodurch in vielen Fällen berechtigte Interessen verletzt wurden.

Die Praxis zeigte, dass das fünfstufige Verfahren (zwei Ebenen in der Verwaltung, drei Gerichtsinstanzen) die Dauer der Verwaltungsverfahren stark verlängerte. Dies war weder hinsichtlich der Interessen der rechtsuchenden Bürger noch der Funktionsfähigkeit der Verwaltung wünschenswert. Auch das Verfassungsgericht hat sich mit der Frage der geforderten Rechtsmittelmöglichkeiten bei Streitsachen in Verwaltungsangelegenheiten mehrmals befasst. Es entschied, dass dieses Erfordernis bereits mit der Zulässigkeit des Rechtswegs erfüllt ist.

Deshalb schließt die ungZPO die Berufung gegen eine in einer Streitsache in Verwaltungsangelegenheiten gefällte Entscheidung grundsätzlich aus. Sie schließt aber die Revision nicht aus, wenn die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung nur dann gewährleistet werden kann, wenn diese Aufgabe von einem einzigen Organ wahrgenommen wird. Bei Verfahren in Verwaltungssachen ist eine Berufung nach dem Gesetz nur dann zulässig, wenn die Entscheidung in einem einstufigen Verfahren von einem Organ gefällt wurde, das mit landesweiter Zuständigkeit ausgestattet ist. Ausnahmen bilden jene Fälle, in denen die Entscheidungen von den Gerichten nicht abgeändert werden können. Mehrere gerichtliche Stufen sind nämlich dann nicht angebracht, wenn die Kompetenz des Gerichts nur kassatorisch, also auf die Aufhebung der Verwaltungsentscheidung beschränkt, ist. Der Ausschluss der Berufung gilt nur bezüglich des Urteils. Die Entscheidung in Streitsachen in Verwaltungsangelegenheiten fällt im Einklang mit dem Ausschluss der Berufung in die Zuständigkeit der Komitatsgerichte.

 

C. Änderungen infolge verfassungsgerichtlicher Entscheidungen

Die Änderungen im System der ordentlichen Rechtsmittel wurden soeben dargestellt. Das Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit beeinflusste aber auch das Rechtsinstitut der außerordentlichen Rechtsmittel. Das Verfassungsgericht leitete kurz nach seiner Gründung durch diesbezügliche besonders wichtige Entscheidungen die Reform der Regelung der außerordentlichen Rechtsmittel ein.

1. Schaffung und Neuregelung des Revisionsverfahrens

Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung Nr. 9/1992 vom 30.1.1992 die Verfassungswidrigkeit des Rechtsinstituts des Protests zur Wahrung der Gesetzlichkeit4 festgestellt und einen Teil der diesbezüglichen Bestimmungen sofort, andere mit einem späteren Zeitpunkt aufgehoben. Es erklärte, dass das Rechtsinstitut des Protests zur Wahrung der Gesetzlichkeit aufgrund seines diskriminierenden Charakters dem Erfordernis der Rechtssicherheit als Teil des Rechtsstaatlichkeitsprinzips, dem Prinzip der Rechtskraft, sowie dem Dispositionsrecht der Parteien in Zivilverfahren widerspricht und auch die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter verletzt. Ein wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit ist nämlich, dass das Gesetz eindeutig festlegt, wann eine gerichtliche Entscheidung durch ordentliche Rechtsmittel und in weiterer Folge unter welchen Bedingungen eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung angefochten werden kann.

Das durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts bewirkte Gesetz Nr LXVIII/1992 führte das Rechtsinstitut der Revision als außerordentliches Rechtsmittel ein; dieses hat in letzter Zeit große Änderungen erfahren. Bei Einführung der Revision war der grundlegende, dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit genügende Unterschied gegenüber dem Protest zur Wahrung der Gesetzlichkeit, dass das Einbringen eines Revisionsantrags zu einem subjektiven Recht wurde, das – bei Vorliegen der im Gesetz bestimmten Voraussetzungen – unter Berufung auf eine Rechtsverletzung von einer Partei, einem Intervenienten, vom Staatsanwalt oder von jemandem, an den die Entscheidung eine Verfügung richtet, in Anspruch genommen werden konnte.

Der Antragsteller musste sich im Revisionsverfahren auch dann rechtlich vertreten lassen, wenn er im Hauptverfahren keinen rechtlichen Vertreter hatte. Die Anordnung der Vertretungspflicht hatte zum Ziel, dass die eingebrachten Revisionsanträge fachgerecht verfasst werden. Im Revisionsverfahren beim Obersten Gericht ist nunmehr der Urkundenbeweis zulässig. Das Oberste Gericht verfügt über sowohl kassatorische als auch reformatorische Kompetenz. Die Kassationskompetenz des Obersten Gerichts bringt zum Ausdruck, dass das Revisionsverfahren kein wiederholtes Berufungsverfahren ist. Gleichzeitig erlaubt die reformatorische Kompetenz dem Obersten Gericht die Beendigung des Prozesses, indem es – wenn die nötigen Daten zur Verfügung stehen – eine den Rechtsnormen entsprechende Entscheidung fällt.

Seit der Einführung des Verfahrens kam es mehrmals zu Änderungen der Regeln des Revisionsverfahrens, um die in der Praxis auftretenden Probleme zu lösen. Diese Modifikationen stellen aber de facto keine konzeptionellen Änderungen dar. Im Zuge der Anwendung dieses Rechtsinstituts wurde aber klar, dass sein Charakter als außerordentliches Rechtsmittel in Wahrheit nicht zur Geltung kommt. Die Parteien haben fast in allen Streitsachen die Möglichkeit der Revision ausgeschöpft und damit das Oberste Gericht als dritte Instanz „missbraucht”. Die wahre Aufgabe und das Ziel der Revision wurden also nicht erfüllt. Gleichzeitig wurde im Zuge der Regelung des Zivilprozesses – im Einklang mit der europäischen Praxis – das Erfordernis der Beendigung der Verfahren in angemessener Frist zu einem immer wichtigeren Aspekt, welcher mit der Reduktion der Rechtsmittelinstanzen im Bereich der ordentlichen Rechtsmittel und der dementsprechenden Beschränkung des Umfangs der Rechtsmittel einherging.

Eine wichtige Forderung gegenüber der Rechtspflege ist, dass die einheitliche Rechtssprechungspraxis der Gerichte so gut wie möglich zur Geltung kommt und dadurch die Rechtssicherheit gefördert und garantiert wird. Dieser Aufgabe konnte das Oberste Gericht gerade aufgrund seiner Überbelastung infolge der Revisionsanträge nicht entsprechend gerecht werden, obwohl die sog. rechtsvereinheitlichende Entscheidung des Obersten Gerichts5 mit der im Jahre 1997 durch qualifizierte Mehrheit beschlossene Reform des Gerichtsorganisationsgesetzes institutionalisiert wurde. Damit das Oberste Gericht seine wichtigsten Funktionen erfüllen kann und die Revision tatsächlich zu einem außerordentlichen Rechtsmittel wird, müssen die Regeln des Revisionsverfahrens geändert werden.

Ein anderer wichtiger Aspekt bei der Änderung des Revisionsordnung war die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr. R (95) 5 r., wonach „bei der Festlegung der Bestimmungen über die Gerichte dritter Instanz von den Staaten nicht übersehen werden darf, dass die Streitsache bereits von zwei Gerichten entschieden worden ist. Die Möglichkeit, ein drittes Gericht anzurufen, muss auf Fälle beschränkt werden, in denen eine drittinstanzliche Überprüfung angebracht ist, weil sie zum Beispiel zur Rechtsentwicklung und Einheitlichkeit der Anwendung des Gesetzes beiträgt. Sie kann auch noch auf jene Fälle beschränkt sein, die eine erhebliche Rechtsfrage aufwerfen. Vom Antragsteller kann erwartet werden, dass er aufzeigt, worin im konkreten Fall eine solche Bedeutung liegt.”

Die Möglichkeit eines Revisionsverfahrens kann oder muss also vom Gesetzgeber dann bereitgestellt werden, wenn einerseits die im Rahmen eines konkreten Verfahrens gefällte Entscheidung (bezüglich eines wesentlichen Teils der Streitsache) rechtswidrig ist oder andererseits die Entscheidung eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, sodass die Stellungnahme der obersten richterlichen Instanz (auf Initiative des Antragstellers) als notwendiger und angemessener Schritt erscheint.

Die Entscheidung Nr. 9/1992 vom 30.01.1992 des Verfassungsgerichts stellte klar, dass innerhalb des Gegensatzpaares „materielle Gerechtigkeit” und „formelle Rechtssicherheit” der Rechtssicherheit Vorrang zukommt. Dies wird vom Prinzip der Rechtskraft garantiert. Die Ergreifung außerordentlicher Rechtsmittel ist demnach in Zivilprozessen dann (auf jene Weise und in jenem Ausmaß) „zulässig”, wenn (soweit) die Einschränkung der formellen Rechtssicherheit und der Rechtskraft notwendig und angemessen ist. In Wahrheit stellt sich also aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht die Frage, ob die Inanspruchnahme des Revisionsverfahrens begrenzt werden kann, sondern unter welchen Voraussetzungen die im Gesetz erfolgende Zulassung des Revisionsverfahrens das verfassungsrechtlich noch annehmbare Maß der Einschränkung der Rechtskraft nicht überschreitet. Die Neuregelung des Revisionsverfahrens erfolgte im Gesetz Nr. CV/2001 nach den oben dargelegten Gesichtspunkten.

Eine weitere konzeptionelle Änderung der Regelung ist, dass das Oberste Gericht die inhaltliche Überprüfung des Revisionsantrags nicht in einem Senat durchführt. Sowohl die Beseitigung der Formfehler als auch die vorangehende inhaltliche Prüfung werden durch einen Berufsrichter des Obersten Gerichts als Einzelrichter erledigt. Der Senat des Gerichts wird nun nur dann einberufen, wenn nach der Beurteilung des die Voruntersuchung durchführenden Richters ein Revisionsgrund vorliegt. Natürlich kann der Senat des Obersten Gerichts letztlich auch einen gegenteiligen Standpunkt als Resultat der Voruntersuchung annehmen. Für die vorangehende richterliche Untersuchung bestimmt die ungZPO eine gesetzliche Frist von 60 Tagen ab Einlangen des Revisionsantrags beim Obersten Gericht. Das Revisionsverfahren wird vom Obersten Gericht binnen 6 Monaten ab der Anordnung der Revision durchgeführt. Diese Bearbeitungsfristen gelten ab der Aufnahme der Tätigkeit der Tafelgerichte.

Die Regelung steht mit dem Grundsatz, dass Prozesse in angemessener Frist beendet werden müssen, im Einklang, sodass in der Frage der wegen des Revisionsantrags schwebenden Rechtskraft nicht allzu lange Unsicherheit besteht.

2. Änderung der Rolle des Staatsanwalts im Zivilverfahren

Mit der Entscheidung Nr. 1/1994 vom 7.1.1994 des Verfassungsgerichts wurde das Recht des Staatsanwalts, „aufgrund wichtiger staatlicher oder gesellschaftlicher Interessen” Klage einzubringen, aufgehoben. Das Verfassungsgericht hob auch das allgemeine Interventionsrecht6 des Staatsanwalts auf.

Dem Standpunkt des Verfassungsgerichts zufolge tritt die Staatsanwaltschaft – entsprechend ihrer Rolle in den kontinentalen Rechtsordnungen– in der Republik Ungarn als Ankläger auf. Gleichzeitig sind auch der Schutz und die Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung, der Rechte und gesetzlichen Interessen der Bürger (und Organisationen) Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Dass die gesetzlichen Bestimmungen die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung über zivile Rechtsstreitigkeiten ermöglichen, steht demnach grundsätzlich mit den Verfassungsbestimmungen im Einklang.

Die Bestimmungen der ungZPO über den Staatsanwalt wurden 1972 neu geregelt. Dies berührte aber nicht den allgemeinen Charakter der Beteiligung des Staatsanwalts bzw. das gemäß anderen Rechtsvorschriften dem Staatsanwalt eingeräumte Recht zur Klagseinbringung (in der Folge Prozessstandschaft). Die verfassungsrechtliche Grundlage dieses Rechts ist „das öffentliche Interesse oder jene, privatrechtliche Interessen zu vertreten, die von anderen Organen oder Personen nicht geltend gemacht werden bzw. deren Rechtsschutz von anderen nicht wahrgenommen werden kann; wobei die Geltendmachung gerade aufgrund des Mangels an sonstiger Interessensvertretung oder der mit diesen verbundenen Hürden im öffentlichen Interesse steht”.

Die Frage der Prozessstandschaft des Staatsanwalts ist mit dem Dispositionsrecht der Parteien untrennbar verbunden. Das Dispositionsrecht der Parteien ist ein Aspekt des von der Verfassung garantierten Rechts zur Selbstbestimmung, das die Autonomie des Einzelnen berührt bzw. damit verbunden ist. Der Entzug bzw. „Ersatz” des Dispositionsrechts der Parteien verletzt § 57 Abs. 1 der ungarischen Verfassung. Kein wichtiges, staatliches oder gesellschaftliches, Interesse kann die institutionelle Beschränkung dieses durch die Verfassung garantierten Rechts rechtfertigen. Diese „Einschränkung”, die die allgemeine Klagebefugnis legitimierte, indem sie den Staatsanwalt mit der Kompetenz zur Einbringung der Klage nach eigenem Ermessen ausstattete, bedeutet eine unmittelbare Verletzung des durch die Verfassung garantierten Rechts auf Zugang zu den Gerichten und widersprach damit § 57 Abs. 1 der Verfassung.

Man kann derzeit zwischen zwei Fällen der staatsanwaltlichen Prozessstandschaft unterscheiden: Im ersten Fall ist die Aktivlegitimation des Staatsanwalts in einer anderen Rechtsnorm als in der ungZPO begründet, und zwar in den materiellrechtlichen Normen, die das konkrete Rechtsgebiet regeln. Im zweiten Fall kann der Staatsanwalt Klage einbringen, wenn der Berechtigte zum Schutz seiner eigenen Interessen aus irgendeinem Grund nicht imstande ist. Strebt der Staatsanwalt aufgrund besonderer Rechtsnormen ein Verfahren an, übt er im Prozess die Rechte der Partei aus. Leitet er den Prozess aber anstelle der Person ein, der zur Vertretung seiner Interessen nicht imstande ist, kann er keine Dispositionshandlungen setzen.

3. Änderungen der ungZPO infolge sonstiger Entscheidungen des Verfassungsgerichts

Infolge der Entscheidung des Verfassungsgerichts Nr. 22/1995 vom 31.1.1995 wurde das Gesetz Nr. CXXII/1996 geschaffen, das nunmehr die Erhebung eines Rechtsmittels gegen Urteile zweiter Instanz, die zur Zahlung von Geldstrafen oder von Sachverständigengebühren verpflichten, ermöglicht. Ausgehend von dem durch die Verfassung garantierten Grundrecht zur Erhebung eines Rechtsmittels muss gegen jede Entscheidung, die ein Gericht zweiter Instanz in erster Instanz fällt, also in der konkreten Frage das erste Mal entschieden wird, eine Rechtsmittelmöglichkeit geboten werden. Diesem Erfordernis wird die ungZPO mit dem Institut des Rekurses beziehungsweise nach Errichtung der Tafelgerichte mit dem Recht zur ordentlichen Berufung gerecht.

Aufgrund der Entscheidung Nr. 23/1998 vom 9.6.1998 des Verfassungsgerichts kam es durch das Gesetz Nr. XLV/1999 zur Änderung der ungZPO betreffend das Verfahren im Fall, dass das Verfassungsgericht die konkrete praktische Anwendung von zuvor von ihm selbst für rechtswidrig erklärten Rechtsvorschriften untersagt.

Jede Art von Rechtsnorm kann verfassungswidrig sein. Stellt das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer materiellrechtlichen Rechtsnorm fest, so ist die neuerliche Durchführung des gesamten Verfahrens angebracht, da durch die veränderte Rechtslage möglicherweise ein (Beweis-)Verfahren anderen Inhalts und eine dementsprechende Entscheidung notwendig wird. Das neue Verfahren ist ein Zivilprozess oder – wenn es ein solches gegeben hat – ein Verwaltungsverfahren. Es ist möglich, dass eventuell der Rechtsweg versagt werden muss. Ist eine prozessrechtliche Rechtsnorm verfassungswidrig, genügt es oft, das betroffene Verfahrensstadium zu wiederholen oder durchzuführen (z. B. die Zulassung eines Rechtsmittels). Deshalb musste in der ungZPO eine Instanz bestimmt werden, die die Abhilfe konkretisiert. Ist in einer Streitsache vor der Verfassungsbeschwerde ein rechtskräftiges Gerichtsurteil ergangen, kann die Instanz, welche die Art und Weise der Abhilfe festlegt, nur ein Gericht sein, da nur dieses die Verbindlichkeit vorheriger gerichtlicher Entscheidungen aufheben und das davor prozessleitende Gericht zur Durchführung eines neuen Verfahrens auffordern kann. Das Gesetz räumt diese Zuständigkeit dem Obersten Gericht ein.

 

D. Maßnahmen zur Förderung der Prozessbeendigung in angemessener Frist

Um die Beendigung der Prozesse in angemessener Frist zu fördern, sind nach dem Systemwechsel schon vor der Formulierung dieses Erfordernisses zahlreiche wichtige Vorschriften mit Prinzipiencharakter geschaffen worden.

Zu nennen sind die verpflichtende rechtliche Vertretung (vor einzelnen höheren Instanzen), die Änderung der Zustellungsregelung und der Einbau des Instituts der Gang der vermuteten Zustellung in die ungZPO. Eine revolutionäre Entwicklung im streitigen Verfahren brachte die durch das Gesetz Nr. LX/1995 eingeführte Vorschrift, nach der die Erhebung von Beweisen und die Abgabe von Erklärungen in einem Zeitpunkt erfolgen müssen, in dem sie einer – gemessen am Stand des Verfahrens – sorgfältigen und den Prozess begünstigenden Prozessführung entsprechen. Dies bedeutet, dass der Kläger seine Beweise bereits in der Klage anführen muss (führt er einen Urkundenbeweis, ist die Urkunde beizulegen) und dann in der ersten Tagsatzung zur Erklärung des Beklagten weitere Beweise beantragen darf.

Kommen die Parteien diesen Pflichten nicht nach, so kann ihnen das Gericht einmalig einen Verbesserungsauftrag erteilen. Bleibt eine Verbesserung aus, so kann eine Entscheidung gefällt werden, ohne die Beweisführung der säumigen Partei abzuwarten. Diese Regel wirkt sich positiv auf die Prozessdisziplin aus und versucht mit der Androhung einer schweren Sanktion das nachlässige Verhalten des Klägers und die Verzögerung des Prozesses durch den Beklagten hintanzuhalten. Die Sanktion der Säumnis kommt nach der ungZPO auch im Verfahren zweiter Instanz konsequent zur Anwendung.

Um die Zivilverfahren zu beschleunigen, normierte das Gesetz Nr. CX/1999 bestimmte Fristen, etwa für die Gerichte zur Erledigung einzelner Prozesshandlungen (z. B. die Entscheidung ist binnen 15 Tagen ab ihrer Fällung schriftlich anzufertigen und wiederum binnen 15 Tagen zuzustellen) und die Verkürzung von Fristen, die streitige Verfahren in Schwebe halten (so legt das Gesetz die Frist für den Nachweis des Hinderungsgrunds mit drei statt mit sechs Monaten fest).

Für einige Verfahrensarten sah das Gesetz auch für die Entscheidung in der Sache eine Erledigungsfrist vor, so z. B. das Gesetz über das Firmenbuchverfahren oder die – ebenfalls infolge einer Entscheidung des Verfassungsgerichts geschaffene – Regelung über die Registrierung von gesellschaftlichen Organisationen und Stiftungen. Wie bereits erwähnt, wird auch für Entscheidungen in der Sache im Revisionsverfahren eine gesetzliche Frist eingeführt.

Ein neuer Aufgabenkreis der Gerichtssekretäre und Rechtspfleger dient ebenfalls der Beschleunigung der streitigen und außerstreitigen Verfahren. Der Rechtspfleger ist ein Justizangestellter, der in eigener Verantwortung im Aufgabenbereich des Richters Aufgaben von entscheidender Bedeutung wahrnimmt, welche früher vorwiegend von Richtern oder Gerichtssekretären erledigt wurden. Da die Erledigung dieser Aufgaben hochqualifizierte Fachkräfte verlangt, ist diese Tätigkeit an einen Schulabschluss höheren Grades (Hochschule oder Universität; A.d.Ü.) gebunden. Der Arbeitsbereich des Rechtspflegers wurde in einer Regierungsverordnung detailliert festgelegt.

Mit dem Gesetz Nr CV/2001 wurde die ungZPO dahingehend geändert, dass zur Sicherung der garantierten Rechte der Parteien ein erheblicher Teil jener Geschäftsordnungsregeln, die sich auf die Parteien beziehen, statt wie früher in ministerielle Weisungen und Verordnungen nun in die entsprechenden Verfahrensgesetze, somit in die ungZPO, eingebaut wurden. Damit soll den Erfordernissen der Rechtsstaatlichkeit entsprochen werden.

 

E. Änderungen verwandter Rechtsgebiete

Die Arbeit des Gerichts, die Ordnung und zufriedenstellende Durchführung des Verfahrens kann nicht von der Tätigkeit und dem Arbeitsbereich der im Prozess zur Unterstützung des Gerichts auftretenden Personen getrennt werden. Wird die Verfahrensordnung geändert, so muss auch die rechtliche Regelung bezüglich dieser Personen geändert werden und umgekehrt. In den letzten Jahren war beinahe jede Regelung dieser Funktionen großen Änderungen unterworfen.

– In Verbindung mit der Neuregelung der Funktion der gerichtlichen Vollstreckung und der Gerichtsvollstrecker im Jahre 1994 wurde die ungZPO um ein neues XXV. Kapitel ergänzt, das Regeln des Exekutionsverfahrens (Einstellung, Einschränkung, Drittwiderspruchklage etc.) enthält.

– Neue Gesetze über die anwaltliche Tätigkeit (XI/1998) und über die Aufgaben der öffentlichen Notare (XLI/1991) wurden beschlossen; auch die Überprüfung der Rechtsmaterie über die Justizsachverständigen ist im Gange. Die Detailfragen wurden auch bereits von gewissen Änderungen der ungZPO berührt; die sich ändernde Regelung indiziert auch die Modifikationen der Bestimmungen der ungZPO.

– Weltweit kann eine Tendenz zur Schaffung von immer mehr Methoden und Mitteln zur Vermeidung von Gerichtsverfahren beobachtet werden. Dieses Ziel verfolgte man u. a. erstmals mit der Schaffung des Gesetzes über die Schiedsgerichtsbarkeit im Jahre 1994. Die Schiedsgerichtsbarkeit – vor allem zur Entscheidung von Streitigkeiten im Wirtschaftsleben – kann sowohl weltweit als auch in Ungarn auf eine große Vergangenheit zurückblicken. In den inländischen Geschäftsbeziehungen bevorzugen die Parteien die Schiedsgerichtsbarkeit deshalb, da aufgrund ihres einstufigen Charakters Rechtsstreitigkeiten schneller erledigt werden können und es für die Parteien beruhigend ist, dass der Streit von ihnen bekannten Personen, die ihr Vertrauen genießen, entschieden wird.

Die Schiedsgerichtsbarkeit führt zu einer Rechtssprechung in einer durch den Willen der Parteien geschaffenen Organisation und nach von ihnen festgelegten Regeln. Voraussetzung der Effektivität ist, dass die Entscheidungen des Schiedsgerichts vom Staat anerkannt und vollstreckt werden. Dafür müssen aber im Schiedsgerichtsverfahren die Voraussetzungen der gerechten Entscheidung der Rechtsstreitigkeit gewährleistet werden. Bei Einhaltung dieser Bedingungen mischen sich die staatlichen Gerichte in die Entscheidung der Rechtsstreitigkeit nicht ein.

Das ungarische Gesetz folgt dem Aufbau und Regelungssystem des durch die UNO (UNCITRAL) im Jahre 1985 angenommenen Modellgesetzes über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit und weicht von diesem nur im Interesse der Verwirklichung der Eigenheiten des ungarischen Rechtssystems ab. Der überwiegende Teil der gesetzlichen Regelungen hat dispositiven Charakter, erlaubt es also den Parteien, vom Inhalt des Gesetzes über die Schiedsgerichtsbarkeit abweichende Regelungen zu treffen bzw. einzelne Fragen vom Anfang an selbst zu regeln.

Das Gesetz bietet viele Möglichkeiten zur Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit. Den ungarischen Traditionen und den Anforderungen durch die internationalen wirtschaftlichen Kontakte entsprechend besteht die Möglichkeit zur Schiedsgerichtsbarkeit in sog. Handelsangelegenheiten. Den Begriff der Handelsangelegenheit umschreibt der Entwurf nicht inhaltlich, sondern nur von der Seite der Adressaten aus: mindestens eine der Parteien muss einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen und die Rechtsstreitigkeit muss im Rahmen dieser Tätigkeit entstehen. Eine weitere grundlegende Voraussetzung der Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit ist, dass die Parteien über den Gegenstand des Verfahrens frei verfügen können. Die Parteien können sich in Streitigkeiten an das Schiedsgericht wenden, die einem zwischen ihnen bestehenden Vertrag oder einem außervertraglichen Rechtsverhältnis entstammen oder in Zukunft entstehen werden. Eine weitere Bedingung ist der Abschluss einer Schiedsvereinbarung durch die Parteien.

Der nächste Schritt in diesem Bereich war der Beschluss des Gesetzes Nr. CXVI/2000 über die Mediation im Gesundheitswesen, dessen Grundlage eine Bestimmung des Gesetzes über das Gesundheitswesen bildete. Die Mediation ist in Ungarn noch kaum bekannt; dieses Gesetz war das erste mit einer diesbezüglichen allgemeinen Regelung. Erfahrungen im Ausland zeigen, dass die Mediation eine effektive Art der Konfliktbewältigung ist. In den Vereinigten Staaten gibt es seit Jahrzehnten die Möglichkeit der Konfliktbewältigung mittels Einbeziehung eines Mediators für jede Rechtsstreitigkeit; in den letzten Jahren fand die Mediation auch in Europa Verbreitung.

Der wichtigste Grundsatz des Mediationsverfahrens ist die freie Wahl dieser Möglichkeit durch die betroffenen Parteien. Der Mediationsrat entscheidet nicht und berät auch nicht rechtlich. Im Rahmen des Mediationsverfahrens kann eine schnelle Lösung von Rechtsstreitigkeiten herbeigeführt werden, was den Interessen beider Parteien gleichmäßig dient. Der Kranke erlangt etwa den Schadenersatz schnell; sowohl der Anbieter der medizinischen Dienstleistung als auch die Haftpflichtversicherung, die im Falle eines jahrelang andauernden Prozesses eine schwere Zinsbelastung treffen würde, kommen in eine günstigere Situation. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das Mediationsverfahren – im Unterschied zum Schiedsgerichtsverfahren – den Parteien die Inanspruchnahme des Rechtswegs nicht prinzipiell verwehrt. Das Gesetz stellt zum Ablauf der Mediation keine detaillierten Verfahrensregel fest, sondern regelt nur die aus Garantiegründen wichtigsten Fragen.

Derzeit ist ein Gesetzesentwurf über das sog „allgemeine” Mediationsverfahren in Vorbereitung, das für einen breiten Kreis zivilrechtlicher Fälle die Lösung von Rechtsstreitigkeiten durch die Parteien unter Anwendung alternativer Methoden – im Wege der Mediation – statt im Gerichtsverfahren ermöglichen wird.

 

F. Zukunft des Zivilprozessrechts

1. Verfahrenskosten

Im Hinblick auf die Zukunft des Zivilprozessrechts ist der stete Anstieg der Kosten des Gerichtsverfahrens eine wichtige Frage. Dadurch könnte nämlich die Gewährleistung des Rechtsweges der Parteien in vielerlei Hinsicht behindert werden. Die Kosten eines Gerichtsverfahrens müssen meistens von der Partei vorgestreckt werden, über die endgültige Kostentragung kann das Gericht erst bei Abschluss des Verfahrens entscheiden. Die finanzielle Situation mancher Personen ermöglicht die Tragung solcher Kosten nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten. Damit die ungünstige finanzielle Situation keine Hürde für die Geltendmachung von Ansprüchen im streitigen Verfahren darstellt, bieten die ungZPO und andere Rechtsnormen den dazu Berechtigten Gebührenvergünstigungen an.

Bei den in den neuen Rechtsnormen gewährten Vergünstigungen unterscheidet man solche, die den Parteien aufgrund ihrer persönlichen Situation zustehen, und solche, die in Streitigkeiten von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung aufgrund des Prozess- bzw. Verfahrensgegenstandes gewährleistet werden. Die derzeitige Regelung ist in mehreren Punkten reformbedürftig.

Die Justizverwaltung beschäftigt sich mit der Frage, ob die geltenden Regelungen der Voraussetzungen, die zur Inanspruchnahme der zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche gewährten unterschiedlichen Formen der staatlichen Unterstützungen und zur teilweisen oder vollen Gebührenbefreiung bzw. -begünstigung berechtigen, in einem eigenen Gesetz geregelt werden sollten.

2. Ungarns Beitritt zur Europäischen Union

Eine funktionsfähige Zivilverfahrensordnung und die Verfahrensdauer sind auch unter dem Aspekt des Beitritts Ungarns zur Europäischen Union von Bedeutung.

Im Juli 1997 erachtete die Europäische Kommission im Zuge der Vorbereitung des ungarischen Beitrittes zur EU im Länderbewertungsteil ihres Dokuments „Agenda 2000” die Funktion der ungarischen Rechtspflege nicht in allen Belangen für befriedigend. Sie stellte fest, dass die Gerichte überlastet sind, was eine Verzögerung der gerichtlichen Verfahren zur Folge hat. Im Zuge der Aktualisierung des Länderberichts Ende 1998 hat der Jahresbericht wiederholt bestätigt, dass zur effektiveren Funktion der Rechtssprechung weitere Anstrengungen unternommen werden müssen.

Seitdem sind zahlreiche, in dieser Studie skizzierte, Schritte zur Förderung der Beendigung der Prozesse innerhalb angemessener Frist umgesetzt worden. Einer der wichtigsten ist die Errichtung der Tafelgerichte, was, so hoffen wir, eine spürbare Beschleunigung mit sich bringen wird. Hat sich der einzelne Richter oder Richtersenat mit weniger Fällen zu beschäftigen, so kann dies auch eine Steigerung des fachlichen Niveaus bewirken.

 

II. Kurze Darstellung der ungarischen Gerichtsorganisation

A. Gerichtsorganisation und Zuständigkeitsregelung

Gemäß dem mehrfach geänderten Gesetz Nr. LXVI/1997 über die Organisation und Verwaltung der Gerichte wird die Rechtssprechung in Ungarn von den folgenden Gerichten ausgeübt:

In erster Instanz sind die örtlichen Gerichte (Städtisches Gericht, Bezirksgericht) und die Komitatsgerichte (in Budapest das Hauptstädtische Gericht) zuständig.

In zweiter Instanz sind zuständig:

– in Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der örtlichen Gerichte fallen, die Komitatsgerichte (in Budapest das Hauptstädtische Gericht);

– in Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Komitatsgerichte (in Budapest des Hauptstädtischen Gerichts) fallen, die Tafelgerichte;

– in Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Tafelgerichte fallen, das Oberste Gericht.7 Des Weiteren können rechtlich vertretene Parteien bei der Berufung gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Komitatsgerichte in einem beigelegten gemeinsamen Antrag beantragen, dass über die mit der Verletzung einer materiellen Rechtsnorm begründete Berufung unmittelbar das Oberste Gericht entscheiden soll. In Vermögensstreitigkeiten können die Parteien das Verfahren vor dem Obersten Gericht nur dann beantragen, wenn der in der Berufung bestrittene Wert (bzw. der Streitwert) 500.000 HUF (ca. 2.000 EUR; A.d.Ü.) übersteigt.

In Revisionssachen ist das Oberste Gericht zuständig.

1. Zusammensetzung der Gerichte

Die Zusammensetzung der Gerichte, ihre Kompetenz und die Zuständigkeitsregelungen regelt das Gesetz Nr. III/1952 über die Zivilprozessordnung.

Im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz entscheidet ein Berufsrichter (Einzelrichter). In Arbeitssachen entscheidet das Gericht erster Instanz grundsätzlich in Form eines Dreiersenats, der aus einem Berufsrichter und zwei Beisitzern besteht.

In zweiter Instanz entscheidet ein aus drei Berufsrichtern bestehender Richtersenat. Im Revisionsverfahren entscheidet das Oberste Gericht durch einen aus Berufsrichtern bestehenden Dreiersenat. Richtet sich der Revisionsantrag gegen eine rechtskräftige Entscheidung des Obersten Gerichts, entscheidet es als Fünfersenat, der mit Berufsrichtern besetzt ist.

In Rechtssachen, die in die Zuständigkeit des Senats des Gerichts fallen, kann der Vorsitzender ohne Verhandlung jede Maßnahme treffen und – mit Ausnahme der Entscheidung in der Sache – jede Entscheidung fällen, die gesetzlich in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts fällt. In der Verhandlung kann der Vorsitzender jene Maßnahmen treffen und Entscheidungen fällen, die gesetzlich ausdrücklich dem Zuständigkeitsbereich des Vorsitzenden zugeordnet werden. Berufsrichter und Beisitzer besitzen im Verfahren die gleichen Rechte und Pflichten.

2. Sachliche Zuständigkeit

In erster Instanz sind die örtlichen Gerichte mit allgemeiner Zuständigkeit ausgestattet. In ihre Zuständigkeit fallen jene Verfahren, für die das Gesetz nicht die Zuständigkeit der Komitatsgerichte anordnet. Für arbeitsrechtliche Verfahren sind die Arbeitsgerichte zuständig. Die Komitatsgerichte sind für folgende Verfahren zuständig:

– Vermögensstreitigkeiten, deren Streitwert fünf Millionen Forint (ca. 20.000 EUR; A.d.Ü.) übersteigt, mit Ausnahme der vermögensrechtlichen Verfahren in Ehesachen, wenn sie zusammen mit dem Eheverfahren eingeleitet werden.

– Schadenersatzverfahren, bei denen der Schaden von einer Amtsperson zugefügt worden ist, die im Rahmen ihrer Verwaltungszuständigkeit gehandelt hat (Amtshaftungsprozesse; A.d.Ü.).

– Urheberrechtliche und verwandte Rechtsstreitigkeiten, Verfahren auf Geltendmachung von Rechten und Ansprüchen aus gemeinsamer Rechtsausübung sowie Verfahren in Verbindung mit gewerblichem Rechtsschutz und Prozesse über Rechte an geistigen Werken;

– Verfahren in Verbindung mit internationalen Warentransport- und Lieferverträgen;

– Verfahren auf Feststellung der Ungültigkeit von Urkunden, die als Grundlage einer Unternehmensregistrierung dienen; Verfahren auf Überprüfung von Entscheidungen der Gesellschaftsorgane; Verfahren zwischen Gesellschaften und Mitgliedern über das Rechtsverhältnis der Mitglieder sowie Verfahren auf Aufhebung von Eintragungsbeschlüssen der Firmengerichte;

– Verfahren gegen bei den Komitatsgerichten registrierten Organisationen, die nicht als Gesellschaften zu qualifizieren sind (z. B. Stiftungen), eingeleitet von Organen, die die gesetzliche Aufsicht ausüben (z. B. Staatsanwalt, Minister) sowie von Mitgliedern dieser Organisationen;

– Verfahren auf Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche, die aufgrund einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten entstanden sind;

– Verfahren in Verbindung mit Rechtsverhältnissen aus Wertpapieren;

– grundsätzlich die Verfahren in Verwaltungssachen;

– Pressberichtigungsprozesse;

– Verfahren zur Anfechtung unredlicher allgemeiner Geschäftsbedingungen;

– Verfahren auf Feststellung von Rechnungslegungspflichten, in denen der Streitwert – wenn die Verurteilung beantragt werden könnte – fünf Millionen Forint (ca. 20.000 EUR; A.d.Ü.) übersteigen würde.

3. Örtliche Zuständigkeit

Die örtliche Zuständigkeit bestimmt, bei welchem von den mit der entsprechenden sachlichen Zuständigkeit ausgestatteten Gerichten im konkreten Fall das Verfahren zu führen ist. Im Allgemeinen ist jenes Gericht zuständig, in dessen Sprengel die beklagte Partei wohnt. Bei juristischen Personen, Wirtschaftsgesellschaften, die keine juristischen Personen sind, sowie Organisationen ohne Rechtspersönlichkeit (deren Rechtsfähigkeit gesetzlich normiert ist) richtet sich der allgemeine Gerichtsstand nach dem Sitz der Gesellschaft oder dem ihres vertretungsbefugten Organs. Bei Verfahren auf Unterhalt, Rente, Verpflichtung zu ähnlichen periodischen Leistungen, Unterbringung des Kindes, Eigentumsrecht, Recht zum Besitz oder sonstige Rechte an Liegenschaften legt das Gesetz ausschließliche Zuständigkeiten fest.

4. Örtliche Gerichte und Arbeitsgerichte

Die örtlichen Gerichte sind Gerichte erster Instanz mit allgemeiner Zuständigkeit. Die Arbeitsgerichte entscheiden in Streitsachen betreffend Arbeitsverhältnisse oder arbeitsvertragsähnliche Rechtsverhältnisse sowie in Fällen, die kraft Gesetzes in ihren Kompetenzbereich fallen. Arbeitsgerichte sind in Budapest und in den Komitaten eingerichtet. Das örtliche Gericht und das Arbeitsgericht werden von einem Präsidenten geleitet. Die Gerichte sind keine juristischen Personen, können jedoch in einem von den Organisations- und Gerichtsbetriebsbestimmungen festgelegten Umfang Rechte und Pflichten erwerben.

5. Komitatsgerichte

Die Komitatsgerichte (und das Hauptstädtische Gericht in Budapest) sind Gerichte zweiter Instanz, in einzelnen Rechtssachen (z.B. schwere Verbrechen, Zivilprozesse mit hohem Streitwert) führen sie jedoch erstinstanzliche Verfahren durch.

Das Komitatsgericht entscheidet in den gesetzlich bestimmten Rechtssachen in erster Instanz und entscheidet als zweite Instanz über die gegen Entscheidungen der örtlichen Gerichte eingebrachten Berufungen.

Die Komitatsgerichte sind juristische Personen und werden von einem Präsidenten geleitet. Bei den Komitatsgerichten können Senate und Gruppen sowie Straf-, Zivil-, Wirtschafts- und Verwaltungskollegien eingerichtet werden.

In gesetzlich bestimmten Rechtssachen entscheiden bei bestimmten Komitatsgerichten mit entsprechendem Kompetenzbereich Militärsenate.

Die Komitatsgerichte (und das Hauptstädtische Gericht in Budapest) sind im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit als Firmengerichte mit der Registrierung und der gesetzlichen Aufsicht über Unternehmen betraut.

6. Tafelgerichte

Die Tafelgerichte wurden als neue Organisationsstufe zwischen den Komitatsgerichten und dem Obersten Gericht gemäß besonderem Gesetz mit bestimmter Zuständigkeit ausgestattet und an bestimmten Orten, ab einem im Gesetz festgesetzten Zeitpunkt eingerichtet.

Das Tafelgericht entscheidet in den gesetzlich zugewiesenen Rechtssachen über die gegen Entscheidungen der örtlichen oder der Komitatsgerichte eingebrachten Rechtsmittel, sowie in anderen in seine Zuständigkeit fallenden Rechtssachen. Das Tafelgericht ist eine juristische Person, es wird von einem Präsidenten geleitet.

Beim Tafelgericht können Senate sowie Straf-, Zivil- und Verwaltungskollegien eingerichtet sein.

In Rechtssachen, die von Militärsenaten der hierzu bestimmten Komitatsgerichte in erster Instanz entschieden wurden, entscheidet der Militärsenat des Tafelgerichts.

Die Errichtung der Tafelgerichte wurde in den Gesetzen, durch die im Jahre 1997 die Verfassungs- und die Gerichtsorganisationsreform durchgeführt wurde, angeordnet. Gleichzeitig mit der Einrichtung der Tafelgerichte wurde in den damals beschlossenen Gesetzen auch die Schaffung von Staatsanwaltschaften höherer Instanz – als neue Organisationsstufe der Staatsanwaltschaft – und der Militärstaatsanwaltschaft Höherer Instanz verfügt.

Der am 8. November 2000 von der Europäischen Kommission veröffentlichte Jahresbericht über die Vorbereitungen Ungarns zum Beitritt zur Europäischen Union befasste sich detailliert mit dem Thema Rechtssprechung. Punkt 14 des Berichts hob – bei gleichzeitiger Würdigung der bisher erfolgten Anstrengungen – die Stellung des Obersten Gerichts als Problem hervor, da der Rückstand an unerledigten Rechtssachen mitsamt seinen Auswirkungen die Vereinheitlichung der richterlichen Rechtssprechung und die Entwicklung einer konsequenten Rechtspraxis behinderte. Der Bericht des Vorjahres stellte ebenfalls die Zunahme der beim Obersten Gericht einlangenden Rechtsfälle im Vergleich zum vorangegangenen Jahr fest, unterstrich aber, dass die neu geschaffenen Tafelgerichte die Erledigungen beim Obersten Gerichtshof beschleunigen und erleichtern werden.

Als neue Teile der Gerichtsorganisation wurden mit 1. Januar 2003 in Budapest, in Szeged und in Pécs Tafelgerichte mit bestimmten zugewiesenen Zuständigkeitsbereichen eingerichtet, die ihre Tätigkeit jedoch erst mit 1. Juli 2003 aufgenommen haben.

7. Oberstes Gericht

Das höchste richterliche Organ der Republik Ungarn ist das Oberste Gericht. Es ist eine juristische Person mit Sitz in Budapest und wird von einem Präsidenten geleitet.

Es entscheidet – in den gesetzlich bestimmten Fällen – über die gegen Entscheidungen der Komitats- oder der Tafelgerichte erhobenen Rechtsmittel.

Es entscheidet weiters über Revisionsanträge, fasst für die Gerichte verbindliche, rechtsvereinheitlichende Beschlüsse und entscheidet in den in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden sonstigen Fällen.

Beim Obersten Gericht sind rechtssprechende und rechtsvereinheitlichende Senate sowie Straf-, Zivil- und Verwaltungskollegien eingerichtet.

 

B. Rechtsbehelfe

1. Berufung

a) Mit Berufung anfechtbare Entscheidungen:

Eine Berufung ist grundsätzlich gegen Entscheidungen der Gerichte erster Instanz zulässig. Eine Berufung kann von den Parteien und den Intervenienten erhoben werden. Personen, die von den Verfügungen der Entscheidung betroffen sind, können gegen die entsprechenden Teile der Entscheidung Berufung erheben. Gegen Beschlüsse, die im Laufe des Verfahrens gefällt worden sind, ist die Berufung mit Ausnahme der Beschlüsse, die zur Kostentragung oder zu Geldstrafen verurteilen, nicht zulässig.

Mit Berufung kann ein im zweitinstanzlichen Verfahren gefällter Beschluss angefochten werden, gegen den nach den Regeln des erstinstanzlichen Verfahrens die Berufung zulässig wäre oder mit dem die Berufung von Amts wegen zurückgewiesen wird. Im zweitinstanzlichen Verfahren kann die Klage nicht mehr geändert werden.

Über die Berufung kann in bestimmten Fällen auch ohne Verhandlung entschieden werden. Das Gericht zweiter Instanz kann über die Berufung gegen ein Urteil ohne Verhandlung entscheiden, wenn

– sich die Berufung nur auf die Zahlung von Zinsen, die Tragung oder die Höhe der Prozesskosten sowie auf die nicht bezahlte Gebühr oder die Bezahlung der durch den Staat vorgestreckten Prozesskosten bezieht;

– sich die Berufung nur auf die vorläufige Vollstreckbarkeit, die Leistungsfrist oder die Genehmigung der Ratenzahlung bezieht;

– sich die Berufung nur gegen die Begründung des Urteils richtet;

– die Parteien dies beantragen;

– das Gericht die Lösung des Falles – aufgrund der Angaben im Berufungsantrag oder in der Berufungsbeantwortung – auch ohne Abhaltung einer Streitverhandlung für möglich hält.

In den ersten vier Fällen kann jede der Parteien die Abhaltung einer Streitverhandlung beantragen, doch ist sowohl das Einbringen des Berufungsantrags als auch die Berufungsbeantwortung an eine achttägige Präklusivfrist gebunden.

b) Berufung in Streitsachen mit geringem Streitwert

Wie in Kapitel I B 2 bereits dargestellt wurde, gelten in Verfahren über vermögensrechtliche Streitigkeiten, die in die erstinstanzliche Zuständigkeit der örtlichen Gerichte fallen, für das Berufungsverfahren seit 1997 vereinfachte Regelungen, wenn die im Berufungsantrag bestrittene Summe (bzw. der Streitwert) 200.000 HUF (ca. 800 EUR; A.d.Ü.) und/oder die im Berufungsantrag bestrittene Summe 10 Prozent der in der Klage angegebenen Forderung nicht überschreitet. Diese Regeln gelten nicht für Fälle, in denen der Streitgegenstand eine Unterhalts- oder unterhaltsähnliche Forderung mit Rentencharakter ist.

Eine Berufung ist in Streitsachen mit geringem Streitwert nur bei Behauptung einer wesentlichen Verletzung einer prozessualen Rechtsvorschrift oder der unrichtigen Anwendung einer materiellen Rechtsnorm zulässig. Als wesentlich gilt jene Verletzung einer prozessualen Rechtsvorschrift, sie sich auf die Entscheidung in der Sache selbst ausgewirkt hat. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweise ist im Verfahren zweiter Instanz idR ebenfalls unzulässig. Eine Klageänderung ist im Verfahren zweiter Instanz nur dann zulässig, wenn die Gründe für die Klageänderung erst nach Verhandlungsschluss eingetreten sind.

Im vereinfachten Berufungsverfahren entscheidet das Gericht zweiter Instanz auch in der Sache selbst ohne Verhandlung. Auf Antrag einer der Parteien beraumt das Gericht dennoch eine Verhandlung an und führt sie nach den allgemeinen Regeln der mündlichen Streitverhandlung durch. Entspricht das Urteil des Gerichts erster Instanz den Rechtsvorschriften oder lässt sich eine Rechtswidrigkeit, die die Sachentscheidung des Falles beeinflusst hätte, nicht feststellen, bestätigt das Gericht zweiter Instanz das erstinstanzliche Urteil. Bei Feststellung einer wesentlichen Verletzung einer Prozessvorschrift hebt das Gericht zweiter Instanz das erstinstanzliche Urteil – ohne Rücksicht auf die Einschränkungen im Berufungsantrag oder in der Berufungsbeantwortung – mit Beschluss auf und verweist die Sache zur Durchführung einer neuerlichen Verhandlung und zur Fällung einer neuen Entscheidung an das Gericht erster Instanz. Wenn das Urteil des Gerichts erster Instanz eine materielle Rechtsnorm verletzt und die zur Entscheidung notwendigen Tatsachen ohne neuerliches Beweisverfahren feststellbar sind, kann das Gericht zweiter Instanz die rechtswidrige Entscheidung auch – unter Einhaltung der Einschränkungen im Berufungsantrag bzw. in der Berufungsbeantwortung – abändern.

2. Wiederaufnahme des Verfahrens

Gegen rechtskräftige Gerichtsurteile ist in den folgenden drei Fällen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig:

– die Partei beruft sich auf eine Tatsache, einen Beweis oder eine rechtskräftige richterliche oder sonstige behördliche Entscheidung, die/den das Gericht im Verfahren nicht berücksichtigt hat, die/der aber – bei Berücksichtigung – eine für die Partei günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte;

– die Partei verlor den Prozess aufgrund der Straftat eines an der Urteilsfällung mitwirkenden Richters, der Gegenseite oder eines Dritten;

– vor dem im Verfahren gefällten Urteil lag über dieselbe Sache bereits ein rechtskräftiges Urteil vor.

Im ersten Fall können die Parteien nur dann die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, wenn sie die Tatsache, den Beweis oder die Entscheidung, auf die/den sie sich berufen, ohne ihr Verschulden im vorigen Verfahren nicht geltend machen konnten.

Im zweiten Fall ist die Wiederaufnahme nur dann zulässig, wenn das Begehen der als Grund der Wiederaufnahme angeführten Straftat von einer rechtskräftigen richterlichen Entscheidung festgestellt wurde oder wenn die Fällung einer solchen Entscheidung nicht aus Mangel an Beweisen, sondern aus anderen Gründen nicht erfolgt ist.

Die Wiederaufnahme hinsichtlich des Hauptgegenstands des Verfahrens ist unzulässig bei Urteilen, die einer Klage auf Räumung einer Wohnung stattgeben bzw. die Gültigkeit der Kündigung eines Wohnungsmietvertrags feststellen oder die in einem Exekutionsverfahren über Drittwiderspruchklagen gefällt worden sind.

Die Frist für das Einbringen des Antrags auf Wiederaufnahme beträgt sechs Monate. Die Frist läuft ab Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung. Hat die Partei vom Grund der Wiederaufnahme erst später erfahren oder konnte sie erst später diese Möglichkeit ergreifen, so ist die Frist ab diesem Zeitpunkt zu rechnen. Es genügt, wenn der Zeitpunkt der Kenntnisnahme glaubhaft gemacht wird.

Nach fünf Jahren ab Rechtskraft der Entscheidung kann keine Wiederaufnahme mehr beantragt werden; gegen die Versäumung dieser Frist kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden.

3. Revisionsantrag

Gegen ein in Rechtskraft erwachsenes Urteil oder einen rechtskräftigen Beschluss in der Sache kann beim Obersten Gericht eine Revision beantragt werden. Ein Revisionsantrag kann eingebracht werden, wenn die zu überprüfende Entscheidung Rechtsvorschriften verletzt und sich dies auf die Beurteilung der Rechtssache in der Sache ausgewirkt hat und wenn

– die Entscheidung von einer rechtsvereinheitlichenden Entscheidung des Obersten Gerichts abweicht oder

– ihre Überprüfung im Interesse der Einheitlichkeit und der Weiterentwicklung der Rechtssprechung geboten ist, da die Entscheidung eine Rechtsfrage von prinzipieller Bedeutung aufwirft, zu der das Oberste Gericht noch keine – in der amtlichen Entscheidungssammlung des Obersten Gerichts publizierte – Entscheidung gefällt hat oder zu der früher eine Entscheidung mit Grundsatzcharakter in der amtlichen Entscheidungssammlung des Obersten Gerichts publiziert wurde, die aber einen abweichenden Inhalt aufwies.

Als die Beurteilung des Falles in der Sache nicht beeinflussend wird etwa jene Verletzung von Rechtsvorschriften angesehen, die im Zuge der Entscheidung über Zinszahlung, Tragung und Höhe der Prozesskosten, Bezahlung der unbezahlten Gebühr oder der durch den Staat vorgestreckten Kosten in der rechtskräftigen Entscheidung aufgetreten sind oder die Verfügungen in der Entscheidung betreffend Leistungsfrist, Genehmigung der Ratenzahlung oder die Begründung der Entscheidung betreffen.

Die Revision kann eine Partei, ein Intervenient oder jede Person – hinsichtlich der sie treffenden Verfügung – beantragen, für die/den die Entscheidung eine Verfügung trifft.

Die Revision ist unzulässig

– i.d.R. gegen Entscheidungen, die in erster Instanz in Rechtskraft erwachsen sind;

– wenn die Partei ihr Recht zur Berufung nicht wahrgenommen hat oder wenn nach Berufung durch die andere Partei das Gericht zweiter Instanz die Entscheidung des Gerichts erster Instanz bestätigt hat;

– bei der Frage der Ungültigkeit oder Aufhebung der Ehe gegen Urteile, die die Ungültigkeit der Ehe feststellen oder die Ehe aufheben;

– gegen Urteile, die die Vaterschaftsvermutung widerlegen, bezüglich des Teiles über die Widerlegung, wenn nach der Widerlegung der Vaterschaftsvermutung eine Person das Kind mittels Vaterschaftsanerkenntnisses an Kindes statt angenommen hat, wenn die Vaterschaft in einem rechtskräftigen richterlichen Urteil festgestellt wurde oder wenn infolge der nachträglichen Verheiratung der Mutter der Ehegatte der Mutter als Vater anzusehen ist;

– im Schuldenregulierungsverfahren gegen eine lokale Selbstverwaltung gegen den verfahrenseinleitenden Beschluss;

– gegen den Konkurseröffnungs- und den Konkursaufhebungsbeschluss;

– gegen den Beschluss über die Löschung einer Gesellschaft aus dem Firmenregister;

– gegen einen richterlichen Beschluss, der im Zuge der Überprüfung von Entscheidungen über die Versammlungsfreiheit gefällt worden ist;

– gegen den im Wahlverfahren gefällten Gerichtsbeschluss;

– gegen den Beschluss zur Bestätigung eines Vergleichs und wenn die Entscheidung vom Obersten Gericht im Revisionsverfahren gefällt wurde.

Der Revisionsantrag ist binnen sechzig Tagen ab der Verkündung der Entscheidung bei jenem Gericht, das die Entscheidung in erster Instanz gefällt hat, einzubringen. Bei Versäumung dieser Frist kann nach dreißig Tagen ab dem letzten Tag der versäumten Frist die Wiedereinsetzung selbst dann nicht beantragt werden, wenn die Säumnis der Partei erst später bekannt wurde oder wenn das Hindernis erst später zu bestehen aufgehört hat.

Im Revisionsverfahren herrscht Anwaltspflicht (Pflicht zur rechtlichen Vertretung).

Der Revisionsantrag wird von einem Berufsrichter des Obersten Gerichts auf die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen und sonstigen Bedingungen überprüft. Sind die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben, so wird der Revisionsantrag vom Richter zurückgewiesen.

Das Oberste Gericht entscheidet über den Revisionsantrag ohne Verhandlung, es sei denn eine der Parteien beantragt die Anberaumung einer Verhandlung. Bei einem Revisionsantrag gegen einen Beschluss kann die Anberaumung einer Verhandlung nicht beantragt werden.

Die Durchführung von Beweisaufnahmen ist im Revisionsverfahren nicht zulässig. Das Oberste Gericht entscheidet über den Revisionsantrag anhand der zur Verfügung stehenden Akten.

Hebt das Oberste Gericht eine rechtswidrige Entscheidung auf und verweist es die Sache an das Gericht erster oder zweiter Instanz zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und zur Fällung einer neuen Entscheidung zurück, so kann es in der Entscheidung über die Aufhebung verbindliche Weisungen für die Durchführung des neuen Verfahrens erteilen. In diesem Fall stellt es nur die Höhe der entstandenen Kosten fest, über die Tragung derselben entscheidet das Gericht, das die neue Entscheidung fällen wird.

Verweist das Oberste Gericht die Sache an das Gericht zweiter Instanz zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens zurück, so teilt das Gericht zweiter Instanz die diesbezügliche Entscheidung des Obersten Gerichts den Parteien mit und verfügt – der Entscheidung entsprechend – die Aufhebung bzw. Einschränkung der Vollstreckung bzw. der Unterbrechung der Vollstreckung. Wird die Sache an das Gericht erster Instanz zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens zurückverwiesen, so hat es ebenso vorzugehen.

Im Falle einer Zurückverweisung zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens beginnt die Verhandlung mit der Verlesung der Entscheidung des Obersten Gerichts; das Gericht führt sodann das Verfahren gemäß den jeweils maßgeblichen Regeln durch.

 

C. Besondere Verfahrensarten

1. Allgemeines

Die ungarische Zivilprozessordnung bestimmt besondere Verfahren für

– Prozesse in Ehesachen,

– Prozesse über die Feststellung der Vaterschaft und der Abstammung,

– Prozesse auf die Aufhebung der elterlichen Gewalt,

– das Mahnverfahren,

– Prozesse in Verwaltungssachen,

– Presseberichtigungsprozesse,

– Prozesse aus Arbeitsverhältnissen oder arbeitsvertragsähnliche Rechtsverhältnisse,

– Vollstreckungsprozesse.

Im Hinblick auf die Beschleunigung der zivilrechtlichen Anspruchsverfolgung kommt dem Mahnverfahren besondere Bedeutung zu, da es am häufigsten vorkommt. In der Folge wird daher diese besondere Verfahrensart näher dargestellt.

2. Mahnverfahren

Bei den Gerichten langen monatlich Tausende Anträge auf Erlassung von Zahlungsbefehlen ein; dennoch ist u.E. dieses Verfahren überhaupt nicht oder nur oberflächlich bekannt.

Beim Mahnverfahren entscheidet das Gericht nicht im Prozess in einer Verhandlung über den eingebrachten Antrag; das Gericht trifft in diesem Verfahren die Parteien nicht; es entscheidet ausschließlich anhand der Akten. Dadurch wird das Verfahren rasch abgewickelt und langwierige Prozesse können vermieden werden.

Hauptziel des Verfahrens ist, dass einfach zu entscheidende Fälle ohne Streitverhandlung gelöst werden, wodurch nicht nur die Gerichte entlastet werden, sondern das Verfahren auch für die Parteien günstiger ist. Ein wichtiger Aspekt ist, dass der Kostenaufwand erheblich geringer ist als in einem ordentlichen Verfahren. Das Mahnverfahren gliedert sich in zwei Abschnitte, in den der Erlassung des Zahlungsbefehls und den der Umwandlung in ein ordentliches Verfahren oder der Bestätigung des Zahlungsbefehls.

a) Fälle der Erlassung des Zahlungsbefehls

Die ungZPO ermöglicht die Erlassung eines Zahlungsbefehls in einfach zu beurteilenden Fällen: bei Forderungen auf Zahlung von Geld oder auf Herausgabe von beweglichen Sachen. Der Grund dafür ist, dass in beiden Fällen die Beweisführung relativ einfach ist; Rechtsgrund und Höhe der Forderung können meist mittels Urkunden (Vertrag, Gerichtsurteil etc) belegt werden.

Grundsätzlich kann der Berechtigte zwischen einem Mahnverfahren und einem ordentlichen Verfahren frei wählen. Forderungen auf Zahlung von Geldsummen unter 100.000 Forint (ca. 400 EUR; A.d.Ü.) können aber ausschließlich im Mahnverfahren geltend gemacht werden.

b) Antrag

Wie jedes andere Gerichtsverfahren wird auch das Mahnverfahren auf Antrag des Berechtigten eingeleitet. Die Bestimmungen des Zivilprozessrechts sehen für Anträge fast immer nur inhaltliche Anforderungen vor. Davon gibt es lediglich zwei Ausnahmen: der Antrag auf Erlassung eines Zahlungsbefehls und der Antrag auf Einleitung eines Vollstreckungsverfahrens. Bei diesen beiden Anträgen bestimmt das Gesetz nicht nur den Mindestinhalt des Antrages, sondern auch in welcher Form er eingebracht werden muss.

c) Erlassung des Zahlungsbefehls

Kurz nach Einbringen eines den inhaltlichen und formellen Anforderungen entsprechenden Antrags erlässt das Gericht einen Zahlungsbefehl gegen den Verpflichteten. In der Praxis bedeutet dies, dass das Gericht ein Exemplar des abgestempelten und unterschriebenen Antrags per Post versendet. Erkennt das Gericht einen Mangel (der Antrag wurde nicht mit der entsprechenden Anzahl von Exemplaren eingereicht, irgendwelche Daten fehlen), so stellt es den Antrag zur Verbesserung innerhalb einer Präklusivfrist von i.d.R. 15 Tagen zurück.

d) Einspruch

Die Erlassung des Zahlungsbefehls ist eine Entscheidung des Gerichts; dem Zahlungsbefehl kommt die gleiche Wirkung zu wie einem Urteil. Da damit in der Sache entschieden wird, kann dagegen ein Rechtsmittel ergriffen werden. Das Rechtsmittel wird im Mahnverfahren Einspruch genannt.

Das Gericht weist den Verpflichteten im Zahlungsbefehl auf die Möglichkeit eines Einspruchs hin. Der Einspruch kann binnen 15 Tagen, bei Forderungen aus Wechseln binnen drei Tagen, eingebracht werden. Versäumt der Verpflichtete diese Frist, erklärt das Gericht den Zahlungsbefehl für rechtskräftig und der Berechtigte kann das Vollstreckungsverfahren einleiten. Weitere Berufungen oder Rechtsbehelfe sind nicht zulässig. Eventuell kann – bei Vorliegen der Voraussetzungen – eine Wiederaufnahme beantragt werden. Dadurch wird aber ein neues Verfahren eingeleitet.

Die Frist ist also präklusiv und bewirkt, dass das Gericht einen verspäteten Einspruch von Amts wegen zurückzuweisen hat. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass der Berechtigte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erwirkt, doch muss er hierfür beweisen, dass es ohne sein Verschulden zur Säumnis gekommen ist.

e) Inhalt des Einspruchs

Der Inhalt des Einspruchs weicht von den allgemeinen Regeln ab. Allgemein müssen Berufungswerber genau angeben, welchen Teil des Urteils er für unrichtig hält und warum. Demgegenüber bestimmt die ungZPO, dass „die Anfechtung des Zahlungsbefehls aus jedem Grund als Einspruch zu werten ist”.

Sehr oft kommt es vor, dass der Verpflichtete nicht den ganzen Zahlungsbefehl, sondern nur einen Teil davon beeinsprucht. In diesen Fällen stellt das Gericht eine Teilrechtskraft fest.

Nicht als Einspruch zu werten ist, wenn der Verpflichtete nicht den Inhalt des Zahlungsbefehls bekämpft, sondern lediglich um Genehmigung einer Ratenzahlung oder um Aufschub bittet. Beide Anträge sind als Anerkenntnis zu werten. Inhalt eines solchen Antrags kann sein, dass die Forderung nicht zum im Zahlungsbefehl bestimmten Zeitpunkt – binnen 15 Tagen ab Rechtskraft – geleistet werden soll, sondern zu einem späteren Zeitpunkt (Zahlungsaufschub) oder in bestimmten Raten (Ratenzahlung). In diesen Fällen fordert das Gericht den Berechtigten zur Abgabe einer Erklärung auf und verlangt vom Verpflichteten jene Daten (z. B. Einkommensnachweis), die zur Genehmigung des Antrags führen können. Genauso wenig als Einspruch zu werten ist, wenn der Verpflichtete die Berichtigung des Zahlungsbefehls beantragt, wenn also ein Schreibfehler passiert ist.

f) Einleitung des ordentlichen Verfahrens

Mit der Erlassung des Zahlungsbefehls ist der erste Abschnitt des Verfahrens abgeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt ist die Fortsetzung (oder Beendigung) von den schriftlichen Erklärungen der Parteien abhängig.

Bei Erhebung eines Einspruchs leitet das Gericht die Vorbereitungen der Prozessdurchführung ein. Als erster Schritt fordert es den Berechtigten auf, die bezahlte Gebühr auf die Gebühr des streitigen Verfahrens zu ergänzen, also auf sechs Prozent des Streitwerts. Dem Berechtigten steht dafür eine relativ kurze Zeit zur Verfügung, da er die fehlende Gebühr binnen acht Tagen bezahlen muss. Auch diese Frist ist präklusiv, mit ihrem Ablauf stellt das Gericht das Verfahren automatisch ein. Wenn der Berechtigte an der Durchführung des Verfahrens festhält, muss er mit dem Procedere von vorne beginnen. In dieser Phase hat der Verpflichtete seinen Einspruch schon detailliert zu begründen, und zwar nach den allgemeinen Regeln: Er muss die Tatsachen und Beweise, die er seiner Verteidigung zu Grunde legt, schriftlich vorbringen. Das Gericht bestimmt den Tag der Verhandlung und lädt die Parteien schon als Kläger und Beklagter; das ordentliche Verfahren beginnt.

Zur Effektivität des Mahnverfahrens ist festzuhalten, dass etwa die Hälfte der Fälle bereits im ersten Verfahrensstadium enden.

 

III. Reformen zur Beschleunigung streitiger und außerstreitiger Verfahren im ungarischen Recht

A. Bestrebungen für eine schnelle und effektive Rechtssprechung

Wie im vorigen Kapitel dargestellt, war einer der Grundsätze des in der Rechtssprechung nach dem Systemwechsel durchgeführten Reformprozesses, dass jede Normänderung nach Möglichkeit der Konzentration der Gerichtsverfahren dienen sollte. Die Geltendmachung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechts auf Rechtsschutz durch die Gerichte ging nämlich mit einem explosionsartigen Anstieg an Prozessen einher. Dies und die immer komplizierter werdenden Rechtsverhältnisse ließen klar erkennen, dass ohne äußere Einwirkung und tief greifende Änderungen die Gerichte nicht imstande sein würden, Prozesse in angemessener Frist zu beenden. Folgende Daten veranschaulichen die Größenordnung der bei Gericht eingelangten Rechtssachen: Nach den statistischen Daten der Gerichte langten im Jahre 2001 mehr als 1,1 Millionen Rechtssachen ein, wovon ein Großteil (66 Prozent) zu den Zivilsachen zählte und hauptsächlich die örtlichen Gerichte belastete.8 Es kann natürlich argumentiert werden, dass – im landesweiten Durchschnitt – die Effektivität sehr viel größer ist als noch vor einigen Jahren, da gemessen an den Vorjahren der Anteil der abgeschlossenen Rechtssachen höher ist. Gleichzeitig kann aber nicht geleugnet werden, dass sowohl die Rechtspraxis als auch die „Verbraucher” die Verzögerung der Gerichtsverfahren als den größten Nachteil der Prozessführung, als die Haupthürde der Rechtsverfolgung ansehen.

Zusammenfassend wirkte sich das Erfordernis der Verfahrenskonzentration auf alle Bereiche der Verfahrensrechtsreform und auf die Umstrukturierung der Gerichtsorganisation aus. Die im letzten Jahrzehnt erlassenen Gesetze weisen folgende Hauptelemente zur Schaffung einer schnelleren und effektiveren Rechtssprechung auf:

1. Neuinterpretation der Prozessgrundsätze

2. Änderungen im Interesse einer rationalen Beweisführung

3. Sanktionen bei Versäumung von Prozesshandlungen

4. Reform des Rechtsmittelsystems

5. Modernisierung der Vollstreckung von Gerichtsurteilen

6. Schaffung spezieller Verfahrensgesetze für bestimmte Rechtsanwender

7. neue Gerichtsorganisation, geänderte Zuständigkeitsregeln, Schaffung der organisatorischen Bedingungen einer unabhängigen und fachgerechten Rechtssprechung

8. Änderung der Justizorganisation: gerichtliche und außergerichtliche staatliche Rechtspflegebereiche

9. Änderung der Regeln der rechtlichen Vertretungspflicht

10. Schritte zur Modernisierung der Aktenbearbeitung

11. Verbreitung alternativer Methoden der Streiterledigung

Ohne Zweifel erwiesen sich die erwähnten Maßnahmen allgemein als effektiv, und stellen auch im Einzelnen einen erheblichen Schritt in Richtung einer raschen Verfahrenserledigung dar.

Das vorangegangene Kapitel kann wie folgt zusammengefasst werden:

Die Rechtssprechung wurde immer mehr auf die Rechtsanwendungstätigkeit im engeren Sinne „beschränkt”. Dem Dispositionsgrundsatz entsprechend liegt die Aufgabe des Richters in der Beurteilung der durch die Parteien vorgebrachten Ansprüche und Beweise nach materiellem Recht und nicht in der allgemeinen, allumfassenden, über das Parteienvorbringen hinausgehenden Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts und der Vorbereitung (Belehrung) der Parteien zur Rechtsverfolgung.

Der Änderung der Grundsätze entsprechend setzt die Beweisführung eine gründliche Vorbereitung des Rechtsanwenders und der Partei (des rechtlichen Vertreters) sowie einen gut vorbereiteten Anspruch voraus; sie basiert auf der freien Beweiswürdigung und der freien Auswahl der Beweise. Das Einbringen von Beweisanträgen ist jedoch an Regeln gebunden: Die Parteien müssen binnen der ihnen dafür zur Verfügung gestellten Frist Beweise vorlegen oder Beweisanträge stellen.

Gegen die säumige Partei sieht das Prozessrecht Sanktionen vor; die Rechtsnachteile können auch im Verlust des Rechtes auf Einbringen des Beweisantrags bestehen.

Das Recht zur Erhebung von Rechtsmitteln ist allgemein gewährleistet. Das Prozessrecht beschränkt jedoch im Rahmen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieses Recht zugunsten des Erfordernisses, Rechtsstreitigkeiten in angemessener Frist abzuschließen. Die ungZPO ermöglicht es nicht, dass die Partei durch das Rechtsmittel Prozesshandlungen nachholen kann, die im Verfahren versäumt wurden.

Die Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen obliegt idR den von der Gerichtsorganisation getrennten Gerichtsvollziehern.9 Die Maßnahmen der gerichtlichen Vollstreckung beschränken – mit einigen Ausnahmen hinsichtlich der Existenzerhaltung und der Berufsausübung und unter Rücksichtnahme auf die stufenweise und angemessene Anwendung von Zwang – die Schuldnerrechte. Eine Behinderung dieser Maßnahmen wird auch strafrechtlich sanktioniert.10 Neben dieser Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen besteht auch die Möglichkeit, die Erfüllung von Verpflichtungen, die auf sonstigen Urkunden basieren, im Wege der gerichtlichen Exekution zu erzwingen. So können Notariatsurkunden bei Erfüllen der erforderlichen Voraussetzungen mit einer Vollstreckungsklausel versehen werden und die Verpflichtungen sodann zwangsweise durchgesetzt werden. Dies ermöglicht den Vertragsparteien, ihre in der Urkunde festgehaltenen Forderungen ohne Klagseinbringung geltend zu machen.11

Mehrere Arten des gerichtlichen Verfahrens wurden in neuen Kodifikationen, die auf der ungZPO basieren, geregelt. Die an diesen Verfahren Beteiligten wurden nach bestimmten Fallgruppen innerhalb der Justizorganisation getrennt (z.B. Firmensachen, Konkursverfahren, Nachlassverfahren, Ordnungswidrigkeiten etc).

Die Gerichtsorganisation ist vierstufig (örtliche Gerichte, Komitatsgerichte, Tafelgerichte, Oberstes Gericht). Die Verteilung der Aufgabenbereiche erfolgt nach den jeweils vorhandenen Kenntnissen, Erfahrungen und Kapazitäten. Die Einheitlichkeit der Rechtssprechung soll durch den Betrieb eines Mechanismus gewährleistet werden.12 Der Richterstand genießt eine besondere Rechtsstellung (Status, Verantwortlichkeit, Entlohnung, Unvereinbarkeit), die Gerichtsorganisation wird von einem Aufsichts- und Verwaltungssystem, das die Unabhängigkeit der Gerichte garantiert, geleitet.13 (Zusammenhang mit dem vorherigen und kommenden Absatz?)

Im sozialistischen Rechtssystem waren – entgegen der bürgerlichen Tradition – alle an der Rechtsverfolgung beteiligten Justiz- und Rechtsanwenderfunktionen (Hilfs- und Ergänzungsfunktionen) in die Gerichtsorganisation integriert. Dies hatte zur Folge, dass im Zeitpunkt des Systemwechsels die Gerichte über zusammengelegte Aufgabensysteme und Rechtsanwenderapparate verfügten (öffentliche Notare, Gerichtsvollzieher, Bewährungshelfer), die nicht unbedingt dasselbe Verwaltungssystem benötigten. Unter den bei Gericht tätigen Justizangestellten wird ein Kreis von Beamten mit Fachausbildung höherer Stufe gebildet, der im Aufgabenbereich des Gerichts die Richter bei der Durchführung einzelner Prozesshandlungen – die weder die Entscheidung in der Sache darstellen, noch diese unmittelbar beeinflussen – ersetzen (sog. gerichtliche Sachbearbeiter).

Die rechtliche Vertretung ist im Allgemeinen im Verfahren vor dem Obersten Gericht, – ab 1. Juli auch vor den neu errichteten Tafelgerichten und in gesetzlich bestimmten Fällen verpflichtend.

Die gerichtliche Aktenbearbeitung wurde mit der Einführung der allgemeinen EDV-Registratur und der elektronischen Sachbearbeitung neu geregelt.14 Die Datenbanken der Gerichte sind elektronisch verbunden, was in Zukunft ebenfalls eine Verfahrenskonzentration fördern kann.

Die alternativen Methoden der Streitbeilegung – sowohl die Schiedsgerichts- als auch die Mediationsverfahren – sind bekannt, institutionalisiert und können in einem Großteil der zivilrechtlichen Rechtsstreitigkeiten verwendet werden.15

Die bisherigen Ergebnisse der Justizreform haben sich also in vielen Bereichen positiv auf die Verfahrenskonzentration ausgewirkt. Bei Untersuchung der Effektivität ist aber zu berücksichtigen, dass die groß angelegten Organisationsreformen den Erfolg der prozessbeschleunigenden Mechanismen vorübergehend stets zurückwerfen. Mit 1. Juli 2003 nahm ein solcher kritischer Abschnitt in der Geschichte der ungarischen Justiz seinen Anfang. Es nahmen unter anderem die Tafelgerichte, deren Errichtung 1997 beschlossen wurde, ihre Tätigkeit als neue Stufe der Gerichtsorganisation auf, und gleichzeitig trat auch das neue, 1998 erlassene und seitdem mehrmals novellierte, Strafprozessgesetz in Kraft.

B. Aktuelle Bereiche der Zivilprozessreform

Die derzeitige Gesetzgebungstätigkeit kann die Arbeitsbelastung der Gerichte und die Verfahrensbeendigung in angemessener Frist in den unten aufgezählten Bereichen beeinflussen. Sie hat zum Teil das Ziel, auf einzelnen Teilgebieten eine schnellere Erledigung der Prozesse zu ermöglichen.

1. Prozesskostenhilfe

a) Allgemeines

Die Modernisierung der Justiz bewirkte – im Einklang mit den nach dem Systemwechsel vonstatten gegangenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen – unter anderem, dass die Inanspruchnahme der „Dienstleistung Rechtssprechung” zu erheblichen Ausgaben für die Rechtssuchenden führt. Wer einen Prozess anstrengt, hat für die Durchführung eines streitigen Verfahrens sechs, eines Außerstreitverfahren drei Prozent des Streitwerts am Anfang des Verfahrens als Gebühr zu entrichten.16 Die beweisführende Partei hat die Kosten der Beweisführung vorzustrecken. Auch die Inanspruchnahme der rechtlichen Vertretung ist mit erheblichen Kosten für die Parteien verbunden. Die Gesellschaft hat sich nach der Umstellung auf das marktwirtschaftliche System hinsichtlich der sozialen Situation und der wirtschaftlichen Belastbarkeit stark verändert. Die im Bereich der Rechtsverfolgung bestehenden bedeutenden Unterschiede zwischen den Rechtssubjekten führen zu nicht vernachlässigbaren gesellschaftlichen Spannungen. Hierzu trug nicht zuletzt die Tatsache bei, dass in Folge der stetig komplizierter werdenden Rechtsverhältnisse die Anwendung der materiellen und prozessualen Rechte sowie die Ausübung der Rechte der Parteien immer höhere rechtliche Kenntnisse voraussetzen, sodass in den meisten Fällen ein (juristischer) Experte in Anspruch genommen werden muss.

Im Bereich der streitigen Gerichtsbarkeit hat der Staat – im Einklang mit den internationalen rechtlichen Verpflichtungen17 – ein Förderungssystem einzurichten, das geeignet ist, für den Ausgleich – oder zumindest für die Minderung – der Unterschiede zu sorgen, die in den sozialen Verhältnissen, der Rechtskundigkeit und der Fähigkeit zur Rechtsverfolgung zwischen den Rechtssuchenden bestehen. Die Aufrechterhaltung dieses Förderungssystem zählt auch wegen des Erfordernisses der Achtung der verfassungsmäßigen Grundrechte zu den staatlichen Pflichten. Das Verfassungsgericht kam nämlich in mehreren Entscheidungen in Verbindung mit Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und Geltendmachung der Grundrechte zu dem Schluss, dass im Kreis der mit der Rechtsverfolgung verknüpften Grundrechte der Staat zur Schaffung rechtlicher und institutioneller Bedingungen verpflichtet ist, unter denen der Einzelne seine Ansprüche, die sich aus der Verletzung seiner Grundrechte ergeben, geltend machen kann. Darüber hinaus kann der Staat gleichzeitig – in einem größeren Rahmen – weitere Elemente des Institutionssystems zur Gewährleistung der effektiven Rechtsverfolgung verwirklichen. Hierbei erschöpft sich die Pflicht des Staates zum Schutz der Grundrechte nicht in der Bereitstellung der zur Geltendmachung des Grundrechts nötigen Rechte, Pflichten und Rechtsinstitutionen auf Gesetzesebene, sondern umfasst auch die Schaffung von Rahmenbedingungen, die jedem rechtsuchenden Bürger die Verfolgung seiner Rechte ermöglichen.

Im ungarischen Zivilverfahrensrecht wird dieses Förderungssystem, das nach ungarischer Terminologie als „Institutionssystem der rechtlichen Hilfe” bezeichnet wird im Gesetz Nr. III/1952 über die Zivilprozessordnung sowie im Gesetz XCIII/1990 über die Gebühren geregelt. Das Förderungssystem wird von den Gerichten verwaltet. Die wichtigsten Förderungsformen werden in der Folge dargestellt.

b) Kostenbefreiung und Bestellung eines Verfahrenshelfers

Die Befreiung von den Verfahrenskosten ist die umfassendste Vergünstigung: Sie beinhaltet die Befreiung von Gerichts- und Vollstreckungsgebühren sowie der im Zuge des Verfahrens entstehenden Kosten und auch die Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines Verfahrenshelfers. Die Partei hat Kosten, die sie ansonsten tragen müsste, nicht zu tragen und das Gesetz sichert die Mitwirkung einer Person, die ansonsten diese Aufgabe nur gegen Entgelt wahrnehmen würde. Einer Partei, deren Prozessführung mutwillig oder aussichtslos erscheint, kann keine Kostenbefreiung gewährt werden. Abhängig davon, ob die Kostenbefreiung der Partei nach ihren persönlichen Umständen oder nach den Umständen des Prozessgegenstands zusteht, kann zwischen persönlicher Kostenbefreiung und Kostenbefreiung nach dem Prozessgegenstand unterschieden werden. Die persönliche Kostenbefreiung gebührt jenen Personen, die zur Deckung der Prozesskosten oder eines Teils davon aufgrund ihrer Einkommens- oder Vermögenslage nicht imstande sind. Ihr Einkommen darf die aktuelle Mindesthöhe der Altersrente nicht übersteigen und sie darf über kein Vermögen verfügen oder sie muss regelmäßig Sozialhilfe empfangen. Die Kostenbefreiung nach dem Prozessgegenstand steht unabhängig von ihren Einkommens- oder Vermögenslage Parteien zu, die ein bestimmtes Recht geltend machen.18

Bei der persönlichen Kostenbefreiung bestellt das Gericht auf Antrag der Partei für die Führung des Prozesses einen am Sitz des Gerichts tätigen Anwalt zum Verfahrenshilfeanwalt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Falles erforderlich erscheint. Auf die Bestellung eines Verfahrenshilfeanwalts hat die kostenbefreite Partei kein subjektives Recht; es sei denn im konkreten Verfahren herrscht Anwaltspflicht. Das Gericht beurteilt in jedem konkreten Fall den Typ und die Komplexität des Rechtsstreits, die in der Person der Partei liegenden Umstände etc. und prüft, ob die Bestellung eines Verfahrenshilfeanwalts für die antragstellende Partei angebracht ist oder nicht. Hat die betroffene Partei keinen diesbezüglichen Antrag eingebracht, so hat das Gericht sie über das Bestehen dieser Möglichkeit zu unterrichten. Für den Verfahrenshilfeanwalt ersetzt der Bestellungsbeschluss des Gerichts die Prozessvollmacht, seine Rechtsstellung entspricht jener eines bevollmächtigten Vertreters. Somit ist er nicht zum Tätigwerden außerhalb des Sitzes des Gerichts verpflichtet, und die Bestellung erstreckt sich nicht auf das Verfahren in zweiter Instanz. Dem Verfahrenshilfeanwalt steht ein Entgelt nach der Verordnung Nr. 7/2002 des Justizministers zu. Die Kosten des Verfahrenshilfeanwalts der obsiegenden Partei trägt die unterlegene Partei.

c) Gebührenbefreiung

Die Gebührenbefreiung ist eine niedrigere Stufe der Kostenbefreiung: Die begünstigte Partei wird von der Gebührenzahlungspflicht befreit, die weiteren Begünstigungen der Kostenbefreiung stehen ihr aber nicht zu. Bei der persönlichen Gebührenbefreiung kann die Bezahlung der Gebühren von der sonst zahlungspflichtigen Partei nicht verlangt werden: Die Partei wird insgesamt, also von der Vorstreckung und Tragung der Gebühr befreit.19 Bei der Gebührenbefreiung nach dem Prozessgegenstand sind beide Parteien – seien diese natürliche oder juristische Personen – unabhängig von der Einkommens- und Vermögenslage, der Mutwilligkeit oder den Erfolgsaussichten der Prozessführung von der Bezahlung der Gebühren befreit.20

d) Gebührenanmerkungsrecht

Das Gebührenanmerkungsrecht ist eine niedrigere Stufe der Prozesskostenhilfe. Die begünstigte Partei ist nämlich nur von der Bevorschussung der Gebühr befreit. Nach Beendigung des Verfahrens hat die unterlegene Partei die Gebühr zu entrichten. Ähnlich wie bei der Kostenbefreiung steht auch diese Begünstigung nicht bei Mutwilligkeit oder Aussichtslosigkeit der Prozessführung zu. Auch hier ist zu unterscheiden, ob die Begünstigung nach persönlichen Umständen (nach Bedürftigkeit) oder nach dem Prozessgegenstand (von Einkommens- und Vermögenslage unabhängig) gebührt.21 Die Begünstigung durch das persönliche Gebührenanmerkungsrecht hat idR bedingten Charakter: Obsiegt die begünstigte Partei, hat die unterlegene Partei die nichtbezahlte Gebühr zu entrichten. Beim Unterliegen der begünstigten Partei hat sie dem Staat die Gebühr zu ersetzen.

e) Institution der Kuratel

Ein Zivilverfahren kann nicht eingeleitet bzw. durchgeführt werden, wenn es an der gesetzlichen Vertretung mangelt oder der Aufenthalt der Partei unbekannt ist. In diesen Fällen kann das Gericht diesen Mangel mit der Bestellung eines Kurators für die Partei beheben. Als Kuratoren können Anwälte oder Anwaltskanzleien bestellt werden. Dem Kurator kommt die rechtliche Stellung eines Bevollmächtigten zu, mit der Abweichung, dass er ohne besondere Genehmigung des Gerichts kein strittiges Geld oder strittige Sachen übernehmen darf. Dispositionshandlungen (Anerkenntnis, Verzicht, Vergleich) darf er nur dann setzen, wenn er damit die vertretene Partei offensichtlich vor einem Schaden bewahrt. Zur Bevorschussung der Barauslagen und des Entgelts des Kurators ist jener zu verpflichten, der die Bestellung des Kurators verlangt hat oder dessen Handlung die Bestellung erforderlich machte. Zur Erleichterung der Prozessführung enthält das Bürgerliche Gesetzbuch22 weitere ergänzende Regeln zur Stellvertretung; das sind die „Vertretung der an der Führung seiner Geschäfte gehinderten Person” und das „Institut des vorläufigen Kurators”. Die Vormundschaftsbehörde bestellt einen Kurator für Personen, die durch bestimmte Umstände an der Führung ihrer Geschäfte gehindert sind, insbesondere, wenn sie sich an einem unbekannten Ort aufhalten oder ihr Aufenthaltsort zwar bekannt ist, sie aber an einer Rückkehr gehindert sind. Die vorläufige Kuratorbestellung kann Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit haben oder nicht. So bestellt die Vormundschaftsbehörde einen vorläufigen Kurator, wenn die Eltern, der Vormund oder der Kurator wegen einer Rechtsnorm, einer Verfügung der Vormundschaftsbehörde, einer Interessenskollision oder wegen faktischer Hürden nicht handeln dürfen. Ein vorläufiger Kurator ist auch dann zu bestellen, wenn eine Handlung dringend geboten ist, aber die handlungsunfähige oder beschränkt handlungsfähige Person über keinen gesetzlichen Vertreter verfügt oder dessen Identität nicht festgestellt werden kann. Ein vorläufiger Kurator ist weiters zu bestellen, wenn dies zum Schutz der Rechte der unbekannten, abwesenden oder an der Führung seiner Geschäfte gehinderten Person erforderlich ist.

f) Kritik und Reform der Prozesskostenhilfe

Die Verwaltung des soeben dargestellten Förderungssystems, die Zuerkennung und Auszahlung der Unterstützungen, stellt für die Gerichte zusätzlich zur Rechtssprechungstätigkeit einen erheblichen Mehraufwand dar. Die Genehmigung der Kostenbefreiung hat die Partei bei Gericht zu beantragen, und zwar der Kläger vor der Einleitung des Prozesses oder bis zur Fällung der das Verfahren in erster Instanz abschließenden Entscheidung und der Beklagte spätestens mit Einbringen der Berufung. Die Partei hat mit der Antragstellung anhand der erforderlichen Formulare ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse gemäß der VO Nr. 2/1968 des Justizministers offen zu legen. Das Gericht entscheidet über die Gewährung der Kostenbefreiung anhand dieser Formulare und der sonstigen Umstände des Prozesses. Über den Antrag auf Kostenbefreiung entscheidet derselbe Richter (Richtersenat), der auch das Verfahren durchführt. Er führt auch die Kontrolle der Kostenbefreiung durch. Das Bestehen der Voraussetzungen der Kostenbefreiung kann das Gericht in jeder Phase des Prozesses prüfen. Sind die Voraussetzungen nicht mehr gegeben, wird die Begünstigung entzogen und die Partei zur Zahlung der bisher nicht bezahlten Gebühr, der durch den Staat bevorschussten Kosten und zur Hinterlegung der Prozesskostenkaution verpflichtet. In diesem Aufgabenbereich kann der Richter später durch einen gerichtlichen Sachbearbeiter entlastet werden, der unter Anleitung des Richters die Gewährung bzw. den Entzug der Prozesskostenbefreiung verfügen kann. Die Begründetheit des Antrags auf Kostenbefreiung ist aber vom Richter zu untersuchen, da der gerichtliche Sachbearbeiter nur die Entscheidung des Richters „umsetzt”, indem er eine schriftliche Ausfertigung erstellt. Ebenfalls zu den Aufgaben des Richters gehören die Entscheidung über die Berechtigung der nach der Bedürftigkeit zustehenden Unterstützung. Somit werden die Kapazitäten des qualifizierten Rechtsanwenders bei der Rechtsfindung in der Sache selbst durch die Feststellung der Bedürftigkeit und der Berechtigung zum Empfang der Hilfen im erheblichen Maße eingeschränkt. Des Weiteren stellt dies zwar keinen Grund für eine Befangenheit des Richters, aber sehr wohl eine Gelegenheit zur Behauptung einer solchen dar.

Auch aus anderen Gesichtspunkten kann Kritik an der geltenden Prozesskostenhilferegelung geübt werden. So steht die Kostenbefreiung – aufgrund der Feststellung der Bedürftigkeitsschwelle – nur einem engen Personenkreis zur Verfügung; innerhalb dieses Kreises bietet sich keine Möglichkeit zur angemessenen Verwendung der staatlichen Ressourcen. Der Grund dafür ist, dass die Befreiung immer nur zu 100 Prozent oder gar nicht gewährt werden kann. Andererseits wird ein erheblicher Teil der Kostenbegünstigungen nicht nach der Bedürftigkeit, sondern nach dem Gegenstand des Falles gewährt, was wiederum eine unvernünftige Verwendung von Budgetmitteln darstellt. Auch der Umstand, dass die zur Prozesskostenhilfe verwendbaren Mitteln knapp bemessen sind und damit zur angemessenen Entlohnung der Verfahrenshelfer, ergo zur Anregung zu qualitativ hochwertiger Arbeit, ungeeignet sind, zeigt nicht in Richtung einer effektiven, die Arbeit des Richters erleichternden, Prozesskostenhilfe. Eine Besonderheit des ungarischen Systems stellt der Umstand dar, dass nicht einmal ansatzweise eine freie Wahl des Verfahrenshelfers möglich ist, weshalb das Vertrauen in diese Institution auch gering ist.

Die seit 2002 amtierende Regierung formulierte in ihrem Programm das Erfordernis, für sozial Bedürftige ein System zu schaffen, das den Begünstigten bei der Geltendmachung ihrer Rechte und der Lösung ihrer Rechtsstreitigkeiten fachliche Beratung und prozessrechtliche Vertretung bietet. Ein Entwurf zur Durchführung dieses Programms wurde vorbereitet; er erstreckt sich sowohl auf die Regeln der Inanspruchnahme der derzeit geltenden Unterstützungsformen als auch auf Bestimmungen zu neuen Formen der Unterstützung. Ziel ist die Beseitigung der Mängel der Unterstützungsarten durch den Gesetzgeber und die Schaffung von Möglichkeit zur Finanzierung einzelner, heute nicht gewährter rechtlicher Leistungen (anwaltlicher Unterstützung außerhalb von Prozessen). Als Resultat könnte ein komplexes, einheitliches, überschaubares und effektives System der Verfahrenshilfe entstehen. Seine Komplexität wäre darin begründet, dass es sowohl in gerichtlichen Verfahren als auch außergerichtlich den Bedürftigen Unterstützung gewährt. Es wendet ein grundsätzlich einheitliches Kriteriensystem der Bedürftigkeit an. Transparenz wird dadurch gewährleistet, dass die Feststellung der Bedürftigkeit und die Auszahlung der Unterstützungen langfristig einer von den Gerichten getrennten, eigenen, darauf spezialisierten Organisation anvertraut wird. Auf diese Weise soll nicht nur die Prozesskostenhilfe rationalisiert und eine gründliche und fachgerechte Prüfung der Bedürftigkeit ermöglicht werden, es wird auch eine deutliche Entlastung der Gerichte, insbesondere der Richter selbst, angestrebt.

Die beabsichtigte Regelung plant bedeutende Reformen hinsichtlich der Unterstützungsformen und verfolgt dabei zwei Ziele: Der Staat soll nach Möglichkeit breiteren gesellschaftlichen Schichten Unterstützung leisten, gleichzeitig soll aber das Kriteriensystem der Unterstützung im Interesse der rationalen Verwendung staatlicher Ressourcen differenziert und verschärft werden. Für das erste Ziel empfiehlt der Entwurf die Feststellung einer höheren Summe als Schwelle der Bedürftigkeit für die persönliche Kostenbefreiung. Nach dem Entwurf soll die Einkommensgrenze auf das Zweieinhalbfache steigen. Gleichzeitig hält er die Regel aufrecht, nach der auch Personen, die über ein Einkommen verfügen, welches die Schwelle der Bedürftigkeit überschreitet, die Unterstützung dennoch bekommen können, wenn andere persönliche Umstände ihnen die Bestreitung der mit dem Prozess verbundenen Aufgaben verwehren. Dieser Vorschlag wird zweifellos bewirken, dass die Gerichte über eine höhere Zahl von Kostenbefreiungsanträgen entscheiden werden müssen, allerdings nur solange, bis ihnen die Kompetenzbereiche in Verbindung mit der Kostenbefreiung allgemein entzogen werden.

Das zweite Ziel, eine Verringerung unnötiger Ausgaben, ist Ausgangspunkt mehrerer Vorschläge. Der erste Vorschlag, der den Budget-Mehrbelastungen durch die Anhebung der Einkommensgrenze zur Kostenbefreiung etwas entgegenwirkt, ist die Differenzierung der Prozesskostenbefreiung dahingehend, dass die Partei nur jene Art der Unterstützung in jenem Ausmaß bekommt, die zur Rechtsverfolgung unbedingt erforderlich ist. Nach den Plänen soll die Prozesskostenbefreiung, die umfassendste Begünstigung, in zwei Richtungen reformiert werden: Einerseits soll sie i.d.R. nur die Befreiung von der Vorleistung der mit dem Prozessieren verbundenen Kosten darstellen (ähnlich wie das Institut der Gebührenanmerkung), andererseits soll nur ein kleinerer Kreis von Parteien die Befreiung von Vorstreckung und Tragung der Kosten (die heutige persönliche Kostenbefreiung) genießen. In beiden Fällen ist zu gewährleisten, dass der Staat die Parteien nur zu einem Teil von der Vorstreckung und der Tragung der Kosten befreit; über die Höhe dieses Teils und die Art der Begünstigung (prozentuell festgelegtes Maß oder die Befreiung von den Kosten, welche im Zuge der Prozesshandlungen entstehen) soll laut Entwurf grundsätzlich von der Behörde, die das Maß der Bedürftigkeit beurteilt, entschieden werden. Hat eine bedürftige Partei im Laufe oder am Ende des Verfahrens Kosten in bestimmter Höhe zu bezahlen, so kann die Verlängerung der Zahlungsfrist oder die Möglichkeit der Ratenzahlung, die ebenfalls Elemente der Kostenbefreiung wären, eine weitere Erleichterung für sie darstellen. Der Entwurf geht davon aus, dass die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte im Hinblick auf die klassische rechtliche Unterstützung nur gegenüber Privatpersonen besteht. Deshalb sieht er die Gewährung der Kostenbefreiung grundsätzlich ausschließlich für Privatpersonen und nur in Ausnahmefällen auch für Organisationen vor. Wirtschaftliche Organisationen sind davon gänzlich ausgeschlossen. Die Bestimmung, wonach juristische Personen nicht in den Genuss der Kostenbefreiung kommen können, wurde allerdings aus der ungZPO entfernt, sodass die theoretische Möglichkeit für diese Maßnahme besteht. Unter den Begünstigungen, die nach Bedürftigkeit zuerkannt werden, gibt es auch solche, die von Unternehmen in Anspruch genommen werden können. So ist etwa die Gewährung der Gebührenanmerkung an Unternehmen bereits alltägliche Praxis.

Eine Maßnahme zur Kostensenkung ist die Abschaffung der nach dem Prozessgegenstand gewährten Unterstützung – zumindest im Bereich der Kostenbefreiung. Der Entwurf folgt der Logik, dass bei einer Kostenbefreiung anhand des Prozessgegenstandes die Aufgabe des Staates darin besteht, die Partei in die Lage zu versetzen, unabhängig von ihrer Einkommens- und Vermögenslage zur sofortigen Rechtsverfolgung, somit zur unverzüglichen Einleitung des Verfahrens zur Geltendmachung ihrer Rechte imstande zu sein. Die Partei darf keinen Nachteil dadurch erleiden, dass sie die Gebühren des Prozesses oder die mit der Beweisführung verbundenen Kosten nicht bezahlen kann bzw. der Nachweis der Bedürftigkeit zu zeitaufwendig ist. Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, die Parteien unabhängig von ihrer Bedürftigkeit von den Kosten des Verfahrens zu befreien. Laut Entwurf ist den Parteien in Prozessen mit Kostenbefreiung aufgrund des Prozessgegenstandes primär die Befreiung von der Vorstreckungspflicht zu gewähren. Nur den aus sozialen Gründen darauf angewiesenen Personen soll die Prozesskostenbefreiung und die Inanspruchnahme eines Verfahrenshilfeanwalts zustehen. Des Weiteren ist es angebracht, auch hier den bei der persönlichen Prozesskostenbefreiung geltenden Grundsatz anzuwenden, wonach eine mutwillige oder aussichtslose Prozessführung nicht unterstützt werden darf.

Die Effektivität der Prozesskostenhilfe hängt wesentlich von der Qualität der Arbeit jener Juristen ab, die die Bedürftigen vertreten. Auch dazu enthält der Entwurf Vorschläge. Es beabsichtigt, dass die Teilnahme im Prozesskostenhilfe-System auf freiwilliger Basis erfolgt; in einem bestimmten Bereich würde das den zivilen Rechtsschutzorganisationen und öffentlichen Notaren die Mitwirkung am System durch Anbieten von Leistungen außerhalb des Prozesses ermöglichen. Der Entwurf ändert auch die Grundlage der Mitwirkung der Juristen, die heute der Bestellungsbeschluss des Gerichts darstellt. Den Beschluss kann die Partei nicht beeinflussen, der Anwalt kann die Bestellung – außer in speziellen Fällen – nicht ablehnen. Laut Entwurf könnten die Parteien, die diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, den Erbringer dieser Dienstleistung selbst auswählen. Mit dem „Beitritt” eines Juristen zum Prozesskostenhilfe-System verpflichtet er sich zur Vertretung der sich an ihn wendenden Parteien, es sei denn, er dürfte den Fall auch sonst nicht annehmen. In diesem Modell würde das verfahrende Gericht lediglich darüber entscheiden, ob der kostenbefreiten Partei auch die Inanspruchnahme eines Verfahrenshilfeanwalts zusteht. Im Entwurf wird weiters vorgeschlagen, das gesetzlich geregelte Entgelt des Verfahrenshilfeanwalts zu erhöhen und von der Anzahl der Verhandlungen abhängig zu machen; auch soll der Staat das Entgelt direkt nach den Verhandlungen vorstrecken. Beim Obsiegen könnte der Verfahrenshilfeanwalt von der unterlegenen Partei ein Entgelt in marktüblicher Höhe verlangen. Das vom Staat vorgestreckte Entgelt hat die unterlegene Partei an den Staat zu bezahlen. Im Falle eines Unterliegens hätte er keinen über die vorgestreckte Summe hinausgehenden Entgeltsanspruch. Diese Regelung würde das Budget weniger belasten und es zusammen mit den anderen Elementen der Reform ermöglichen, dass ein fachlicher Wettbewerb und eine kontinuierliche fachliche Qualität auf dem Dienstleistungsmarkt entsteht und dass eine Vertrauensbeziehung zwischen den Mandanten und dem Anbieter der Dienstleistung entsteht, wie sie für eine qualitativ hochwertige Dienstleitung unerlässlich ist.

Der Entwurf betont, dass auch unabhängig von Gerichtsverfahren Formen der Unterstützung eingeführt werden sollten: als erster Schritt die Rechtsberatung und die Verfassung von Urkunden, die ebenfalls auf freiwilliger Basis von den unabhängigen Anbietern verrichtet würden. Bei den Unterstützungen außerhalb der Gerichtsverfahren wäre dasselbe, strenge und differenzierte Kriteriensystem der Bedürftigkeit anzuwenden wie bei Begünstigungen in Verbindung mit Gerichtsverfahren. Es würden durch dieses System die Chancen auf eine außergerichtliche Erledigung von Rechtsstreitigkeiten und Beratung über die Möglichkeit zur Vermeidung von Prozessen steigen. In Fällen, in denen ein Prozess unvermeidlich ist, könnte es zu einer gründlicheren, fachgerechteren Formulierung des Anspruchs kommen, was sich auf die Rechtssprechungstätigkeit der Gerichte positiv auswirken würde. Die Gewährung und Finanzierung von Unterstützungen zu Dienstleistungen außerhalb von Prozessen würde eine von den Gerichten getrennte, zu diesem Zweck gegründete Organisation (Büronetz mit geografischer Verteilung) durchführen, die unter der Aufsicht des Justizministeriums stünde. Ziel bei der Einrichtung einer solchen Organisation ist, dass diese im zweiten Abschnitt der rechtlichen Hilfeleistung auch die Verwaltung des Systems der zu Verfahren gewährten Unterstützungen übernimmt. Der Entwurf schreibt dies mit Ablauf des zweiten Jahres ab dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Prozesskostenhilfe vor. Damit werden die Gerichte dann gänzlich von den bereits beschriebenen Aufgaben befreit. Das einheitliche Unterstützungssystem innerhalb und außerhalb gerichtlicher Verfahren wird die Herausbildung einer für die zentrale Verwaltung der Unterstützungen ausgebildeten Rechtsanwenderschicht und die Hintanhaltung eventueller Missbräuche ermöglichen. Des Weiteren wird es den Staat in die Lage versetzen, über die Verwendung der für die rechtliche Unterstützung budgetierten Gelder, über die Funktion des Unterstützungssystems und über die Zusammensetzung der Ansprüche regelmäßig einen Überblick zu erhalten.

Die Bedürftigkeit in Bezug auf die rechtliche Unterstützung und die gewährten Unterstützungen werden also in einer eigens geschaffenen Rechtsnorm geregelt; aus der ungZPO und deren Durchführungsverordnungen werden die Vorschriften über die Finanzierung der Prozesskostenbefreiung entfernt. In der ersten Phase der Reform werden die Gerichte über die Anträge auf Prozesskostenbefreiung bereits nach diesem gesonderten Gesetz entscheiden.

Die Modernisierung des rechtlichen Unterstützungssystems ist auch in Hinblick auf die Verpflichtungen Ungarns bezüglich der EU-rechtlichen Rechtsangleichung keine unwichtige Aufgabe. Vor kurzem wurde die Richtlinie 2002/8/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen angenommen.23 Die Richtlinie hat zum Ziel, dass derjenige, der in einem anderen Staat einen Prozess einleitet oder von einem solchen betroffen ist, unter dem Aspekt des Rechts auf rechtliche Unterstützung genauso zu behandeln ist wie jemand, der über einen Wohnsitz im Staat des Verfahrens verfügt. Die Prozesskostenhilfe sollte gemäß der Richtlinie die vorprozessuale Rechtsberatung zur außergerichtlichen Streitbeilegung, den Rechtsbeistand bei Anrufung eines Gerichts und die rechtliche Vertretung vor Gericht sowie eine Unterstützung oder Befreiung von den Prozesskosten umfassen. Der Mitgliedsstaat des Prozessgerichts sollte in diesem Umfang die Prozesskostenhilfe gewährleisten. Der die Prozesskostenhilfe finanzierende Staat kann hinsichtlich des Umfangs der Prozesskostenhilfe und der Bedürftigkeit sein eigenes Recht anwenden, bei der Festlegung dieser Punkte sind aber die Bestimmungen der Richtlinie zu berücksichtigen. So kann z.B. der Antragsteller nachweisen, dass sein Einkommen oder Vermögen zwar den Schwellenwert im Mitgliedsstaat des Verfahrens nicht überschreitet, dass er aber dennoch nicht in der Lage ist, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Laut Richtlinie sind die Regelungen der Mitgliedsstaaten bis zum 30. November 2004 anzugleichen, die Regelungen über die vorprozessuale Rechtsberatung müssen bis zum 30. Mai 2006 harmonisiert werden. Daraus folgt, dass im Zuge der Vorbereitungen des Gesetzes über die Prozesskostenhilfe die Anforderungen der Richtlinie bereits berücksichtigt werden müssen. Die Verpflichtung zur Rechtsangleichung geht in der ersten Stufe in zwei Richtungen: die Festlegung der Bedürftigkeitskriterien und des Kreises der Berechtigten und die Organisation der Übermittlung der Anträge auf Prozesskostenhilfe bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug. Solange die Gerichte die Feststellung der Bedürftigkeit durchführen, werden sie auch über die von Unionsbürgern in Verfahren in Ungarn vorgebrachten Anträge entscheiden, doch wird die Realisierung der langfristigen Pläne auch dies erfassen müssen. Jene Organisation, deren Aufgabe die Entscheidung über alle Formen der Prozesskostenhilfe sein wird, wird auch über die aus der EU stammenden Anträge entscheiden und die in die EU weiterzuleitenden Anträge aufnehmen und übermitteln.

2. Beweisführung und Sachverständigenbeweis

Auf die Dauer von Prozessen hat neben den immer komplizierter werdenden Rechtsverhältnissen auch der technische Fortschritt erheblichen Einfluss. Die gerichtliche Beweisführung ist sehr komplex; in zahlreichen Prozessen ist ein Sachverständigenbeweis notwendig, der idR erheblichen Zeitaufwand mit sich bringt. Die Inanspruchnahme eines Sachverständigen ist dann angebracht, wenn das Gericht für die Entscheidung der Streitsache erhebliche Tatsachen mangels erforderlicher Fachkenntnisse nicht selbst beurteilen kann. Der Sachverständige ist aus dem Verzeichnis der Gerichtssachverständigen oder aus dem Kreis der zur Sachverständigentätigkeit berechtigten Institutionen zu bestellen. Ein anderer Sachverständiger kann nur aus wichtigem Grund – wenn z. B. unter den Gerichtssachverständigen keiner über die entsprechenden Fachkenntnisse verfügt – bestellt werden. Die Organisation der Justizsachverständigen besteht grundsätzlich aus jenen Personen, die in dem vom Justizministerium geführten Namensverzeichnis aufscheinen, die als selbständige Sachverständige oder als Angestellte eines Sachverständigeninstituts tätig sind sowie aus sogenannten Ad-hoc-Sachverständigen, die im Verzeichnis nicht aufscheinen. Letztere werden vom Gericht bei einem Mangel an anderen Sachverständigen bestellt. Die Dauer der Prozesse wird von der Sachverständigentätigkeit in zweierlei Hinsicht beeinflusst: einerseits durch die Regelungen der ungZPO über die Vorlage von Sachverständigengutachten, andererseits durch die Funktionsprobleme der Sachverständigenorganisation, die grundsätzliche Auswirkungen auf Zusammensetzung und Aktualität des Wissensstands der Sachverständigen haben. In der Folge werden die aktuellen Probleme unter diesen beiden Gesichtspunkten dargestellt.

Das Justizministerium hat die Schaffung eines neuen Gesetzes über die Sachverständigentätigkeit für dieses Jahr angekündigt. Dadurch sollen die weit verstreuten Regelungen dieser Rechtsmaterie in verschiedensten Rechtsquellen ersetzt werden. Über den Gesetzesentwurf wird derzeit abgestimmt; damit sollen die in beiden Richtungen auftretenden Probleme gelöst werden.

Im Sinne der ungZPO ist der Sachverständigenbeweis im Prozess in jedem Verfahrensstadium zulässig, in dem das Gericht über alle Daten verfügt, die zur Anfertigung eines verwendbaren Sachverständigengutachtens notwendig sind.24 Für eine rasche Beendigung des Prozesses ist es also auch erforderlich, dass die Parteien die notwendigen Beweisanträge vorbringen und dem Gericht alle Daten zur Verfügung stellen, die für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens benötigt werden. In Ausnahmefällen ermöglicht es die ungZPO, dass die Partei die Beweisführung (und damit auch die Führung des Sachverständigenbeweises) gleichzeitig mit der Einleitung des Verfahrens oder davor beantragt. Hiefür muss sie allerdings glaubhaft machen, dass die Beweisführung im Laufe des Prozesses erfolglos wäre oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten durchgeführt werden könnte. Gemäß dem Gesetz Nr. CX/1999 kann die vorzeitige Beantragung des Beweisverfahrens nicht nur mit einer späteren Gefährdung begründet werden, sondern auch durch die Glaubhaftmachung, dass die vorgezogen durchgeführte Beweisführung die Durchführung des Verfahrens in angemessener Frist fördert. Der Entwurf, der auch die Durchführbarkeit eines Sachverständigenbeweises berührt, versucht die Regelung durch Eröffnung der Möglichkeit zu mildern, dass die Partei die Bestellung eines Sachverständigen nicht gleichzeitig mit der Eröffnung des Verfahrens oder in Hinblick darauf beantragen muss. Dieser neue Fall der Sachverständigenbestellung dient nämlich nicht nur der raschen Beendigung der Rechtsstreitigkeit, sondern sogar deren völliger Vermeidung. Mit der Einbringung des Antrags müsste die Partei also nur die Kosten des Sachverständigenbeweises vorstrecken. Es wäre nicht mehr Gegenstand einer gerichtlichen Abwägung, ob die Inanspruchnahme des Sachverständigen notwendig ist oder ob der Partei alle erforderlichen Daten zur Verfügung stehen, damit in der konkreten Fachfrage ein unter allen Aspekten fundiertes Gutachten erstellt wird. Die Partei würde also mit dem Tragen der Kosten der Gutachtenerstellung durch den Sachverständigen das Risiko auf sich nehmen, dass das Gutachten in einem potentiellen Prozess für ein Gerichtsurteil nicht ausreicht und ein neuer Sachverständiger bestellt werden muss. Die Kosten dieses Gutachtens würde die Partei im Falle des Unterliegens im Prozess tragen müssen und könnte sie auch nicht auf die Gegenseite abwälzen. Gleichzeitig kann die Partei hoffen, dass die Gegenseite – in Kenntnis des Gutachtens – kein Verfahren anstrebt oder außergerichtlich eine Streitbeilegung versucht. Dieser Vorschlag würde die Bestellung eines Sachverständigen von der Prozessführung völlig unabhängig machen, daher könnte die Gegenseite (deren Person dem Gericht nicht unbedingt bekannt wäre) der beweisführenden Partei auch nicht zur Duldung der Bestellung verpflichtet werden. Dies engt den Kreis der Gutachten, die in einem solchen – selbständigen, außergerichtlichen – Verfahren angeordnet werden können, ohne Zweifel ein. Der Vorschlag ist ein weiteres Element jener Bestrebungen, mit denen der Gesetzgeber schon bisher die Schaffung einer Beweisführungsregelung beabsichtigt hat, die im erhöhten Maße auf einem Konsens der Parteien beruht. Es kann nämlich nicht gesagt werden, dass die Sachverständigengutachten breite Akzeptanz finden würden; im Gegenteil, die Bestreitung des Gutachtens ist ein selbstverständliches Mittel für die an einer Verschleppung des Verfahrens interessierte Partei geworden. Eine auf beiderseitigem Konsens der Parteien beruhende Beweisführung soll § 177 Abs. 3 ungZPO ermöglichen, wonach das Gericht vor Bestellung des Sachverständigen bei Bedarf beide Parteien anhört, auch mit dem Zweck, den Gegner der die Beweisführung beantragenden Partei zur Abgabe einer Erklärung über die Person des Sachverständigen aufzufordern und gleichlautende Vorschläge der Parteien zur Person des Sachverständigen – soweit der Sachverständige auch nach Ansicht des Gerichts kompetent ist – zu berücksichtigen.

Gemäß § 182 ungZPO ist das Sachverständigengutachten bei Erscheinen vor Gericht oder zu einem vom Gericht bestimmten Zeitpunkt schriftlich abzugeben; letzteres kommt in der Praxis am häufigsten vor. Nach der vom Gesetz Nr. CX/1999 eingeführten Bestimmung besteht sogar die Möglichkeit, dass das Gericht den Sachverständigen die Erstellung eines vorläufigen Arbeitsplans (über den Zeitplan und die Kosten der Sachverständigentätigkeit) aufträgt (§ 174 Abs. 5 ungZPO). Die Partei kann ihren Beweisantrag in Kenntnis des Untersuchungsvorgangs, des Zeit- und Kostenaufwands, der Arbeitsmethoden und der Erfahrung des Sachverständigen aufrecht erhalten. Ein Arbeitsplan ist daher geeignet, die Akzeptanz des Gutachtens zu steigern, und das Gericht kann in Kenntnis des Arbeitsplans eine angemessene Frist zur Gutachtenerstellung festlegen. Trotz dieser Regeln ist die Verzögerung der Gutachtenerstellung durch den Sachverständigen ein erhebliches Problem, das auf mehrere Gründe zurückgeführt werden kann, z. B. Beschränktheit des Marktes, niedrige Honorare, Schwäche der Sanktionen, etc. Um dies in Zukunft zu vermeiden, sieht der Entwurf an mehreren Stellen Verschärfungen für säumige Sachverständige vor, so etwa die Möglichkeit, den Sachverständigen vorführen zu lassen oder mit Geldbuße zu bestrafen oder das Sachverständigenhonorar durch das Gericht herabzusetzen. Zugleich soll es dem Sachverständigen ermöglicht werden, die Entstehung solcher Situationen zu vermeiden. Seine Arbeitsauslastung könnte er im Verzeichnis der Sachverständigen anmerken lassen, sodass das bestellende Gericht informiert wäre, welchen Sachverständigen es im Interesse einer frühestmöglichen Gutachtenerstellung bestellen sollte. Diese Regel könnte den Widerspruch aufgrund einer aus der Sachverständigentätigkeit herrührenden Verpflichtung auflösen: Der Sachverständige verpflichtet sich, den Bestellungen auf seinem Fachgebiet nachzukommen, und zwar ohne nach Zeitaufwand, Schwierigkeit oder Rentabilität eine Auswahl zu treffen. Gleichzeitig ist die Sachverständigentätigkeit eine unternehmerische, sodass die Verletzung der oben genannten Pflicht bei Häufung von Bestellungen „notwendig” wird.

Eine Reform des organisatorischen Rahmens der Sachverständigentätigkeit sollte ebenfalls die Verfahrenskonzentration positiv beeinflussen. Nach den geltenden Regelungen kann der Sachverständige als selbständiger Sachverständige oder als Angestellter eines Sachverständigeninstituts tätig werden. Die Sachverständigentätigkeit ist jedoch eindeutig auch eine unternehmerische; deshalb ist es angebracht – wenn es nicht um Budgetorgane (Sachverständigeninstitute) geht –, dass die Organisationsformen der unternehmerischen Tätigkeit im Allgemeinen auch für die Sachverständigentätigkeit zugänglich gemacht werden. Für den selbständigen Sachverständigen soll nicht nur die Tätigkeit als Einzelunternehmer offen stehen. Laut Entwurf soll die Sachverständigentätigkeit auch in einer unternehmerischen Gesellschaftsform durchgeführt werden können, als Teil des Tätigkeitsbereichs der unternehmerischen Gesellschaft. Das Gesetz richtet aber weder eine neue Gesellschaftsform für die Gerichtssachverständigentätigkeit ein, noch schreibt sie die Verwendung einer bestehenden Gesellschaftsform verpflichtend vor. Es bleibt der Praxis überlassen auszuwählen, welche die geeignetste Gesellschaftsform für die Sachverständigentätigkeit ist. Hierbei wird die Tatsache, dass diese Tätigkeit typischerweise kein „Lebensberuf”, sondern eher eine Fähigkeit ist, die durch kontinuierliche fachliche Praxis erworben und erhalten wird, vermutlich eine große Rolle spielen. Wahrscheinlich müssen Regelungen, die auch im Rahmen des Gesellschaftsrechts die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Sachverständigen gewährleisten, geschaffen werden. Deshalb empfiehlt der Entwurf, dass das leitende Organ der Gesellschaft bei der Beantwortung der vom Gericht gestellten fachlichen Frage dem handelnden Sachverständigen keine Weisung erteilen darf. Dies steht damit in Verbindung, dass das Gericht zwar die Gesellschaft zur Erstellung des Gutachtens bestellen würde, die Auswahl des tätig werdenden Sachverständigen wäre aber bereits Aufgabe der in der Gesellschaft mit dieser Kompetenz ausgestatteten Person. Dies würde die Pflicht zur persönlichen Erstellung des Sachverständigengutachtens oder die persönliche Verantwortung des Sachverständigen jedoch nicht berühren. Der Sachverständige wäre nach wie vor persönlich für die Einhaltung der fachlichen Regeln verantwortlich. Hinsichtlich der materiellen Haftung für durch die Verletzung der Rechtsvorschriften verursachte Schäden könnte das Tätigwerden als Gesellschaft andere Perspektiven eröffnen. Der Entwurf nimmt dahingehend Stellung, dass die Vorschreibung der Bedingung, nach der die Sachverständigentätigkeit der einzige und ausschließliche Tätigkeitsbereich der Gesellschaft sein muss, nicht erforderlich ist.25 Wenn aber die Gesellschaft diese Tätigkeit in ihren Tätigkeitsbereich aufnimmt, verpflichtet sie sich (wie ein Sachverständiger im Allgemeinen), den Bestellungen vor allen anderen Tätigkeiten nachzukommen. Sinnvollerweise ist auch auf diesen Bereich jener Passus des Gesellschaftsrechts anzuwenden, wonach eine Gesellschaft eine Tätigkeit, die an eine Qualifikation gebunden ist, nur dann ausüben darf, wenn es unter den an der Tätigkeit der Gesellschaft persönlich teilnehmenden Mitgliedern, Arbeitnehmern oder zu Gunsten der Gesellschaft tätig werdenden Personen mindestens eine Person gibt, die den in der Rechtsnorm festgelegten Qualifikationserfordernissen entspricht.26 Diese Personen werden die im Verzeichnis aufscheinenden Sachverständigen sein. Die Gesellschaft als „bestellbarer Sachverständiger” wird ebenfalls im Verzeichnis aufscheinen.

Das Niveau der Sachverständigengutachten hängt in hohem Maße von den Bedingungen des Wettbewerbs auf dem Markt der Sachverständigen ab. Der Entwurf sieht es als evident an, dass die Erstellung von Sachverständigengutachten keine behördliche Aufgabe ist, sodass sich die Frage der Einrichtung eines den Markt bestimmend regulierenden Regelsystems gar nicht stellt. Grundlage des Marktes ist somit, dass die Rechtsnorm – mit Ausnahme der fachlichen, moralischen und sonstigen Bedingungen zur Aufnahme ins Verzeichnis – an der Sachverständigentätigkeit interessierten Personen keine weiteren Bedingungen auferlegt. Die Rechtsnorm darf zudem auf keinem der Fachgebiete wettbewerbsbeschränkende Regelungen einführen, die das Recht zur Erstellung eines Gutachtens innerhalb eines Fachgebiets an einen bestimmten Sachverständigen delegieren. Diesen Anforderungen kann die geltende Regelung nicht gerecht werden: In vielen Bereichen bestimmt die Regelung das zur Gutachtenerstellung berechtigte Organ27. Die Bestimmungen bedürfen einer gründlichen Überprüfung, da die ausschließliche Berechtigung zur Erstellung eines Gutachtens nur dort beibehalten werden darf, wo sich die Frage gar nicht stellt, ob die fachliche Kompetenz bei anderen Organisationen (auf dem Markt) gegeben ist oder ob neben den Bestellten auch andere über die Berechtigung zur Ausübung der fachlichen Tätigkeit verfügen. Der Richter kann dadurch aus einem breiteren Spektrum wählen. Dies würde vor allem dann gelten, wenn die Regelung des allgemeinen Vorrangs staatlicher Einrichtungen bei der Auftragsvergabe aufgehoben werden würde. Es kann natürlich Bereiche geben, wie z.B. nationale Sicherheit oder Landesverteidigung, wo der Staat auch unmittelbar die zeitgerechte Gutachtenerstellung garantieren muss (unter Aufrechthaltung eines ausschließlich verfahrenden Apparats), jedoch muss er bei der Festlegung dieser „Privilegien” restriktiv vorgehen. Der Betrieb staatlich finanzierter Sachverständigeninstitutionen für gewisse Zuständigkeiten kann aber nicht als wettbewerbsbehindernder Faktor gewertet werden, da dies vor allem der rationalen, den Ansprüchen entsprechenden Verwendung von Budgetmitteln dient. Genauso angemessen ist die landesweite Zuständigkeit der selbständigen Sachverständigen: Sie ermöglicht dem Richter die Wahl zwischen einem in der Nähe des Sitzes tätigen Sachverständigen oder einem weiter entfernten, aber zur Gutachtenerstellung dennoch mehr geeigneten (etwa nach den Erfahrungen des Richters) Experten.

Eine andere grundsätzliche, den Wettbewerb bestimmende Frage sind die Kriterien zur Aufnahme in das Verzeichnis. Das Verzeichnis der Gerichtssachverständigen wird vom Justizministerium geführt, die Aufnahme erfolgt aufgrund der Entscheidung des Justizministers. Bedingung für die Aufnahme ist, dass die Person keine Vorstrafen hat und die höchste auf dem jeweiligen Fachgebiet erreichbare Ausbildung sowie eine fünf- oder zehnjährige Berufserfahrung (je nachdem, ob auf dem konkreten Fachgebiet die mittlere oder die höhere Ausbildung die höchste erreichbare ist) vorweisen kann. Der Entwurf betont besonders die Fachausbildung höherer Stufe, damit nur Experten mit besonderer Qualifikation zu Sachverständigen werden. Deshalb sind neben den Anforderungen für die jeweilige Sparte auch die sonstigen Erfordernisse zur Aufnahme in das Verzeichnis und die Vorschreibung einer kontinuierlichen Weiterbildung nicht zu vernachlässigen. Der Entwurf würde dies richtigerweise auch von den bereits heute tätigen Sachverständigen verlangen. Das Verfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen die Vorschreibung solcher „sonstigen Erfordernisse” für nicht verfassungswidrig erachtet. Eine grundsätzliche Anforderung an diese Regelung ist, dass sie für die Erfüllung dieser Kriterien eine angemessene Frist setzt.

Neben der Vorschreibung einer Fachausbildung in der jeweiligen Sparte und der Weiterbildung – die sich auch auf die Berechtigung zur Tätigkeit als Sachverständiger auswirkt – betont der Entwurf auch die Vermittlung juristischer Kenntnisse, auch außerhalb eines schulischen Rahmens. Demnach sollen in der Zukunft nur jene im Verzeichnis der Sachverständigen aufscheinen, die an solchen juristischen Ausbildungen bzw. nach der Aufnahme an Weiterbildungen teilnehmen. Zur raschen Arbeitsverrichtung des Sachverständigen sind gründliche Kenntnisse des Prozessrechts, die Aneignung der juristischen Kenntnisse über die Sachverständigentätigkeit, die Durchführung von Untersuchungen, Unvereinbarkeiten, Ausschlussgründe und Entgeltsansprüche der Sachverständigen notwendig. Mit diesen Kenntnissen kann z. B. vermieden werden, dass sich die Gegenseite erfolgreich auf das Vorliegen von Ausschlussgründen in Bezug auf den Sachverständigen beruft und damit die neuerliche Durchführung der Untersuchung erreicht oder dass über das Entgelt des Sachverständigen langwierige Streitigkeiten – sogar vor höheren Gerichten – entstehen. In der rechtlichen Ausbildung soll den Gerichten und den sonstigen bestellenden Behörden eine bedeutende Rolle zukommen, da sie als „Verbraucher” am besten beurteilen können, welche Säumnisse und Mängel eine rechtzeitige Gutachtenerstellung typischerweise am stärksten beeinflussen. In Verbindung mit den Wettbewerbsbedingungen sollte erwähnt werden, dass der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union auch den Markt der Sachverständigen berühren wird, da nach dem Prinzip der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit auch für Bürger und Unternehmen der EU die Sachverständigentätigkeit in Verfahren vor ungarischen Gerichten offen steht.

Eine grundlegende Voraussetzung der Bestellung, insbesondere des schnellen Auffindens eines geeigneten Experten, ist, dass die Fachgebiete der Sachverständigen im Verzeichnis gut umschrieben werden. Der Richter muss das entsprechende Fachgebiet anhand der zu beweisenden Tatsache oder anhand der dem Sachverständigen zu stellenden Fragen auswählen. So findet er jene Gruppe von Sachverständigen, aus der die geeignete Person auszuwählen ist. Fachgebiete und Spezialisierungen innerhalb der Fachgebiete sind in der Praxis in Sparten zusammengefasst. Die Eintragung eines neuen Fachgebiets oder die Entscheidung darüber, dass ein Fachgebiet nicht mehr benötigt und eine Eintragung dafür ausgeschlossen wird, erfordert eine umsichtige Analyse der Praxis und eine gründliche Abwägung. Der Entwurf sieht vor, dass die Fachgebiete zusammen mit den entsprechenden Qualifikationskriterien in einer Verordnung des Justizministers zusammengefasst und laufend überprüft werden. Für die Überprüfung würde ein eigenes Gremium gegründet werden. Hierbei erwähnt der Entwurf neben dem Justizministerium und dem fachlich zuständigen Ministerium auch die Selbstverwaltung der Gerichtssachverständigen und andere Fachkammern. Es muss jedoch betont werden, dass auch die „Verbraucher”, also die bestellenden Behörden, an dieser Arbeit teilnehmen sollten, da der Mangel an einem Fachgebiet oder dessen Undifferenziertheit sich in ihrer Bestellungspraxis niederschlägt. Nicht vergessen werden darf die Tatsache, dass selbst bei präziser Registrierung und einem detaillierten Fachgebietssystem Fachfragen auftauchen können, für die es keine eingetragenen Sachverständigen gibt, da in der Praxis auf dem konkreten Gebiet nur selten eine Rechtstreitigkeit entsteht. Der Richter muss in einem solchen Fall einen Ad-hoc-Sachverständigen bestellen, bei dem fachliche Qualifikation, Erfahrung und Ansehen gegeben zu sein scheinen. Bei dieser Tätigkeit sind die Richter an keine Rechtsnormen gebunden, vielmehr spielt hier die Weitergabe der in der richterlichen Praxis angehäuften Erfahrungen eine Rolle.

Die Sachverständigen werden vom Justizministerium in einem elektronisch geführten Verzeichnis eingetragen. Einzelne Daten des Verzeichnisses (Name, Fachgebiet, Erreichbarkeit) sind öffentlich und ab 2001 auch im Internet abrufbar.28 Die Erweiterung des Inhalts der EDV-unterstützten Datenbank wird den Gerichten helfen, bei der Auswahl des Sachverständigen noch umsichtiger vorzugehen. So werden sie in der Lage sein, in Kenntnis der Informationen über Auslastung und Entgelt des Sachverständigen, dessen Kapazität und Eignung für Gericht und Parteien besser zu beurteilen.

Ein kritischer Punkt im Hinblick auf die Verfahrenskonzentration ist die Bestreitung des Sachverständigengutachtens durch eine der Parteien. Dies ist nach der ungZPO grundsätzlich dann möglich, wenn das Gutachten gänzlich oder zumindest in der vorliegenden Form nicht als Grundlage für die Entscheidung des Gerichts dienen kann. Widersprüchlichkeiten in Gutachten sollen so weit beseitigt werden, dass die Beweisführung nicht unverhältnismäßig in die Länge gezogen wird: Der Sachverständige ist anzuhören, ihm sind Fragen zu stellen, um Widersprüche zu beseitigen und die Ergänzung des Gutachtens aufzutragen. Korrekterweise kann erst nach einem Scheitern dieser Möglichkeiten die Bestellung eines anderen Sachverständigen erfolgen. Es gibt aber Fälle, in denen statt der Bestellung eines anderen Sachverständigen die Überprüfung des Gutachtens angeordnet werden muss. Dies ist ein Spezialgebiet der Sachverständigentätigkeit.29 Die überprüfenden Sachverständigenkommissionen stehen unter der Leitung und Aufsicht des jeweiligen Fachministers. Dieser ernennt die Mitglieder der Kommissionen im Einklang mit dem Justizminister, dem Präsidenten des Obersten Gerichts und dem Obersten Staatsanwalt.30 Seit langem wird die Arbeit der Überprüfungskommissionen kritisiert. Im Zuge der Überprüfung der Rechtsmaterie des Sachverständigenwesens sind immer wieder Diskussionen über eine eventuelle Abschaffung des Überprüfungssystems entfacht. Die Befürworter einer Abschaffung bringen vor, dass bei der Überprüfung mehrere verfahrensrechtliche Garantien des Prozessrechts und der Sachverständigentätigkeit verletzt werden. Kann das Gremium etwa nicht geladen werden, so sind die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit verletzt; es besteht keine Möglichkeit zur Beseitigung der im Überprüfungsgutachten enthaltenen Widersprüche. Andererseits sind in den unterschiedlichen Überprüfungsgremien mehrere Fachgebiete vertreten, was diese zur Beantwortung komplexer und komplizierter Fachfragen besonders befähigt. Dies hat in der Praxis Vorteile. Der Gesetzgeber will deshalb die Zukunft der Gremien im Hinblick auf eine Stärkung beider Seiten regeln: Dem Entwurf zufolge soll das System der Überprüfung neu geregelt und die prozessrechtlichen Schwierigkeiten gelöst werden. Es sind kleinere Gremien notwendig, die geladen und zu dem erstellten Überprüfungsgutachten befragt werden können. Das kann eine weitere Hilfestellung für eine eindeutige Beantwortung der Fachfragen und die Anfertigung der als Entscheidungsgrundlage dienenden Sachverständigengutachten darstellen.

 

C. Die (bevorstehenden) Herausforderungen an die Justiz

Ungarn wird im Jahr 2004 der Europäischen Union beitreten. Diese Tatsache berührt in mehreren Aspekten die Funktion der Justiz und somit die Durchführung der Zivilverfahren. Eines der politischen Kriterien des Beitritts sind die Anforderungen an die Funktion der Justiz, dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu entsprechen, die im Zuge der jährlichen Überprüfung der Erfüllung der Beitrittskriterien auch regelmäßig beurteilt wurde. Die Länderberichte haben das Niveau der Prozessführung als angemessen eingestuft, lediglich der angehäufte Arbeitsrückstand und die Fragen der Verfahrenskonzentration waren regelmäßig Kritik ausgesetzt. In diesen Fragen hat die Europäische Kommission noch zu erfüllende Aufgaben formuliert. Das (ansonsten recht unterschiedliche) Niveau der „unionskonformen” Rechtssprechung kann erst nach dem Beitritt konkret bemessen werden, nämlich wenn EU-Bürger die Rechtsverfolgung in Ungarn aus der Nähe und unmittelbar erleben werden, und zwar jene Bürger, die sich in Ungarn niederlassen, die Arbeitnehmer oder Unternehmer werden oder einfach nur jene, die vor ungarischen Gerichten prozessieren werden.

Die erste und größte Herausforderung an die Gerichte wird die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ab dem Zeitpunkt des Beitrittes sein. Darauf bereitet sich die ungarische Richterschaft zwar seit Jahren vor, dennoch muss damit gerechnet werden, dass die Entscheidung über Ansprüche nach dem Gemeinschaftsrecht für die Verfahrenskonzentration – hoffentlich nur für eine kurze Zeit – negative Auswirkungen haben wird. Diese ungünstigen Auswirkungen werden im erheblichen Maße davon abhängen, inwieweit die Rechtssuchenden bzw. die ungarischen Juristen (d.h. die rechtlichen Vertreter) auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vorbereitet sein werden und inwiefern sie das Gemeinschaftsrecht zur besseren Untermauerung ihrer Ansprüche oder – wenn dies in ihrem Interesse ist – zur Verschleppung der Prozesse verwenden werden. Die Aneignung und Interpretation des Gemeinschaftsrechts, gegebenenfalls mit einer Unterbrechung des Falles wegen Anrufung des Europäischen Gerichtshofs, nimmt natürlich Zeit in Anspruch und ergänzt die Komplexität des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses um eine weitere Dimension.

Die Teilnahme an der Rechtshilfe in Zivilsachen könnte die Arbeitsbelastung der Gerichte ebenfalls steigern. Dies jedoch nur bedingt, da auf der anderen Seite auch ungarische Rechtsanwender die Erfolge der Tätigkeit ihrer Partner in der EU genießen können. Die Zusammenarbeit bedeutet im konkreten Fall eine in Ungarn durchzuführende Prozesshandlung in einem Gerichtsverfahren, das vor einem Gericht eines anderen Mitgliedsstaates durchgeführt wird, und Benachrichtigung der Partnerbehörde über das Ergebnis der Prozesshandlung.

Der EU-Beitritt bringt auch Änderungen in der Praxis der rechtlichen Vertretung. Die Änderung des Anwaltsgesetzes, die den Rechtsangleichungsanforderungen der EU entsprechen soll, ermöglicht es, dass Anwälte aus Mitgliedsländern der Union nach dem Beitritt ihre Mandanten vor ungarischen Gerichten vertreten können. Eine Beschränkung ist im Gesetz – ebenfalls im Einklang mit den EU-Vorschriften – insofern enthalten, als in jenen Verfahren, in denen die rechtliche Vertretung verpflichtend ist, ausländische Anwälte nur in „Kooperation” mit ungarischen Anwälten die Vertretung wahrnehmen können; ein Kooperationsvertrag muss dann bei der ersten Vertretungshandlung in ungarischer Übersetzung dem Gericht vorgelegt werden. Diese Regel führt zu keiner Beschränkung der Tätigkeit von Anwälten anderer Mitgliedsstaaten im gerichtlichen Verfahren; sie können auch ohne ungarischem Anwalt vor Gericht auftreten. Die Vertretungsbefugnis des Vertreters hat das Gericht im Zuge des Verfahrens immer von Amts wegen zu prüfen, weshalb die Feststellung der Vertretungsbefugnis oder der Anwaltseigenschaft des Anwalts aus einem anderen Mitgliedsstaat für die Gerichte eine neuartige Aufgabe darstellt. § 72 ungZPO schreibt die Pflicht der Überprüfung der Vertretungsbefugnis eindeutig vor; nach der Rechtssprechung ist die Verletzung dieser Regel als wesentliche Verletzung des Verfahrensrechts zu werten und kann daher auch die Aufhebung der Entscheidung zur Folge haben kann. Neben der Vollmacht hat das Gericht die Urkunde oder die Bescheinigung, die den Anwalt aus einem Mitgliedsstaat zur anwaltlichen Tätigkeit berechtigt, zu überprüfen. Eine Berechtigungsbescheinigung wird nur für kontinuierlich in Ungarn tätige Anwälte durch die Rechtsanwaltskammer urkundlich ausgestellt. Für nur fallweise in Ungarn tätige Anwälte gibt es keine Registrierungspflicht: Der Vertreter weist seine Anwaltseigenschaft mittels einer Urkunde, ausgestellt durch die die inländische Anwaltsregistratur führende Behörde oder Berufsorganisation, nach.31

Das Gesetz über das Mediationsverfahren32 trat am 17. März 2003 in Kraft. Ziel dieser Regelung war die Entlastung der Gerichte und die Vermeidung von Prozessen. Die Einführung der Mediation beeinflusst allerdings nicht nur in dieser Hinsicht die Arbeitsbelastung der Gerichte. Ist nämlich die Mediation erfolgreich, so kommt es erst gar nicht zu einem Gerichtsverfahren, oder es müssen nur die ausdrücklich in die Zuständigkeit des Gerichts fallenden Handlungen im Prozess vom Gericht erledigt werden, so etwa im Scheidungsverfahren die Aufhebung der Ehe. Ist die Mediation nur so weit erfolgreich, dass es zu einer Einigung gekommen ist, die aber von einer Partei nicht eingehalten wird, kann die andere Partei zur Durchsetzung der Vereinbarung ein Verfahren einleiten. In diesem Prozess sind die in der Vereinbarung übernommenen Verpflichtungen „nur” mit den Rechtswirkungen eines Urteils auszustatten. Diese Aspekte senken die Arbeitsbelastung der Gerichte eindeutig. In allen anderen Fällen bedeutet die neue Regelung für das Gericht einen Mehraufwand bzw. die Anwendung spezieller Regelungen. Die Klage hat in jedem Fall den Hinweis zu erhalten, ob in der Rechtsstreitigkeit eine Mediation im Sinne des Gesetzes durchgeführt wurde oder nicht. Fehlt der Hinweis, ist der Kläger zur Beseitigung des Mangels aufzufordern. An sich hat jedoch die Mediation zwischen den Parteien keine Auswirkung auf die Entscheidung über das Klagebegehren, da letzteres die Rechtsstreitigkeit auf einer anderen Grundlage löst, unabhängig von den Erklärungen der Parteien im Zuge einer Mediation vor dem Mediator und unabhängig vom Inhalt der Vereinbarung als Resultat der Mediation. Erweist sich aber im Laufe des Prozesses die Aufklärung der Geschehnisse während der Mediation oder die Anhörung des Mediators als notwendig, so hat das Gericht darauf zu achten, dass die Anhörung des Mediators nur im Einklang mit dessen Verschwiegenheitspflicht (durch die Parteien davon entbunden) durchgeführt werden kann. Zwar ordnet § 170 Abs. 4 ungZPO nur bezüglich der in Abs. 1 lit a und c bestimmten Personen (Angehörige, Anwalt, Arzt und Vertreter anderer Berufe mit Schweigepflicht) den Hinweis auf die Schweigepflicht und dessen protokollarische Festhaltung an, doch muss für den Mediator, der im Abs 1 lit d, erwähnt wird, dieselbe prozessrechtliche Folge der Schweigepflicht gelten. Eine weitere Maßnahme ist die Regelung der Kostentragung jener Partei, die sich trotz Zustandekommen einer außergerichtlichen Einigung zu einer anderen Lösung der Rechtsstreitigkeit entschließt und sich an das Gericht wendet: Sie kann unabhängig von ihrem Obsiegen zur Tragung der Prozesskosten verurteilt werden.

Das Justizministerium erstellt derzeit in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Landwirtschaft und regionale Entwicklung eine Studie, die Maßnahmen zur Steigerung der Effektivität des Liegenschaftsregistrierung umfassen soll. Bei der Formulierung dieser Maßnahmen wurde auch diskutiert, dass das Liegenschaftsregister dem Grundsatz des öffentlichen Glaubens dann erst effektiv Geltung verschaffen könne, wenn die Führung des Registers als Rechtsanwendungstätigkeit mit der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ausgestattet werden würde. Die Führung eines einheitlichen Liegenschaftsregisters33 wird zurzeit unter Leitung des Ministeriums für Landwirtschaft und regionale Entwicklung von den 115 Kreisbodenämtern und den 20 Komitatsbodenämtern im Rahmen ihrer Verwaltungskompetenzen wahrgenommen.34 Die Führung des Grundbuchregisters und die Tätigkeit der Einverleibung von Rechten an Liegenschaften gemäß des Katasters, die bisher vom mehr als 2000-köpfigen Apparat durchgeführt werden, würden nach diesem Vorschlag die Gerichte übernehmen, sodass die Einverleibung von Rechten im Rahmen eines gerichtlichen Außerstreitverfahren erfolgen würde – ähnlich der Registertätigkeit der Firmenbuchgerichte. Der Ausbau des elektronischen Liegenschaftsregisters ist eine seit Jahren andauernde Arbeit. Die Gerichte würden also ein modern funktionierendes System, vermutlich zusammen mit der Administration, übernehmen. Dennoch muss damit gerechnet werden, dass die Ausübung der neuen Zuständigkeit in einigen Bereichen mit der systematischen Aufarbeitung des angehäuften Arbeitsrücktandes begonnen werden muss. Zu betonen ist, dass diese Vorschläge nur auf fachlicher Ebene diskutiert wurden. Eine breite Diskussion hierüber sowie eine Stellungnahme der Regierung, ob die Aktualisierung und Modernisierung des Liegenschaftsregisters mit einer Steigerung der menschlichen und materiellen Ressourcen und eines technischen Ausbaus oder zusammen mit einer organisatorischen Umwandlung erfolgen soll, stehen noch bevor.

 

Anmerkungen

1

Gesetz Nr III/1952.

2

Unter einem außerordentlichen Rechtsmittel werden hier Rechtsmittel verstanden, die zur Durchbrechung einer bereits bestehenden Rechtskraft führen; A.d.Ü.

3

Dieser Teil des Gesetzes trat sehr wohl in Kraft; zum anderen Teil vgl. Kapitel I B 1.

4

Die Befugnis, dieses außerordentliche Rechtsmittel beim Obersten Gericht zu erheben, stand gem. § 270 ungZPO i.d.F. 1952 dem Obersten Staatsanwalt gegen jede rechtswidrige Entscheidung eines Zivilgerichts, welche in Rechtskraft erwachsen war, zu; A.d.Ü.

5

Dabei handelt es sich um ein Hilfsmittel der Gerichtsbarkeit, zu deren Befolgung die Gerichte im Zuge der Rechtsanwendung verpflichtet sind.

6

Verknüpft mit der Befugnis, Klage einzubringen, war die Möglichkeit des Staatsanwalts, aus denselben Gründen auf beiden Seiten zu intervenieren, AdÜ.

7

Mittels Berufung kann ein im zweitinstanzlichen Verfahren gefällter Beschluss angefochten werden, gegen den nach den Regeln des erstinstanzlichen Verfahrens die Berufung zulässig wäre oder der die Berufung von Amts wegen zurückweist (§ 233/A ungZPO).

8

Statistik des Justizministeriums. QUELLE ?

9

Siehe §§ 95 bis 97 des Gesetzes Nr. LXVI/1997 über die Organisation und Verwaltung der Gerichte und § 225 Abs 1 des Gesetzes Nr. LIII/1994 über die gerichtliche Vollstreckung.

10

Siehe Kapitel IV bis VII und § 45 lit a des Gesetzes Nr. LIII/1994 über die gerichtliche Vollstreckung und § 249 des Gesetzes IV/1978 über das Strafgesetzbuch (Bruch des amtlichen Siegels, Vergehen der Behinderung der Vollstreckung).

11

Siehe § 21. des Gesetzes Nr. LIII/1994 über die gerichtliche Vollstreckung.

12

Siehe Kapitel II bis VI des Gesetzes Nr. LXVI/1997 über die Organisation und Verwaltung der Gerichte.

13

Gesetz Nr LXVII/1997 über die Rechtsstellung und Entlohnung der Richter.

14

Siehe § 5 der VO Nr. 14/2001 des Ministers für Justiz über die gerichtliche Sachbearbeitung

15

Siehe Teil IV. des Gesetzes Nr XXII/1992 über das Arbeitsgesetzbuch, das Gesetz Nr . LXXXI/1994 über die Schiedsgerichtsbarkeit, §§ 18-37 des Gesetzes CLV/1997 über das Mediationsverfahren im Gesundheitswesen und das Gesetz LV/2002 über die Mediationstätigkeit im Gesundheitswesen.

16

Die Höhe der Gerichtsgebühren bestimmt Kapitel VI des Gesetzes Nr. XCIII/1990 über Gebühren.

17

Siehe die Europäische Konvention der Menschenrechte und zu deren Auslegung die Praxis des Europäischen Gerichts für Menschenrechte und die Empfehlung des Europarats zur Förderung des Zugangs zum Recht (Nr. R [81]) 7] sowie zur Sicherung des effektiven Zugangs zum Recht und zur Rechtssprechung für Arme (Nr. R [93] 1).

18

Die Voraussetzungen für die Genehmigung der persönlichen Kostenbefreiung sind in der VO des Justizministers Nr. 6/1986 über die Anwendung der Kostenbefreiung im Gerichtsverfahren und in der VO des Justizministers Nr. 2/1968 über den Nachweis der Umstände zur Genehmigung der Kostenbefreiung enthalten. Die Aufzählung der Prozesse mit Kostenbefreiungen nach dem Prozessgegenstand sind in der VO 6/1968 enthalten; es können aber auch andere Rechtsnormen Kostenbefreiung nach dem Prozessgegenstand anordnen. Prozesse gem. der VO 6/1968 sind etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): die Aufhebung oder Wiedererrichtung der elterlichen Gewalt, Prozesse in Verbindung mit der Unterbringung und der Übergabe des Kindes, Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen wegen Schadenszufügung am Leben und an der körperlichen Unversehrtheit; zu den Prozessen der anderen Gruppe gehören beispielsweise alle Gerichtsverfahren in Verbindung mit der Heilbehandlung psychisch kranker Personen gemäß dem Gesetz über das Gesundheitswesen.

19

§ 5 Gebührengesetz nennt jene Rechtssubjekte, die volle Gebührenbefreiung genießen, wie z. B. die Republik Ungarn, lokale Selbstverwaltungen, Budgetorgane, Gesellschaftsorganisationen, öffentliche Körperschaften, gemeinnützige Gesellschaften, Kirchen, Kirchenverbände, etc.

20

So gibt es eine Gebührenbefreiung nach dem Prozessgegenstand z. B. in Verfahren, in denen das Gericht die Klage ohne Ladung von Amts wegen zurückweist. Gebührenbefreit ist auch die Widerklage bezüglich der Ehe im Scheidungsverfahren, das Verfahren über die Todeserklärung und über die richterliche Feststellung des Todes, wenn die Verschollenheit oder der Tod im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung oder einer Naturkatastrophe eintrat, etc.

21

Das persönliche Gebührenanmerkungsrecht steht grundsätzlich demjenigen zu, für den die vorläufige Bezahlung der Gebühr gemessen an seinen Vermögens- oder Einkommensverhältnissen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würde; insbesondere wenn die zu entrichtende Gebühr 25 % des steuerpflichtigen Pro-Kopf-Jahreseinkommens des Vorjahres der Partei, ihres Ehegatten und ihrer im selben Haushalt lebenden, unterhaltsberechtigten Kindern übersteigt. Verfahren mit Gebührenbefreiung nach dem Prozessgegenstand zählt das Gebührengesetz in § 62 auf; dies sind z.B. Schadenersatzprozesse auf Ersatz von Schaden, der am Leben oder an der körperlichen Unversehrtheit einer Person, oder in ihrem Vermögen mit Gefährdung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Person entstanden ist; Prozesse auf Ersatz von Schaden, der bei Verbrechen oder Vergehen entstanden ist (nicht die Prozesse wegen Schaden am Leben und körperlicher Unversehrtheit, da diese kostenbefreit sind); Prozesse in Verbindung mit dem zivilrechtlichem Schutz der Personen; Amtshaftungsprozesse; Verfahren zur Überprüfung von Entscheidungen der Verwaltungsorgane, etc.

22

§ 225, Abschnitt II des Gesetzes Nr. IV/1959 über das Bürgerliche Gesetzbuch.

23

ABlEG Nr. L 26 vom 31/01/2003, 41.

24

Gemäß § 181 Abs. 1 ungZPO sind dem Sachverständigen all jene Daten mitzuteilen, die dieser bei der Durchführung seiner Arbeit benötigt; dazu wird dem Sachverständigen Akteneinsicht gewährt. Er kann der Verhandlung – auch dem Beweisverfahren – beiwohnen und den Parteien, den Zeugen und den anderen Sachverständigen unmittelbar Fragen stellen. Schließlich ist er befugt, wenn es zur Durchführung seiner Aufgabe notwendig ist, auch Beweisanträge zu stellen.

25

So eine Regel wäre für diese typische Nebentätigkeit auch nicht angebracht.

26

§ 6 Abs 4 des Gesetzes Nr. CXLIV/1998 über wirtschaftliche Gesellschaften.

27

Anhang 3 der VO Nr. 2/1998 des Justizministers über Justizsachverständige.

28

Siehe die Regierungs-VO Nr. 53/2001 über die Erstellung des EDV-unterstützen Verzeichnisses der Justizsachverständigen.

29

Siehe §§ 182f des Gesetzes Nr. III/1952 über die Zivilprozessordnung.

30

Gemäß § 7 Abs. 1 der Regierungs-VO Nr. 153/1993 über Justizsachverständige sind zur Überprüfung von Sachverständigengutachten folgende Gremien befugt: die Justiz-Superexpertisenkomission der Veterinärmedizinischen Universität; der Justizausschuss des Wissenschaftlichen Rates für das Gesundheitswesen; die Justizkommission für Buchprüfung; der Justizsachverständigenausschuss für Landwirtschaft; der Technische Justizsachverständigenausschuss, der Psychologische Justizsachverständigenausschuss; sowie die vom Justizminister – im Einklang mit dem betroffenen Fachminister, dem Präsidenten des Obersten Gerichts und dem Obersten Staatsanwalt – bestellten Gremien.

31

Laut § 89/I Abs. 2 des Gesetzes Nr. XI/2003 über die Änderung des Gesetzes Nr. XI/1998 über die Anwälte ist der Anwalt aus der Europäischen Union verpflichtet, seine Berufsbezeichnung wie in seinem Mitgliedsstaat zu benutzen und gemäß § 89/J Abs. 1 leg cit auf Aufforderung des Gerichts die beglaubigte ungarische Übersetzung der von der Anwaltsregistratur in seinem Mitgliedsstaat führenden Organisation ausgestellten, nicht mehr als drei Monate alten Bescheinigung vorzulegen.

32

Gesetz Nr. LV/2002.

33

Das Liegenschaftsregister vereint Grundbuch und Kataster.

34

Siehe das Gesetz Nr. CXLI/1997 über die Liegenschaftsregistratur und die Vollzugsverordnung Nr. 109/1999 des Ministers für Landwirtschaft und regionale Entwicklung.

Begegnungen22_Held

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:71–83.

JOSEPH HELD

Science Wars*

 

I. Introduction

In our times, when the information revolution has achieved global reach, when the internet is now frequently being consulted even in some of the remotest villages of Asia, Africa and Australia, “science” has become a supreme engine of change. Its definition is, however, problematical. There are so many activities labelled “science” that they can hardly be considered to belong to the same category. The term “science” had become similar to other over-generalized concepts, such as “revolution,” “space,” and so on. In Western usage – in Great Britain, the United States, and in most West European countries, – science is usually considered to consist of the so-called “hard- or natural sciences.” These include organic and inorganic chemistry, biology, physics, medical sciences, mathematics, geometry, astronomy, archaeology, palaeontology and environmental science. (Some of them are combined into biochemistry, paleo-anthropology etc.) The other branches of scholarship are subsumed under the rubrics of the humanities – history, language-studies, literature – while the so-called social sciences include sociology, psychology, folklore and political science.

One of the reasons for these distinctions is that the various fields of scholarship are being ordered into “ranks,” according to their alleged importance from the point of view of their utilitarian “usefulness” for society. In an age when technology and the practical application of knowledge are being considered to be the foundation of societal existence, – as our age surely is – this should not surprise anyone.

Science as a concept and practice – whatever its definition – has been the engine that drove Western Civilization toward ever greater heights. It has been the distinguishing element that propelled European peoples to extend their influence over the entire globe during the past five centuries.1 Its technological application resulted in the modernization of life (whatever this means) in the last two centuries. On the other hand, the conflicts that have emerged between science and religion, and later between various social ideologies and science, originated in the very first society in ancient Greece, where the foundations of scientific inquiry were first established. One is justified in saying that the first open conflict between rational thinking and thinking based on feeling and emotions, came about with the appearance of Socrates and his disciple, Plato. Most educated people are familiar with that story and its sorry ending. But the real conflict emerged with the triumph of Christianity; the sermon of Pope Gregory the Great2 highlighted the fundamental conflict between thinking by using the rules of logic, laid down by the classical Greek philosophers, and the newly triumphant Christian religion’s emphasis on faith as the sole arbiter of “truth.” Since that time, this duality has been running through Western history like a red thread; its dividing lines separated the so-called Jesuit saint, Cardinal Bellarmini and Galileo Galilei; it characterized the deadly attempt to control science and the emerging scientific approach applied to the discovery of the “secrets” of nature and the cosmos by the ignorant and malicious priests of the inquisition. The conflict is really unsolvable, because religion is allegedly based on revelation by God, and science is the product of the ingenuity of the human mind, of reason.3

With the coming of the Enlightenment in Western Europe in the 18th century it seemed that the control of intellectual life by religious authorities had come to an end. The two fields of human endeavour, scientific research and knowledge based on faith, seemingly had been effectively separated. Francois Marie Aruet (Voltaire) could openly denounce religion as a concept that was allegedly an obstacle to the spread of knowledge. He propagated a belief in the “religion of nature,” called “deism,” which was, according to him, necessary for the simple people in order to keep their passions in check. Atheism had also become one of the (permissible) forms of thought, although its influence had never become overwhelming in the Western world.

The Enlightenment has seemed to open the floodgates of science and eliminate the break on its development by religious authorities. But the war had not yet ended. In fact, it was renewed by the discoveries of Charles Robert Darwin (1809-1892). Anglican Bishop Samuel Wilberforce (1805-1873) and Thomas Henry Huxley’s (1825-1895) famous debate about Darwinian findings about evolution is well known, and there is no need to rehash the arguments in this essay. What concerns us here are the struggles that have developed in the course of the late 19th and 20th centuries between individual scientists arguing over the “right” science on the one hand, and the pseudo-sciences that have been spread by extreme religious sects, pseudo-scientists and the modern sensation-seeking communications-media. Even in this effort we must be selective.

 

II. Catastrophism vs. Continuous Evolution; When Life Nearly died4

Scientific controversies, as I indicated before, are not new and are not surprising. Yet, in almost every case concerning the “hard” sciences, when a new concept or theory is presented, – usually for reasons intrinsic to the subject in question – further research usually sets the record straight. It usually takes time for the process to work, but accumulating evidence for or against the theory in question is decisive.5 This was the case with two conflicting paleo-biological concepts examining the two greatest mass extinctions of life in 251 million and 65 million years ago. The advocates of catastrophic causes and the supporters of a gradual process leading to mass extinctions struggled with each other for nearly 150 years. Eventually, however, new evidence decided the issue at the beginning of the 21st century.

For almost two millennia, geological time was correlated with the Christian Bible. Fenciful “studies” asserted that the age of the earth was about 6,000 years only, and some religiously inclined geologists agreed, because “God (Scripture) said so.” Then in the course of the 18th century, strange fossils came to light that seemed to point to much older time for the existence of life, and therefore, of the earth. The fossils showed that animals had existed in the past that did not resemble any living creatures in contemporary times. This, in turn, seemed to point to a much older earth than the Bible suggested, and also to the fact that living things did die out. Was this also God’s plan?

With the passage of time – and more research – it was becoming more and more evident that there had been several mass extinctions in geological time, and further research revealed by the early 19th century, that at least two of these mass extinctions almost ended life on earth. However, the disputes continued over whether the extinctions were the result of great catastrophes or were they simply the manifestations of a gradual process. By the early 19th century, paleo-geologists agreed that extinctions were “natural,” and that the fossil records indicated that both animal and plant species, unable to adapt to environmental changes, exited from the living and their empty niches were soon filled by others better suited to “nature.” The first ideas of evolutionary processes appeared and gradually became part of the accepted history of the earth. Yet the issue of gradual versus catastrophic extinctions continued unresolved and for more than a century and a half the gradualists dominated the dispute.

The foundations of gradualism were laid down by two Scottish geologists, Roderick Murchison (1792-1871) and Charles Lyell6 (1797-1878). Murchison was a practical-minded geologist. He was uncomfortable with controversies and was the happiest when out in the field, doing his work with rocks. He was also a cautious man, perhaps even timid, avoiding disputes as much as he could, sometimes even rejecting the evidence of his own eyes.

Not so Charles Lyell. In the early 1830’s he published a three-volume textbook on geology7 which became the textbook of the subject, and which is being considered even today to be the foundation of geology as a science. Yet the work was flowed. Lyell suggested that plants and animals live and die out in response to environmental changes. He stated that all geological phenomena could be explained by comparison to modern processes; this was the concept of “uniformitarianism,” and it suggested that geologists must examine changes in the past by comparing them to contemporary phenomena. Lyell denied that there had been sudden mass extinctions of life in the geological past and no catastrophic events interfered with life on earth. He also asserted that major groups of living organisms could never disappear entirely; instead, they were continuously recycled.

Lyell was contradicted by some other geologists, foremost among them the Frenchman Georges Cuvier. He simply rejected Lyell’s arguments. After all, notions of mass extinctions were not new, they circulated ever since the 17th century, when the origin of earth had been hotly debated. Cuvier began studying fossil skeletons in the Paris basin in 1800, and found complete specimens of small horse-like and dog-like skeletons. He suspected that these were remnants of long extinct animals. He proved that processes that were operative in their time, were no longer in effect. In a great book8 Cuvier had shown that the physical processes at work in his day were quite different than those in the past, and the latter included catastrophes. He stated that

…this development was sudden, not gradual, and what is clearly demonstrable for the last catastrophe is not less true for those that preceded it…Life in those times was often disturbed by these frightful events. Numberless living things were victims of such catastrophes; in some, living inhabitants of dry lands were engulfed in deluges, others living in the sea, were left stranded when the ocean floor was suddenly raised up again; and whole races were destroyed forever, leaving only a few relics which the naturalists can scarcely recognize.9

Cuvier saw that different layers of sediment are often separated by discontinuities. The problem was that his “catastrophes” could be connected to Noah’s flood in the Bible! Not surprisingly, Cuvier’s ideas were used to support the Biblical story, as one of the great catastrophes that affected earth, even if he himself would have vehemently denied the possibility. His theory was influential in continental Europe, but in England Lyell’s ideas have prevailed and eventually overcame Cuvier’s influence.

Although Cuvier himself also argued that geologists must base everything on modern processes and the already discovered laws of nature, Lyell succeeded in libelling him as nothing more than a speculator, the enemy of true science. Cuvier stressed his opinion that there were great upheavals in the past and Lyell charged that this was nothing but speculation without proof. But he himself lacked real evidence for his beliefs, as Cuvier had also been in the same position. In the end, both of them missed the point.

How could Lyell’s theory survive without serious questioning for a century and a half? What was its appeal that enabled Lyell and his supporters to call all other considerations “wild speculation?”

One of the answers may be that Lyell’s theory appealed to conservative-minded scientists who were gratified to learn that nothing has ever changed in earth’s fundamental conditions. In a turbulent age, when intellectual and political revolutions swept over the European continent, followed by Napoleon’s “new order” and its eventual collapse, it was gratifying to learn that nothing ever drastically changes in the world and that stability is always maintained after changes that come and go in a cyclical sequence. According to Lyell,

…volcanoes erupt, glaciers advance and withdraw, sea levels go up and down, but everything is in equilibrium. The earth is a closed system with certain fixed laws and there can be no progress, or direction of change…

Geologists, however, did not stop research because of Lyell’s strictures. They eventually found that there was a certain order to fossils in the rocks; simple marine organisms came first, then fishes, followed by animals on land, then reptiles and finally mammals. Lyell rejected such an idea of progression. He expected the eventual discovery of mammals in the earliest deposits and believed that dinosaurs might return at some time in the future.

Strangely enough, although many geologists disagreed with Lyell, they were unwilling to come out too strongly against him for fear of being labelled a “catastrophist,” and exposed to ridicule.

Lyell was eventually criticized and, late in the 20th century, was proven utterly wrong. However, it took Darwin to shake his reputation in the 1860’s. Yet, his ideas were still not rejected outright, at least not until the 1980’s, and they continued to dominate thinking in geology.

*

In the meantime, the stratification of earth’s history continued steadily. It became evident that geological time was measurable not in centuries, or even in millennia, but in hundreds of millions, or even many billions of years. The names given to each recognizable period distinguished among four major periods (pre-Cambrian, Palaeozoic, Mesozoic, and Cainozoic ages), extending over about 600 million years, and 11 shorter periods within these ages defined by sediments and rocks and other materials. (Vendian, Cambrian, Ordovician, Silurian, Devonian, Carboniferous, Permian, Triassic, Jurassic, Cretaceous and Tertiary.)

There were geologists even in Lyell’s time, including Murchison, who had already possessed evidence to destroy Lyell’s gradualist theories. In a letter written in 1851, Murchison stated: “…Operations of great violence, not of Lyell’s quietude, have been repeated.”10 Geologists were eventually convinced that fossils found in earth’s various strata were different in different ages, and that there were major gaps at which fauna and flora had changed in geologically short intervals of time. Yet, this argument had carried no weight in the Lyellian system of cyclical changes.

The story of how these long accepted views were demolished and a modern contemporary theory of earth’s evolution and “catastrophism” triumphed shows a painstakingly slow, convoluted process, reaching into the 1980’s and beyond.

*

Geologists and palaeontologists gradually have come to the realization that gaps in the fossil record were not simply the result of lack of research, but that they were showing several mass extinctions. Of these five were identified, and of them, two were of major proportions, one occurring 251 million and the other 65 million years ago. They were of such magnitude that they could not be explained by Lyell’s gradualism.11 Darwin stated that species had died out occasionally as the result of environmental competition, because the principle of the “survival of the fittest” operated harshly. However, it gradually became clear that the largest extinctions, the one 251 million years ago at the end of the Permian period, and the other 65 million years ago at the border between the Cretaceous and Tertiary ages were of such magnitude that only catastrophic events could bring them about. The latter aroused special attention because it corresponded to the extinction of the dinosaurs, and public imagination was easily excited by images of giant reptiles and sea creatures.

In the 1970’s mass media took over from the scientists. Books, films and TV shows flooded the airwaves, and children learned the names of long extinct giants, strange creatures and fishes. This, of course, provided great opportunities for dilettantes and dilettantism, which did not really advance scientific research.

*

By the 1950’s however, American and British scientists were on their way to put together a synthesis further developing Darwin’s evolutionary discoveries with new findings in genetics, geology and palaeontology, and were re-examining the evolution of earth’s environment.

At this point the German Otto H. Schindewolf12 came on the scene. Although he was an anti-Darwinian, he introduced the notion, for the first time, that cosmic events may have influenced extinctions. He speculated that the consequences of the explosion of a supernova included increased radiation which, in turn, led to freak mutations in living organisms. These caused overspecialization, including the development of organs unsuitable for survival. Schindewolf synthesized documentations on extinctions, especially those that were relevant for the end-Permian extinction. His influence was considerable in Germany, but did not extend to the English-speaking world. No matter how much evidence he presented to prove that there was no gap in the archaeological record, and that the lack of fossils at the boundary line at the end of the Permian age signified mass extinction, few scientists were willing to listen to his arguments. The evidence from Russia and South Africa had shown that there was no break in the geological processes, and only plants and animal species had disappeared; this, to Schindewolf, signalled a major catastrophe. The discovery of DNA in 1953 and the rapid progress in nuclear biology confirmed Darwinism and undermined Schindewolf’s arguments. In the end he was still proven correct about a major catastrophe occurring 251 million years ago, even if his hypothesis did not provide adequate clues for a mass extinction event.

By the beginning of the 20th century, Lyell’s argument for gradualism was all but undermined. M.W Laubenfels, an American geologist mentioned, in a paper he read in 1956, that the extinction of the dinosaurs 65 million years ago was caused by the impact of a huge meteorite, asteroid or comet. But this was still considered to be a questionable speculation. Until, that is, 1980.

In that year Louis W. Alvarez and his team, including his son, Walter, professor of geology, and their collaborators, Frank Asaro and Helen V. Michel, all of them working at the University of California, Berkeley, published an article in Proceedings of the National Academy of Sciences,13 entitled ”Experimental Evidence that an Asteroid Impact led to the extinction of many species 65 million years ago.” Alvarez was a Nobel Prize winning physicist. The paper opened up a new avenue for research, yet it had very little evidence to support its assertions.14 It stated that the dinosaurs were killed off by the impact of a giant asteroid. Not surprisingly, the paper created an immediate sensation.

Geologists can easily measure the layers of earth and rocks; but their thickness is not necessarily a good indication of elapsed time. A narrow layer of mudstone may mean hundreds of years of slow deposition of fine particles in the oceans’ depths, and a layer of sandstone, 100 yards thick, may mean a catastrophic dumping in minutes or hours. How could such deposits be measured accurately and related to time? Alvarez found an answer in iridium. It is a very rare metal belonging to the platinum group, and it occurs in minute quantities on earth. But it is present in small meteorites, tektites and cosmic dust that settle on the surface. The problem was presented by the dilemma of how to measure such a rare element. Alvarez and his team were able to build a neutron activation machine – he was, after all, a noted physicist – with the necessary precision to do just that.

In the North Italian town of Gubbino, Alvarez and his team obtained rock samples which they subjected to very thorough analysis back in Berkeley. They expected to find iridium in minute quantities, depending on the time during which it accumulated. They found that the concentration of iridium was very low, as expected. However, in their samples from the boundary of the Cretaceous and Triassic periods the volume shot up from the normal 0.3 per billion to 30 times the normal level, to 9 parts per billion! This could mean that the time of the deposits lasted 30 times longer than normal, but it could also mean a sudden catastrophic event, a hit by a giant asteroid!

Alvarez and his team checked another boundary section, this time in Denmark at Stevns Klint. They found an even larger value of 42 parts per billion. This was 160 times the normal level. They calculated the size of an object creating such an explosion that its debris circulated around the earth and the relations between such an object and the energy it would transmit. They based their calculations on huge volcanic eruptions such as the Krakatau event between Java and Sumatra in 1883.

According to their result, a giant meteorite hit the earth 65 million years ago, of the size of about 10 kilometres across, excavating a crater of about 100-150 kilometres of diameter, flinging millions of tons of rocks and dust into the atmosphere. The dust encircled the earth, blocking out the sun for a year or longer, preventing the photosynthesis of plants, cutting off the base of the food chain in the sea and land, and causing mass extinction.

The Alvarez team suggested that the deposits they have measured in Italy and Denmark were not ordinary clay, accumulating in a slow process, but deposits of ash and dust the impact, thrown into the atmosphere, settling down in a few years carrying amounts of iridium that showed its extraterrestrial origin.15

There is no need here to detail the arguments of the Alvarez team for a huge catastrophe 65 million years ago, based on the measurement of iridium in 1 centimetre thick sediments in Italy and Denmark. Their theory would have remained a hotly debated hypothesis without the acquisition of further proof. But proof did indeed come, and soon.

*

Before proof for the Alvarez theory was found, however, another discovery supported his findings. The Bavarian market town of Nördlingen is located in what appears to be a giant crater. The depression measures 22-23 kilometres across and its centre is filled with what appears to be sediments, providing rich farming lands. This is the so-called Ries structure which has puzzled German geologists for some time. Opinions were divided over a huge volcanic eruption in prehistoric times, but there was no cone; it was believed that the volcano either exploded or the cone sunk after the eruption. However, there were no traces of ash or lava flow. There were suggestions of an extraterrestrial impact, but the notion was rejected.16

In 1960, Gene Shoemaker, an astro-geologist of the US Geological Survey, visited Nördlingen. (He is the same man who discovered the Shoemaker-Levy asteroid hitting Jupiter in 1994.) While working in Arizona in a well-known giant meteor crater, Shoemaker and E. C. T. Chao from Washington found an unusual form of quartz, called coesite, which forms under very high pressure of at least 300 kilobars. Only the high energy of a meteorite hitting earth was able to modify normal quartz into coesite, and therefore, it was evidence of an extraterrestrial impact.

Shoemaker and Chao published their findings in Nördlingen in the Journal of Geophysical Research in 1981.17 Their work was so thorough and the evidence they presented so persuasive, that it was never seriously questioned. Geologists flocked to Nördlingen and studied the consequences of the impact. They agreed that the crater originated 14.5 million years ago, and the size of the meteorite was 500-700 meters across. It hit the earth at a speed of 20-60 miles a second. The released energy was the equivalent of 200 megatons, or 200 Hiroshima atomic bombs. The impact threw out 150 cubic kilometres of rock of the crater and every living organism was killed in a radius of 500 kilometres from the centre. The ashes and debris probably circled the earth blocking out the sun’s rays for a few days and causing local extinctions, but this did not last long and was not sufficiently large to have global effects.

The consequence of the discovery was not only the demolition of a century and a half of gradualist notions of earth’s geological history, but also a beginning of a search for other impact craters. But the gradualists did not give up so easily. They offered new arguments according to which the dinosaurs and other extinct animal and plant species were in decline long before the alleged impact of the Alvarez-meteorite at the Cretaceous-Triassic boundary. The decline lasted perhaps as long as five million years. At the end, the reptiles were replaced by mammals. The latter were, of course, Tertiary species, and emerged as the environment changed, the temperature of the earth becoming cooler and the sea levels lower. There were also plants and other animals that continued to exist after the disappearance of the large reptiles, such as turtles, lizards, snakes, crocodiles, frogs, etc, whose survival was hard to explain in light of the impact theory.

These disputes were not simply over reptile extinction, but over “good” and “bad” science. It also involved the reputation of certain sciences, the question was which are more reliable than the others. Physics was considered less speculative than palaeontology, and Alvarez himself was accused of having a superior attitude toward other scientists. It was also a throwback to a long tradition of “gradualism” versus “catastrophism.” The popular media increasingly participated in the debate, and ignorant television anchormen and women were presenting all sorts of outlandish speculations. But the “catastrophists” had an advantage in this debate, since their theories could be used for feeding sensationalism, the bread and butter of television programs.

Finally, in 1991, the crater of the asteroid that caused the mass extinction of 65 million years ago was discovered. It was located in the Yucatan Peninsula, near the Mexican village of Chixculub. It was buried under Tertiary sediments and was invisible from the surface, but boreholes and geophysical evidence showed that originally it was 150 kilometres across, exactly the size which Alvarez and his team predicted.

The discovery was made by Alan Hildebrand, then a Canadian graduate student and his team.18 His research revealed that an asteroid or meteorite struck the earth, evaporated the water and penetrated the Cretaceous lime stones and salt beds. Great boulders were thrown out and fell around the crater. The ashes and dust flew up into the atmosphere and transported iridium around the globe. 65 million years after the impact, there was still a noticeable depression in the earth. Although late Tertiary sediments filled up the crater, geophysical research showed that it originally had a triple-ring structure. The inner ring, produced by the almost immediate spring-back of the earth’s crust, was 80 kilometres in diameter. A zone, extending 100-130 kilometres across, was the original crater’s edge. There was also an outer ring, which probably marks the force-zone of the impact.

*

After this discovery there was no sense in denying the catastrophic impact of an asteroid 65 million years ago, a date confirmed by radiometric dating of the melted rocks. The impact created giant tsunamis and circulated ashes and iridium in the atmosphere. The ash certainly blocked the sun’s rays for over a year, and led to global darkness and freezing temperatures. Photosynthesis in plants stopped, and herbivorous animals starved to death, followed by carnivores who fed on them. There had already been many organisms, animal as well as plant, that were already in decline before the impact, but there were also others that were not affected for one reason or another. This may have been the consequence of ongoing environmental changes. But the extinction was massive; around 50% of all living organisms died out. At the same time, there were a series of volcanic eruptions – perhaps induced by the magnitude of the impact – spewing large amounts of carbon dioxide, sulphur and other poisonous gases into the atmosphere. Their traces were detected in the Deccan Traps of northern India.

In retrospect, it is easy to see the reasons for reluctant geologists and palaeontologists to accept a catastrophic model for the history of the earth. Even today, the evolutionary, gradualist model is still capable of explaining mass extinctions as it was at the time when Lyell “demolished catastrophism.” Yet, evidence of mass extinctions does exist and further research is making the theory more and more convincing. But even the greatest extinction of them all, the one at 251 million years ago, which wiped out nearly 90% of all living things, is still largely shrouded in mystery. However, research continues and it will probably lead to more certain results. This is the nature of modern science.

*

The “greatest extinction of all time,” as Benton described the events of 251 million years ago, was probably not initiated by extraterrestrial events or asteroid strikes. Benton speculated that it was a longer process than the Yucatan impact and it began with a series of huge volcanic basalt eruptions in Siberia. (The slopes of the Ural Mountains near Perm which gave the name to the Permian Age, provide evidence for this series.)19 These eruptions have continued for a considerable time, perhaps even for a half million years. At first, the temperature of the globe increased a little; there may even have been some local cooling because of the large amounts of sulphur dioxide spewed into the atmosphere. In any case, more carbon dioxide came and this produced a general warming effect. A year or more after the first eruptions, a much larger eruption had occurred. Temperatures rose even more. This killed off some plants and the herbivous living off them.

The last large eruptions sent more new gases into the atmosphere and this caused the falling of acid rain. In an area of thousands of square kilometres the acid rain killed off most of the plants. The atmosphere was now several degrees warmer, and began to melt the polar ice around its fringes. The great masses of methane hydrates locked into the sediments at the edges of the polar ice sheet, were also warmed and exploded with a huge force. Giant amounts of methane gas and carbon dioxide burst through the waters, and entered the atmosphere.

This time the catastrophe affected the entire globe. This was a true globalization of climate. Normal levels of oxygen were driven downward by the gases. And there was no end to the process. What made the catastrophe global was the fact that the continents had not yet been separated.

Then came heavy rains of the monsoon. They washed dead trees, plants and animals into the estuaries of the sea. But they also washed away most of the soil, deprived of its protective cover. In a few days, hardly any soil was left on the massive single continent and few animals and other life forms had survived.

Under normal conditions the carbon dioxide would have been removed from the air by the photosynthesis of the plants. But there were hardly any trees or plants left. Even the masses of seaweed died when the acid rain carried the rotting vegetation into the sea and the plankton population had also perished. The oxygen content of the seawater was also gone. Not surprisingly, the fishes that lived off of minute organisms also died, and so did carnivorous sharks. The seas were poisoned and rising temperatures eliminated whatever little oxygen they still contained.

Then a third series of volcanic eruptions came and they added more acid rain to the land. Temperatures rose a little as more and more bubbles of methane gas and carbon dioxide were added to the atmosphere. Oxygen levels had fallen even more in the waters and most life that depended on it died.

The eruptions still continued; hundreds of cubic kilometres of basalt layers were expelled from the depths of the earth. Some explosions were smaller, but others added to the global affects of the previous ones. This process went on for perhaps a half million years, and when it was finally over, barely 10% of living things survived.

This is, as Benton freely admits, only a set of speculations. Yet the fossils that survived from the end-Permian age all point to this astonishing sequence of events. This was the largest of all known extinctions. It was a time when the continents were not yet separated, and the basalt eruptions could affect life on the entire super continent. There were other extinctions at 200, 120, and 90 million years ago, but they caused extinction rates of between 5 and 30%, not nearly as large as that of the end-Permian event. The reason for this may have been the fact that by then the continents were separated and life was better protected in various environments. Benton stated;

Geologists and palaeontologists are far from understanding, step by step, just what really happened [at the Permian extinction]. But…ideas have been sharpened and focused remarkably since 1995, and will doubtless continue to do so. One thing is clear, however. The biggest mass extinction of all time did happen 251 million years ago and even if it cannot yet be fully explained, it is important to look at the consequences of cutting life down to 10% or even less of its normal diversity. There are lessons here to be learnt20

We might add that the recovery took nearly 50 million years.*

 

Notes

1

In this process, the American scientists may be considered to have been Europeans, as we shall see below.

2

See for the sermon, the first volume of this work.

3

In the course of the 20th century, the dividing lines were ever narrower; as scientists dwelled into the ”secrets” of the atomic nature of matter, they found ever smaller particles that seemed to obey no rational natural laws. This apparent contradiction was attempted to be solved by the emergence of the “string theory” of ultramodern physics, and the hope of the discovery of a unifying “law of nature.” Whether these concepts will be adequately provable by science still have to be seen., However, some scientists are inclined to accept the notion of a “prime mover,” whether it is called god or nature, as the explanation of the seemingly unexplainable problem.

4

This is the title of a work by Michael J. Benton, When Life nearly died subtitled. The Greatest Mass Extinction of all Time, (London, Thomas and Hudson, 2003), in which the author presents his findings, the basis of the following discussion.

5

Even when a coercive authority attempts to suppress the scientific evidence, as it was the case with astronomy in the course of the fifteenth-sixteenth centuries, or with Lysenkoism in the Soviet Union in the twentieth.

6

Of the many publications of Roderick Murchison and Charles Lyell, see the following: R.M. and A. Keyserling, “On the Geological Structure of the Ural Mountains,” Proceedings of the Geological Society of London, (1842), vol. 3, p. 742-753: and Charles Lyell, Principles of Geology, being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Causes now in Operation 3 vols., (London, J. Murray, 1830-1833).

7

Principles of Geology, Being an Attempt to Explain the former Changes of the Earth’s Surface, by reference to Causes now in Operation 3 vols., (London, John MNurray, 1830-1833).

8

Georges Cuvier, Recherches sur les ossemens fossils des quadrupeds, ou l’on rétablit les caractéres de plusieurs d’espéces d’animaux que les revolutions du globe paroissent avoir détruit les espéces, 4 volumes (Paris: G. Dufour et d’Ocagne, 1821-1824), 2nd ed. 1825; 4th ed., 1834-1836.

9

Quoted by Benton, 60-61.

10

The letters are published by A. Geikie, Life of Sir Roderick Murchison, 2 vols. (London, J. Murray, 1875).

11

The latest research had shown that between 70,000 and 80,000 years ago, mankind had also almost disappeared. Matrochondial DNA research shows that something happened at that time, which destroyed nearly all of humankind, leaving not more than at the most 5,000 early humans. There is ongoing research to find the cause of such an extinction, but has not yet uncovered them.

12

See Schindewolf, Grundfragen der Paleontologie. Geologische Zeitmessung – Organische Stammesentwicklung – Biologische Systematik (Stuttgart, Schweizebart, 1950).

13

USA 1980, p. 627-642.

14

Benton noted, that “science does not work by proving cases. That is for lawyers. Scientific theories are the best explanation for the results of a series of observations , but a counter observation might disprove a theory at any time.” Benton, op.cit., 96.

15

See L. W. Alvarez, et al., “Extraterrestrial Cause for the Cretaceous-Tertiary Extinction – Experimental Results and Theoretical Implications,” Science, (1980), p. 1095- 1108., and Alvarez W. , T Rex and the Crater of Doom (Princeton, NJ, Princeton Univ. Press, 1980).

16

Quoted by Benton op.cit., p. 104.

17

E.M. Shoemaker and E.C.T Chao, “New Evidence for the Impact-Origin of the Ries Basin, Bavaria, Germany” vol. 66, pp. 3371-3378.

18

See A. R. Hildebrand et al., “Chixculub Crater: A Possible Cretaceous-Tertiary boundary Impact Crater on the Yucatan Peninsula, Mexico Geology (1991), p. 867-871.

19

Quoted by Benton, op.cit., pp. 277-282. See also, A. Baksi and E. Farrar, “Ar40 and Ar49, Dating of the Siberian Traps, USSR – Evaluation of the Ages of the Two Major Extinction Events Relative to Episodes of Flood-Basalt Volcanism in the USSR and the Deccan Traps (of India)” Geology (1991), vol. 19, p., 461-464.

20

Benton, op. cit., 283.

 

* This article was part of a longer discussion, presented at the Historical Institute of the Hungarian Academy of Sciences in October, 2003.

Begegnungen22_Haszpra

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:215–222.

OTTÓ HASZPRA

The Price of a Common Language

Ideas and Data for the Most Economical and Non-discriminatory Language Policy within the European Union

 

On the basis of the so-called “Barcelona objectives” of the Council of Europe the staff of the European Commission elaborated a working paper entitled “Promoting Language Learning and Linguistic Diversity” (Brussels, November 13, 2002). Then, on May 06, 2003, a symposium was arranged in Brussels entitled “What Language Policies for a Multilingual European Union?” to discuss the relevant questions listed in the working paper, to which I myself contributed by a written proposal (Haszpra 2003) serving as a basis of the present article.

The Barcelona objectives – at least as summarized in the title of the working paper – are absolutely acceptable. Nevertheless, learning at least two or three languages recommended in the Barcelona objectives, and also in the working paper, cannot bring about the required results, but creates in practice not only political but also heavy economic discriminations among the nations with different mother tongues.

Therefore, in this paper, conserving the moral fundamentals of the Barcelona objectives, we try to summarize principles for an optimum language policy for the European Union which is politically and economically non-discriminatory and also maximally economical.

 

I. Basic Ideas of the Language Policy Principles within the EU

For promoting language learning and linguistic diversity in the European Union we would have to follow three basic ideas, which are in rather close accord with the widely disseminated ideas of the European Council:

– 1. the promotion of language learning to attain mutual understanding and increasing solidarity between the peoples of the present and future European Union,

– 2. the preservation of the present linguistic diversity and the support of the further development of the mother tongues and of the ethnic and national cultures of Europe, and

– 3. the preservation, further development and widening of the common European culture.

Additionally, wishing to promote a similar development not only within the EU but in the whole world, the following generalization, as a fourth basic idea, is needed as well:

– 4. The promotion of the above ideas on a larger scale for all the countries and peoples of the whole world.

On the basis of the above basic ideas, we now consider some important goals, tasks, and data concerning learning and preserving languages and cultures.

 

II. A Common Official EU-Language and Its Advantages

The European Union needs one single common official language for all EU citizens and institutions for the sake of maximal co-operation and solidarity among all citizens of the new common fatherland, the European Union, while not harming the continued feeling of historical solidarity within and between the nations and national minorities in the Member States, as well as in the linguistic regions or communities. This one single language ensures also direct individual and public verbal communication between any leader and any citizen (even the whole population) of the EU, independently of their mother tongues and without having to rely on interpreters.

Therefore, the European Union has to commit itself to the following:

1. ensure the initial and then the continuous teaching of the common official language of the EU on its whole territory, to each generation one after the other, while not damaging the use of the mother tongues, either official or not, in the Member States and in the linguistic regions,

2. support financially and protect politically the preservation, development and freedom of the private and public use of the mother tongues of all of its citizens, and also the official use of the mother tongues in all matters within the countries and lower level administrative territories (regions, districts, cities, villages, etc.), where their native speakers constitute a certain percentage of the total population, and

3. ensure the right of the citizens to learn and use, besides the official languages and the mother tongues, any language(s) according to their free election.

 

III. Selection Criteria for the Common Official Language of the EU

The common official language of the EU should fulfil the following requirements:

1. be applicable to any internationally necessary private, political, economic, scientific, technical and other communication on both a colloquial and professional level,

2. be easily (also economically) learnable for the individual citizens and the whole EU society, and

3. be the most widely acceptable alternative for becoming the common official language of the whole world in future.

 

IV. Two Realistic Alternatives for the Common Official Language of the EU

There are two, not official but realistic, candidates for the common official language of the EU (see Supplement II):

1. English, first of all because of the worldwide economic, industrial, scientific, technological, informatical, political and military power of the nations whose dominant mother tongue it is. Learning it – as in the case of any “natural” language – requires enormous effort, which in fact can be expressed in money, just as the direct financial costs of teaching. Its use results in heavy political and economic discrimination against those persons and nations whose native language is not English (see Supplement I/1–2).

2. Esperanto, first of all because of its linguistic qualities (applicability not only in political and business matters, but also in interpersonal and cultural contacts), political neutrality (not belonging to any nation or ethnic group) and easy learnability (requiring, as an average, one tenth of the time, needed by any natural language). Its use does not result in any economic or other discrimination against people or nations of different mother tongues (see Supplement I/2/3).

 

V. Conclusions

All the facts, statements and arguments, particularly the high natural and financial investments needed for language learning, briefly mentioned previously and presented in detail in the Supplements section, require a serious reconsideration of the whole language problem. Therefore all the ideas about linguistic communication in the EU, including the list of concrete questions (a) to (g), published in the Commission Staff Working Paper ”Promoting Language Learning and Linguistic Diversity – Consultation” (Brussels, November 13, 2002), must be fundamentally revised. It does not make any sense to answer them now.

It is clear, however, that the EU truly needs one common official language, modern, expressive, but very easy and cheap to learn, and non-discriminatory, politically or economically. Only such a language is fully suitable for the direct communication among language communities and for creating solidarity among the peoples of the EU, and at the same time encouraging all citizens to preserve and develop their mother tongues, i.e. the linguistic (and cultural) diversity of Europe. The only realistic alternative for such a language is Esperanto, which not only serves as a medium for international communication and has an extensive body of original and translated literature, but also facilitates the learning of other languages (e.g. learning English after Esperanto, the two languages together require less time than English alone, and, among others, after having learned Esperanto, the ethnic minorities can learn the official language of their country easier and more economically). In the author’s opinion, within ten years Esperanto can be spread among the whole population of the EU, first in everyday use, politics, literature, basic sciences (mathematics, physics etc.) and then on more specialized fields of science and technology.

 

Supplements

I. Economic problems concerning the languages of the EU and their solution

1. Realizing the Barcelona objectives about learning at least two foreign languages: an economic judgment

What are the economic consequences of ensuring that “all citizens of the Member States” (= all citizens of the EU) ”are able to communicate in at least two languages in addition to their mother tongue(s)”? (All the data here are given in average round numbers and the calculations are much simplified for easier understanding, though the orders of magnitude are correct.)

Learning an ordinary foreign language requires, on average, about 2000 working hours/learner, i.e. one working year/learner (spent in courses, with private teachers, individually, etc.) to attain the ability to communicate well in speech, reading, understanding and writing, both in everyday matters and about topics of the user’s own profession. Learning a second, or third foreign language, however, requires less but still a considerable amount of time.

If only two such languages, a minimum requirement of the Barcelona Council, are learned, the total number of hours, needed by an average person to learn them is 2000 + 1600 = 3600 working hours/learner. The financial value of one hour – for the sake of simplicity and modesty – can be taken to be 10 EUR/hour, so the financial equivalent of the whole time will be 36000 EUR/learner. It must be noted, however, that in fact the learners lose the last one or two years of their active period before retirement (or an earlier death), when customarily the salary is highest and considerably higher than the mentioned 10 EUR/hour. (According to EUROSTAT the average salary in the 15-member EU in 2003 was 22,7 EUR/hour.)

After a transitional period the number of people each year who freshly attain the ability to use at least two foreign languages at the level required by the Barcelona objectives is about 6 million (= a one-year generation of the 450 million inhabitants of the EU). At 36 000 EUR/learner, the total cost is 216 billion EUR/year. Since most people do need courses and/or private teachers, this sum increases to about 240 billion EUR/year.

For learning three languages in 2000 + 1600 + 1400 = 5000 hours/learner, the financial equivalent of the whole learning + teaching would be 400 billion EUR/year.

For comparison: The defence budget of the NATO countries of Europe in 2000 was about 165 billion USD (A survey of the defence industry p. 4, Diagram 1. The Economist, July 20, 2002). The above costs of 240 and 400 billions are 145% and 242%, respectively, of this NATO budget (if we take 1 USD = 1 EUR).

The number of earners – people paid for their work and paying taxes – is about 40% of the 450 million inhabitants of the EU, i.e. 180 million. Since learning two languages takes roughly two working years, this number decreases to 168 million. Assume these learners are supported by an income tax imposed on the earners. If we suppose that the Union (the state) pays the learners the minimum wage, about 5 EUR/hour, the costs are 18000 EUR/learner, and 108 billion EUR/year, which require an average tax as high as 642 EUR/year/earner.

It is now clear that language learning by the whole population of the EU will require enormous individual and societal costs, to be covered each year ad infinitum (if the intention to keep the mother tongues alive is sincere). It is obvious now that the whole language problem must be thoroughly thought through again. Therefore, we now present a concise general survey aiming at a realistic – politically, linguistically and economically optimum – solution.

2. Economic comparison of learning the two alternatives for a single common official EU-language

a.) Learning English requires, on average, 2000 hours/learner, or 20.000 EUR/ learner. From among the 390 million citizens of the EU whose mother tongue is not English, the number of persons in a new generation is about 5 million/year. Their learning English requires 10 billion hours/year or 100 billion EUR/year. But because most people also need teachers, about 10 billion must be added, so the final sum is at least 110 billion EUR/year. (It is 67% of the cost of defence by NATO members Europe, but rather near to 100% of that by the non-English-speaking NATO-, EU-countries!) This sum is paid only by non-English-speaking countries. The UK and Ireland pay nothing.

The tax needed to support the learners of English at the minimum wage of 5 EUR/hour is obviously heavy: 50 billion EUR/year. The number of earners in the EU is about 180 million, without the United Kingdom and Ireland about 156 million, and without the language-learning generation only 151 million. Therefore, in the non-English-speaking countries an additional average income-tax must be paid, as high as 331 EUR/year/earner. Obviously, earners in the UK and Ireland pay nothing.

This tax can be avoided only, if the same number of hours devoted to language learning are taken from other studies, such as mathematics, physics, informatics, economics, other professional and cultural subjects, and the mother tongue. Therefore, the young people in the non-English-speaking countries of EU will possess a considerably lower level of knowledge, resulting in a considerable relative loss of GDP.

b.) Learning Esperanto requires, on average, 200 working hours/learner, equivalent to 2000 EUR/learner. A yearly young generation of the whole EU is about 6 million persons. Their learning of Esperanto requires 1.2 billion hours/year, or 12 billion EUR/year. Another 1.2 billion for teachers results in 13.2 billion EUR/year. It is only 8% of the defence cost by NATO Europe.

The tax to support learners of Esperanto at 5 EUR/hour, or 1000 EUR/learner, is distributed among 179 million people, so it is only 33 EUR/year/ earner, to be paid in the whole EU without any national discrimination.

c.) If we accept the Barcelona objective about learning at least two languages, but one of them, to be learned first, is Esperanto, the costs of language learning can be calculated in the following way.

Esperanto as the common official language plus one (or two) national language(s), foreign in each respective Member State, without discrimination, would require 200 + 1600 (+ 1400) = 1800 (or 3200) working hours/learner. Its financial equivalent is 18000 (32000) EUR/learner. For 6 million learners, it is 108 (192) billion EUR/year. With the cost of teaching, the final result is 120 (210) billion EUR/year, distributed in the whole EU without any national discrimination.

To support the learners of the two (or three) languages at 5 EUR/hour, the roughly 173 (168) million earners will pay a tax of 312 (571) EUR/year/earner.

d.) The language cost of the present EU institutions is insignificant, a few hundred million EUR/year, i.e. easily covered by a tax of a few EUR/year/earner. For the language staff members, with their highly above average language talents, learning Esperanto for internal communication is not a problem. Nevertheless, the knowledge of the national languages of the EU here will always be necessary, since the various central decisions and laws of the EU must be translated into the languages of the Member States and vice versa. Also, people who do not know Esperanto sufficiently, will continue to have the right to deal with the EU in their own languages.

e.) With the introduction of Esperanto a great number of teachers will be needed. Nevertheless, the demand for teachers can be met very quickly from among the present language teachers. Language teachers have an above average talent for language learning and they have already learned the methodology of teaching languages. For them a 200-hour course of Esperanto is obviously more than enough to qualify them to teach it. After some introductory instruction they can even continue learning on their own without any further formal instruction.

As the experiences in Eastern Europe proved, after the change of the political system around 1990, many teachers of Russian learned another language and after a relatively short time they were able to teach English, or German, or French, etc. at the required level.

Finally, a teacher can teach Esperanto to about ten times more children than any other language because the necessary learning time is ten times shorter. The same applies to teaching Esperanto to adults (workers, engineers, scientists, bureaucrats etc.) who – though very busy with everyday work – can easily dedicate a limited period of their time to learning Esperanto, while they could hardly find enough time to learn a natural language.

II. Some characteristics of English and Esperanto

English: Old English is a member of the West-Germanic branch of the Indo-European languages. It has evolved into modern English in a spontaneous (”natural”) way and was strongly influenced by other Indo-European languages, especially French, Scandinavian, Latin and Greek.

It is the native language of nearly 400 million people (about 6% of the 6,4 billion inhabitants of the world), mostly concentrated in the English speaking countries (Australia, Canada, Ireland, New Zealand, South Africa, United Kingdom, United States, etc.) Of these 60 million live in Europe. About the level of mastery of its non-native speakers, there are no reliable statistics. However, it is widely used in international economy, science and politics by an increasing linguistic elite.

Its grammar is relatively simple, but there are a lot of exceptions. The spelling is highly irregular. The many idioms are rather unique, several of its sounds are pronounceable and distinguishable only with difficulty by non-native speakers, for whom being able to understand the spoken language takes a very long time.

Its literature is one of the greatest in the world. Nowadays English is the dominant language of science and technology.

To use English effectively in everyday communication and in one’s own profession, a person with average talent for language learning needs about 2000 hours of training. Even with additional training very few non-native speakers attain the expressive capacity of comparably educated native speakers.

Esperanto: It is a consciously and intentionally (“artificially”) simplified modern offspring of the Indo-European languages, mainly based on Latin-Greek, French, English, German and Russian. Since its initiation in 1887, it has been developed by the Esperanto society itself, in both a spontaneous and a regulated way, as all modern languages, while preserving its logical, simple and highly expressive character.

It is mostly a learned language, although there are several hundred native speakers as well. Esperanto speakers can be found on each continent and in most countries, with the highest concentration in Europe. Each year a World Congress and thousands of local and about 300 international meetings, conferences, cultural events take place. Private and public contacts and literary communication are extensive through the internet, too.

Its grammar is very simple, but powerful, with no exceptions. The spelling is unambiguous for the clearly distinguishable phonemes. It has well defined affixes for word creation. Esperanto can be more or less understood without learning – particularly in written form – by the speakers of its source languages and many others.

Its literature contains translations of thousands of poetic and prosaic works from the five thousand years of the world literature, from the Sumer-Akkadian Gilgamesh epics to Umberto Eco. The original Esperanto literature is comparable to that of minor nations, but its authors represent cultures of five continents. The applicability of Esperanto to sciences and technology has also been proved.

Learning Esperanto at the same level of competency, as mentioned for English, requires about 200 working hours, i.e. one tenth of the time needed for English.

 

Literature

Erasmus, Hans 1997: La lingva problemo kaj la kostoj de komunikado. En: Selten, R. (red.): La Kostoj de la Eu’ropa Lingva [Ne-]Komunikado. “espERAnto” radikala asocio, Roma.

Frank, Helmar. G. 1980: Kibernetike-pedagogia teorio de la lingvo-orientiga instruado. IX-a Internacia Kongreso de Kibernetiko, Namur. In: Kibernetiko de la homa lingvo, 123-144. Hungara Esperant-Asocio – Instituto pri Kibernetiko, Budapest–Paderborn.

Haszpra, Ottó 2002: La natura sargo de la lingvolernado kaj gia radikala malpliigeblo. Scienca Revuo 3/2002, p. 121–133.

http://www.eurolang2001.org/eyl/EN/INFORMATION/AboutEYL/AboutEYL1_en.htm 2001.04.06

Haszpra, Ottó 2003: Language policy principles of EU for promoting language learning and linguistic diversity in a non-discriminative and most economical way. Written proposal to the Symposium on What Language Policies of the European Union, Brussels, May 6.

Maertens, G. 1997: La kostoj de multlingveco. In: Selten, R. (ed.). La Kostoj de la Eu’ropa Lingva [Ne-]Komunikado. 81–89. “espERAnto” radikala asocio, Roma.

Piron, C. 2002: Pluraj retmesagoj pri diversaj kostoj de la multlingveco. rebato@yahoo groups.com, aprilo.

Selten, Reinhard (red.) 1997: La Kostoj de la Europa Lingva [Ne-]Komunikado. „espERAnto” radikala asocio, Roma.

Selten, Reinhard 2003: La distribuo de fremdlingvaj spertoj kiel ludoteoria ekvilibro. Oomoto nro 450, jan-dec, 2004. Staff of the European Commission 2002: Promoting Language Learning and Linguistic Diversity, a working paper. Brussels, November 13.