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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:137–150.

ARNOLD SUPPAN

Bilanz Balkan März 2004

 

Am 18. März 2004 titelten Belgrader Zeitungen: „Krieg!” und: „Kosovo im Blut!” – Bei schweren Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben in der unter UN-Verwaltung (Unmik) stehenden und von der KFOR – von der NATO geführte friedenssichernde Truppen – kontrollierten Provinz Kosovo/Kosovë waren etwa 30 Personen ums Leben gekommen, mehr als 500 verwundet, einschließlich einiger KFOR-Soldaten. Die ethnische Herkunft der Todesopfer – ob Kosovo-Albaner oder Serben – wurde absichtlich nicht bekannt gegeben. Die jüngsten Gewalttätigkeiten hatten mit dem Tod eines jungen Serben begonnen, der am 15. März in Čaglavica, einem Dorf südlich von Priština/Prishtinë aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen worden war. Bereits am nächsten Tag waren drei zwölfjährige albanische Knaben in der Nähe der zwischen Albanern und Serben geteilten Stadt Mitrovica/Mitrovicë im Ibar ertrunken, nachdem sie – so die Aussage eines ebenfalls jugendlichen albanischen Augenzeugen – von jungen Serben mit einem Hund in den Fluss getrieben worden waren. Daraufhin versuchten am 17. März Hunderte albanische Demonstranten über die von französischen KFOR-Soldaten und polnischen UN-Polizisten bewachten Ibar-Brükken in den nördlichen, serbischen Stadtteil zu stürmen. Auf Steinwürfe der albanischen Demonstranten antworteten die KFOR-Soldaten und UN-Polizisten mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen; serbische Heckenschützen aber schossen scharf und töteten einige Demonstranten. Nun wurde auch von albanischer Seite geschossen. Erst als am Nachmittag US-Soldaten eintrafen und scharfe Schüsse in Richtung serbische Seite abgaben, beruhigte sich die Lage.1

Parallel zu diesen schwersten Auseinandersetzungen in Mitrovica seit 1999 griffen Albaner in anderen Städten und Dörfern des Kosovo orthodoxe Klöster und Kirchen, sowie Häuser von serbischen Rückkehrern an und setzten sie in Brand. Über 300 Häuser in serbischen Enklaven wurden niedergebrannt, 41 teilweise aus dem Mittelalter stammende serbische Klöster und Kirchen durch Feuer ganz oder teilweise zerstört; über 3.000 Serben und Roma wurden zur Flucht gezwungen. „Das war eine Art Volksaufstand”, erklärte der ehemalige UÇK-Führer und nunmehrige Parteichef der AAK, Ramush Haradinaj, die tausenden Kosovo-Albaner hätten vor allem gegen ihre schlechte soziale Lage und gegen die hohe Arbeitslosigkeit protestiert, aber auch gegen die Forderung des neuen serbischen Ministerpräsidenten Vojislav Koštunica, den Kosovo in Kantone aufzuspalten. Ein hoher NATO-Offizier sprach jedoch unmissverständlich von versuchten ethnischen Säuberungen. Laut UN-Verwaltung seien an diesem „interethnischen Konflikt” insgesamt rund 50.000 Personen beteiligt gewesen, über 160 Personen seien bereits festgenommen worden. Waren die Kosovo-Serben diesmal eindeutig die Opfer, so attackierten andere Serben Moscheen in Belgrad und Niš und zündeten sie an. Auch albanische Geschäfte wurden geplündert – und die serbische Polizei sah zu. Parolen von 1989 tauchten wieder auf: „Gebt uns Waffen, wir gehen in den Kosovo”. Die serbische Regierung forderte von der internationalen Gemeinschaft nichts weniger als die Entsendung serbischer Truppen in den Kosovo, und die russische Duma – Russland hatte im Sommer 2003 sein KFOR-Kontingent aus finanziellen Gründen abgezogen – verabschiedete eine einhellige Resolution, in der die Entsendung serbischer Truppen zum Schutz der Bevölkerung und der orthodoxen Kirchengüter gefordert wurde.2

Daut Dauti, ein albanischer Analyst aus dem Kosovo lamentierte: „It’s back to the old days,” und: Die Gewaltausbrüche erfolgten, weil seit Sommer 1999 „nothing really happened.” Kosovo sei noch immer nicht unabhängig und die Wirtschaft nicht in Schwung gekommen; die Arbeitslosigkeit betrage noch immer 70%. Für die kosovo-albanische Tageszeitung „Zeri” aber war der Gewaltexzess Wasser auf Belgrads Mühlen. Die in Serbien erhobene Behauptung, wonach ein friedliches Zusammenleben unmöglich sei, habe sich bestätigt, und die von Belgrad geforderte Teilung des Kosovo entlang ethnischer Grenzen werde aktueller denn je. Der Herausgeber der Zeitung „Koha Ditore”, Veton Surroi, schrieb in einem Kommentar, dass das Kosovo nun zur Geisel jener Scharfmacher geworden sei, die nach dem Abzug der jugoslawischen Truppen im Juni 1999 gegen die serbische Bevölkerung mit den Mitteln ethnischer Säuberungen vorgegangen seien. Tatsächlich signalisierten für Dušan Janjić, den Chef des Belgrader Forums für ethnische Beziehungen, die neuen Gewalttätigkeiten ”the final collapse of the ideology of multicultural society in Kosovo.”3

KFOR und UN-Polizei; die vom plötzlichen Ausbruch der Gewalttätigkeiten – trotz einiger Warnzeichen – auch in Prishtinë, Gračanica, Peć/Pejë und Prizren offenbar völlig überrascht worden waren, reagierten umgehend. Verschiedene KFOR-Kontingente griffen sofort ein, um serbische Zivilisten vor albanischen Angriffen zu schützen. In Prishtinë musste die Polizei sogar die Erstürmung des Unmik-Hauptgebäudes verhindern. Daher wurden 150 in Bosnien stationierte US-Soldaten in den Kosovo in Marsch gesetzt, weitere 200 in Bereitschaft gestellt; die britische Regierung kündigte an, 750 zusätzliche Soldaten in den Kosovo zu schicken, die deutsche Regierung sagte weitere 600 Bundeswehrsoldaten zu. Die bisherige internationale Streitmacht von etwa 17.000 KFOR-Soldaten und 10.000 UN-Polizisten erhält somit eine deutliche Aufstockung. Sogar Österreich, das mit Deutschland und der Schweiz das „Task Force Dulje” im Gebiet von Suva Reka und Orahovac unterhält, verstärkte sein Kontingent von 504 Mann um zusätzliche 90 Mann. Das Kosovo-Schutzkorps, die offiziell mit Zivilschutzaufgaben betreute Nachfolgeorganisation der UÇK-Rebellen, bereitete gleich einen Strategieplan vor, in dem die Gründung einer Armee von 30.000 Mann gefordert wurde.4

Mitrovica/Mitrovicë oder Kosovska Mitrovica, wie die Stadt in der Tito-Ära hieß, wurde nicht zufällig Mittelpunkt der jüngsten albanisch-serbischen Auseinandersetzungen. Nach der Volkszählung von 1981 lebten in dieser Stadtgemeinde noch 105.000 Einwohner, darunter fast 67.000 Albaner, 28.000 Serben und knapp 11.000 Roma, Bošnjaken und andere Minderheiten. Schon damals hatte allerdings der Niedergang des Firmenkonglomerats „Trepča” begonnen, in dem 20.000 Arbeiter und Angestellte nicht nur den Abbau von Blei, Zink und Silber betrieben, sondern auch zahlreiche andere Fabriken, Hotels und Ländereien bewirtschafteten. Bereits im Frühjahr 1981 war es hier zu größeren Streikaktionen und Ausschreitungen, sowie zum Einsatz von Polizei und Armee gekommen. Im Verlauf der 1980er Jahre wurde „Trepča” immer mehr zum Zuschussbetrieb, und auch heute noch – nachdem die Spekulationen der sozialistischen Großmannssucht längst ausgeträumt sind – bewachen und verwalten 2.000 Lohnempfänger die Reste des einstigen Firmenimperiums. Seit dem Krieg im Kosovo ist die Stadt freilich entlang des Ibar geteilt, und serbische „Brückenwächter” sorgen dafür, dass sich kein Albaner in den serbisch kontrollierten Nordteil der Stadt wagt. Dies bekam im Dezember 2003 auch der albanische Ministerpräsident der Übergangsregierung des Kosovo, Bajram Rexhepi, zu spüren, als er sich mit einer Delegation der Weltbank im Norden der Stadt aufhielt und in einem Restaurant „entdeckt” wurde. Sofort versammelten sich einige Dutzend serbische Gewalttäter und begannen mit Steinen zu werfen, so dass Rexhepi mit seinen Leibwächtern nur die Flucht durch eine Hintertür blieb. Zwar bewachen seit 1999 KFOR-Truppen und internationale Polizei die ethnisch geteilte Stadt, der Waffenstillstand blieb aber äußerst fragil. Ob eine „Paketlösung” – wie jüngst von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) vorgeschlagen – mit Aufhebung der Teilung der Stadt und vollständiger Rückgabe des Eigentums (z.B. der Wohnungen) an die jeweils Vertriebenen umsetzbar wäre, muss derzeit freilich stark bezweifelt werden. Denn bereits Präsident Milošević hatte den serbischen Nordteil der Stadt mit dem angrenzenden, ebenfalls serbischen Bezirk Zvečan verwaltungsmäßig zusammengeschlossen und damit die Teilung vertieft.5

Auch der neue Ministerpräsident Koštunica – der frühere Präsident der Bundesrepublik Jugoslawiens und Gegenspieler sowohl von Slobodan Milošević als auch von Zoran Djindjić – hatte vor einigen Wochen die „Kantonisierung” des Kosovo vorgeschlagen, was natürlich die Albaner strikt abgelehnt hatten. Aber auch der UN-Verwalter im Kosovo, der Finne Harri Holkeri, stellte nach einem Treffen mit Koštunica in Belgrad unmissverständlich fest, dass eine Aufteilung des Kosovo nicht zur Diskussion stehe, da ein solcher Vorschlag in der UN-Resolution 1244 – der gültigen Rechtsgrundlage für die ehemalige serbische Provinz Kosovo – nicht vorgesehen sei.6 Koštunica war erst nach einer schwierigen Regierungsbildung in Serbien neuerlich an die Macht gekommen, nachdem bei den Parlamentswahlen im Dezember 2003 die ultranationalistische Radikale Partei des in Den Haag als mutmaßlicher Kriegsverbrecher einsitzenden Vojislav Šešelj als stärkste und die nationalistische Demokratische Partei Serbiens Koštunicas als zweitstärkste Partei hervorgegangen waren. Koštunica stellte sich nun, am 19. März, an die Spitze eines Protestzuges und marschierte durch das Stadtzentrum von Belgrad zur neu errichteten Sava-Kathedrale. Zu Mittag läuteten im ganzen Land die Kirchenglocken. Der nationale Schulterschluss zwischen serbischer Politik und serbisch-orthodoxer Kirche war offensichtlich.

Noch am 12. März 2004, am ersten Jahrestag der Ermordung des Ministerpräsidenten Djindjić, hatten – relativ einträchtig – Koštunica, sein Vorgänger Zoran Živković und der serbische Kronprätendent, Alexander Karadjordjević, am Trg republike in Belgrad eine Gedenktafel enthüllt und Kränze am Ort des Attentats, im Hof des Regierungsgebäudes, niedergelegt. Allerdings hatte Koštunicas Partei, die Demokratische Partei Serbiens, in den letzten drei Jahren den proeuropäischen Kurs Djindjić immer wieder verteufelt. Die Belgrader Zeitschrift „Vreme” warf nun Djindjić7 posthum vor, ein institutionelles Vakuum hinterlassen zu haben, das von unfähigen Erben nur teilweise ausgefüllt worden sei. Dieses Vakuum stelle aber eine akute Gefahr für die serbische Gesellschaft dar. Tatsächlich hatte Djindjić zur Erreichung seiner Ziele manchmal rechtsstaatliche und moralische Prinzipien vernachlässigt und hatte auch zweifelhafte Kontakte zu Milošević-Günstlingen unterhalten. Andererseits war es aber Djindjić, der Milošević an das UN-Tribunal in Den Haag ausliefern ließ und somit den nun schon zwei Jahre dauernden Kriegsverbrecherprozess ermöglichte. Und Djindjić, der seine größte Verantwortung darin sah, sein „Land nach Europa zurückzuführen”, hatte auch schon vor drei Jahren die mehr als problematische Haltung vieler Serben zu Europa erkannt: „Wir geben uns zu viel Bedeutung als Land und als Leute. Viele denken hier, die Welt schulde uns etwas.” Europa aber warte nicht auf Serbien.8

Nach dem Bomberkrieg der NATO gegen Serbien zwischen März und Juni 1999 hatte Milošević die serbischen Truppen aus dem Kosovo abziehen müssen, und der größte Teil der in den Jahren 1998 und 1999 vertriebenen etwa 800.000 Kosovo-Albaner war wieder in ihre Heimatprovinz zurückgekehrt. Freilich verließen nun – nicht ohne albanischen Druck – mehr und mehr Kosovo-Serben ihre Heimat, so dass heute neben den 1,8 Millionen Albanern nur mehr etwa 100.000 Serben und andere Nicht-Albaner (hauptsächlich Roma) im Kosovo leben, vor allem in zwei Gemeinden nördlich von Mitrovica, sowie in mehreren Gemeinden an der Grenze zu Makedonien. Trotz intensiver Bemühungen der internationalen Gemeinschaft nahm in den vergangenen Jahren der Wille zum Zusammenleben im Kosovo eher ab und – parallel dazu – die politische Polarisierung zu. Auf der Seite der Kosovo-Albaner fehlt einfach die Bereitschaft zur Aussöhnung mit den Kosovo-Serben. Und für viele Serben muss Kosovo nach wie vor ein Teil Serbiens bleiben.9

Ende August 2003 hatte das noch von den sogenannten Reformkräften des im Spätherbst 2003 abgewählten DOS-Bündnisses dominierte serbische Parlament einstimmig eine Deklaration verabschiedet, wonach Kosovo ein integraler Teil Serbiens bleiben solle, mit weitreichender Autonomie für die albanische Bevölkerung. Die serbische Historikerin Latinka Perović10 sah darin ein deutliches Beispiel, „dass die politische Elite Serbiens die neuen Realitäten bezüglich Kosovos nicht akzeptieren will”. Dazu gehöre, dass die überwiegend albanische Bevölkerung des Kosovo mit Belgrad einfach nichts mehr zu tun haben wolle. Aber in Belgrad und in Serbien bestimme nach wie vor ein nationalistischer Konsens den öffentlichen Diskurs. Weder die serbische Gesellschaft im Allgemeinen, noch die früheren Regierungsparteien hätten eine historische Bilanz gezogen. Aber auch frühere Gegner der Kriege Milošević’ hätten das ethnische Programm, in dessen Namen die Kriege geführt worden seien, nie kritisch hinterfragt – zum Teil auch aus Angst vor Wählerverlusten.

Lediglich der ermordete Ministerpräsident Djindjić habe begriffen, dass Serbien einen Schlussstrich unter das ethnische Programm setzen müsse, um Partner in der EU und in den U.S.A. zu finden. Daher habe er auch die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal intensiviert und Milošević nach Den Haag überführen lassen. Diese beachtliche Entscheidung habe aber keine tiefere Wirkung in der serbischen Gesellschaft gezeitigt – fast im Gegenteil: Viele Serben sähen sich mit Milošević auf der Anklagebank und das, obwohl sich der frühere Staatschef ausschließlich als Individuum zu verantworten habe.11

Die Beharrungskraft des nationalistischen Konsenses in Serbien erklären manche interne und externe Beobachter nur teilweise mit den schwierigen Lebensbedingungen in Serbien, wo ein Großteil der Bevölkerung um das tägliche Überleben kämpfen muss. Entscheidend ist vielmehr die nationalistische Weichenstellung, die zuerst serbische Intellektuelle (vornehmlich Schriftsteller und Historiker), ab 1987 immer mehr gesellschaftliche Kräfte vorgenommen hätten. Die von Slobodan Milošević seit seinem legendären Auftritt im Kosovo im April 1987 initiierte nationalistische Massenbewegung – als „antibürokratische Revolution” getarnt – zielte nun darauf ab, alle serbischen Siedlungsgebiete – auch die, in denen Serben nur eine Minderheit ausmachten – in einem Staat zu vereinen, sei dies in einem von Serbien dominierten Jugoslawien oder in einem „ethnisch reinen Staat”. Dieser nationalistische Konsens erfasste innerhalb kürzester Zeit so gut wie alle Gruppen der Serben in allen jugoslawischen Teilrepubliken und autonomen Regionen, mit Ausnahme der Republik Slowenien, in der es keine autochthone serbische Minderheit gab. Dadurch wurden aber längst fällige wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Reformen blockiert, und dies angesichts des Falles des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer. Nicht einmal als das großserbische Programm in Kroatien und teilweise auch in Bosnien- Herzegowina eine Niederlage erlitten hatte, wurde dieses Scheitern intellektuell und moralisch verarbeitet. Dazu gehört, dass territoriale Ansprüche durchaus mit sich widersprechenden Prinzipien begründet werden: Nach allgemeiner Meinung gehöre Kosovo zu Serbien, weil es das angebliche Kernland des mittelalterlichen Serbien gewesen sei; die Vojvodina aber gehöre zu Serbien, weil die Mehrheit der Bevölkerung heute serbisch sei. Dass die mittelalterliche Herrschaft der serbischen Könige und Zaren im Kosovo nur gut 150 Jahre gedauert hatte, und dass die Albaner dort seit Jahrhunderten die Bevölkerungsmehrheit stellen, stört hierbei ebenso wenig wie die Tatsache, dass die schon im Mittelalter und dann wieder seit dem frühen 18. Jahrhundert zu Ungarn gehörende Vojvodina erst nach 1945 eine serbische Mehrheit erhielt.12

Die Langlebigkeit des nationalistischen Konsenses ist zweifellos Ausdruck einer tiefen Identitätskrise in der serbischen Gesellschaft. Die meisten Menschen wünschten sich zwar den materiellen Wohlstand des Westens, lehnten jedoch den europäischen Geist ab, dem dieser Wohlstand entspringt. Daher werden die westlichen Standards bezüglich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und globaler Marktwirtschaft nicht angenommen. Dem europäischen Geist wird eine populistische Mischung aus Bauerntum, Orthodoxie und Folklorismus entgegengesetzt und darin die eigentliche Bestimmung des Serbentums gesehen. Diese Ideologisierung vormoderner Lebensformen bringt auch ein autoritäres Syndrom hervor: Die Macht soll nicht von der Gesellschaft ausgehen, sondern die Macht soll jenem zukommen, der das vermeintliche Serbentum am besten verkörpere. Diese Vorstellung lehnt sich an die russische Ausprägung von Sozialismus im 19. Jahrhundert an: Die Gesellschaft wird als Volksdemokratie verstanden, die auf traditionellen Einrichtungen wie der Dorfversammlung und dem Ältestenrat gründet. Daraus aber entsteht eine autoritäre politische Kultur, die sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Schwäche der Gesellschaft stets reproduziert. Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass es im Verlauf der serbischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder nur relativ kurze Phasen einer Europäisierung – mit politischer Demokratisierung, Industrialisierung und Ausbildung zu qualifizierter Arbeit – gegeben hat, die auch immer wieder – etwa 1912 oder 1929 oder 1941 oder 1972 – jäh unterbrochen worden waren. Daher ist der Prognose Latinka Perović’ zuzustimmen: „Solange die [serbischen] Politiker nicht einsehen, dass kollektivistische Gesellschaftsvorstellungen überholt sind, kann man nicht erwarten, dass in Serbien eine neue Orientierung entsteht.”13

Das 1993 in Den Haag eingerichtete UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia) sollte bei Serben, Kroaten, Montenegrinern und bosnisch-herzegowinischen Muslimen eine nationale Selbstbesinnung einleiten. Durch Individualisierung von Schuld und umfassende juridische Aufarbeitung sollten auch die verheerenden Feindbilder abgebaut werden. Aber die meisten Politiker in Belgrad, Zagreb, Sarajevo und Podgorica waren bisher nicht bereit, ihrer Bevölkerung die Aufgaben des UN-Tribunals zu erklären. Als allgemeine Ausrede galt und gilt, alle hätten Kriegsverbrechen begangen. Bestenfalls politischer Pragmatismus zwang sie, mit dem internationalen Gericht zu kooperieren, da andernfalls die weiteren Kontakte zu EU und NATO gefährdet waren. Änderte das Ableben der Präsidenten Franjo Tudjman und Alija Izetbegović zumindest die Haltung mancher Kroaten und mancher Muslime, so scheint der endgültige Bruch mit dem Milošević-Regime in Belgrad noch immer nicht vollzogen. Immerhin hatte ein großer Teil der politischen, ökonomischen und geistigen Eliten in nationalistischer Verblendung Milošević unterstützt. Mittlerweile haben aber Schuldeingeständnisse serbischer Angeklagter eine Fülle von Einzelheiten über Kriegsverbrechen ans Tageslicht gebracht. So hat ein ehemaliger bosnisch-serbischer Offizier vor dem UN-Tribunal zugegeben, dass das Massaker an etwa 7.500 muslimischen Bošnjaken in Srebrenica im Juli 1995 sorgfältig geplant und unter dem Kommando von General Mladić systematisch durchgeführt worden sei. Freilich ist es nach wie vor ein Skandal – auch der in Bosnien stationierten NATO-Truppen –, dass die beiden Hauptverantwortlichen für den Krieg in Bosnien, der Arzt Radovan Karadžić und General Ratko Mladić, neun Jahre nach der Anklageerhebung noch immer in Freiheit sind. Immerhin lässt nun der neue Hohe Repräsentant in Sarajevo, Paddy Ashdown, die beiden bosnisch-serbischen Kriegsherren verstärkt suchen. Und immerhin wurde in Den Haag von den insgesamt 94 Angeklagten bereits die Hälfte abgeurteilt (darunter Milan Babić der ehemalige Führer der Serben in Kroatien), acht stehen derzeit vor Gericht (darunter Momčilo Krajišnik, der Führer der Serben in Bosnien), 25 warten noch auf den Prozess und 20 werden noch gesucht. Zu den Gesuchten gehört auch der ehemalige kroatische General Gotovina, der sich aber als ehemaliger Fremdenlegionär mit französischem Pass möglicherweise in Südfrankreich versteckt hält.14

Ende Februar 2004 hat die Anklagevertretung des UN-Tribunals (Chefanklägerin Carla Del Ponte und Ankläger Geoffrey Nice) nach zweijähriger, ziemlich mühsamer Arbeit die Beweisführung gegen den Machthaber Serbiens zwischen Herbst 1987 und Herbst 2000 beendet. Da Slobodan Milošević kaum schriftliche Dokumente zurückließ, die seine Schuld hätten beweisen können, musste die Anklage ihre Beweisführung vor allem auf die Aussagen von knapp 300 Zeugen abstützen. Der seit über zwei Jahren in der Nähe des mondänen holländischen Seebades Scheveningen wegen vermuteten Völkermords (in Bosnien), wegen vermuteter Verbrechen gegen die Menschlichkeit (im Kosovo und in Bosnien), sowie wegen vermuteter Verstöße gegen die Genfer Konventionen und vermuteter Verletzung des Kriegsrechts einsitzende Milošević kann im Mai mit seiner Verteidigung beginnen, wofür ihm 150 Prozesstage eingeräumt wurden. Bisher waren bei ihm keine Anzeichen von Einsicht oder gar Reue zu erkennen. Allerdings haben bereits frühere enge Vertraute, ehemalige jugoslawische Politiker (so der ehemalige slowenische Präsident Milan Kučan) und westliche Vermittler (wie Paddy Ashdown, David Owen und Wesley Clark) ausgesagt, dass Milošević nicht nur alle politischen Institutionen in Belgrad und Serbien beherrscht, sondern auch entscheidenden Einfluss auf die Jugoslawische Volksarmee sowie – zumindest am Beginn – auf die militärische und politische Führung der kroatischen und bosnischen Serben ausgeübt habe.15

Auch für die Zukunft des Staates Bosnien und Herzegowina gibt es ganz unterschiedliche Visionen.16 Die „Wesire und Konsuln” der von Ivo Andrić so meisterhaft beschriebenen Zeit um 1800 in seiner Geburtsstadt Travnik sind nach dem verheerenden Belagerungs- und Vertreibungskrieg zwischen 1992 und 1995 längst von der neuen Spezies der sogenannten „Internationalen”, der Vertreter internationaler Organisationen (EU, NATO) aber auch privater NGOs, abgelöst worden. Eine in Berlin und Sarajevo angesiedelte Europäische Stabilitäts-Initiative (ESI) unter Leitung des Österreichers Gerald Knaus machte in einer Studie jüngst den Vorschlag, Bosnien und Herzegowina nach helvetischem Vorbild zu föderalisieren und die beiden bisherigen „Entitäten” abzuschaffen. Die zwölf Kantone der Bošnjakisch-Kroatischen Föderation, die Republika Srpska und der Distrikt von Brčko sollten als nunmehr 14 gleichberechtigte Kantone in einen Föderalstaat eingebunden werden, um die bisher übermäßige Bürokratisierung durch Reduzierung von vier auf drei Verwaltungsebenen zurückzubinden und die Gemeinsamkeiten des Staates stärker sichtbar zu machen. In einer von den vier deutschen Parteien-Stiftungen nach Sarajevo eingeladenen Diskussion mit bošnjakischen, kroatischen und serbischen Politikern verteidigte der Präsident der Serbischen Demokratischen Partei den Sonderstatus der Republika Srpska, während ein Vertreter der regierenden bošnjakischen Demokratischen Aktion die fortgesetzte Präsenz der „Internationalen” wünschte und nur ein sozialdemokratischer Vertreter für eine überethnische Neuaufteilung des Landes nach wirtschaftlich sinnvollen Regionen eintrat. Zwar gab es Lob, dass im Lande wieder völlige Bewegungsfreiheit herrsche, und dass über die Hälfte der Vertriebenen zurückgekehrt seien, dennoch sei die Ineffizienz eines gigantischen und teuren Verwaltungsapparats sichtbar und nach wie vor die Durchführung einer Volkszählung unmöglich, ohne die jedoch keine verlässlichen Daten zu erheben seien.17

Auch der Hohe Repräsentant der Staatengemeinschaft (OHR), der britische Liberale Paddy Ashdown, denkt laut über Verwaltungskonzentrationen nach. Das 1175 km2 große und etwa 100.000 Einwohner umfassende Stadtgebiet von Mostar in der Herzegowina wurde 1996 in sechs Verwaltungsbezirke unterteilt, drei kroatisch und drei bošnjakisch kontrollierte. In einem Erlass vom 28. Jänner 2004 bestimmte nun Ashdown für den 15. März die formelle Auflösung dieser sechs Verwaltungsbezirke (mit zusammen 700 Mitarbeitern) und deren Ersetzung durch ein einheitliches, 35-köpfiges Stadtparlament mit einem Bürgermeister. Mit der neuen Struktur ließen sich wöchentlich immerhin 315.000 Dollar einsparen. Natürlich sind mit dieser autokratischen Weisung weder die im Westteil der Stadt regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), noch die im Ostteil dominierende Bošnjakische Demokratische Aktion (SDA) einverstanden, denn Ashdown trifft damit mehrere, seit dem Krieg etablierte Machtsysteme, die mit ihrer Korruption zum Teil direkt an die jahrhundertelange osmanische Herrschaft erinnern. Obwohl für alle wichtigen künftigen Beschlüsse im Stadtrat eine Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre, lamentieren HDZ und SDA von der Gefahr einer Beherrschung durch die andere Seite. Tatsächlich wollen beide Seiten in dem von ihnen beherrschten Stadtteil absolut regieren können und notfalls auch einer Teilung der Stadt zustimmen. Nach Meinungsumfragen scheint aber eine Mehrheit der Bevölkerung den Absichten Ashdown’s zuzustimmen. Ein bošnjakischer Arzt, der nach 1995 aus dem westeuropäischen Asyl zurückgekehrt war, resumierte daher treffend: „Wir lebten immer unter irgendeinem fremden Diktat. Offenbar geht es auch heute nicht anders.”18

Auch Makedonien lebte immer unter irgendeinem fremden Diktat – ich meine natürlich das slawische Makedonien und nicht das Imperium Alexander des Großen. Nach erstaunlich friedlicher Verselbständigung im Herbst 1991, die der alte politische Fuchs Kiro Gligorov im Windschatten des serbisch-kroatischen Krieges geradezu meisterhaft durchgeführt hatte, geriet der neue Staat „The Former Yugoslav Republic of Macedonia” – so verlangte es das NATO- und EU-Mitglied Griechenland – recht bald in slawisch-albanische Auseinandersetzungen. Die slawischen Makedonier betrachteten den neuen Staat als ihren Nationalstaat, während sich die starke albanische Minderheit mit Recht an den Rand geschoben sah. Dabei begann sie mit Hilfe ihrer westlichen Diaspora und auf Grund der geringen Involvierung in die zusammenbrechende ex-jugoslawische Staatswirtschaft die slawischen Makedonier wirtschaftlich zu überholen. Als albanische Intellektuelle unter Führung von Fadil Sulejmani Ende 1994 die private „Tetovo-Universität” gründeten, verlangte die Regierung in Skopje die sofortige Schließung; es folgten Proteste, Schießereien und Tote. Das Projekt aber wurde zur „nationalen Sache” der Albaner, und heute werden nach Schätzung der OSZE an dieser Universität etwa 2.500 Studenten ausgebildet, nach Schätzungen der Albaner bis zu 10.000. Als Kompromiss im Bildungsstreit richteten westliche Geldgeber im Herbst 2001 die ebenfalls private „Südosteuropäische Universität” in Tetovo ein, die albanisch-, makedonisch- und englischsprachig geführt wird und fünf auf den Arbeitsmarkt ausgerichtete Fakultäten betreibt (Recht, Verwaltung, Betriebswirtschaft, Kommunikationstechnologie und Lehrerausbildung). Ende Jänner 2004 beschloss nun die multiethnische Regierungskoalition in Skopje die Etablierung einer dritten, einer albanischsprachigen Universität in Tetovo. Freilich wird vorerst zu klären sein, welche Fakultäten der „Tetovo-Universität” allenfalls übernommen werden könnten. Schon jetzt forderte der Vorsitzende der albanischen Regierungspartei, Arben Xhaferi, von der neuen Universität „höchste Anforderungen”: „Unsere Bürger sollen nicht in Cambridge studieren. Cambridge wird in Tetovo sein.” – Davon haben schon viele geträumt; das wird auch in Tetovo noch etwas dauern.19

Trotz dieser erfreulichen Bildungsoffensive sollte nicht vergessen werden, dass der unabhängige Staat Makedonien noch im Sommer 2001 am Rande eines Bürgerkriegs zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der albanischen UÇK-Guerilla stand. Nur unter massivem Druck der internationalen Staatengemeinschaft kam das Abkommen von Ohrid zustande, das durch eine Reihe von Reformmaßnahmen die verstärkte Integration der Albaner in das makedonische Staatswesen vorsah. Tatsächlich wurde während der Präsidentschaft des bekennenden Methodisten Boris Trajkovski die angeordnete Cohabitation ausgebaut und scheint auch nach dem tragischen Flugzeugabsturz des Präsidenten Ende Februar 2004 zu funktionieren. Jedenfalls konnte am 22. März 2004 eine makedonische Regierungsdelegation unter Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Branko Crvenkovski das Gesuch um Aufnahme in die EU in Dublin abgeben. Kein geringerer als der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hatte am Grab Trajkovskis dazu ermuntert: „Wir freuen uns, das Gesuch Makedoniens für den Beitritt in die Union entgegenzunehmen.” Tatsächlich waren in den letzten Jahren unter westlichem Druck wesentliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Reformen erfolgt, die nun auch die albanische Bevölkerungsminderheit – immerhin zwischen 25 und 30% stark – wesentlich besser einbanden. Freilich, verglichen mit Kroatien, das vor einem Jahr sein Gesuch an die EU eingereicht hatte, weist Makedonien noch gewaltige wirtschaftliche und soziale Rückstände auf, die nicht zuletzt auch gegenüber seinem südlichen Nachbarn Griechenland bestehen.20

Zur Versöhnung zwischen den slawischen und albanischen Makedoniern könnte der nahezu 50jährige serbisch-makedonische Kirchenstreit beitragen. Bereits 1958 schufen die orthodoxen Bischöfe der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien eine eigene Kirchenorganisation, und 1967 erklärte sich die makedonisch-orthodoxe Kirche als autokephal – natürlich mit Zustimmung Titos. Weder die serbisch-orthodoxe Kirche noch der ökumenische Patriarch in Konstantinopel erkannten jedoch die makedonische Schwesterkirche an. Der serbische Patriarch Pavle forderte daher auf Anraten einiger seiner nationalistischen Bischöfe zum diesjährigen orthodoxen Neujahr die „makedonischen Brüder und Schwestern” auf, in den Schoß seiner Kirche zurückzukehren. Schon im Mai vergangenen Jahres hatte Belgrad in Ohrid eine Erzdiözese einzurichten versucht; Erzbischof Jovan war aber nach Beeinflussung einiger Klöster verhaftet und wegen „Aufwiegelung zu nationalem, religiösem und ethnischem Hass” zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Weder Präsident Trajkovski noch der serbisch-montenegrinische Außenminister Goran Svilanović wollten sich in den Kirchenstreit hineinziehen lassen. Allerdings verabschiedete das makedonische Parlament eine überparteiliche Deklaration, welche die „Angriffe” der serbisch-orthodoxen Kirche als Infragestellung der Souveränität und Integrität des Landes verurteilte. Denn die autokephale orthodoxe Kirche sei für die geistige Prosperität des Landes von größter Bedeutung.21

Die Aussichten für die Entwicklung in den kommenden Jahren sind also in Serbien, im Kosovo und in Bosnien nach wie vor mehr als kritisch:

1) Für die Neuwahl eines serbischen Präsidenten im Juni 2004 hat bereits Tomislav Nikolič, der stellvertretende Chef der Radikalen Partei des in Den Haag einsitzenden mutmaßlichen Kriegsverbrechers Vojislav Šešelj, seine Kandidatur angekündigt. Laut Meinungsumfragen wäre nur Koštunica in der Lage, diesen Kandidaten der ultranationalistischen Radikalen zu schlagen, doch dieser äußerte bisher kein Interesse an einem Wechsel ins höchste Staatsamt. Eine Nagelprobe für die Bereitschaft der neuen Regierung zur Zusammenarbeit mit dem Westen wird sehr rasch die Frage der weiteren Kooperation mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag darstellen. Weder der neue Ministerpräsident Koštunica noch die überwiegende Mehrheit der Serben sind zu weiteren Auslieferungen von gesuchten Kriegsverbrechern bereit. „Serbs believe that The Hague has blackmailed them, and they now hate it more than they hate NATO,” schrieb unlängst eine serbische Journalistin. Und man fragt in Serbien, warum die Untersuchungen gegen den nun verstorbenen bosnischen Präsidenten Izetbegović verzögert worden seien, und warum in Den Haag noch kein Kosovo-Albaner abgeurteilt worden sei. Vier warten dort derzeit auf einen Prozess, mit weiteren Verhaftungen von ehemaligen albanischen Rebellen ist aber zu rechnen. Da diese freilich als Volkshelden gelten, könnte dies durchaus zu neuen Unruhen führen.22

2) Wie die jüngsten Unruhen zeigten, ist das Frustrationspotential unter den Albanern und Serben im Kosovo so hoch angestiegen, dass jederzeit mit weiteren gewalttätigen Ausschreitungen zu rechnen ist. Die Kosovo-Albaner wollen eine Klärung des völkerrechtlichen Status zu ihren Gunsten herbeiführen; die serbische Minderheit will eine Absicherung ihrer gefährdeten Lage innerhalb Serbiens. Die neue Belgrader Regierung, gestützt auf die von der internationalen Gemeinschaft merkwürdigerweise zugelassenen serbischen parallelen Verwaltungsstrukturen im Kosovo, spricht von einer Aufsplitterung der Unruheprovinz in albanische und serbische Regionen, ohne den Souveränitätsanspruch auf die gesamte Provinz aufzugeben – vorerst. Die inhaltliche Bewegung auf serbischer Seite könnte bei entsprechender Reaktion auf albanischer Seite zu serbisch-albanischen Verhandlungen über eine Teilung des Kosovo führen, die von der westlichen Staatengemeinschaft bisher strikt abgelehnt wurde. UNO, NATO und EU aber werden sich entscheiden müssen, ob sie das bisherige Provisorium auch weiterhin mit viel Geld, Beamten, Polizisten und Soldaten aufrecht erhalten wollen – ohne in naher Zukunft eine wirkliche Aussöhnung zwischen Albanern und Serben erreichen zu können –, oder ob sie nicht doch zu wirklichen Friedensgesprächen ohne Vorbedingungen (wie etwa die weitere Gültigkeit der UN-Resolution 1244) einladen sollten, um wenigstens das „Pulverfass” Kosovo zu entschärfen. Immerhin sollte die Geschichte lehren, dass es zwischen Albanern und Serben niemals ein wirkliches Zusammenleben gegeben hatte, weder unter osmanischer noch unter jugoslawischer Herrschaft. In Perioden des titoistischen Jugoslawien gab es wenigstens ein friedliches Nebeneinander, das derzeit nur bei deutlicher Trennung erreichbar scheint.23

3) Ein Blick in die Geschichtsbücher – in westliche wie in jugoslawische – könnte den EU-Beauftragten Janvier Solana lehren, dass sich das montenegrinische Volk selten freiwillig einem anderen Staatswesen unterordnete. Das mussten im Verlauf der Geschichte auch die Osmanen, Venetianer oder Habsburger erfahren. Sogar die Eingliederung ins erste Jugoslawien war im November 1918 nicht ganz freiwillig erfolgt, und auch der montenegrinische Partisanenführer Milovan Djilas hatte nicht alle Landsleute auf seiner Seite. Dies bedeutet dass, der EU früher oder später nichts anderes übrig bleiben wird, als in Montenegro das Volk befragen zu lassen, ob die serbisch-montenegrinische Staatsgemeinschaft bestehen bleiben soll oder nicht. Die jüngsten Krisen in Serbien haben den Befürwortern einer montenegrinischen Unabhängigkeit sicher Auftrieb gegeben.24

4) Da die Zerstörung Bosniens und der Herzegowina in erster Linie von der politischen Strategie Milošević’ und Karadžić’ und ihrer Helfershelfer ausging und von jungen städtischen outlaws wie Arkan durchgeführt wurde, könnte nach Auslieferung und Aburteilung aller Kriegsverbrecher doch eine Annäherung zwischen den drei Volksgruppen eingeleitet werden. Allerdings hat in weiten Teilen Bosniens und der Herzegowina, trotz der Rückkehr vieler Flüchtlinge, doch eine, noch immer anhaltende Separierung zwischen Serben, Kroaten und Muslimen stattgefunden, die höchstens einem stark föderalisierten Staatswesen größere Überlebenschancen einräumt. Marie-Janine Calic sah in einer Publikation aus dem Jahre 1996 vier Faktoren als entscheidend für die Umsetzung des Vertrages von Dayton bzw. Paris: die Geschwindigkeit der Demokratisierung in Bosnien-Herzegowina; die Garantie der Freizügigkeit innerhalb des neuen Staates einschließlich der Rückkehr der Flüchtlinge; das Tempo des wirtschaftlichen Wiederaufbaues; und die praktische Umsetzung der militärischen Vereinbarungen. Freilich, sollte die Implementierung wichtiger politischer Vereinbarungen an der mangelnden Kompromissbereitschaft der Konfliktparteien scheitern, wären auch die militärischen Befriedungsbemühungen hinfällig. Ob die Volksgruppen Bosniens und der Herzegowina wieder in einem gemeinsamen Staat zusammenleben wollten, hänge einerseits von der Besserung der allgemeinen Lebensverhältnisse ab, andererseits von der Bereitschaft der politischen Führungen, von ihrem exklusiv-nationalistischen Kurs abzurücken, nicht zuletzt aber auch von der Frage, in welchem Maß die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.25

5) Eine entscheidende Frage für die Zukunft des Balkans wird schließlich sein, ob alle Albaner in Albanien, im Kosovo, im südlichen Montenegro, im westlichen Makedonien und im nördlichen Griechenland im Grunde ihrer Herzen ein „Großalbanien” anstreben oder nicht. Zum historischen Hintergrund: Bis 1912 waren alle albanischen Siedlungsgebiete innerhalb des Osmanischen Reiches vereinigt, zwischen 1941 und 1944 zuerst unter italienischer, dann unter deutscher Herrschaft. Eine vor kurzem erschienene Studie einer Brüsseler Expertengruppe über „Pan-Albanismus” kommt nun zum Schluss, dass ein solches pan-albanische Bestreben eindeutig nicht zutreffe. Die ehemaligen albanischen Rebellen im Kosovo und in Makedonien hätten – trotz ursprünglicher pan-albanischer Rhetorik und entsprechender nationaler Insignien – erkannt, dass sie nur dann politisch Erfolg haben, wenn sie sich mit den konkreten Bedürfnissen ihrer Bevölkerungsgruppen beschäftigen. Daher sei es notwendig, in Makedonien die Albaner in den dezentralisierten Staat zu integrieren und im Kosovo eine konditionierte Unabhängigkeit anzustreben. Der albanischen Führung in Prishtinë sei es mittlerweile ziemlich klar, dass sie vor Erreichung dieser Unabhängigkeit rechtsstaatliche Prinzipien und umfassende Minderheitenrechte glaubwürdig einhalten muss. Darüber hinaus stelle sich die Frage nach dem Interesse der Republik Albanien, die derzeit von der Sozialistischen Partei unter Führung des Ministerpräsidenten Nano regiert werde. Fatos Nano, ein gebürtiger Toske, halte sich bisher strikt an die UN-Resolution 1244 und spreche lediglich von Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Hilfe einer neuen Strassenverbindung von Prishtinë über Prizren nach Tirana und dem Hafen Durrës. Tatsächlich spaltet der alte Gegensatz zwischen den im südlichen und mittleren Albanien siedelnden Tosken und den Gegen im Norden, zu denen auch die Kosovo-Albaner gehören, das albanische Ethnikum. Allerdings bekennt sich in beiden Bevölkerungsgruppen eine Mehrheit zum Islam, während eine Minderheit der Tosken zu den orthodoxen Christen gehört, eine Minderheit der Gegen zu den Katholiken. Bei einem „Anschluss” des Kosovo an Albanien würde sich also das demographische Gewicht zugunsten der Gegen verändern, unter denen derzeit die Demokratische Partei unter Führung von Sali Berisha dominiere. Schließlich seien die Einflüsse der finanzstarken albanischen Diaspora – je 400.000 leben in Deutschland und in den U.S.A., 160.000 in der Schweiz – nicht zu unterschätzen.26

Aus Erfahrungen mit Prozessen der südosteuropäischen Nationalstaatsbildung seit 1830 kann man daher resumieren, dass ein „Offenhalten” der Kosovo-Frage Tendenzen zur Sammlung aller Albaner unter dem schwarzen Adler auf rotem Grund fördern könnte, also zur Suche nach einer gesamtalbanischen Lösung. Ob dies in Brüssel, New York und Belgrad rechtzeitig erkannt wird, muss derzeit bezweifelt werden.

 

Anmerkungen

 1

Die Presse, 19. März 2004, S. 2: „Nach dem blutigen Mittwoch am Ibarfluss: ‚Die Verlierer werden die Albaner sein’” (Erich Rathfelder).

 2

Die Presse, 25. März 2004, S. 5: „Das war ein Volksaufstand” (Interview von Wieland Schneider mit Ramush Haradinaj); Neue Zürcher Zeitung, 22. März 2004, S. 3: „Bemühungen zur Beruhigung in Kosovo” (Wok.).

 3

The Economist, March 20th, 2004, p. 32: „Another eruption”; Neue Zürcher Zeitung, 21./22. März 2004, S. 1 f.: „Serbische Zivilisten in Kosovo evakuiert” (Wok.).

 4

Die Presse, 19. März 2004, S. 1-3: „Unruhen im Kosovo eskalieren. Nato schickt weitere Truppen” (Wieland Schneider, Gertraud Illmeier).

 5

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Februar 2004, S. 10: „Zwang zur Verständigung” (Michael Martens).

 6

Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2004, S. 5: „Uneinigkeit über Kosovos Zukunft” (Wok.).

 7

Vgl. das letzte Interview von Zoran Djindjić, gegeben am 7. März 2003 für „Večernje Novosti”; Zoran Djindjić’ last interview. In: The South Slav Journal, Vol. 24, No. 1-2, Spring-Summer 2003, pp. 70-79.

 8

Neue Zürcher Zeitung, 13./14. März 2004, S. 4: „Gedenken an Djindjić in Belgrad” (Wok.).

 9

Wolfgang Petritisch, Als die Hoffnung starb. In: Die Presse, 13. März 2004, spectrum, S. III; Neue Zürcher Zeitung, 19. März 2004, S. 3: „Auftrieb für die Extremisten in Kosovo” (C.Sr.).

10

Die 1933 geborene serbische Historikerin Latinka Perović hatte Anfang der 1970er Jahre der KP-Führung der Republik Serbien angehört, die von Tito 1972 wegen ihres Reformkurses in marktwirtschaftlicher und demokratiepolitischer Hinsicht abgesetzt worden war. Nach dem Sturz von Milošević war Perović von Koštunica in eine Kommission berufen worden, die sich mit der jüngsten Geschichte auf dem Balkan auseinandersetzen sollte. Perović erklärte aber gleich nach der ersten Sitzung wieder ihren Austritt, nachdem sie gemerkt hatte, dass Koštunica vor allem eine für Serbien vorteilhafte Geschichtsschreibung beabsichtigte. – Neue Zürcher Zeitung, 2. März 2004, S. 5: „Serbien und das autoritäre Syndrom” (ven.).

11

Ebenda.

12

Zur umstrittenen Siedlungsgeschichte des Kosovo vgl. Radovan Samardžić, Kosovo und Metochien der serbischen Geschichte (Lausanne 1989); dagegen: Noel Malcolm, Kosovo. A Short History (New York 1998). Zu den Nationalitätenverhältnissen in der Vojvodina nach der Volkszählung 1931 vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld (Wien – München 1996), Karte 8.

13

Neue Zürcher Zeitung, 2. März 2004, S. 5: „Serbien und das autoritäre System” (ven.).

14

Neue Zürcher Zeitung, 21. Februar 2004, S.1: „Verbrechen und Versöhnung auf dem Balkan” (C.Sr.); The Economist, February 28th 2004, p. 29-30: „Justice on trial”; Neue Zürcher Zeitung, 5. Februar 2004, S. 4: „Lob für Kroatiens neue Regierung” (Wok.).

15

Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2004, S. 3: „Pause im Milošević-Prozess in Den Haag” (vau.).

16

Zur Geschichte vgl. Noel Malcolm, Bosna. A Short History (London 1994).

17

Gerald Knaus and Felix Martin, Lessons from Bosnia and Herzegovina: Travails of the European Raj. In: Journal of Democracy, Vol. 14, No. 3, July 2003, pp. 60-74; Making Federalism work – a radical proposal for practical reform. In: www.esiweb.org.; Neue Zürcher Zeitung, 28./29. Februar 2004, S. 4: „Trennen oder Teilen in Bosnien?” (Wok.).

18

Neue Zürcher Zeitung, 12. März 2004, S. 5: Martin Woker, „Verordnete Einigkeit in Mostar”.

19

Neue Zürcher Zeitung, 26. Jänner 2004, S. 2: „Bessere Bildung für Mazedoniens Albaner”.

20

Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2004, S. 5: „Boris Trajkovski – eine moralische Instanz.” (ahn.); vgl. Makedonien. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Kultur – Politik – Wirtschaft – Recht , hg. von Walter Lukan und Peter Jordan (Österreichische Osthefte, Sonderband 14, Wien etc. 1998).

21

Neue Zürcher Zeitung, 19. Jänner 2004, S. 4: „»Brutaler Terror« im geistlichen Gewand” (ahn.).

22

The Economist, February 28th 2004, p. 30: „A Balkan mess”.

23

Gale Stokes, Solving the Wars of Yugoslav Succession. In: Yugoslavia and Its Historians. Understanding the Balkan Wars of the 1990s, ed. by Norman M. Naimark and Holly Case (Stanford 2003), pp. 193-207; Neue Zürcher Zeitung, 24. März 2004, S. 3: „Wie weiter in Kosovo?” (Wok.).

24

Vgl. Florian Bieber (Ed.), Montenegro in Transition (Baden-Baden 2003).

25

Malcolm, Bosna, pp. 251-52; Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina (Frankfurt am Main 21996), S. 277-281.

26

International Crisis Group (Ed.), Pan-Albanism: How Big a Threat to Balkan Stability?, Europe Report, No. 153; vgl. Neue Zürcher Zeitung, 17. März 2004, S. 4: „Großalbanien – Lüge oder Wunschtraum?” (Wok.); vgl. Albanien. Geographie – Historische Anthropologie – Geschichte – Kultur – Postkommunistische Transformation, hg. von Peter Jordan, Karl Kaser, Walter Lukan, Stephanie Schwandner-Sievers und Holm Sundhaussen (Österreichische Osthefte, Sonderband 17, Wien etc. 2003).