Begegnungen16_Suppan
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:41–54.
ARNOLD SUPPAN
Die Sudetendeutschen zwischen Prag und Wien
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nahm plötzlich das Interesse der österreichischen Parteien und Medien an den Beneš-Dekreten zu. Auffallend war die Nähe zur „Gemeinsamen Erklärung” der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik vom 21. Jänner 1997, in der die deutsche Seite „das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist”, bedauerte. Parallel dazu bedauerte die tschechische Seite, „dass durch die nach dem Kriege erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung”.
Auf österreichischer Seite war freilich diesen Fragen über 50 Jahre lang nur untergeordnete Bedeutung beigemessen worden. Sie galten einfach als deutsch-tschechische Angelegenheit, obwohl Münchner Abkommen, Protektorat, Lidice, Vertreibung und Beneš-Dekrete natürlich auch die österreichisch-tschechischen Beziehungen betrafen. Spätestens seit dem berühmt-berüchtigten Profil-Interview des tschechischen Ministerpräsidenten Miloš Zeman Mitte Jänner 2002 scheint aber die Vergangenheit wieder Macht über die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Zeman bezeichnete die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers”, „um die Tschechoslowakei als einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa zu zerstören”, und behauptete, dass „viele von ihnen Landesverrat begangen” hätten, was nach damaligem Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Der frühere deutschlandpolitische Berater des Präsidenten Václav Havel, Pavel Tigrid, bezeichnete Zemans Ausfälle als „diplomatischen Lapsus von der Größe der Schneekoppe” und schrieb in der „Mlada fronta dnes”: Es sei an den Tschechen, endlich zu bekennen, dass sich die tschechoslowakische Beneš-Regierung vor rund 60 Jahren zu „einer der größten ethnischen Säuberungen der neueren europäischen Geschichte” entschieden hatte. Auf der Grundlage einer „unannehmbaren Kollektivschuld” seien drei Millionen Menschen gewaltsam in Viehwaggons aus dem Land transportiert worden. Man habe ihr Eigentum ersatzlos konfisziert und ihre Staatsbürgerschaft annulliert. In der ersten Phase des sogenannten „Abschubs” sei es seitens der Tschechen zu „Grausamkeiten, Gewalttätigkeiten und Morden nazistischen Typs” gekommen.
Österreichische und deutsche Politiker protestierten gegen die Äußerungen Zemans und verlangten die Aufhebung der Beneš-Dekrete als Voraussetzung für die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik (und der Slowakei) in der EU. Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán schloss sich in der „New York Times” dieser Forderung an: „This is a European issue and I am convinced that once Central Europeans join the union these legal leftovers from a bad historic period will wither and fall to dust, as did the systems that created them.”
Zwischen Umsturz und Anschluss
Die am 28. Oktober 1918 auf dem Prager Wenzelsplatz ausgerufene Tschechoslowakische Republik und die am 12. November 1918 im Wiener Parlament proklamierte Republik „Deutschösterreich” standen sich von Beginn an misstrauisch und ablehnend, nur zeitweise freundlich gegenüber. Der künftige tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk warnte schon am 31. Oktober 1918 seinen wichtigsten Mitstreiter in der Emigration, den späteren Außenminister Edvard Beneš: „Große Vorsicht – keine Schwäche, sondern unnachgiebig die vollkommene Selbständigkeit von den Habsburgern fordern... Unsere Deutschen werden die Ohren hängen lassen, wenn sich Deutschland ergibt; auf dem historischen Recht bestehen... Es ist gerechter, 3 Millionen unterzuordnen, als daß 10 Millionen untergeordnet werden würden.”
Am Tag zuvor, am 30. Oktober 1918, hatte die Provisorische Nationalversammlung in Wien an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson appelliert: „Wir sind überzeugt, Herr Präsident, daß Sie nach sorgfältiger Prüfung dieser Fragen den von Ihnen verkündeten Grundsätzen entsprechend es ablehnen werden, 3 Millionen Deutsche gegen ihren Willen dem tschechischen Staate zu unterwerfen und sie zu einem Verzweiflungskampfe gegen die ihnen drohende Fremdherrschaft zu zwingen. Das Zeitalter der Demokratie in Mitteleuropa kann nicht damit beginnen, daß ein Volk von 3 Millionen Menschen unterworfen wird. Der dauernde Friede in Europa kann nicht dadurch begründet werden, daß in dem neuen tschecho-slowakischen Staate eine deutsche Irredenta geschaffen wird, deren ständige Hilferufe nach Berlin und Wien dringen und den Frieden in Europa gefährden würden...”
Schon Anfang November 1918 wurde freilich klar, dass die Prager Regierung allein bei der Zucker- und Kohlebewirtschaftung am längeren Hebel saß – sowohl gegenüber den neu gebildeten Provinzen Deutschböhmen, Sudetenland, Böhmerwaldgau und Südmähren, als auch gegenüber der Wiener Regierung. Staatskanzler Karl Renner, ein gebürtiger Südmährer, wollte sich noch gegen „die Preisgabe so wichtiger Teile des deutschen Gebietes unter czechische Fremdherrschaft und die Aufopferung des Selbstbestimmungsrechtes unserer Nation” aussprechen. Und Staatssekretär Otto Bauer glaubte Prag vor einer Politik der Gehässigkeit und Feindseligkeit warnen zu müssen, denn die deutsche Nation mit ihren 70 Millionen Menschen werde immer das tschechische Gebiet von Norden, Westen und Süden umgeben (sic!). Allein der tschechoslowakische Ministerpräsident Karel Kramář bezeichnete bereits Anfang Jänner 1919 die Frage der Zukunft Deutschböhmens für ihn und für die Entente als erledigt, da Deutschböhmen „unbedingt ein Teil des historischen Königreiches Böhmen, das Sudetenland ein Teil der historischen Markgrafschaft Mähren” seien. Im Übrigen müsse sich die Wiener Regierung in die Rolle des Besiegten hineinfinden, müsse sich Wien abgewöhnen, „als Rentier von der Arbeit anderer zu leben”.
Tatsächlich akzeptierten die nun zu „Sudetendeutschen” zusammengefügten Deutschen in der Tschechoslowakei die Abstempelung der österreichisch-ungarischen Kronen durch den Prager Finanzminister, wodurch sie der bald beginnenden Hyperinflation in Österreich entgingen. Als freilich auf Initiative der sudetendeutschen Sozialdemokraten am 4. März 1919, dem Tag des Zusammentritts der neuen österreichischen Konstituante, in einer Reihe von böhmischen und mährischen Städten für das Selbstbestimmungsrecht demonstriert wurde, erschoss tschechisches Militär und Polizei in sieben Städten 54 Personen und verletzte 84. Weder Protestnoten noch Memoranden halfen. Der Oberste Rat in Paris bestätigte der tschechoslowakischen Friedensdelegation die historischen Grenzen Böhmens, Mährens, sowie der schlesischen Herzogtümer Jägerndorf (Krnov) und Troppau (Opava) – nur Teschen (Český Tĕšín, Cieszyn) wurde entlang der Olsa mit Polen geteilt –, und trennte bei Feldsberg (Valtice) und Gmünd aus eisenbahnstrategischen Gründen sogar niederösterreichisches Gebiet von Österreich ab. Immerhin wurde das Eigentum der Deutschösterreicher in der Tschechoslowakei nicht liquidiert, das ehemals österreichische Staatsgut auf dem Reparationskonto gutgeschrieben.
Die Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain vom 10. September 1919 stellten natürlich weder die nun etwa 3,3 Millionen Sudeten- und Karpatendeutschen noch die etwa 80.000 Wiener Tschechen zufrieden, auch wenn Österreich und die Tschechoslowakei wesentliche Minderheitenschutzbestimmungen zu akzeptieren hatten, die etwa öffentliche und private Minderheiten-Volksschulen vorsahen. Dennoch einigten sich Beneš und Renner im Jänner 1920 in Prag sehr rasch auf die Sprachregelung, dass die in den Verträgen von Saint-Germain übernommene administrative Verpflichtung zum Schutz der nationalen Minderheiten „eine rein innerstaatliche Angelegenheit” darstelle und eine Beschwerde eines fremden Staates nur über den Völkerbund eingebracht werden könne. Der Brünner Vertrag und das Karlsbader Additionalabkommen 1920 stellten immerhin eine wertvolle bilaterale Ergänzung dar, welche die personal- und nationalpolitisch heikle Lehrerfrage pragmatischen Lösungen zuführte.
Da die Prager „Burg” um Masaryk und Beneš ihre Republik als tschechoslowakischen Nationalstaat betrachtete, kam den Deutschen nur eine zweitrangige „Gastrolle” zu, da sie angeblich „als Immigranten und Kolonisten” ins Land gekommen seien. Seit dem Locarno-Pakt 1925 änderte sich freilich die internationale Lage, da nun Deutschland zwar seine westlichen Grenzen zu Frankreich und Belgien, nicht aber seine östlichen Grenzen zu Polen und der ČSR garantierte. Außerdem konnte nun die Weimarer Republik als Mitglied des Völkerbundrates als Protektor der Sudetendeutschen auftreten, die nach der Volkszählung von 1930 allein in den böhmischen Ländern 3,070.938 Personen (= 29,5 %) ausmachten und noch in 50 politischen Bezirken bzw. 120 Gerichtsbezirken die Mehrheit stellten. Weder die Massenentlassungen von insgesamt 33.000 deutschen Beamten noch die Prager Bodenreform mit der Enteignung von etwa 40 Prozent des deutschen Großgrundbesitzes stärkten die Einbindung der Sudetendeutschen in die Tschechoslowakische Republik. Die Wiener Regierung versuchte zwar in Einzelfällen zu vermitteln, dennoch betrachtete Bundeskanzler Ignaz Seipel die Herstellung eines befriedigenden Verhältnisses für beide Staaten selbst als „von größter Wichtigkeit” und als höchst wertvollen Faktor für die Gesamtlage in Mitteleuropa.
Trotz des Eintrittes je eines sudetendeutschen „Aktivisten” aus dem Bund der Landwirte und der Christlichsozialen Volkspartei in die Prager Regierung ab Oktober 1926, ab Dezember 1929 auch eines Sozialdemokraten, blieb unter den tschechischen Parteien sowohl eine „Anschluss-Phobie” als auch ein „Habsburger Komplex” bestehen. Nicht zuletzt Masaryk, Beneš und Kramář vertraten daher eine konsequente Politik der „Entösterreicherung”, die zumindest indirekt eine Hinwendung der Sudetendeutschen zur Weimarer Republik förderte. Immerhin konnten die Prager Deutschen – in ihren Reihen viele deutschsprachige Juden – mit dem deutschen Teil der Prager Universität und Technischen Hochschule, dem Deutschen Theater, dem Deutschen Haus, der Urania, dem „Prager Tagblatt” und der „Bohemia” ihre kulturelle Sonderstellung behaupten.
Die Weltwirtschaftskrise beschleunigte allerdings die „Desintegration zweier Völker im selben Lande” und die Entstehung einer „Konfliktgemeinschaft”. Vor allem der katastrophale Einbruch der Exporte ließ die Zahl der Arbeitslosen im Winter 1932/33 auf über eine Million in der Tschechoslowakei (= 15 % der Erwerbsfähigen) hochschnellen. Auf Grund der Konzentration der exportabhängigen Leichtindustrie in den deutschen Siedlungsgebieten und des konjunkturabhängigen Fremdenverkehrs im nordwestböhmischen Bäderdreieck Karlsbad (Karlovy Vary), Marienbad (Mariánské Láznĕ) und Franzensbad (Františkovy Láznĕ) stieg die Arbeitslosigkeit allein bei den Sudetendeutschen auf bis zu 600.000 an, d.h. sie betraf nahezu 40 % aller Arbeitnehmer. Da die tschechische Arbeitslosigkeit infolge der größeren Stabilität in der Grundstoffindustrie kaum mehr als 10 % ausmachte, ergab sich daraus auch eine schwerwiegende nationalpolitische Differenz, die zu einer wachsenden innenpolitischen Belastung wurde.
Sechs Wochen vor den tschechoslowakischen Parlamentswahlen 1935 urteilte daher der österreichische Gesandte Ferdinand Marek in beinahe prophetischer Weise über die Erfolgschancen der im Oktober 1933 gebildeten „Sudetendeutschen Heimatfront” des Ascher Turnlehrers Konrad Henlein: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass die junge und mittlere Generation in Deutschböhmen heute mehr denn je nationalsozialistisch eingestellt ist, und diese Kreise werden, da sie sich nazistisch nicht betätigen dürfen, unbedingt für Henlein stimmen. Falls also in letzter Stunde nicht noch irgendein unerwarteter Umschwung eintritt, dürfte Herr Henlein aus den Wahlen mit einer Mandatszahl hervorgehen, die er sich vielleicht selbst kaum hat träumen lassen.” Nach einem bereits von der NSDAP unterstützten Wahlkampf wurde die Sudetendeutsche Partei am 19. Mai 1935 mit 15,2 % stimmenstärkste Partei in der gesamten Tschechoslowakei und erhielt mit 44 Mandaten nur um eines weniger als die tschechoslowakische Agrarpartei.
Während die sudetendeutsche Frage ab dem Jahre 1933 die Beziehungen zwischen Prag und Berlin zunehmend belastete, verhielten sich die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg gegenüber der Henlein-Bewegung aus ideologischen Gründen sehr distanziert. Anlässlich eines Besuches von Ministerpräsident Milan Hoda im März 1937 in Wien unterstrich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg immerhin die „Notwendigkeit, den deutschen aktivistischen Parteien der Tschechoslowakei etwas Konkretes zu bieten und auch wirklich zu geben.” Ministerpräsident Hoda zeigte sich bereit, dem „staatstreuen deutschen Element” sehr weitgehende Konzessionen zu machen, sprach sich freilich kategorisch dagegen aus, Henlein, „dessen Staatstreue mit allem Grunde angezweifelt werde müsse”, in die von ihm geplanten Aktionen einzubeziehen.
Tatsächlich sandte Henlein am 19. November 1937 einen Bericht an Hitler, um ihn für den Plan einer Annexion des deutschen Siedlungsgebietes zu gewinnen. Hitler selbst hatte zwei Wochen zuvor den politischen und militärischen Spitzen des Reiches erklärt: „Das Ziel der deutschen Politik sei die Sicherung und die Erhaltung der Volksmasse [über 85 Millionen Menschen] und deren Vermehrung... Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben... Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage müsse in jedem Fall einer kriegerischen Verwicklung unser 1. Ziel sein, die Tschechei und gleichzeitig Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten... die Einverleibung der Tschechei und Österreichs [könne] den Gewinn von Nahrungsmitteln für 5–6 Millionen Menschen bedeuten unter Zugrundelegung, dass eine zwangsweise Emigration aus der Tschechei von zwei, aus Österreich von einer Million Menschen zur Durchführung gelange...”
Von München nach Potsdam
Der „Anschluss” Österreichs unter tatkräftiger Mithilfe der österreichischen Nationalsozialisten gewann ungeahnte Vorbildwirkung für die Sudetendeutschen. Henlein versprach Hitler noch im März 1938, „immer so viel [zu] fordern, dass wir nicht zufrieden gestellt werden können”, ließ im April 1938 das „Karlsbader Programm” mit der Forderung nach voller Autonomie verabschieden und gewann bei den Gemeinderatswahlen im Mai 87 % aller sudetendeutschen Stimmen. Zur selben Zeit ließ Hitler seinen Generalstab einen Aufmarschplan gegen die Tschechoslowakei ausarbeiten, so dass es Ende Mai 1938 erstmals Kriegsgefahr gab. Nun begann die britische Diplomatie einen Ausweg aus der „Sudetenkrise” zu suchen, der den Sudetendeutschen doch das Selbstbestimmungsrecht zugestehen sollte. Die tschechoslowakische Regierung versuchte noch mit neuen Autonomieplänen entgegenzukommen, aber Henlein lehnte Anfang September 1938 ab. Nach Besuchen des britischen Premiers Chamberlain bei Hitler, gaben die Westmächte den ultimativen Druck an Prag weiter, die mehrheitlich sudetendeutschen Gebiete abzutreten. Präsident Beneš und die Prager Regierung akzeptierten vorerst, ließen jedoch wenige Tage später mobilisieren. Nun schaltete sich Benito Mussolini als Vermittler ein, so dass in den Morgenstunden des 30. September 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet werden konnte, ein Diktat der Großmächte, ähnlich dem Vertrag von Saint-Germain.
Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in die an Deutschland abgetretenen Gebiete wurde vom überwiegenden Teil der sudetendeutschen Bevölkerung mit großer Begeisterung begrüßt. Zwischen Eger und Troppau wurde der „Reichsgau Sudetenland” geschaffen, Südmähren wurde an den „Reichsgau Niederdonau” angeschlossen, Südböhmen an den „Reichsgau Oberdonau”. Insgesamt waren bis zu 400.000 Tschechen, Juden und Deutsche von Flucht, Abwanderung und Umsiedlung in den tschechoslowakischen Rumpfstaat betroffen, während etwa 300.000 Tschechen im Deutschen Reich blieben. Andererseits verblieben mit den Prager, Iglauer, Brünner und Karpatendeutschen gegen 400.000 Deutsche in der Zweiten Tschechoslowakischen Republik. Trotz Garantieerklärung aber gab Hitler bereits am 21. Oktober 1918 die Weisung an die Wehrmacht, „die Rest-Tschechei jederzeit zerschlagen zu können”, was er am 15. März 1939 auch durchführen ließ. Das von Hitler selbst diktierte Protektoratsstatut für Böhmen und Mähren wird mit Recht als erster Zivilisationsbruch zwischen Deutschen und Tschechen bezeichnet.
Mit den österreichischen, sudetendeutschen und tschechischen Wirtschafts- und Rüstungspotentialen war das „Großdeutsche Reich” innerhalb eines Jahres die stärkste Macht in Europa geworden. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die nationalsozialistische Okkupationspolitik im Protektorat. Nach Demonstrationen und der Hinrichtung von zehn Studentenfunktionären erfolgte auch die Schließung aller tschechischen Universitäten und Hochschulen am 17. November 1939 und die Deportation von rund 1200 Studenten ins KZ Oranienburg. Die „Deutsche Karls-Universität” und die Technischen Hochschulen in Prag und Brünn aber sahen unter den Professoren, Dozenten und Studenten viele „Reichsdeutsche”, Sudetendeutsche und Österreicher (z.B. den berühmten Gynäkologen Hermann Knaus). Im Verlauf des Krieges nahm auch die Zahl der Deutschen, Sudetendeutschen und Österreicher in der Kriegswirtschaft und Verwaltung des Protektorates zu, die im Übrigen das doppelte Salär der tschechischen Kollegen erhielten.
Als im Sommer 1941 die Streiks und Sabotagefälle des tschechischen Widerstandes zunahmen, berief Hitler Reichsprotektor Neurath ab und setzte den SS-General Reinhard Heydrich als neuen Stellvertretenden Reichsprotektor ein. Wenige Stunden nach seiner Ankunft verhängte er den Ausnahmezustand und ließ eine Verhaftungswelle anrollen. Der Chef der Protektoratsregierung, General Alois Eliáš, wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Binnen zweier Monate ließ Heydrich über 400 Männer und Frauen erschießen, etwa 4000 bis 5000 Verhaftungen vornehmen. Konträr zu den Terrormaßnahmen gegen die tschechische Intelligenz ließ er jedoch an tschechische Arbeiter kostenlose Eintrittskarten für Kinos, Theater und Fußballspiele verteilen, und 7.000 Rüstungsarbeiter bekamen einen kostenlosen Erholungsurlaub. Am 4. Februar 1942 skizzierte jedoch Heydrich in einer geheimen Rede in Prag die ihm vorschwebende „Endlösung” für Juden und Tschechen: „Die noch nicht Eindeutschbaren wird man vielleicht bei der weiteren Erschließung des Eismeer-Raumes – wo die Konzentrationslager zukünftig ideales Heimatland der 11 Millionen Juden aus Europa sein werden – [einsetzen], vielleicht könnten wir dort nun die Tschechen, die nicht eindeutschbar sind, unter einem positiven Vorzeichen einer produktiven Aufgabe als Aufseher, Vorarbeiter usw. einsetzen mit der Chance, auch ihre Familien nachzuziehen.” – Diese „Endlösung” blieb zwar den Tschechen erspart, der Holocaust aber wurde tatsächlich durchgeführt: 77.297 Namen von in Auschwitz und Theresienstadt ermordeten Juden aus Böhmen und Mähren stehen heute an den Wänden der Prager Pinkas-Synagoge.
Nach dem von tschechischen Fallschirmspringern am 27. Mai 1942 verübten Attentat auf Heydrich wurden bis 1. September 1.357 Tschechen von den Standgerichten in Prag und Brünn zum Tode verurteilt und erschossen, darunter hohe Beamte, Offiziere, Professoren, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Geistliche, Journalisten und Studenten. Schon am 10. Juni waren alle 192 Männer der Ortschaft Lidice erschossen worden, dazu sieben Frauen zweier Legionärsfamilien; und in der Ortschaft Ležáky, wo die SS den Geheimsender der Attentäter gefunden hatte, wurden alle 32 Erwachsenen erschossen; die Kinder von Lidice und Ležáky wurden zu „rassischen Untersuchungen” missbraucht.
Auch nach Lidice versuchte Karl Hermann Frank, ein Sudetendeutscher, als neuer „Deutscher Staatsminister für Böhmen und Mähren” mit Zugeständnissen an tschechische Beamte, Ärzte, Ingenieure und Techniker sowohl die Protektoratsverwaltung als auch die Kriegsindustrie in Gang zu halten. Immer mehr Tschechen wurden auch als Rüstungsarbeiter ins Reich geholt – im Mai 1943 waren es bereits 250.000. Bis Sommer 1944 sahen die deutschen Rüstungskommanden die Arbeitsdisziplin der Tschechen noch als durchaus „zufriedenstellend” an, dann begannen Eisenbahn-Attentate, ab Anfang 1945 auch häufigere Sabotageakte. Weitere schwere Verfolgungsmaßnahmen und ein Partisanenkrieg blieben bis Kriegsende aber aus. Daher konnten die Tschechen die NS-Okkupation und den Zweiten Weltkrieg mit relativ geringen Totenverlusten überstehen: etwa 30.000 direkte Opfer deutscher Unterdrückungsmaßnahmen sowie etwa 7.000 Gefallene (auf alliierter Seite).
Der tschechoslowakischen Exilregierung in London waren bereits das Münchner Abkommen und die Schaffung des Protektorats Motive genug, Grenzveränderungen und Aussiedlungspläne vorzubereiten. Am 6. Juli 1942 stimmte das britische Kriegskabinett der Annullierung des Münchner Abkommens und dem „allgemeinen Grundsatz des Transfers von deutschen Minderheiten in Mittel- und Südosteuropa nach Deutschland” zu. Am 15. Juli 1942 resümierte Exilpräsident Beneš in einem Brief an den sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch kryptisch über die Folgen der NS-Gewalttaten: „Und am schrecklichsten ist, dass dies bei uns ein Erbe hinterlässt, von dem niemand von uns heute wissen kann, wie wir es wieder loswerden sollen.” Die tschechische Widerstandsbewegung verlangte auch schon die Konfiszierung des Eigentums aller Deutschen, und bei einer Aussprache mit Stalin am 16. Dezember 1943 in Moskau stellte Beneš schließlich fest, dass er das deutsche Problem ein für alle Mal gelöst haben und einen slawischen Tschechoslowakischen Staat – frei von Deutschen und Magyaren – schaffen wolle.
Die Protektoratsherrschaft hatte das über 800jährige Zusammen- und Nebeneinanderleben von Tschechen, Deutschen und Juden in den böhmischen Ländern weitgehend zerrüttet. Der „totale Krieg” hatte zu totaler Ausgrenzung und gegenüber den Juden zu Völkermord geführt. Furcht, Angst, Hass und Revanchegefühle wurden über sechs Jahre hindurch aufgestaut. Schon im Juli 1944 hatte Beneš den Widerstandsgruppen geraten, den politischen Umsturz mit allen Volksmassen durchzuführen, nach Möglichkeit als „Volksaufruhr” – ohne sensationelle Gerichte und Hinrichtungen. Da man sich auf eine internationale Lösung eines „Transfers unserer deutschen Bevölkerung” nicht verlassen könne, sei es notwendig, „dass wir vieles allein gleich in den ersten Tagen der Befreiung erledigen, dass so viel wie möglich an schuldigen Nazisten von uns aus Angst vor der Bürgerrevolte gegen sie in den ersten Tagen der Revolution flieht, und dass so viel wie möglich von denen, die sich als Nazisten wehren und Widerstand leisten würden, in der Revolution niedergemetzelt werden sollen”.
Tatsächlich wurden während des Prager Aufstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht ab dem 5. Mai 1945 etwa 15.000 Deutsche Opfer pogromartiger Ausschreitungen, jeweils Tausende Deutsche starben Ende Mai während des „Todesmarsches” von etwa 25.000 Brünner Deutschen in Richtung österreichischer Grenze und während des „Aussiger Massakers” am 31. Juli 1945. Sogar sowjetische Panzerkommandanten und politische Offiziere waren von verschiedenen sadistischen Gewalttaten des tschechischen Mobs geschockt. Von den ca. 350.000 in Lagern und Gefängnissen festgehaltenen Deutschen dürften mindestens 40.000 ums Leben gekommen sein. Es besteht kein Zweifel, dass führende tschechische Politiker von den wilden antideutschen Exzessen untergeordneter Organe – besonders der kommunistisch geprägten „revolutionären” Nationalausschüsse, verschiedener Revolutionsgarden, der Wachen der Nationalen Sicherheit, der „Svoboda-Armee” und früherer NS-Kollaborateure – wussten, sie duldeten und in ihre innen- wie außenpolitische Strategie einkalkuliert hatten. Strafbare Handlungen gegen „Okkupanten” und ihre „Helfer” wurden im Übrigen per Gesetz vom 8. Mai 1946 nachträglich straffrei gestellt. Mit den wilden Vertreibungen wurden jedenfalls bis Ende Juli 1945 bereits an die 750.000 Sudetendeutsche außer Landes gejagt. Stalin war zwar nicht bereit, die Rote Armee bei den Deportationen der Deutschen und Magyaren helfen zu lassen, versicherte aber dem neuen Ministerpräsidenten Zdenĕk Fierlinger: „Wir werden Euch nicht stören. Werft sie hinaus. Nun werden sie lernen, was es heißt, über jemand anderen zu herrschen.”
Nachdem die Prager Regierung am 3. Juli 1945 den drei alliierten Siegermächten den Plan eines Transfers der „großen Mehrheit” der Deutschen und Magyaren vorgelegt hatte, wurde im Artikel XIII des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 festgestellt, die deutsche Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn „in ordnungsgemäßer und humaner Weise” nach Deutschland zu überführen. Ein Beschluss der tschechoslowakischen Regierung vom 3. August 1945 ordnete nun die restlose Abschiebung aller Deutschen an, so dass bis Ende Oktober 1946 nach Angaben des tschechoslowakischen Innenministers Václav Nosek 2,165.135 Deutsche aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt wurden, davon über 1,2 Millionen in die amerikanische, über 800.000 in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Nahezu 200.000 Deutsche blieben in der Tschechoslowakei zurück: 60.000 Bergleute, Chemiker, Techniker und andere Industriespezialisten sowie deren Familienangehörige blieben im Grenzgebiet, ebenso 40.000 Deutsche in Mischehen und 5.000 aus „Gnade” vom „Abschub” (odsun) Befreite; etwa 60.000 zur erzwungenen Aussiedlung vorgesehene Personen wurden jedoch ab Sommer 1947 bis in das Jahr 1949 ins Landesinnere zerstreut.
Die Beneš-Dekrete
Die tschechoslowakischen Rechtsnormen, die das Schicksal der Sudeten- und Karpatendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten, waren schon im Londoner und Moskauer Exil vorbereitet worden. Bereits im Londoner Exil hatte Präsident Beneš auf Vorschlag der Regierung – in Ermangelung einer gesetzgebenden Körperschaft – 45 Dekrete erlassen. KPČ-Chef Klement Gottwald hatte im Kaschauer Programm vom 5. April 1945 noch eine unterschiedliche Behandlung zwischen loyalen Bürgern deutscher und magyarischer Nationalität, sowie Mitgliedern nationalsozialistischer und faschistischer Organisationen und Kriegsverbrechern angekündigt, allerdings auch schon die Enteignung deutschen und magyarischen Adelsbesitzes und die Schließung aller deutschen und magyarischen Schulen. Nach der Rückkehr nach Prag bis zur Konstituierung des neuen Parlaments am 28. Oktober 1945 unterzeichnete Präsident Beneš weitere 98 Verfassungsdekrete und Dekrete als Rechtsnormen mit provisorischer Gesetzeskraft, die ihre Geltung verlieren sollten, wenn sie nicht nachträglich vom Parlament bestätigt würden.
Diese Präsidentendekrete gingen aber vielfach über die im Kaschauer Programm angekündigten Maßnahmen gegen Deutsche und Magyaren hinaus:
1) Alle Vermögenswerte der Deutschen, Magyaren, Verräter und Kollaboranten wurden unter nationale Verwaltung gestellt (Nr. 5 vom 19. Mai 1945);
2) Landwirtschaftliches Vermögen der Deutschen, Magyaren, Verräter und Feinde des tschechischen und slowakischen Volkes wurde entschädigungslos enteignet und aufgeteilt (Nr. 12 vom 21. Juni 1945);
3) Tschechoslowakischen Staatsbürgern deutscher oder magyarischer Volkszugehörigkeit wurde (mit wenigen Ausnahmen) die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt, und zwar den Sudetendeutschen mit Wirkung vom 10. Oktober 1938, den Protektoratsdeutschen mit Wirkung vom 16. März 1939 (Nr. 33 vom 2. August 1945);
4) Personen deutscher und magyarischer Nationalität, welche die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren hatten, unterlagen nun der Arbeitspflicht: Männer vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr und Frauen vom vollendeten 15. bis zum vollendeten 50. Lebensjahr (Nr. 71 vom 19. September 1945);
5) Dekrete des Präsidenten über die Nationalisierung der Bergwerke, von Industriebetrieben, der Aktienbanken und privater Versicherungsanstalten (Nr. 100, 101, 102 und 103 vom 24. Oktober 1945);
6) Unbewegliches und bewegliches Feindvermögen, das bis zum Tag der tatsächlichen Beendigung der deutschen und magyarischen Okkupation im Eigentum physischer und juristischer Personen deutscher oder magyarischer Nationalität stand, wurde (mit wenigen Ausnahmen) ohne Entschädigung konfisziert (Nr. 108 vom 25. Oktober 1945).
Zwar war auch für die Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen ein Präsidentendekret vorbereitet worden, nach dem Potsdamer Abkommen erübrigte sich aber seine Erlassung. Entscheidend war vielmehr, dass der Alliierte Kontrollrat am 20. November 1945 den Transfer der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn genehmigte.
So wurden nicht nur nahezu drei Millionen Sudeten- und Karpatendeutsche vertrieben und ausgesiedelt, sondern allein in den böhmischen Ländern 2,400.449 ha entschädigungslos enteignet, wobei die „Nationalität” und nicht die Staatsangehörigkeit entscheidend war. Das bedeutete, dass auch deutsche Österreicher, Italiener (Südtiroler), Schweizer, Liechtensteiner, Luxemburger, Belgier und Dänen enteignet werden konnten – und auch wurden. Von den Deutschen wurden aber auch die Banken, Versicherungen, Glas- und Stahlhütten, Bergwerke, Chemie- und Textilgroßfabriken, sowie der Industrie- und Gewerbebesitz mittlerer und kleiner Größenklasse konfisziert – insgesamt rund 3.900 Industriebetriebe und 34.000 Gewerbebetriebe, die etwa ein Drittel des Industriepotentials der Republik ausmachten. Schätzte der Fonds der Nationalen Erneuerung im Jahre 1947 den voraussichtlichen Gesamtwert aller konfiszierten Gegenstände auf etwa 300 Milliarden tschechoslowakische Vorkriegskronen, so ging die Pariser Friedenskonferenz von tschechoslowakischen Kriegsschäden in Höhe von KČ 347,5 Mrd. (zum Kurs von 1938) aus. Die vertriebenen und ausgesiedelten Sudetendeutschen berechneten im Jahre 1948 den Wert aller enteigneten Güter zum 30. September 1938 mit 33,516 Mrd. Reichsmark.
Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen nach Österreich
Die Vertreibung und Aussiedlung von über 200.000 Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach Österreich stellte sowohl für die Wiener Regierung als auch für die österreichische Bevölkerung ein unerwartetes und großes Problem dar. Bereits im Mai 1945 waren Tausende, teilweise arg misshandelte Menschen ins Prager Gesandtschaftsgebäude geflüchtet und dort versorgt worden. Zur selben Zeit nahm die bäuerliche Bevölkerung des Wein-, Wald- und Mühlviertels Zehntausende Flüchtlinge hilfsbereit auf. Allerdings wiesen die dem kommunistischen Innenminister Franz Honner unterstehenden österreichischen Grenzwachen Tausende Flüchtlinge zurück. Staatskanzler Renner beschrieb am 12. Juni 1945 in einer Kabinettssitzung die schwierige Lage: „Unser Land ist im Augenblick (...) bedroht – man kann es nicht anders sagen –: von Südmähren und Südböhmen werden die dortigen Deutschen ausgewiesen. Erst jetzt soll wieder Beneš erklärt haben, er werde sich nicht hindern lassen, alle Deutschen und Magyaren aus der Tschechoslowakei auszuweisen. Es fliehen unzählige tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Zunge über unsere Grenze. Wir können nur die Österreicher aufnehmen, aber auch das ist unendlich schwierig. In Prag und in Brünn finden ständig – man kann nicht anders sagen – revolutionäre Unruhen statt. Es ist dort so, dass jeder Deutschsprachige beinahe seines Lebens nicht sicher ist, dass tatsächlich Morde u. dgl. vorkommen.”
Die Wiener Politik bemühte sich, den Flüchtlingsstrom vor allem aus Versorgungsgründen einzudämmen, und Renner verlangte vom tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Zdenĕk Fierlinger, dass die widerrechtlich zu Lasten Österreichs über die Grenzen getriebenen Massen deutschsprechender tschechoslowakischer Staatsangehöriger ehestens wieder aus Österreich entfernt werden könnten und drohte mit Schadenersatzansprüchen. Die Prager Regierung verwies aber auf die Potsdamer Beschlüsse. Die sowjetische Besatzungsmacht begann danach, einen Teil der Sudetendeutschen über das Sammellager Melk in die Besatzungszonen Deutschlands abzuschieben, sofern sie nicht als „wertvolle” Arbeitskräfte galten.
Die vertriebenen Sudetendeutschen wurden in Österreich von kommunistischen, sozialdemokratischen und christlichsozialen Funktionären als politische Angehörige der „Henleinpartei”, also als Nationalsozialisten, betrachtet. Die Art und Weise, wie die Vertreibungen vor sich gingen, wurde zwar heftig kritisiert; andererseits wurde aber in der Öffentlichkeit auch Verständnis für die Haltung der Tschechen gezeigt, nicht mehr mit einer deutschen „Minderheit” in einem Land leben zu wollen. Die Katastrophe, die über die Sudetendeutschen hereingebrochen war, wurde als das „nahezu unabwendbare Ergebnis des deutschen Verrates und der deutschen Zwingherrschaft gesehen.” Nach seinem Prag-Besuch im Dezember 1945 meinte auch Außenminister Karl Gruber, dass die Haltung der Tschechen nicht verwundern dürfe, wo doch dieses Volk so lange Jahre unter dem Joch der „nazistischen Herrenmenschen” gestanden sei. Lediglich die Bischofskonferenz unter Theodor Kardinal Innitzer appellierte an den Alliierten Rat, die Hunderttausenden Sudetendeutschen nicht einem schweren physischen und moralischen Elend preiszugeben.
Unabhängig von der langsamen, letzten Endes aber sehr erfolgreichen Integration von über 150.000 Sudetendeutschen in die österreichische Gesellschaft wurde von österreichischer Seite bald darauf gedrängt, eine generelle Regelung der rechtlichen Stellung der österreichischen Staatsangehörigen und ihres Vermögens in der Tschechoslowakei zu finden. Aber Präsident Klement Gottwald, im November 1948 auf die noch immer ungelöste Frage des österreichischen Eigentums angesprochen, wies darauf hin, dass in der Zeit der deutschen Okkupation in der Tschechoslowakei viele Österreicher im Dienste der NSDAP, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes gestanden und oft radikaler als die Deutschen gewesen seien. Daher sei es den Tschechen schwer verständlich zu machen, warum das österreichische Eigentum bevorzugt behandelt werden sollte.
Erst am Tag des Beitritts der Tschechoslowakei zum österreichischen Staatsvertrag kündigte das Prager Außenministerium seine Bereitschaft an, die Vermögensansprüche derjenigen zu regeln, die am 13. März 1938 die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hatten. Als der österreichische Gesandte Rudolf Ender im Juni 1958 dem Ministerpräsidenten Viliam Široky die Frage stellte, worin denn „moralisch” der Unterschied zwischen einem „Alt- und einem Neuösterreicher” bestehe, erhielt er die brüske Antwort: „Vergessen Sie doch nicht, dass die Sudetendeutschen sich voll und ganz in den Dienst eines anderen Staates gestellt haben.” Die Prager Regierung zeigte sich lediglich bereit, „kleine Vermögen” (= Grundbesitz bis 13 ha bzw. Vermögenswerte bis 100.000 KČ) von ehemaligen österreichischen Staatsbürgern zu entschädigen. Auch der sowjetische Gesandte in Wien erklärte im November 1960, dass „das Vermögen der Sudetendeutschen unter keinen Umständen den Gegenstand von Verhandlungen zwischen Österreich und der ČSSR bilden [könne]”.
Außenminister Bruno Kreisky stellte am 13. Juni 1960 im Ministerrat klar, „dass für Österreich die Lösung der Vermögensfrage – und zwar ohne vorherige Einschränkung des Personenkreises – das Kernproblem in den beiderseitigen Beziehungen darstellt”. Dennoch unternahm er im Einvernehmen mit Bundeskanzler Julius Raab die Initiative, die tschechoslowakische Regierung zur Nennung einer Pauschalsumme aufzufordern. Als auch dies nichts fruchtete, nannte der österreichische Gesandte – nach Ministerratsbeschluss – die Pauschalforderung von 12 Mrd. Schilling, und Kreisky erklärte bei einem Privatbesuch in Prag im Juli 1962 den österreichischen Interventionsverzicht für die Sudetendeutschen. Doch Minister David reagierte ausweichend, die Initiative schlug fehl. Gesandter Rudolf Kirchschläger musste sich noch fünf Jahre später vom Präsidenten Antonín Novotný sagen lassen, dass zuerst das Münchner Abkommen „ex tunc null und nichtig” erklärt werden müsse. Tatsächlich wurde erst am 19. Dezember 1974 – nach der grundsätzlichen Einigung zwischen Bonn und Prag über die Nichtigkeit des Münchner Abkommens – in Wien ein Entschädigungsvertrag über 1,2 Mrd. Schilling unterzeichnet.
Erst nach der politisch-ideologischen Wende von 1989 begann wieder eine Diskussion um die Beneš-Dekrete. Von den ursprünglich 143 Präsidenten-Dekreten waren ein Teil durch Zeitablauf erloschen, während ein weiterer Teil ausdrücklich aufgehoben wurde. Ein 1992 vom tschechischen Justizministerium veröffentlichtes Verzeichnis der geltenden Rechtsbestimmungen zählte noch 26 Dekrete als wenigstens teilweise in Kraft stehend auf, darunter die Dekrete über die Ausbürgerung und die beiden Konfiskationsdekrete. Die seit 1990 erlassenen Restitutionsvorschriften gewährte lediglich Eigentümern, die seit dem 25. Februar 1948 enteignet worden waren, Rückübertragungsanspruch. Der Enteignungen aus vorkommunistischer Zeit „einschließlich der Unrechtshandlungen gegenüber Bürgern deutscher und magyarischer Nationalität” wurde in der Präambel zum Restitutionsgesetz vom 21. Februar 1991 „im Bewusstsein, dass diese Unrechtshandlungen... nie wieder völlig gut gemacht werden können”, gedacht und die Absicht ausgedrückt, dass es „zu ähnlichen Unrechtshandlungen nie wieder kommen möge”. Das Verfassungsgesetz der Tschechischen und Slowakischen Republik vom 9. Jänner 1991 zu den Grundrechten und –freiheiten hatte bereits bestimmt, dass die nationale Zugehörigkeit niemandem zum Nachteil gereichen, dass kein Staatsbürger zum Verlassen seiner Heimat gezwungen und niemand gegen seinen Willen ausgebürgert werden dürfe. Alle entgegenstehenden Bestimmungen wurden für erloschen erklärt, und zwar mit Ablauf des 31. Dezember 1991. Demnach sollten die Beneš-Dekrete seit dem 1. Jänner 1992 nicht mehr angewendet werden können.
Die Frage der vertriebenen Sudetendeutschen blieb aber zwischen Prag und Wien ungelöst. Da sie sich 1938 überwiegend von den Tschechen abgewendet und dem Großdeutschen Reich angeschlossen hatten, wurden sie 1945 kollektiv bestraft: mit Verlust der Bürgerrechte, zwangsweiser Entfernung aus bisherigen Lebenszusammenhängen, wilder Vertreibung, Konzentrierung in Lagern, kollektiver Enteignung, Abschub in Güterwaggons und Verlust der Heimat. Dies bedeutete einen zweiten Zivilisationsbruch zwischen Tschechen und Deutschen. Das Fazit für die Tschechen blieb allerdings langfristig kaum weniger unerfreulich: In der tschechischen Gesellschaft war eine rechtlose Gruppe eingeführt worden, der gegenüber geradezu alles erlaubt war – ein Präzedenzfall für weitere Rechtlosstellungen unter kommunistischer Herrschaft. Die Annahme des Grundsatzes einer Kollektivschuld stellte einen Bruch mit der auf Menschenrechten gegründeten Moral dar, die Annahme eines unmoralischen Grundsatzes. Schließlich hat der wirtschaftliche Gewinn aus der Enteignung der Sudetendeutschen die Verluste der tschechischen Wirtschaft, die aus der Vertreibung resultierten, keinesfalls wettgemacht. Immerhin begann die Republik Österreich, deren politische Führung 1945 die sudetendeutschen Vertriebenen nur ungern aufgenommen hatte, ab 1947 doch eine intensive Integrationspolitik. Sie gliederte die Sudetendeutschen in den erfolgreichen Wiederaufbau ein und gewann mit ihnen eine gut ausgebildete sowie industriell und gewerblich erfahrene Bevölkerungsgruppe. Daher sollten sie heute eher ein Verbindungsglied als einen Zankapfel zwischen Prag und Wien darstellen.
Begegnungen16_Schmidt-Schweizer
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:147–155.
ANDREAS SCHMIDT-SCHWEIZER
Zwölf Thesen zum politischen Systemwechsel in Ungarn
Der politische und ökonomische Transformationsprozess in Ungarn Ende der achtziger Jahre, d.h. der Übergang von der paternalistischen Einparteienherrschaft und dirigistischen Planwirtschaft des Kádárismus zu einer auf den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Marktwirtschaft begründeten Demokratie, ist zweifellos als das zentrale, auch europaweit folgenreiche Ereignis der jüngsten ungarischen Zeitgeschichte zu bewerten. Seine epochale Bedeutung kann mit den Geschehnissen der Jahre von 1945 bis 1949 verglichen werden, als im Zuge der „Volksdemokratisierung” Ungarns ein Systemwechsel mit „umgekehrten Vorzeichen” erfolgt war. Während die „ungarische Revolution” von 1988/1989 bereits in zahllosen journalistischen Darstellungen, politischen Broschüren und populärwissenschaftlichen Werken „aufgearbeitet” worden ist, steckt die geschichts- und geisteswissenschaftliche Forschung zum Systemwechsel gegenwärtig noch in den Anfängen. Die folgenden zwölf Thesen, die die Ergebnisse meiner historischen Untersuchung zur politischen Wende in Ungarn in den Jahren von 1986 bis 1989 zusammenfassen (Andreas Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation in Ungarn. Politische Veränderungsbestrebungen innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) von 1986 bis 1989, Frankfurt a.M./ Bern/ Wien 2000.), setzen sich deutlich von den gegenwärtig vertretenen „Gemeinplätzen” über den ungarischen Systemwechsel ab und stehen insbesondere seiner Charakterisierung als „verhandelte Revolution” (z.B. bei László Bruszt, Rudolf Tőkés und Mihály Bihari) gegenüber. Sie sind nicht zuletzt dazu gedacht, eine konstruktive, internationale und empirisch fundierte wissenschaftliche Diskussion über die Wende in Ungarn und Ostmitteleuropa anzuregen.
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Während die ideologische und sozioökonomische Krise als Hintergrund für den Zusammenbruch des Kádárismus in der Literatur bereits häufig thematisiert wurde, blieb die Frage nach den unmittelbaren Auslösern der politischen Wandlungsprozesse in Ungarn sowie nach dem konkreten Zusammenhang von wirtschaftlichen und politischen Veränderungen bisher unbeantwortet. Meinen Erkenntnissen gemäß ist der Beginn des politischen Veränderungsprozesses auf das engste mit den Notwendigkeiten der ökonomischen Krisenbekämpfung und des Übergangs vom Plan- zum Marktmechanismus verknüpft. Die unter der Federführung von Miklós Németh 1986/1987 eingeleitete Wende in der Wirtschaftspolitik zielte nämlich nicht nur darauf ab, die Wirtschaft – mit ökonomischen Instrumentarien – zu sanieren und eine „regulierte Marktwirtschaft” zu etablieren, sondern sah überdies auch vor, die – unter János Kádár erfolgreich und nachhaltig entpolitisierte – Bevölkerung politisch zu remobilisieren. Hinter diesem Ziel verbarg sich die Erkenntnis, dass die wirtschaftspolitische Wende nur unter aktiver Beteiligung der mit erweiterten ökonomischen und politischen Rechten ausgestatteten Bevölkerung sowie unter offener Artikulation der verschiedenen sozialen Interessen zu verwirklichen war. Daneben strebte die Führung politische Reformen auch deshalb an, weil sie damit die Bevölkerung für die materiellen Einschränkungen, die bei der Implementierung der neuen Wirtschaftspolitik unvermeidbar waren, zu „entschädigen” suchte.
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Hinsichtlich der MSZMP-Landeskonferenz vom Mai 1988 begnügt sich die Forschung zumeist damit, dieses Ereignis als Endpunkt der Ära Kádár und als Geburtsstunde des sogenannten „sozialistischen Pluralismus” zu charakterisieren. Die Vorgeschichte der Konferenz wurde bisher lediglich unter dem Aspekt der parteiinternen Machtkämpfe beleuchtet, die bedeutsamen politisch-ideologischen Entwicklungen innerhalb der MSZMP blieben aber im Dunkeln. Wie ich aufzeigen kann, ist die Konzeption des sozialistischen Pluralismus, mit der die Repolitisierung der ungarischen Bevölkerung eingeleitet werden sollte, im Zuge eines harten parteiinternen Ringens – ohne maßgebliche äußere Einwirkungen – bereits in den ersten Monaten des Jahres 1988 entstanden. Den „Jungtürken” in der Parteiführung, d.h. Károly Grósz, Miklós Németh, Imre Pozsgay und Rezső Nyers, gelang es dabei, unterstützt von der seit 1956 erstmals wieder „rebellierenden” Parteibasis und den Massenorganisationen, weitestgehende politische Veränderungen im Rahmen des Einparteiensystems – gegen den Widerstand János Kádárs und seiner „Alten Garde” – durchzusetzen. Im Sinne einer begrenzten Machtteilung, die letztlich der Stabilisierung der Parteiherrschaft dienen sollte, zielte der sozialistische Pluralismus darauf ab, mittels der Liberalisierung des Wahlrechts, der Gewährung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts, der Regelung der Kompetenzen der Partei und der Institutionalisierung der Volksabstimmung die Möglichkeiten der Bürger zur politischen Partizipation auszuweiten. Auf Druck „von innen”, also aus der Partei heraus, wurden so politische Reformen auf die Tagesordnung gesetzt, die allerdings – entgegen dem Ziel ihrer Initiatoren – bereits die „Keime” für den späteren Systemwechsel beinhalteten.
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Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte des sozialistischen Pluralismus gilt es ebenfalls, Forschungslücken zu schließen. In der Literatur wird zwar allgemein auf den Pluralisierungsprozess in den Jahren 1988 und 1989 hingewiesen, der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Politik der MSZMP-Führung und dem gesellschaftlichen Wandel wird aber nicht näher untersucht. Wie ich herausgearbeitet habe, setzte der Pluralisierungsprozess in Ungarn erst ein, nachdem innerhalb der MSZMP der Beschluss gefasst worden war, den ökonomischen Wandel durch politische Reformen zu unterstützen. Insbesondere die MSZMP-internen Bestrebungen, die Parteiherrschaft mittels eines sogenannten Parteigesetzes zu lockern und ein Vereinigungs- und Versammlungsgesetz zu erlassen, führte im Frühjahr 1988 zu einer ersten Pluralisierungswelle. Eine zweite Welle setzte im Sommer 1988 ein, nach der Entmachtung des Kádár-Zirkels und der offiziellen Verabschiedung des sozialistischen Pluralismus. Die dritte und heftigste Welle, die durch die Gründung bzw. Reaktivierung von Parteien mit bürgerlichen Zielsetzungen (Stichwort Mehrparteiensystem) seit Herbst 1988 gekennzeichnet ist, erhielt ihren entscheidenden Impuls durch die passive und widersprüchliche Haltung der Machthaber. Diese ließen nämlich einerseits nicht von der Idee des sozialistischen Pluralismus ab, andererseits konnten sie sich aber auch zu keinem massiven polizeistaatlichen Vorgehen gegen die Oppositionsbewegungen durchringen. Letzteres kann zum einen auf die (damalige) zahlenmäßige, organisatorische und programmatische Schwäche der Opposition sowie zum anderen auf die Befürchtung der Machthaber zurückgeführt werden, dass eine Gewaltanwendung in größerem Maßstab die unverzichtbare Wirtschaftskooperation mit dem Westen empfindlich stören und eine Gewaltanwendung – aufgrund der nicht mehr gewährleisteten militärischen „Rückendeckung” aus Moskau – langfristig mit unabsehbaren Folgen einhergehen würde.
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Nicht angemessen aufgearbeitet wurde auch die Frage, wann und aus welchen Gründen sich eine Gruppe von MSZMP-Politikern um Imre Pozsgay, Miklós Németh und Rezső Nyers dazu entschied, vom sozialistischen Pluralismus abzulassen und gegen den Widerstand der konservativen Kräfte innerhalb der Partei die Transformation des politischen Systems aktiv zu betreiben. Entgegen Behauptungen, dass die Perspektive des Systemwechsels innerparteilich bereits Mitte der achtziger Jahre aufgetaucht sei, lässt sich eine derartige Absicht aus den Quellen nicht belegen. Vielmehr bekräftigten Pozsgay, Németh, Nyers und ihre Anhänger von Frühjahr bis Herbst 1988 ihre Verpflichtung gegenüber der Idee des sozialistischen Pluralismus. Erst im November 1988 begann sich diese Gruppe, die ich ab diesem Zeitpunkt Transformer nenne, nachweislich für den politischen Systemwechsel einzusetzen. Den Anstoß hierzu gab zweifellos die Erkenntnis, dass das Einparteiensystem nicht mittels Reformen zu stabilisieren war, die „Zeichen der Zeit” langfristig in Richtung einer demokratischen Ordnung wiesen und eine Gewaltanwendung zur Durchsetzung der „sozialistischen Schranken” nicht mehr zu vertreten war, sowie die Überzeugung, dass eine – zumindest teilweise – Wahrung der politischen und ökonomischen Macht und des gesellschaftlichen Status in der neuen Ordnung – nicht zuletzt auch wegen der Schwäche der Opposition – auch langfristig eine gute Chance auf Erfolg haben würde.
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Von jenen (genannten) Politikwissenschaftlern, die den Systemwechsel als „verhandelte Revolution” bezeichnen, wird die Tatsache völlig übergangen, dass die Transformer innerhalb der MSZMP – trotz parteiinterner Widerstände der Kräfte um Generalsekretär Károly Grósz – bereits in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 mehrere politische Grundsatzentscheidungen zur Transformation „von innen” auf Partei- und Staatsebene erwirken konnten. So setzten sie vor allem die Annahme der – demokratischen Maßstäben entsprechenden – Gesetze zum Vereinigungs- und Versammlungsrecht durch und führten die grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines kompetitiven Mehrparteiensystems herbei. Überdies erkämpften die parteiinternen Transformer – mit der Verabschiedung der Prinzipien für eine neue Verfassung im März 1989 – einen radikalen Bruch mit den Grundprinzipien des Realsozialismus und vollzogen den entscheidenden Schritt in Richtung einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsordnung. Die Grundsatzentscheidungen zur Transformation des politischen Systems waren also zwischen November 1988 und März 1989 auf der Partei- und Staatsebene, ohne unmittelbaren Druck „von außen”, gefallen. Somit kann bereits hier von der ersten Phase der politischen Systemtransformation gesprochen werden.
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Ebenso wenig wie diese Grundsatzentscheidungen wurden bisher auch die politischen Maßnahmen auf der Partei- und Staatsebene in der zweiten Phase des Systemwechsels (März 1989 bis September 1989) in ihrer Bedeutung gewürdigt. Hinsichtlich dieses Zeitabschnitts konzentrieren sich insbesondere die Vertreter der Verhandlungsthese auf die Ereignisse am Nationalen Runden Tisch. Die bedeutenden politischen Schritte, die damals insbesondere von der Németh-Regierung unternommen bzw. vorbereitet wurden, finden keine Beachtung. Tatsache ist aber, dass die Transformer den Parteistaat weiter abbauten und Maßnahmen zur praktischen Verwirklichung einer parlamentarischen Demokratie ergriffen. So schafften sie die Kaderkompetenzen ab und unternahmen damit den entscheidenden Schritt zur Trennung von Partei und Staat bzw. zur Liquidierung des Parteistaates. Außerdem führten sie mittels der Institutionalisierung des Misstrauensvotums die – für ein parlamentarisches Regierungssystem grundlegende – Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament herbei. Parallel dazu betrieben sie in der Wirtschaftspolitik den konsequenten Übergang zur Marktwirtschaft und unternahmen auch in der Sozial-, Außen-, Kultur- und Bildungspolitik Schritte, ohne die die Verwirklichung eines demokratischen Rechtsstaates nicht vorstellbar gewesen wäre (Neuorientierung der Außenpolitik, Entideologisierung der Kultur- und Bildungspolitik). Überdies bereitete die Regierung Gesetzentwürfe (Parteiengesetz, Wahlgesetz, Gesetz zum Verfassungsgericht usw.) vor, die – auch wenn sie vorteilhafte „technische” Regelungen für den Machterhalt der Transformer enthielten – ganz den Ansprüchen eines demokratischen Rechtsstaates genügten.
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Aufgrund dieser Entscheidungen und Maßnahmen zur Transformation „von innen” konnte den Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch von Juni bis September 1989 nicht mehr die – wie es die Bezeichnung als „verhandelte Revolution” suggeriert – zentrale Bedeutung für den Systemwechsel zukommen. Bei den Ausgleichsgesprächen ging es lediglich um die Klärung einzelner Fragen des politischen Übergangs sowie um Vereinbarungen über Detailaspekte der konkreten Ausgestaltung der parlamentarischen Ordnung. Diese beschränkte Rolle der Ausgleichsgespräche rechtfertigt es nicht, den politischen Transformationsprozess als „verhandelt” oder „ausgehandelt” zu bezeichnen. Die Verhandlungsthese hinkt überdies auch deswegen, weil in mehreren Fragen, so z.B. bezüglich des Vermögens der Staatspartei, der Lokalität der Parteiverbände oder des Wahlmodus für den Staatspräsidenten, keine allgemein akzeptierten Regelungen vereinbart werden konnten.
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Kaum beachtet wurde bisher auch die Bedeutung derjenigen Maßnahmen, die auf der Partei- und Staatsebene zur institutionellen Absicherung des Transformationsprozesses getroffen wurden. So vollzogen die MSZMP-Transformer mit der Auflösung ihrer Partei und mit der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) im Oktober 1989 einen radikalen organisatorischen Bruch. Die neue Sozialistische Partei fügte sich sowohl im Hinblick auf ihre Organisation als auch auf ihre – wenn auch teils noch unausgegorenen – Zielsetzungen problemlos in die neuen politischen Rahmenbedingungen ein und konnte so zu einem wesentlichen Bestandteil der transformierten politischen Ordnung werden. Auf der staatlichen Ebene legten die Németh-Regierung und das Parlament mit der Übergangsverfassung und den begleitenden Eckgesetzen – im Sinne der Ergebnisse der Ausgleichsgespräche – die staatsrechtlichen Grundlagen der parlamentarischen Demokratie und der Marktwirtschaft. Die Tatsache, dass es zwischen den von der MSZMP-Führung, der Regierung und dem Parlament bereits im Februar/März 1989 angenommenen Verfassungsprinzipien und der Übergangsverfassung vom Oktober 1989 keine wesentlichen, den Charakter der politischen und wirtschaftlichen Ordnung betreffenden Unterschiede gibt, belegt nochmals, welche zweitrangige Rolle die Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch im Prozess des politischen Systemwechsels spielten.
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Aufgrund der Vernachlässigung der Rolle der MSZMP im Systemwechsel ist es nicht verwunderlich, dass bisher auch die spezifische Rolle, die die einzelnen Gruppen von parteiinternen Transformern gespielt haben, nicht aufgearbeitet wurde. Unter den Akteuren im sogenannten „Reformlager” der MSZMP kam – wie gezeigt – den „Reformpolitikern” in der Parteiführung die Hauptrolle zu. Nicht vernachlässigt werden dürfen aber auch die sogenannten „Reformintellektuellen” in den Budapester Universitäten und Forschungsinstitutionen sowie die „Reformzirkel” an der Parteibasis. Während die MSZMP-„Reformpolitiker” aus ihrer Machtposition heraus die Grundsatzentscheidungen zugunsten des Systemwechsels initiierten und durchsetzten, entwickelten die MSZMP- „Reformintellektuellen” Konzeptionen für den politischen Übergang. In diesem Zusammenhang sei auf das Modell der Präsidiallösung verwiesen, das István Schlett für Imre Pozsgay „maßschneiderte”, oder auf das von Mihály Bihari zusammengestellte Demokratiepaket. Politische Bedeutung erlangten die „Reformintellektuellen” außerdem, als sie von Frühjahr bis Herbst 1989 offen die innenpolitischen Zielsetzungen der „Reformpolitiker” in der Öffentlichkeit „untermauerten” und damit deren parteiinternen Durchbruch ideell förderten. Überdies waren sie maßgeblich an den politisch-konzeptionellen Arbeiten im Vorfeld des MSZP-Gründungskongresses im Oktober 1989 beteiligt bzw. an der Bildung der neuen, demokratiekonformen Sozialistischen Partei. Die dritte Gruppe, die „Reformzirkel” entzogen den konservativen Kräften in der MSZMP durch ihre Aktivitäten zwischen Frühjahr und Herbst 1989 allmählich den politischen Rückhalt an der Parteibasis. Damit trugen sie in entscheidender Weise zur Durchsetzung der Transformer an der Parteispitze bei. Darüber hinaus betrieben sie die innere Demontage der Staatspartei und machten so die Gründung der MSZP möglich.
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Aufgrund der zentralen Rolle, die das „Reformlager” der MSZMP im Prozess des Systemwechsels spielte, konnte den Akteuren außerhalb der Partei, also der Öffentlichkeit und der Opposition, während der Umbruchphase – bestenfalls – eine zweitrangige politische Bedeutung zukommen. Im Gegensatz zu Polen, wo es unter der Führung der illegalen Gewerkschaft „Solidarität” bereits im Sommer 1987 zu machtvollen Massenmobilisierungen in Form von Streiks und Demonstrationen kam, nahm die passive ungarische Bevölkerung und die – folglich – schwache, im wesentlichen auf Budapester Intellektuelle beschränkte Opposition in den Jahren 1986 bis 1988 keinen nachweisbaren Einfluss auf den politischen Wandlungsprozess. Die Bildung oppositioneller Gruppierungen signalisierte zwar einen dynamischen Pluralisierungsprozess in Ungarn sowie das Verlangen nach bürgerlichen politischen Alternativen. Diese innenpolitische Entwicklung führte aber nicht zur Bildung einer geeinten, über eine Massenbasis in der Bevölkerung verfügenden Oppositionsbewegung, die – wie die polnische „Solidarität” – unmittelbar Druck auf die Entscheidungsträger hätte ausüben können. Die ungarischen oppositionellen Organisationen, die nur selten über mehrere tausend Mitglieder verfügten, begannen erst Mitte März 1989, nachdem die parteiinternen Transformer die grundsätzlichen Entscheidungen zugunsten des Systemwechsels getroffen hatten, sich politisch zusammenzuschließen und mit gemeinsamen Positionen gegenüber den Machthabern aufzutreten (Oppositioneller Runder Tisch). Diese oppositionsinterne Entwicklung, die wachsenden Sympathien der Bevölkerung für die Opposition sowie der – mit der Politik der Transformation „von innen” – verbundene Zwang für die MSZMP-Transformer, die Opposition – früher oder später – in die politischen Entscheidungen einzubeziehen, ließen die oppositionellen Organisationen Mitte 1989 erstmals zu einem innenpolitischen Faktor werden. Bei den Ausgleichsgesprächen am Nationalen Runden Tisch konnte die vereinigte Opposition so von Juni bis September 1989 ihre politischen Vorstellungen – neben den Machthabern – in den politischen Entscheidungsprozess einbringen.
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In der Literatur zum Systemwechsel finden sich zwar einzelne Hinweise auf internationale Faktoren und insbesondere auf die Bedeutung des von Gorbatschow geschaffenen Freiraumes für den radikalen Wandel in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, eine eingehendere Analyse unterblieb aber. Wie ich aufzeigen kann, gaben die wirtschaftliche Wende und die politischen Reformen der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow bis zum Frühjahr 1988 beschleunigende Impulse auf den Veränderungsprozess in Ungarn. So folgte die ungarische Führung unter Kádár dem Moskauer Kurs – wenn auch zögerlich – beim Übergang von der Plan- zur Marktkoordination der Wirtschaft und bei der Demokratisierung des Einparteiensystems. Nach der Ablösung Kádárs durch Károly Grósz kann im Zeichen des „sozialistischen Pluralismus” und der „sozialistischen Marktwirtschaft” ein weitgehender „Gleichschritt” mit Moskau festgestellt werden. Ende 1988/Anfang 1989 trat dann eine grundlegende Änderung in der ungarischen Politik ein. Im Gegensatz zur sowjetischen Führung, die auch 1989 an der Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums sowie am Einparteiensystem festhielt, gingen die Maßnahmen der ungarischen Politiker hinsichtlich des politischen Systems und der Eigentumsordnung in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 bereits wesentlich darüber hinaus. Wie sehr die politische Initiative nun an die ungarische Führung gegangen war, zeigte sich insbesondere auch an ihrer Entscheidung zum Abbau des „Eisernen Vorhangs” im Frühjahr 1989, bei der Öffnung der Westgrenze für die DDR-Bürger (September 1989), bei der Verabschiedung der Übergangsverfassung sowie bei der Proklamation der „Republik Ungarn” (Oktober 1989).
Wie die Veränderungen in der Sowjetunion, so blieben auch die Ereignisse in Polen nicht ohne Wirkung auf die Politik in der Spätphase des Kádárismus. Die in Polen unter dem unmittelbaren Druck der Opposition und der Bevölkerung Ende 1987/Anfang 1988 eingeleiteten politischen Reformen („sozialistische parlamentarische Demokratie”) erleichterten zweifellos die Bemühungen MSZMP-”Reformpolitiker”, umfassende politische Reformen einzuleiten. Ebenso – mittelbar – wirkte sich auch die Tatsache aus, dass sich die Herrschenden in Polen aufgrund einer anhaltenden Welle von Streiks und Demonstrationen seit Sommer 1988 gezwungen sahen, in Verhandlungen mit der Führung der „Solidarität” zu treten und schließlich, bei Verhandlungen am Runden Tisch im Frühjahr 1989, eine Machtteilung mit der Opposition zu vereinbaren. Diese Ereignisse veranlassten einerseits die schwache ungarische Opposition zu einem selbstbewussteren Auftreten gegenüber den Machthabern. Andererseits förderten sie die de facto Anerkennung der Existenz der ungarischen Opposition, den Gedanken der MSZMP-Führung an eine Machtteilung und die Akzeptanz der vereinigten Opposition als gleichberechtigter Verhandlungspartner. Auf eine unmittelbare Einwirkung der polnischen Ereignisse auf den ungarischen Systemwechsel, z. B. als Ergebnis intensiver Konsultationen der Budapester Führung mit Warschau, kann aus den Quellen nicht geschlossen werden. Im Frühjahr 1989 „überflügelte” die Budapester Führung schließlich sogar die polnischen Politiker mit den prinzipiellen Entscheidungen zugunsten eines kompetitiven Mehrparteiensystem, einer parlamentarischen Demokratie und freier Parlamentswahlen für das Frühjahr 1990.
Bezüglich des Einflusses der westlichen Welt, insbesondere derjenigen Institutionen, die Gläubiger des hochverschuldeten Ungarn bildeten (Weltbank, Internationaler Währungsfond), auf die innenpolitischen Entwicklungen können keine Versuche belegt werden, direkt in die ungarische Politik einzugreifen. Der Westen spielte allerdings insofern eine bedeutende mittelbare Rolle, als die auf Finanzhilfe und Wirtschaftskooperation angewiesene ungarische Führung sich keine massive Gewaltanwendung gegenüber der Opposition mehr „leisten” konnte. Hinsichtlich der ungarischen Entscheidung, prinzipiell ein Mehrparteiensystem zu akzeptieren, kann eine mittelbare Einflussnahme in einem konkreten Fall nachgewiesen werden. So wartete der Internationale Währungsfond die ZK-Entscheidung zum Mehrparteiensystem ab, bevor er über die Gewährung eines neuen Kredits abstimmte und strebte damit zweifellos eine Beschleunigung des Transformationsprozesses an.
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Zusammenfassend stelle ich fest, dass es sich beim politischen Transformationsprozesses in Ungarn nicht um das Ergebnis von Ausgleichsverhandlungen zwischen den Machthabern und der Opposition gehandelt hat und dementsprechend seine Charakterisierung als etwas „Verhandeltes” oder „Ausgehandeltes” nicht haltbar ist. An die Stelle der Verhandlungsthese setze ich aufgrund meiner Forschungsergebnisse die Bezeichnung als politische Systemtransformation „von innen”. Diese Charakterisierung halte ich insofern für gerechtfertigt als – neben der Entscheidung zum wirtschaftlichen Systemwechsel, zur außenpolitischen Westorientierung, zur Neugestaltung der Sozialpolitik und zur Wende in der Kultur- und Bildungspolitik – die maßgeblichen Impulse und grundlegenden Schritte hinsichtlich der Demontage des Parteistaates und der Transformation der politischen Ordnung auf Initiative des sogenannten „Reformlagers” innerhalb der MSZMP und ohne unmittelbaren Druck der Öffentlichkeit bzw. der Opposition fielen. „Von außen” wurde der politische Transformationsprozess lediglich später, als die Grundsatzentscheidungen bereits gefallen waren, am Nationalen Runden Tisch beeinflusst. Internationale Faktoren haben zwar – insbesondere während des Spätkádárismus – die ungarischen Entwicklungen beschleunigt, wesentliche Impulse „von außen” zur Transformation der politischen Ordnung konnte es aber aufgrund der politischen Vorreiterrolle Ungarns seit Anfang 1989 nicht mehr geben.
Begegnungen16_Schlumbohm
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:55–67.
JÜRGEN SCHLUMBOHM
Geschichte der Geburt
Das Entbindungshospital der Universität Göttingen und seine Patientinnen, 1751 – ca. 1830
Tendenzen der neueren Forschung
Die Geschichte der Geburt – oder zumindest die Geschichte der Geburtshilfe – ist für die Forschung kein Neuland. Medizinhistoriker schrieben seit dem 19. Jahrhundert die Geschichte der Ideen der großen Ärzte und der wenigen Hebammen, die gedruckte Schriften hinterlassen haben1, aneinandergereiht zu einer Linie des Fortschreitens zu immer richtigeren Erkenntnissen über den Körper der Frau und die geburtshelferischen Möglichkeiten. Aus institutionsgeschichtlicher Perspektive erschien die Entstehung der medizinischen Spezialdisziplin Geburtshilfe als Teil eines zwangsläufigen Prozesses der Verwissenschaftlichung der modernen Welt sowie der Ausdifferenzierung immer weiterer Teilgebiete innerhalb der Medizin.2 Sozialhistoriker beschrieben die fortschreitende Professionalisierung des medizinischen Personals, der ärztlichen Geburtshelfer einerseits, der Hebammen andererseits. „Medikalisierung” war seit den 1970er Jahren das Zauberwort, mit dem der Wandel auf den Begriff gebracht wurde. Es hob zum einen darauf ab, dass immer mehr Menschen in die medizinische Versorgung einbezogen wurden, zum anderen betonte es die „Rationalisierung” der menschlichen Verhaltens– und Denkweisen im Sinne medizinischer Lehren und Vorstellungen. Als direkte Folge der Medikalisierung der Geburt und der Professionalisierung der Geburtshilfe erscheint dann die radikal verminderte Todesgefahr für Mutter und Kind bei, vor und nach der Geburt. Mitte des 18. Jahrhunderts starben doch hundertmal so viele Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt wie heutzutage.3
Doch in den 1970er Jahren setzte die Kritik ein. Angeregt von unterschiedlichen Impulsen wie der feministischen Bewegung, radikaler Medizinkritik und der Philosophie Michel Foucaults wurde die Entwicklung der Geburtshilfe als Macht–Geschichte beschrieben: Das neue durch den „ärztlichen Blick” gewonnene Wissen bedeutete vor allem Macht für seine Träger. Männer, nämlich Ärzte eigneten sich das Wissen der ‘weisen Frauen’ und Hebammen teils an, teils verdrängten sie es und eröffneten so den Weg zur Medikalisierung der Geburt.4 Paradoxerweise blieb diese kritische Betrachtung zunächst ihrem Gegenstück in vielem verhaftet. Sie kann als dessen spiegelbildliche Umkehrung aufgefasst werden. Beide Male erscheint der Verlauf der Entwicklung als geradlinig, und die Geschichte wird kanalisiert in dichotome Gegensätze: Frauen versus Männer, Tradition versus Wissenschaft, Natur versus Technik.
Demgegenüber ist die gegenwärtige Forschungssituation dadurch gekennzeichnet, dass in verschiedenen Ländern und in mehreren Disziplinen vielfältige neue Ansätze entstehen und erprobt werden. Bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen sind die neuen Tendenzen insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie die Geschichte der Geburtshilfe einbetten in eine umfassende Geschichte der Geburt. Dabei wird die Geburt verstanden als ein Ereignis, das sowohl eine biologisch–demographische, als auch eine kulturell–soziale Seite hat. Sie hat zentrale Bedeutung nicht nur für das Individuum und die engere Familie, sondern auch für die weitere Gesellschaft, deren Fortbestand und Entwicklung. Hoffnungen und Erwartungen richteten sich auf die Geburt, doch ebenso waren Sorge und Furcht mit ihr verbunden, zumal bis ins 20. Jahrhundert hinein mit dem Beginn eines neuen Lebens stets die Gefahr des Todes verbunden war. In der historischen Forschung hat vor allem die Frauen– und Geschlechtergeschichte neue Perspektiven zu diesem Problemkreis eröffnet. Zugleich wendet sich die historische Demographie der Sozial– und Kulturgeschichte zu und befreit sich so aus der Isolierung. Die Medizingeschichte hat ihr Forschungsfeld stark erweitert und die vormalige Beschränkung auf die Geschichte der großen Ärzte und ihrer Schriften überwunden. Die Volkskunde richtet verstärkt den Blick auf die Praxis einfacher Leute und verortet diese in dem jeweiligen historischen und sozialen Kontext, statt sich mit der Beschreibung ‘traditionellen Brauchtums’ zu begnügen. Auf diese Weise fällt von verschiedenen Disziplinen neues Licht auf die Geschichte der Geburt und der Geburtshilfe.
Dabei ist die französische Forschung in den 1980er Jahren vorangegangen. Während die historische Demographie umfangreiches Datenmaterial zur Geburtlichkeit, aber auch zur Säuglings– und Müttersterblichkeit in der frühen Neuzeit bereitstellte, haben die Historiker dies Forschungsfeld vor allem unter der Perspektive der Medikalisierung beleuchtet. Besonderes Interesse galt der Ablösung der ‘alten Frauen’ („matrones”) durch geschulte und professionelle Hebammen („sages–femmes”) sowie dem Aufstieg der männlichen Geburtshelfer („accoucheurs”). Zugleich arbeiteten Kulturanthropologen und Volkskundler über das traditionelle Wissen und die traditionelle Praxis der Geburt, wobei sich zahlreiche Schnitt– und Berührungspunkte mit der Sozialgeschichte ergaben.5 Im angelsächsischen Raum hat vor allem die Hinwendung zur Sozial– und Kulturgeschichte der Medizin neue Wege zur Geschichte von Geburt und Geburtshilfe erschlossen. Interesse fanden z.B. der Aufstieg des „man–midwife” – wie der ärztliche Geburtshelfer paradox genannt wurde – im 18. Jahrhundert, aber auch Hebammen– und Entbindungsanstalten.6 Ein anderer Forschungszweig hat begonnen, die Bilder vom weiblichen Körper auf die Bedeutung hin zu untersuchen, die sie seit der Aufklärung im populären und im gelehrten Diskurs für die kulturelle und soziale Prägung der Geschlechter erhielten.7 Die italienische Forschung hat sich einerseits für die soziale Funktion von Gebär– und Findelhäusern im 18. Jahrhundert interessiert, andererseits in anthropologischer Perspektive das Ereignis der Geburt in spezifischen regionalen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen betrachtet.8 Inzwischen ist auch in den deutschsprachigen Ländern eine vielfältige und differenzierte Forschung im Gange.
Die wichtigsten neuen Ansätze lassen sich folgendermaßen umreißen: Angeregt von Fragestellungen der „Geschlechtergeschichte” (gender history), bemühen sich eine Reihe von Arbeiten, die herrschenden vereinfachenden Vorstellungen vom Wandel der Leitbilder und Rollen von Mann und Frau durch eine differenzierte und vielschichtige Analyse zu überwinden. Was genau heißt es, wenn man sagt: Die ‘traditionelle Geburt’ war ein Ereignis unter Frauen?9 Gefragt wird nach der Rolle, die Männern vor der Medikalisierung im Zusammenhang mit dem Geburtsereignis zukam, andererseits nach den Wünschen und Hoffnungen, nach der Scham und den Ängsten, die Frauen dem wissenschaftlich gebildeten Geburtshelfer entgegenbrachten. Ebenso wird detailliert untersucht, ob und in welchem Ausmaß eine konsequente Umgestaltung der Praxis aus der radikalen Polemik folgte, die die frühen Vertreter ärztlicher Geburtshilfe gegen Hebammen und ‘alte Frauen’ richteten.10 Dabei wird stets auf die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, Regionen, aber auch sozialen Schichten geachtet. Die Medizingeschichte hat, besonders in England, zur Kenntnis genommen, dass das Entbindungshospital, oft eine zentrale Institution der ärztlichen Geburtshilfe, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Ort stark erhöhter Sterblichkeit war11, also keineswegs in so direkter Weise die Wohltaten der neuen geburtshilflichen Wissenschaft verbreitete, wie man bisher zu glauben geneigt war. Was die Rekonstruktion der Wissensbestände und der geburtshilflichen Praktiken betrifft, so begegnen sich neuere volkskundliche Forschungen mit medizingeschichtlichen in dem Bemühen, hinter den gedruckten Texten zur Geburtshilfe, die durchweg der ‘gelehrten Kultur’ angehören, auch das mündlich tradierte – und daher in unseren Quellen meist nicht direkt bezeugte – Erfahrungswissen der Hebammen freizulegen und so den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Formen und Ebenen des Wissens auf die Spur zu kommen.12 Die Rechtsgeschichte fragt neuerdings nach der Bedeutung rechtlicher Normen für die Praxis. Die Hebammenordnungen, wie sie zahlreiche Städte und Territorien des Alten Reiches seit dem 15. Jahrhundert erließen, werden darauf befragt, wieweit sie entweder einen bereits eingetretenen Wandel kodifizierten oder angestrebte Veränderungen programmatisch antizipierten oder aber normative Wunschvorstellungen abseits jeder praktischen Umsetzung kundgaben.13
So tritt an die Stelle einer einlinigen Fortschrittsgeschichte der Medikalisierung und Professionalisierung oder einer Geschichte von der Entmachtung der Frauen eine vielgestaltige, mannigfach gebrochene und widersprüchliche Geschichte der kulturellen Ordnungen und sozialen Praktiken der Geburt. Der oft als überhistorisch angenommene Gegensatz zwischen Männern und Frauen, Ärzten und Hebammen löst sich bei sorgfältiger Betrachtung auf in vielfältig gelagerte und unterschiedlich ausgehandelte oder ausgefochtene Felder von Konflikt, aber auch Kooperation.14
Das gilt auch für das spezielle Feld, mit dem ich mich besonders befasse, die Geschichte der Entbindungshospitäler. Für die traditionelle Medizingeschichte schien die Bedeutung der Gebärhäuser klar: Diese Institutionen spielten eine entscheidende Rolle bei der Umwandlung der Geburtshilfe aus einer Hebammenkunst in eine medizinische Wissenschaft, und deshalb waren sie mitverantwortlich für all die Segnungen, die daraus folgten.15 In den 1970er und 1980er Jahren wurde auch diese Geschichte von einer kritischen Richtung umgedreht: Nun wurden die Entbindungshospitäler als zentrale Instrumente angesehen, durch welche männliche Ärzte Schwangere und Gebärende ihrer Disziplin unterwarfen und die Hebammen verdrängten.16 Auch hier zeichnet sich inzwischen ein komplexeres und nuancierteres Bild ab. Vor allem wird deutlich, dass die Gebärhäuser in den verschiedenen Teilen Europas keineswegs so einheitlich waren, wie die beiden konkurrierenden Versionen der einlinigen Geschichte annahmen. Diese Institutionen unterschieden sich nicht nur in ihrer Größe und Organisationsstruktur, sondern auch in ihrer Funktion, ihrem Personal und der Art ihrer Patientinnen. Deshalb erscheint es angemessen, zunächst ein einzelnes Entbindungshospital genauer zu untersuchen, freilich so weit wie möglich in vergleichender Perspektive. Mein Beispiel ist das Entbindungshospital der Universität Göttingen von der Mitte des 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert.17
Das Göttinger Entbindungshospital: Organisation und Zweck
Das Göttinger Entbindungshospital wurde im Jahre 1751 gegründet. Es war eines der frühesten in Deutschland und gilt als das erste in der Welt, das eine Universitätsinstitution war. Vorbild war die Gebärabteilung des Straßburger Bürgerhospitals. Von dort wurde auch Johann Georg Roederer (1726–1763) als erster Direktor nach Göttingen berufen. Roederer hatte nicht nur in Straßburg studiert, sondern auch eine Fortbildungsreise nach Paris, London, Oxford, Leiden und Göttingen unternommen. Dieser – damals nicht ungewöhnliche – Werdegang ist bezeichnend dafür, dass die Geburtshilfe als neuer Zweig der medizinischen Wissenschaft in einem europaweiten medizinischen Netzwerk entstanden ist.18
In den folgenden Jahrzehnten wurden an einer Reihe weiterer deutschsprachiger Universitäten Entbildungsanstalten gegründet. Dass viele – wenn auch keineswegs alle – Gebärhospitäler Universitätsinstitutionen waren, ist eine Besonderheit Deutschlands im Vergleich etwa zu England und Frankreich. In diesen Fällen war der Direktor des Hospitals zugleich Professor der Geburtshilfe. Als Teil der 1733–1737 gegründeten Universität Göttingen wurde das Entbindungshospital vom Staat, dem Kurfürstentum Hannover, finanziert. Sein Hauptzweck war, den Medizinstudenten Gelegenheit zur praktischen Ausbildung zu geben. Außerdem wurden Kurse für angehende Hebammen abgehalten.19
Die Anfänge der Universitätsentbindungsanstalt waren freilich sehr bescheiden. Sie verfügte zunächst lediglich über zwei Räume in einem spätmittelalterlichen Hospital für arme Alte. In seinen ersten Jahren entbanden Roederer und seine Studenten nur zehn bis dreißig Frauen pro Jahr. In den 1780er Jahren aber ließ die Regierung das alte Gebäude niederreißen, und ein neues weiträumiges und ansehnliches Gebäude an seine Stelle setzen. Der mit erheblichen Kosten errichtete Neubau diente ausschließlich als Geburtsklinik. Nun stieg die Zahl der jährlichen Entbindungen auf achtzig bis hundert. Das war immer noch eine bescheidene Zahl, verglichen mit den Gebärhospitälern in Dublin, Paris oder Wien, die um 1800 je weit über tausend Geburten pro Jahr verzeichneten.
1792, wenige Monate nachdem das neue Gebäude in Betrieb genommen war, wurde ein neuer Direktor und Professor der Geburtshilfe nach Göttingen berufen. Es war Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822), und er hatte dieses Amt dreißig Jahre lang inne. Er nutzte die Vorzüge der Überschaubarkeit seines Hospitals: Da er mit seiner Familie in der Direktorenwohnung im zweiten Obergeschoss wohnte, konnte er die Anstalt genau übersehen. Und er war entschlossen, sie nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Unterstützt wurde er dabei von einem Verwalter, der kein Arzt, sondern für die wirtschaftlichen und administrativen Aufgaben zuständig war. Die Hospitalshebamme war verantwortlich für die „Unteraufsicht über die Schwangeren und Wöchnerinnen” und „für Ordnung und Reinlichkeit auf den Wohn– und Schlafzimmern”. Sie vor allem hatte den alltäglichen Kontakt mit den Patientinnen, nahm aber auch einfache ‘chirurgische’ Aufgaben wie das Setzen von Klistieren wahr. Sie half dem Direktor bei den Entbindungen und kümmerte sich insbesondere um die Neugeborenen. In Göttingen war die Hospitalshebamme dem ärztlichen Direktor und Professor der Geburtshilfe klar untergeordnet – ganz im Gegensatz zu der Chefhebamme des großen Entbindungshauses von Port–Royal in Paris, die faktisch die Leitung des ganzen Hauses innehatte.20 Von den Patientinnen wurde natürlich erwartet, dass sie dem Direktor, dem Verwalter und der Hebamme gehorchten.
Wer waren die Patientinnen, und warum kamen sie ins Hospital?
Bisweilen hat sich Osiander deutlich über die Rolle der Patientinnen im Hospital geäußert: „Es ist [...] sehr unrichtig geurteilt, wenn man glaubt, dies Haus sei Unehelich–Schwangeren wegen da. Mitnichten! Die Schwangeren, sie seien hernach Verehelichte oder Unverehelichte, sind der Lehranstalt halber da.” Das Hospital war keine Wohlfahrtseinrichtung, sondern sollte der Wissenschaft und Ausbildung dienen. Aus diesem Grunde standen seine Türen weit offen: „Zur Aufnahme in dieses Institut ist [...] jede Schwangere, Verheuratete und Unverheuratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin fähig.” Dies Fehlen von Vorurteilen steht in auffälligem Kontrast zu den Prinzipien, die in der Armenfürsorge herrschten. Dort sollten gewöhnlich alle ausgeschlossen werden, die von auswärts kamen und nicht der örtlichen Gemeinde angehörten.21 Gerade die Tatsache, dass die Patientinnen im Entbindungshospital als Lehrmaterial benutzt wurden, machte eine solche liberale Aufnahmepolitik möglich.
Die Aufnahmebücher des Göttinger Hospitals, in die der Verwalter die Personaldaten jeder Patientin eintrug, bestätigen, dass die liberalen Grundsätze in der Praxis befolgt wurden.22 Was die Religion angeht, so waren 61 % der Patientinnen lutherisch, 28 % calvinistisch, 10 % katholisch und 1 % jüdisch. Es kamen mehr Frauen aus anderen Staaten als dem Kurfürstentum Hannover: 40 % stammten aus Kurhannover, aber 49 % aus Hessen–Kassel – das freilich schon etwa 20 km südlich von Göttingen begann. Nur 12 % aller Patientinnen hatten einen Weg von mehr als 50 km bis Göttingen zurückgelegt.
Fast alle Patientinnen aber hatten ein gemeinsames Merkmal: Sie waren nicht verheiratet. Von den fast 3600 Frauen, die von 1791 bis 1829 im Göttinger Hospital entbunden wurden, erklärten sich nur 2 % als verheiratet und weitere 2 % als verwitwet. Über 95 % der im Hospital geborenen Kinder waren also unehelich. Ähnlich sah es in den meisten Hospitälern Kontinentaleuropas aus, anders freilich in einigen britischen Gebäranstalten, insbesondere in London (was damit zusammenhängt, dass viele britische Hospitäler Anstalten der privaten Wohltätigkeit, also von Spendern abhängig waren).23
Die große Mehrheit der Göttinger Patientinnen waren Mägde und Dienstmädchen. In den meisten Teilen Deutschlands, konnten Mägde fristlos entlassen werden, wenn sie als schwanger befunden wurden. Für alleinstehende Schwangere aus den unteren Schichten war das Hospital attraktiv, weil es freie Unterkunft und Verpflegung in der schwierigen Zeit vor und nach der Entbindung bot. 46 Tage weilten die Göttinger Patientinnen der Periode 1791 bis 1829 durchschnittlich im Hospital (das ist doppelt so lange wie bei der Pariser Anstalt)24. Im Durchschnitt blieben sie einen Monat vor und zwei Wochen nach der Geburt. Die Schwangeren hatten die Wöchnerinnen und Neugeborenen zu versorgen, so dass die Anstalt neben der Hospitalshebamme nur eine Magd benötigte und Kosten sparte. Noch wichtiger war, dass die Schwangeren den Medizinstudenten und Hebammenschülerinnen für Untersuchungsübungen zur Verfügung standen.
Wie die meisten deutschen Gebäranstalten, aber im Gegensatz zu Wien, Paris und Turin25, hatte die Göttinger Einrichtung kein Findelhaus. Die Mütter mussten also ihre Babys mit nach Hause nehmen. Wenn die allermeisten im Hospital geborenen Kinder illegitim waren, so ging umgekehrt doch nur eine kleine Minderheit aller ledigen Mütter zur Entbindung ins Hospital. Offenbar waren es vor allem diejenigen Frauen, die keine andere Unterstützung hatten.26
Verheiratete Frauen brachten ihre Kinder zu Hause zur Welt, gewöhnlich mit Hilfe einer Hebamme und in Gegenwart anderer erfahrener Frauen, Verwandten und Nachbarinnen. Gelegentlich wurde der Direktor der Gebäranstalt auch zu Hausentbindungen in der Stadt oder in nahen Dörfern gerufen. Solche Fälle konnten aber nicht als Lehrmaterial für die Studenten benutzt werden. Vielmehr musste der Professor bei Hausgeburten die Wünsche der Gebärenden berücksichtigen, auch die ihrer Ehemänner und der anderen anwesenden Frauen, die ebenfalls Erfahrung und Wissen auf dem Gebiet der Geburtshilfe beanspruchten.27
Das Hospital und die Entstehung der männlich-ärztlichen Geburtshilfe
Im Vergleich dazu war das Autoritätsverhältnis zwischen Patientin und Arzt im Hospital umgekehrt. Während die Gebärende bei einer Hausentbindung gewöhnlich die Hebamme oder den Arzt zu bezahlen hatte, schuldeten die Patientinnen des Gebärhospitals der Anstalt Dank für freie Behandlung, Unterkunft und Verpflegung. Darüber hinaus kamen sie allein, und ihr Kontakt mit der Außenwelt war strikt kontrolliert. Die Patientin war also isoliert, wenn sie dem Hospitaldirektor, dem Personal und den Studenten gegenübertrat. Einige Medizinprofessoren kritisierten die Institution des Hospitals genau aus diesem Grunde: Da im Hospital „die Kranken [...] ganz unter den Befehlen des Arztes stehen” und „alles auf den Wink des Arztes mit der größten Pünktlichkeit vollzogen wird”, lernt „in dem Hospital [...] der junge Arzt die Dinge so kennen, wie sie sein sollten”; nur wenn „die Kranken [...] in ihren Häusern besorgt werden”, lernt er die Dinge so kennen, „wie sie wirklich in der Welt sind [...]”.28
In radikaler Weise wurden die Frauen, die in das Göttinger Entbindungshospital kamen, in medizinische Fälle verwandelt. Wie das geschah, kann anhand der Hospitaltagebücher verfolgt werden, in die der Direktor über jeden Fall eine Doppelseite eintrug.29 Die Patientinnen hingegen haben kaum je schriftliche Dokumente hinterlassen. Ihre Erfahrungen können wir also nur indirekt aus den Quellen erschließen, die vom Direktor oder dem Verwalter niedergeschrieben wurden.
Osiander rühmte sich seiner durchgehenden Präsenz in der Klinik: „Bei jeder Geburt, sie sei bei Tag oder bei Nacht, bin ich, wenn keine Krankheit, Reise aufs Land oder ein anderes wichtiges Geschäft mich hindert, vom Anfange bis zu Ende zugegen [...].” Im Vergleich zu den ärztlichen Direktoren sehr großer Gebäranstalten, die unmöglich derartiges von sich behaupten konnten30, belegen die Göttinger Tagebücher in der Tat eine den klinischen Alltag weithin bestimmende Rolle des Geburtshelfers. Darüber hinaus unterrichtete Osiander im Lehrsaal des Hospitals jedes Semester 30 bis 60 Studenten in theoretischer und praktischer Geburtshilfe. Dazu gehörten auch Demonstrationen und Übungen am Phantom, einem mit Leder überzogenen weiblichen Becken. Außerdem hielt Osiander zweimal jährlich einen dreimonatigen Kurs für Hebammenschülerinnen. Gewöhnlich gab es drei bis acht Teilnehmerinnen. Auch sie übten am Phantom, aber – im Gegensatz zu den Medizinstudenten – benutzten sie nie Instrumente, insbesondere nicht die von Osiander so hoch geschätzte Zange.
Der entscheidende Vorzug des Gebärhospitals lag natürlich darin, dass es Gelegenheit zur praktischen Ausbildung und Arbeit mit Patientinnen bot. Ein– oder zweimal pro Woche untersuchten Gruppen von etwa acht Studenten die Schwangeren. Durch äußerliche und innerliche manuelle Untersuchung sollten sie lernen, den Stand der Schwangerschaft und die Kindslage zu bestimmen.31 Kern der praktischen Ausbildung aber war die Anwesenheit und Tätigkeit bei den Entbindungen. Daher hat Osiander in seinen Veröffentlichungen detailliert beschrieben, wie dieser entscheidende und heikle Teil seiner Lehre vonstatten ging. Auch über die Funktion der Patientinnen für die Lehre hat er sich freimütig geäußert: „[...] da der ganze Zweck dieses Instituts dahin gerichtet ist, dass den Studierenden der Geburtshülfe sowohl als den Hebammen der Vorteil verschafft werde, sich durch Zusehen und Handanlegen zu wahren, der Menschheit nützlichen Geburtshelfern und Hebammen zu bilden; ferner dass der Lehrer Gelegenheit haben möchte, seinen Zuhörern die Lehrsätze der Geburtshülfe in der Natur anschaulich zu machen, so werden auch die ins Haus aufgenommenen Schwangeren und Kreißenden gleichsam als lebendige Phantome angesehen, bei denen alles das [immer freilich mit der größten Schonung der Gesundheit und des Lebens ihrer und ihres Kindes] vorgenommen wird, was zum Nutzen der Studierenden und Hebammen und zur Erleichterung der Geburtsarbeit vorgenommen werden kann.”
Die Reaktionen der Patientinnen
Wie reagierten die Frauen auf diese Zumutung? Es gibt Anzeichen, dass sie trotz ihrer meist schwierigen sozialen Lage der Realisierung des Projekts, sie in lebendige Übungspuppen zu verwandeln, Grenzen setzten. Ihren ‘Eigensinn’ zeigten Patientinnen auf verschiedene Weise. Manche Frauen kamen nicht zurück, nachdem der Direktor sie im Anschluss an die Eingangsuntersuchung für einige Tage oder Wochen wieder weggeschickt hatte, weil der Geburtstermin noch zu weit entfernt war und kein Mangel an Schwangeren im Hospital bestand. Ein gutes Drittel der Aufnahmesuchenden musste zunächst wieder gehen, und von ihnen kehrte jede Fünfte nicht zurück (das waren etwa 6 % aller registrierten Patientinnen). Offenbar hatten diese Frauen nach einmaliger Untersuchung genug von der Anstalt; sie fällten ihr Urteil mit den Füßen. – Hin und wieder kam es auch vor, dass Patientinnen, die bereits stationär aufgenommen waren, vor der Entbindung weggingen. In diesem Fall sollten sie für ihren Aufenthalt bezahlen, in der Regel einen Taler pro Woche. Das war eine beträchtliche Summe für eine arme Frau: Die Hospitalmagd erhielt pro Monat kaum einen Taler an Barlohn (neben freier Unterkunft und Verpflegung). So überrascht es nicht, dass von 1791 bis 1829 nur sieben Frauen verzeichnet sind, die vor der Niederkunft weggingen und für ihren Aufenthalt bezahlten. Mehr als viermal so viele, nämlich, aber sind als „heimlich” entwichen registriert (also 1 % aller Patientinnen); von ihnen ließ sich kein Geld eintreiben.
Wieder andere Frauen ärgerten den Direktor, weil sie zu spät auf dem Hospital ankamen. Zwar war es nicht ungewöhnlich, dass Patientinnen erst eintrafen, nachdem die Wehen eingesetzt hatten; 10 % aller Patientinnen wurden am selben Tag stationär aufgenommen, an dem sie dann auch ihr Kind zur Welt brachten. Einige aber kamen buchstäblich im allerletzten Moment. Die 27–jährige Anna Margaretha Zieglerin, die schon zwei Jahre zuvor im Göttinger Hospital von einem Kind entbunden worden war, erschien am 24. Mai 1796 und sagte, „sie glaube, auf Johan[nis, d. i. 24. Juni] niederzukommen”. Nach der üblichen Untersuchung trug Osiander in das Tagebuch ein: Sie „will in 3 Wochen nieder– und in 14 Tagen aufs Hause kommen”. Tatsächlich kam sie „den 12. Jun[i] nachmitt[ags] um 3 Uhr [...] in Wehen so auf dem Hause an, dass man sie kaum in Stuhl [den Gebärstuhl] bringen konnte, so schoss das Kind herbei.” Osiander fügte hinzu: „Es war ihr vor 14 Tagen so ernstlich eingeschärft, dass sie nicht zu spät kommen sollte; sie schien es aber darauf angelegt zu haben. Sollte sie sich daher wieder einmal als schwanger melden, so kann sie nicht mehr aufgenommen werden, da sie wahrscheinlich bei dem Verzögern böse Absichten hatte, ihrem Kinde Schaden zu tun.” Nun mag man sich fragen, warum sie überhaupt auf das Hospital kam, wenn sie tatsächlich vorhatte, ihrem Kind etwas zuleide zu tun. Auffällig ist bei diesem Geburtsprotokoll, dass am Rande nicht wie üblich der betreuende Geburtshelfer bzw. die Hebamme namentlich genannt ist, sondern ein vager Plural gebraucht wird: Die im Hospital gegenwärtigen Hebammen leisteten Beistand. Offenbar war es zu spät, die Medizinstudenten aus der Stadt herbeizurufen. Osiander selbst scheint auch nicht dabei gewesen zu sein; denn das Geburtsprotokoll erwähnt ihn nicht, und auch die Angaben über Gewicht und Maße des Neugeborenen fehlen im Tagebuch. All das legt die Vermutung nahe, dass eine tiefere Ursache für den Ärger des Direktors darin lag, dass diese Patientin sich der Aufgabe entzog, die ihr für die akademische Lehre zugedacht war.
Wieder andere Frauen suchten im Hospital ihre Wehen zu verheimlichen, offenbar im Einvernehmen mit den anderen Patientinnen. Anna Maria Ostermeyerin, ein Dienstmädchen von 27 Jahren, das am 3. Mai 1800 zum zweiten Mal im Göttinger Accouchierhaus niederkam, „verheimlichte” laut Tagebuch „ihre Geburt bis diesen Morgen um h[alb] 5 Uhr, wo der Kopf schon im Einschneiden war. Um 5 Uhr wurde das Kind [...] geboren. [...] Sie soll die ganze Nacht Wehen gehabt, aber zu den andern, die bei ihr waren, gesagt haben, dass es nur Krämpfe seien.” Da jeweils zwei Frauen ein Zimmer teilten, blieb den anderen nicht verborgen, dass sich Anna Marias Zustand veränderte; die Hospitalshebamme benachrichtigten sie nicht, obwohl die „Hausgesetze” das nachdrücklich einschärften. Bei knapp 4 % der Entbindungen spricht das Tagebuch mehr oder weniger deutlich von Versuchen, die Wehen zu verheimlichen. Sehr häufig ist dies Verhalten demnach nicht gewesen. Dennoch irritierte es den Direktor in besonderer Weise. Wollten diese Frauen doch die Wohltaten der Gebäranstalt – freie Unterkunft und Verpflegung, eine Zuflucht in den schwierigen Wochen vor und nach der Niederkunft – in Anspruch nehmen und die Gegenleistung, sich entbinden zu lassen, verweigern.
Das Göttinger Hospital zeigt, dass die Entbindungsanstalt in Deutschland für den Aufstieg der ärztlichen Geburtshelfer und die Umwandlung der Geburtshilfe in eine medizinische Wissenschaft tatsächlich eine zentrale Rolle spielte. Insofern ist der Göttinger Fall eher geeignet, die Sicht der traditionellen Medizingeschichte – oder aber deren feministisch inspirierte Kritik – zu bestätigen, als das Beispiel des Pariser Entbindungshospitals von Port–Royal, das ausschließlich Hebammen in zweijährigen Kursen ausbildete und faktisch von der Chefhebamme geleitet wurde. Trotzdem konnte auch das Göttinger Hospital die Frauen nicht einfach in Fälle und Objekte der entstehenden geburtshilflichen Wissenschaft verwandeln. Vielmehr benutzten die Frauen das Gebärhaus auch für ihre eigenen Zwecke und hatten selbst in dieser Anstalt eine ‘weibliche Sphäre’, die der Direktor nicht ohne weiteres durchdringen konnte.
Anmerkungen
1
Klassisch und in dieser Hinsicht immer noch nützlich: Heinrich Fasbender, Geschichte der Geburtshilfe, Jena 1906, Nachdruck Hildesheim 1964.
2
Dazu Hans–Heinz Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes (Studien zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts 4). Stuttgart 1970, S. 283 ff.
3
So kam in Schweden, für das besonders lange Datenreihen vorliegen, um 1750 etwa ein Todesfall einer Mutter auf 100 Geburten, um 1975 weniger als ein Todesfall auf 10.000 Geburten. Grundlegend und differenziert zu diesem Problem: Irvine Loudon, Death in childbirth: An international study of maternal care and maternal mortality 1800–1950, Oxford 1992, hier S.409, 553 f.
4
Siehe z.B. Jean Donnison, Midwives and medical men: A history of inter–professional rivalries and women’s rights, London 1977; Ute Frevert: Frauen und Ärzte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte eines Gewaltverhältnisses. In: Annette Kuhn/Jörn Rüsen (Hg.), Frauen in der Geschichte II. Düsseldorf 1982, S. 177–210; Marjorie Tew, Safer childbirth? A critical history of maternity care, 2. Aufl. London usw. 1995; vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973 (Orig.: Paris 2. Aufl. 1972).
5
Yvonne Verdier, Drei Frauen. Das Leben auf dem Dorf, Stuttgart 1982 (Orig.: Paris 1979); Mireille Laget, Naissances. L’accouchement avant l’âge de la clinique, Paris 1982; Jacques Gélis, L’arbre et le fuit. La naissance dans l’Occident moderne XVIe–XIXe siècle, Paris 1984 (gekürzte deutsche Fassung: Die Geburt. Volksglaube, Rituale und Praktiken von 1500–1900, München 1989); Ders., La sage–femme ou le médecin. Une nouvelle conception de la vie, Paris 1988.
6
Adrian Wilson, The making of man–midwifery: Childbirth in England 1660–1770, London 1995; Hilary Marland (Hg.): The art of midwifery: Early modern midwives in Europe. London usw. 1993; Hilary Marland/ Anne Marie Rafferty (Hg.)., Midwives, society and childbirth: Debates and controversies in the modern period. London 1997.
7
Ludmilla Jordanova, Sexual visions: Images of gender in science and medicine between the eighteenth and twentieth centuries, New York usw. 1989; Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987.
8
Claudia Pancino, Il bambino e l’acqua sporca. Storia dell’ assistenza al parto dalle mammane alle ostetriche (sec. XVI–XIX), Mailand 1984; Dies., Voglie materne. Storia di una credenza, Bologna 1996; Nadia Maria Filippini: La nascita straordinaria. Tra madre e figlio. La rivoluzione del taglio cesareo (sec. XVIII–XIX) Mailand 1995.
9
Laurel Thatcher Ulrich, A midwife’s tale: The life of Martha Ballard, based on her diary 1785–1812, New York 1990; Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln 1998.
10
Hans Christoph Seidel: Eine neue „Kultur des Gebärens”. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. Stuttgart 1998; detaillierte Regionalstudie: Eva Labouvie: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land, 1550–1910. Frankfurt/M. 1999.
11
Loudon, Death in childbirth, S. 193 ff., 327 ff., 428 ff.
12
Esther Fischer–Homberger, Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung. Bern usw. 1983, bes. S. 53–68, 175–292; Waltraud Pulz: „Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben”. Das Hebammenanleitungsbuch von Justina Siegemund, München 1994; Nina Rattner Gelbart, The King’s midwife: A history and mystery of Madame du Coudray, Berkeley 1998.
13
Sibylla Flügge: Hebammen und heilkundige Frauen. Recht und Rechtswirklichkeit im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1998.
14
Diese Tendenzen spiegelten sich auch in der internationalen und interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Geschichte der Geburt und der Geburtshilfe, die sich von 1994 bis 1999 zu jährlichen Arbeitsgesprächen in Göttingen traf. Sie wurde vom Max–Planck–Institut für Geschichte und der Mission Historique Française en Allemagne getragen und von der Volkswagen–Stiftung gefördert. Aus ihrer Arbeit ist bisher ein Sammelband hervorgegangen: Jürgen Schlumbohm/ Barbara Duden/ Jacques Gélis/ Patrice Veit (Hg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte (Beck’sche Reihe 1280) München 1998. Eine weitere Publikation, speziell zur Geschichte des Ungeborenen und der Schwangerschaft, wird in Kürze als Band in der Reihe Veröffentlichungen des Max–Planck–Instituts für Geschichte erscheinen.
15
Siehe z.B. Fasbender, Geschichte der Geburtshilfe, S. 146.
16
Siehe die in Anm. 4 zitierte Literatur und Marita Metz–Becker, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main usw. 1997.
17
Vgl. Jürgen Schlumbohm, „Verheiratete und Unverheiratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin”: Die Patientinnen des Entbindungshospitals der Universität Göttingen um 1800, in: Struktur und Dimension. Festschrift für Karl–Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, hg. Hans–Jürgen Gerhard (Vierteljahrschrift für Sozial– und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 132), Stuttgart 1997, S. 324–343; ders., Der Blick des Arztes, oder: wie Gebärende zu Patientinnen wurden. Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800, in: Schlumbohm u. a. (Hg.), Rituale der Geburt, S. 170–191; ders., „Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften”: Praxis der Geburtshilfe als Grundlegung der Wissenschaft, ca. 1750–1820, in: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900 (Veröffentlichungen des Max–Planck–Instituts für Geschichte 154), Göttingen 1999, S. 275–297; ders., „The pregnant women are here for the sake of the teaching institution”: The lying–in hospital of Göttingen University 1751 to c. 1830, in: Social history of medicine 14, 2001, S. 59–78. In diesen Aufsätzen werden auch die im Folgenden angeführten Quellenzitate nachgewiesen.
18
Dazu Gélis, Sage–femme, S. 291 ff.
19
Dazu Henrike Hampe, Zwischen Tradition und Instruktion. Hebammen im 18. und 19. Jahrhundert in der Universitätsstadt Göttingen (Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen 14), Göttingen 1998.
20
Scarlett Beauvalet–Boutouyrie, Naître à l’hõpital au XIXe siècle. Paris 1999; dies., Die Chef–Hebamme: Herz und Seele des Pariser Entbindungshospitals von Port–Royal im 19. Jahrhundert, in: Schlumbohm u.a. (Hg.), Rituale der Geburt, S. 221–243.
21
Johanna–Luise Brockmann, Friedrich Benjamin Osianders Bericht „Über die Ursachen, warum so viele uneheliche und verlassene Kinder von Zeit zu Zeit der Stadt Göttingen zur Last fallen”, in: Göttinger Jahrbuch 30, 1982, S.161–180; allgemein vgl. Christoph Sachsse/ Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 110 f.
22
Näher dazu Schlumbohm, „Verheiratete und Unverheiratete”.
23
Seidel, Kultur des Gebärens, S. 164 ff.; Metz–Becker, Der verwaltete Körper; Labouvie, Beistand in Kindsnöten, S. 290 ff.; Verena Pawlowsky, Ledige Mütter als „geburtshilfliches Material”, in: Comparativ 3,5, 1993, S. 33–52; Beauvalet–Boutouyrie, Naître à l’hõpital, S. 142 ff.; Sandra Cavallo, Charity and power in early modern Italy: Benefactors and their motives in Turin, 1541–1789, Cambridge 1995, S. 199 ff.; Nadia Maria Filippini, Sous le voile. Parturientes et utilisation des hospices de maternité en Italie, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine (im Druck); Wilson, Man–midwifery, S. 146 f.; Bronwyn Croxson, The foundation and evolution of the Middlesex Hospital’s lying–in service 1745–86, in: Social history of medicine 14, 2001, S. 27–57.
24
Scarlett Beauvalet–Boutouyrie, Perdre la vie en la donnant. La mortalité maternelle à Port–Royal, 1815–1826, in: Annales de démographie historique 1994, S. 237–260, bes. 247 ff.
25
Seidel, Kultur des Gebärens, S. 223, 232 ff.; Verena Pawlowsky, Trinkgelder, Privatarbeiten, Schleichhandel mit Ammen: Personal und Patientinnen in der inoffiziellen Ökonomie des Wiener Gebärhauses, 1784–1908, in: Schlumbohm u.a. (Hg.), Rituale der Geburt, S. 206–220; Beauvalet–Boutouyrie, Naître à l’hõpital, S. 87–97, 272–276; Cavallo, Charity and power, S. 196 ff.; Filippini, Sous le voile.
26
Brockmann, Osianders Bericht, S. 167.
27
Wilson, Man–midwifery, S. 176 ff.; Labouvie, Andere Umstände, bes. S. 103 ff.; Seidel, Kultur des Gebärens, S. 288, 400 ff.
28
Christoph Wilhelm Hufeland, Nachrichten von der Medizinisch–Chirurgischen Krankenanstalt zu Jena, nebst einer Vergleichung der klinischen und Hospitalanstalten überhaupt, in: ders. (Hg.), Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 3, 1797, S. 528–566, bes. 529 ff., 535 f. Vgl. Isabelle von Bueltzingsloewen, Machines à instruire, machines à guérir. Les hõpitaux universitaires et la médicalisation de la société allemande, 1730–1850, Lyon 1997, S. 242 ff.
29
Siehe Schlumbohm, Blick des Arztes, S. 172 ff.
30
Siehe Beauvalet–Boutouyrie, Chef–Hebamme; Pawlowsky, Trinkgelder.
31
Vgl. Seidel, Kultur des Gebärens, S. 286 ff. zu dieser „Überschreitung des Schamtabus”, die in der Privatpraxis kaum zulässig war.
Begegnungen16_Pils
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:131–145.
SUSANNE CLAUDINE PILS
Bett – Stadt – Hof
Stadt/Raum und Alltags/Raum am Wiener Hof des 17. Jahrhunderts
Die Lamberg gehörten wie die Harrach und Dietrichstein zu den mächtigsten und einflussreichsten Familien am Hof Kaiser Leopolds I., an dem sie wichtige Ämter und Würden bekleideten und als Botschafter für den Kaiser an den führenden Höfen Europas tätig waren. Durch eine konsequent verfolgte Heiratspolitik verstand es der Vater von Johanna Theresia Harrach, Johann Maximilian Lamberg, – ebenso wie die Familie Harrach – ein weit reichendes Netz verwandtschaftlicher Beziehungen aufzubauen. Seine Töchter verheiratete er in die Familien Starhemberg, Sinzendorf, Harrach und Portia. Die Heirat seiner Tochter Johanna Theresia (1639–1716) mit Ferdinand Bonaventura Harrach (1636– 1706) fand 1661 in Spanien statt, da Johanna am königlichen Hof in Madrid als Hoffräulein der spanischen Königin Maria Anna, einer geborenen Habsburgerin1, tätig war, während Ferdinand seine Kavalierstour durch Italien, Deutschland und Frankreich mit diesem Aufenthalt in Madrid abschloss. Das junge Paar kehrte anschließend nach Wien zurück. Die guten Beziehungen seiner Frau zu Maria Anna nützten Ferdinand bei seinen späteren jahrelangen Aufenthalten als kaiserlicher Botschafter am spanischen Hof.2 Nicht nur in dieser Funktion folgte er seinem Schwiegervater Johann Maximilian Lamberg nach,3 sondern er bekleidete ebenso wie dieser andere wichtige Funktionen am kaiserlichen Hof in Wien. Mehrmals befand Ferdinand sich ohne seine Frau und der im Verlauf der Ehe geborenen Kinder in Spanien, unter anderem 1665 und 1676/77. Als er am 9. Juli 1665 von seiner Frau in Wien Abschied nahm, um die Hochzeitsgeschenke Kaiser Leopolds an seine spanische Braut Margerita Teresa zu überbringen, war Johanna Theresia Harrach zum dritten Mal schwanger. Ihr zweiter Sohn Franz Anton wurde Anfang Oktober 1665 geboren. Die Berufung zum kaiserlichen Botschafter in Spanien führte Ferdinand Bonaventura 1673 für weitere drei Jahre nach Madrid. Diesmal begleitete ihn seine Familie, reiste jedoch im September 1676 ohne ihn nach Wien zurück, während er den spanischen Haushalt auflösen und seine Ablösung als Botschafter abwarten wollte. Seine Abreise verzögerte sich jedoch aufgrund der politischen Situation um über ein Jahr, in dem Johanna, Ende November 1676 mit ihren fünf Kindern wieder in Wien angekommen, ihren Wiener Haushalt aufbaute und die gesellschaftlichen Kontakte wieder aufnahm. In diesen beiden Trennungsphasen schrieb Johanna auf Wunsch ihres Ehemannes eine Art „Brief-Tagbuch” oder „Tagebuch-Briefe”, die so genannten „Tagzettel”.4 Sie beschrieb ihm darin neben ihren täglichen Tätigkeiten auch das Wohlergehen der Kinder, der Diener, die Gerüchte in Wien und vieles andere mehr. Ihre Tagzettel dienen damit nicht nur als eine Quelle zum Verständnis des Alltaglebens am Habsburger Hof in der Frühen Neuzeit, sondern auch zur Konstruktion der sozialen Wirklichkeit Johannas im Hinblick auf die Bereiche Körper, Haushalt, Hof und Stadt.5
Der Blick von der Stadt ins Haus
Die Stadt Wien zur Zeit der „Tagzettel” 1665 und 1676/77 war das Wien innerhalb der Basteien, der heutige Innenstadtbereich. Davor lagen die Vorstädte, wie beispielsweise St. Ulrich und die Wieden, die zum Jurisdiktionsbereich der Stadt gehörten. Räumlich blieb das Wachstum durch die ständige militärische Bedrohung (Dreißigjähriger Krieg, Türkengefahr) zwar gehemmt, doch deutete sich bereits jener vom Hofquartierwesen eingeleitete Verdrängungsprozess der bürgerlichen Bevölkerung in die Vorstädte an, der sich vor allem nach 1683 voll entwickeln sollte. Der Grund dafür lag auch in der Entstehung einer Reihe von Adelspalästen inner- und außerhalb der Stadt nach der 2. Türkenbelagerung. Die Residenzstadt Wien zählte aber auf der anderen Seite zu den demographischen „Gewinnern” dieser Zeit. Seit etwa 1618 lässt sich beispielsweise am Kaiserhof ein starkes Wachstum bestimmter Gruppen adeliger Amtsträger beobachten.6 Mit dem Hofquartierwesen wurde versucht, der Wohnungsnot der Hofbediensteten entgegenzuwirken, die Bürger wurden damit verpflichtet, Hofbedienstete als Mieter aufzunehmen.7
Auch das Ehepaar Harrach lebte 1665 (nur) zur „(Unter-)Miete”; ein Umstand, den die 26-jährige Johanna immer wieder bedauerte. Sie träumte von einem eigenen, großen Haus, konkret von jenem auf der Freyung, das die Familie Harrach 1626 bis 1658 schon einmal besessen hatte, das jedoch 1658 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten von Ferdinands Onkel Leonhard Ulrich Harrach an die niederösterreichischen Stände verkauft werden musste8 und von diesen dem Fürst von Auersperg verehrt worden war.9 1676/77 besaß die Familie zwar ein eigenes Haus, jedoch immer noch nicht an diesem repräsentativen Ort, sondern in der Hinteren Schenkengasse (heute: Bankgasse).10 Erst nach der Zweiten Türkenbelagerung und einem Brand erfüllte sich ihr Traum. Das heutige Palais Harrach wurde von Johannas Ehemann Ferdinand Bonaventura zurückgekauft und großzügig umgestaltet.11 1716 starb sie dort.12
In den genannten Häusern befanden sich die Räume, in denen Johanna mit ihren Kindern und der Dienerschaft spielte, stritt, lebte, in denen sie Marmelade einkochte und Gewand für ihren neugeborenen Sohn zuschnitt. In ihrem Schlafraum stand jenes Bett, in dem Johanna täglich ihre Tagzettel an ihren Mann Ferdinand schrieb: 1665 weil sie – mit zwei Kleinkindern und gerade zum dritten Mal schwanger – ihren Mann nicht nach Spanien begleiten konnte; 1676/77 weil Ferdinand die nunmehr fünf Kinder und sie nach ihrem mehrjährigen Spanienaufenthalt nach Wien vorausschickte.
Im Bett liegend schrieb Johanna ihrem Mann auf dessen Wunsch die „Tagzettel”; beschrieb darin ihre täglichen Tätigkeiten, die Gerüchte in Wien, das Wohlergehen der Kinder. Das Bett war damit nicht nur jener „intime”, „private” Raum, den sie, wenn er anwesend war, mit ihrem Mann teilte, sondern es war auch der Raum, um mit ihrem Ehemann über ihre Gedanken – sei das nun in Bezug auf Kinder, Haushalt oder Ehe – „zu sprechen”, auch wenn er nicht anwesend war. Johanna sah es nicht nur als ihre Pflicht an, ihm woll alle bosten fleisich zu schreiben, wie auch mein suldichkeit ist, ihn zu bedienen; eß gen ihmb ja keine dagzedel ab, dan ich schreib ihn halt alle meine gedanckhen trin und was ich her und sich13. Ich verwende hier also ganz bewusst „sprechen”, weil Johanna die Tagzettel als ihr Organ betrachtet, mit ihrem Mann über weite Entfernung zu kommunizieren. Oft denkt sie, er wirdt derschricken, wan er segen wirdt, daz so lang sein [= die Tagzettel], aber ich trest mich, daz er geren auff den heisel lest14. Kommunikationsraum entsteht auf diese Weise. Man stellt sich vor, wie Johanna im Bett liegend ihre Gedanken an ihren Mann schreibt, während dieser auf dem „Häusel” sitzt und diese Gedanken liest. Da Johanna nie genug hat, mit ihm zu reden, also kann ich auh nie auffheren ihm zu schreiben, er dengt nuer desto lenger auff mih, wan er so vill zu lesen von mir hadt15. Auf Ferdinands Antworten, die rund einen Monat von Madrid nach Wien unterwegs waren,16 konnte Johanna meist nicht warten und handelte selbst.
Aber das Bett ist nicht nur „privater” Raum, Johanna hielt hier „Audienz”, empfing ihren Beichtvater, Angestellte und manche Händler – der „private” Raum wurde zum „öffentlichen” Raum, zum Aktionsraum einer Frau, die als Frau eines Botschafters zugleich eine Aufgabe – Repräsentation – zu erfüllen hatte. Diese Aufgabe beschränkte sich jedoch nicht nur auf das eigene Haus; sie führte Johanna in erster Linie nach außen, in andere Häuser. In die Häuser ihrer Verwandten und Bekannten rundherum, und geht man diesen Wegen auf der zeitgenössischen Karte von Daniel Suttinger aus dem Jahr 1684 mit dem Stand vor der Türkenbelagerung 1683 nach,17 merkt man wie begrenzt „ihr” Wien, „ihr” Raum war.
Das Fenster zum Hof
So sehr Johanna ihr Haus in Wien veränderte, für ihre Familie und ihre Bediensteten umgestaltete, dabei Räume teilen oder zusammenlegen, sowie Fenster vernageln ließ,18 das Fenster zum Hof war immer geöffnet.
Der Hof wurde von Johanna als zentraler Ort der Begegnung gesehen und beschrieben: War etwas los (und „los” war fast immer etwas), befand sich alles was hendt und fieß hat gehabt19 dort. Man spielte Karten, Kegel, war bei Feuerwerken, Schlittenfahrten, Balletten und Theatervorstellungen anwesend, erfuhr dabei Neuigkeiten. Der Hof/Tratsch nimmt einen großen Teil in den „Tagzetteln” Johannas ein, ist auch von wesentlicher Bedeutung für ihren abwesenden Mann; möglicherweise auch der Grund für seinen Wunsch, ihm insgesamt eineinhalb Jahre täglich zu schreiben.20 Für ihn bemühte Johanna sich, alß zu erfaren, ihn als zu schreiben.21 Johanna verbrachte den Großteil ihrer Zeit mit Visiten. Es war in gewissen Sinn Teil ihres „Berufes” „adelige Frau” und Ehefrau eines Botschafters, Visiten zu absolvieren und zu empfangen.
Die Existenzsicherung der eigenen Familie stand im Vordergrund dieser ständigen Präsenz am kaiserlichen Hof. Bereits früh wurden Johannas Kinder (vier Söhne und zwei Töchter) für bestimmte Ämter ins Gespräch gebracht. Heiraten wurden nicht dem Zufall überlassen. Ebenso wie Johanna und Ferdinand strategisch, wenn auch nicht gegen deren Neigung, verheiratet wurden,22 verheirateten sie auch ihre beiden Töchter und den Erben. Die nachgeborenen Söhne schlugen die geistliche Laufbahn ein. Ein weit reichendes Netz verwandtschaftlicher Beziehungen stabilisierte die Struktur des Hofes. Der Herrscher organisierte mit Hilfe von Hofstruktur und Hofleben einen adeligen Personenverband, der weitaus größer war als der anwesende Hofstaat. Im Gegensatz zu ihren Eltern, dem Obersthofmeister Johann Maximilian Lamberg und Judith Rebecca Lamberg, gehörte Johanna dem Hofstaat zwar nicht unmittelbar an, war aber Teil dieses Hofes. „Der Hof konnte somit in der feudalen Gesellschaft der Frühen Neuzeit Zentrum politischen, religiösen und kulturellen Lebens sein: Ausgangs- und Mittelpunkt nicht allein von tatsächlicher Gesellschaft, sondern auch einer Auffassung von Gesellschaft. Höfe, die diese Funktionen auszufüllen vermochten, arbeiteten auf verschiedenen Ebenen und waren selbst Ort der Produktion und Durchsetzung allgemein geteilter symbolischer Sinnwelten. Höfe, die daran scheiterten, scheiterten selbst.”23
Das Zeremoniell erfüllte am Kaiserhof die Funktionen (auf der funktionalen, moralischen und expressiv-gemeinschaftlichen Ebene) der Integration: Es steuerte die Kommunikation von Herrscher und Adel sowie der Hofangehörigen untereinander, es bestimmte den Platz des Einzelnen im Personenverband und setzt erfahrene Gemeinschaft in Beziehung zu gemeinschaftsbezogenen Inhalten.24 Wer dagegen verstieß, etwa bei der Frage, wer vor wem in den Raum gehen durfte, zog sich den Ärger aller an dieser Ordnung Teilhabenden zu. Zu einem derartigen Regelverstoß kam es anlässlich des Geburtstagsbanketts der Kaiserinwitwe 1665. Beim Eintreten in den Saal wollte die Fürstin Gonzaga plötzlich vor der Fürstin Portia (der Schwester Johannas) gehen, und als diese sich weigerte, versuchte die Fürstin Gonzaga, sich dieses Recht durch Vorlaufen und Rempeln zu erkämpfen, obwohl sie die Regeln als in der Hierarchie unter ihr Stehende und somit hinter ihr Gehende bis dahin anerkannt hatte. Der Fürstin Portia wurde von allen Recht gegeben; eine endgültige Klärung dieser Angelegenheit konnte jedoch nur durch den Kaiser erfolgen, denn spricht der kaser nihtß auß, so ist ein ewihe combädenz.25
Johannas Wien
Das Fenster zum Hof ist auch eines, das auf die Vorstadt, im konkreten Fall die Wieden, zeigte. Beinahe täglich holte Johanna ihre Verwandten oder Bekannten in deren Häusern ab, oder wurde abgeholt und fuhr mit ihnen vor die Stadt, in die Favorita, wo die verwitwete Kaiserin, die Stiefmutter Leopolds, oft anzutreffen war,26 manchmal nach Laxenburg, wo die regierende Kaiserin und der Kaiser im Frühjahr residierten. Es gehörte zu den Charakteristiken der Höfe in ganz Europa, dass es sich um ein festes gesellschaftliches Gefüge handelte. Die Gesellschaft bei Hof war „immer die gleiche; die Lokalität aber wechselt”.27 Da Johanna im Gegensatz zu ihren Eltern wie erwähnt nicht dem Hofstaat angehörte, musste sie dem Kaiserhof nicht folgen, und sie bedauerte ihre Eltern, wenn diese Wien verlassen mussten, um „an den Hof” zu ziehen, wo immer dieser sich gerade befand. Selten verließ Johanna „ihr” Wien ganz; der Blick über die Basteien, auf denen sie gerne spazierte, genügte. Die ab und zu zur Kur angetretene Fahrt nach Baden war mühsam, auf ihren Gütern in Rohrau und Bruck an der Leitha war sie in der beschriebenen Zeit nur ein einziges Mal.28 Die meisten ihrer Wege führten sie in die Häuser ihrer Verwandten in der Nähe, rund um die Herrengasse, oder in die Kirchen der Stadt.29 Ihr Wien war vor dem Hintergrund des Planes von Daniel Suttinger aus dem Jahr 1684 ein begrenztes, ein sozial definiertes/konstruiertes.
Das Bett als sozialer Raum
Im Folgenden möchte ich als eine Idee des sozialen Raumes das Bett Johannas nochmals in den Mittelpunkt einiger anschließenden Überlegungen rücken. Das Bett wird dabei nicht (nur) verstanden als Objekt, das beschrieben wird, sondern es soll im Sinne von Bettgeschichte(n) dargestellt werden, als Geschichte(n), was sich an und in diesem Bett abspielt.
Als Johanna im November 1676 in Wien ankam, nahm sie neben ihrem „offiziellen” Wiener Leben mit seinen zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Besuchen, auch ihr „privates” Wiener Leben wieder auf und begann ihr Haus umzugestalten. Am Tag nach ihrer Ankunft stand sie deshalb bereits um 6 Uhr auf und ist in Haus umergeloffen und die zimer geschaudt wie die leidt wonen sollen.30
Während sie für ihren Mann die oberen Zimmer am Gang vorbereiten ließ, nahm sie die unteren Zimmer für sich in Besitz, ließ daz zimer an der alcova auff die gosen [...] verschlagen, daz ich trin schloff und hindter sich ein kleine retirädtä [= Hinterzimmer] hab. Daz lezte zimer tran gegen der alten burckh, dort is [= esse] ich.31 Ihren Kindern ließ sie ihr roden bedtfirhang anmachen; sie weren zwar klein sein, dan der regendt hadt den 3 kresern neie bedtstädtel kaufft.32 Ein schlechteß bar heibel [= Nachthaube] ihnß bedt33 bestellte sie bei ihrem Mann, falls dieser über Lyon nach Wien reiste; ebenso neue Bettvorhänge für ihr gemeinsames Bett.
Das Haus wurde also umgestaltet: Räume neu eingeteilt, verschlagen, neue Möbel sollten gekauft werden. Für sich selbst hatte sie neben ihrem Schlafraum ein kleines Hinterzimmer, die „Redirata”, eine Garderobe und einen Raum, in dem sie aß, wenn sie nicht am bzw. im Bett aß. Wie dieses Bett aussah, ob es ein fester Wandverbau, ein Alkoven war, oder ein bewegliches Bettgestell, ein Himmelbett etwa, geht aus den „Tagzetteln” nicht hervor. Noch verwendet sie alcova eher im Sinne des Spanischen „alcoba”, also „Schlafgemach”. Der Begriff Alkoven, der sich vom arabischen „al-qobbah” ableitet und soviel wie „Zelt, Gewölbe oder Gemach” bedeutet, gelangte über das Spanische im 17. Jahrhundert als „alcôve” nach Frankreich. „Dort soll vor allem die Marquise von Rambouillet für die weitere Verbreitung von Wort und Sache verantwortlich gewesen sein. Sie ließ 1610 in ihrem Pariser Palais ihr Bett in einer vom Hauptraum durch eine Balustrade getrennten, fensterlosen Nische aufstellen. Obwohl dieses innenarchitektonische Gestaltungsmittel bereits in der Antike bekannt war, wurde der chambre d’alcõve als Ort des repräsentativen Aufstehens – lever – erst während des Barock zu einem unverzichtbaren Element der höfischen Etikette und Architektur, das sich in Nachahmung des französischen Vorbilds schnell innerhalb der Wohn- und Schlafkultur der gehobenen Kreise Europas verbreitete.”34 Diesen alcova, verstanden jetzt als Schlafgemach, der zwar so kalt [ist], daz eins derfriren mecht,35 hat sie trotzdem für sich in Besitz genommen. Und sie wünscht mein leben ein guedte nacht und balt her; ich walz derweill bräff ihn bedt herumb, daz die matrazen herdt [= hart] werden, dan noch werenß vor ihm zu wach [= weich].36
Das Bett, in dem sie über ein Jahr ohne ihn schlief, sollte also auch als gemeinsames Ehebett dienen. Vorbereitungen dafür wurden getroffen, die für ihn noch zu weiche Matratze von Johanna „hartgelegen”.37
Dass sie in dieser Zeit ohne ihn schlief, bedeutet jedoch nicht, dass sie immer allein schlief: ih hab heindt ihmendt, der bei mir schlafft; daz ist die von Lamberg; ih schreibß, damit er nidt eiffern soll.38 Neben ihrer Schwägerin schliefen aber vor allem ihre Kinder manchmal bei ihr. Nach der Geburt ihres Sohnes Franz Anton 1665 hatte sie diesen über zwei Monate in ihrem Zimmer in einer Wiege, hat ihn manchmal ihn der frir auff mein bedt zabeln lasen undt mit ihm gespildt.39 Genauso wie sie ihre Tochter Rosa 1677 bei sich schlafen ließ und diese zu sich ins Bett nahm, wenn sie weinte.40 Obwohl der neugeborene Franz Anton sie oftmals bereits um vier Uhr in der Früh aufweckte und mit seinem Schreien nicht mehr schlafen ließ, behielt sie ihn bei sich, denn wan manß liebt, mueß man waß leiden derbei; ih spirß genuch mit seiner abwesenheidt.41 Als sie ihn schließlich doch mit bzw. zu seiner neuen Hofmeisterin in ein eigenes Zimmer verlegen ließ, holte sie den Carel derfir herab zu mir, damit ih nidt so gar allan bin.42 Und lachte über den Kommentar des kleinen Sohnes eines Bediensteten: ih hab heidt naht gar woll geschloffen, ist daß Fill sein son zum Karel herkomen zumb spillen; ist ein ordtliher schelm; er hadt den Karel ihn mein bedt segen ligen, so sagt er: daß ist schen, wan der graff wirdt komen, undt segen, daz er bei der frau ligt, so wirdt er ihm die nasen abschnein.43
Das Bett, das als Ehebett dienen sollte und das sie – weil ihr Mann nicht anwesend war – deshalb manchmal (aus Einsamkeit) mit ihren Kindern teilte, war darüber hinaus aber auch Kindbett, Krankenbett, Totenbett, Audienzbett.
Wenn das Ehebett zum Kindbett wird
Madrid, pfingsttag den ersten Fev. [1674].44 Als wir heindt frhue munter worden, ist der grafin ein schmerzen komen, das sie nit woll unterscheiden können, ob es ein wehe von der geburth oder ein schmerz des durchbruch [= Durchfall] seye. Ich habe mich unterdessen angelegt unndt ist der D. Domingo Dominis komen [...]. Alß ich mit ihme redete, sagte mir einer von mein camerdienern, ich solle zu der grafin, sie seye sehr ubel auf. Als ich in die stuben eintritte, sehete ich, das sie schon niderkomen unndt einen sohn geboren hätte. Gienge alles so geschwindt zue [...]. Unterdessen schükte mann gleich umb die hefang, frau Madtspergerin, unndt secredari kochin, welche beede mit der grafin von Petting hier sein. Die Duena, ammel undt mentscher warmeten mit warmen tüehern das kindt undt waschten es mit wein ab. Die grafin aber legte sich in das beth mit allen preventionen, wie sie andere mahl zu thuen pflegte.45
Das gemeinsame Ehebett war damit zum Kindbett geworden. Es war Johannas siebte Geburt – mögliche (mir) nicht bekannte Fehlgeburten nicht eingerechnet. Sie entband dieses Kind wie es scheint „nebenbei”; für sie waren die Schmerzen der „Wehe” von denen des „Durchbruchs” [= Durchfalls] nicht mehr unterscheidbar; sie merkte nicht einmal, dass sie bereits ihr Kind geboren hatte, glaubte das Fruchtwasser sei abgegangen und ließ die im Zimmer anwesende Dienerin nachsehen, was passiert sei. Zwei Jahre später kam sie dagegen unter großen Schmerzen mit einem toten Sohn nieder.46
Die Geburt war mit zahlreichen Gefahren verbunden.47 Johanna hatte insgesamt elf (bisher bekannte) Geburten. Ihre Schwägerin Anna Marie Gräfin Lamberg, geb. Trauttmansdorff (1640–1727), die ihr bei allen medizinischen Fragen und jenen der Kinderbetreuung mit Rat und Tat zur Hilfe stand, hatte sogar 24 Kindern das Leben geschenkt, von denen jedoch die wenigsten das Erwachsenenalter erreichten. Beide Frauen überlebten Tot- bzw. Frühgeburten und wurden sehr alt (Johanna 77 Jahre, Anna sogar 87 Jahre), viele andere jedoch nicht: wie leidt ist mir umb die Luna, [...] ist daz nit ein elendt, daz die hebang so umbbracht hadt, da schau er waß gefar einß underworffen ist, wan man niderkombt.48
Schwangerschaft, Geburt und Kindbett bilden eine untrennbare Einheit. Das Kindbett ist eine weitere Form, in der das Bett – nicht nur – in Johannas Leben eine Rolle spielte.
So wie sie sich 1674 nach der Geburt in das Bett legte mit allen preventionen, wie sie andere mahl zu thuen pflegte, bereitete sie sich auf ihr Kindbett wohl immer gleich und mit immer größerer Routine vor, kaufte allerlei nodtwentihe sahen [...] fir daß neie kindt,49 hat ihre azeneisahen ihn die kindtelbedten geriht,50 Gewand und Windeln für das erwartete Kind zugeschnitten. Auf diese Weise vorbereitet erwartete sie im September 1665 täglich ihre Niederkunft.51
Die Geburt war Ort der Frauen. Im Gegensatz zu der eingangs erwähnten Geburt 1674 verlief ihre dritte Niederkunft 1665 nach Plan: Nachdem ihr den ganzen dag ibel gewest, hat sie umb 5 [...] umb die hewan gesigt undt umb die jagermeisterin, Borzia undt sein schwester und mein schwagerin undt Colleredtin; bin zwischen 6 undt 7 mit ein buben erfreidt wordten.52 Ebenso schnell ist sie nach Aussage ihres Mannes 1675 in Spanien mit einer tochter endtlediget worden; mir haben sie es gesagt, wie sie schon gebohren war, dann es alles gar geschwindt zuegegangen, die [...] Salina unndt die Condessa de Aquilae waren dabey.53 Die Geburt ihres Sohnes Francisco verlief – selbst für die erfahrene Johanna – sogar zu schnell, ohne irgendeinen Beistand. Im Normalfall wurden neben der Hebamme also verwandte und bekannte Frauen geholt, um bei der Geburt zu helfen.54 Ein paar Tage vor der Geburt ihres Sohnes Franz Anton 1665 wurde Johanna zudem von der Sanfftenberg [...] bedten, ih solß lasen zueschaun, wan ih nidter wir komen; ih hab ihrß nidt abschlagen kenen, aber gelegen ist eß mir woll nidt; sie ist auh ein 9 wohen in der hoffnung.55 Im Rahmen der Nachbarschaftshilfe standen Frauen einander in ihrer „schweren Stunde” bei, gaben ihre am eigenen Leib gemachten Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt weiter, griffen auf die weiblichen Kommunikationsnetze zurück.56 Ferdinand war, wenn er wie in Spanien anwesend war, bei den Geburten nicht im Raum. Ein Arzt wurde – wie bei Johanna, als sie 1676 einen toten Knaben zur Welt – nur bei Geburtskomplikationen herangezogen. Die Geburt fand normalerweise nicht im Bett, sondern auf dem Gebärstuhl statt. Erst mit der zunehmenden Professionalisierung seit dem beginnenden 18. Jahrhundert verdrängten die medizinischen Ärzte57 mit den Hebammen58 als alleinigen Geburtshelferinnen zugleich den Gebärstuhl aus den Geburtsräumen – das Bett wurde nunmehr auch zum Geburtsbett.
War mit der „glücklichen” Geburt die Hilfsgemeinschaft somit zunächst auf die Hebamme und die weiblichen Verwandten reduziert, die die Kindbettpflege übernahmen, so setzte sich nach Eva Labouvie „die rituelle Gemeinschaft der Frauen in einer weiblichen Festkultur fort.”59 Es wurde bein kindtelbedt dischel gesen,60 verschiedene Spiele gespielt, geklatscht und getratscht. Nur wenige verwandte Männer hatten Zutritt zu Johannas Kindbett als ihr Mann abwesend war.61
„Während die Frauen der sozialen Unterschichten bereits nach wenigen Tagen zur gewohnten Arbeit zurückkehren mussten,”62 dauerte die Kindbettzeit des Adels wesentlich länger. Johanna verbrachte die vorgesehenen 40 Tage in ihrem Haus, blieb zwar Ende Oktober stundenweise, aber noh kein ganzen dag auff,63 tat dies erst am 31. Oktober (also fast genau einen Monat nach der Niederkunft am 2. Oktober), und ließ sich am 10. November, einen Tag vor dem eigentlichen Termin, derhambt firer segnen, dan margen die geistlihen nidt zeit haben; ih bin aber kleihwoll nidt ihn wilenß heidt außzugen.64 Mit dem Fürsegen endete die Kindbettzeit. Am 40. Tag ging Johanna erstmals für den „Herfürgang” wieder zu den Jesuiten in die Kirche. Ihr gesellschaftliches Leben außerhalb des Hauses konnte wieder beginnen.
Vom Kindbett zum Krankenbett und Totenbett
Besuche erforderten nämlich Gegenbesuche: naher visitieren gefaren, hiez fangt bei mir widter dise rollet an, dan ih 55 zu visitiren hab,65 schrieb sie nach dieser 40-tägigen Regenerationsphase. Zu den Gegenbesuchen kamen auch für sie Besuche am Kindbett und Krankenbett, an den Betten von AderlasserInnen und solchen Personen, die „purgiert”66 hatten. Wenn sie nicht selbst krank war, zur Ader gelassen oder purgiert, und damit besucht wurde. Das Bett war als Krankenbett ebenso wie das Kindbett in ein weit reichendes soziales Netz des gegenseitigen Besuchens eingebunden, das zuweilen alles an Nächstenliebe abforderte: wie sie weckh sein hab ich den Hanß Lub hämbgesucht, der ist ganz mager und hat geschwollne fies, nacher zu den master Feidt; der sicht wie ein kruzefigx aus und stingt ihn zimber, dan er las wie ein kindt, hadt nichtß dan alß geweindt, kan nichtß duen, es ist woll ein elendß leben.67 Ein Leben, das endete, und dem ebenso seine Aufwartung gemacht wurde: Das Krankenbett wurde zum Totenbett und Johanna klagte – wie andere – den Betroffenen ihr Leid: naher sein mir zu der hoffcanzlerin, die ist reht beschadten betriebt; ih hab ihm [= den Hofkanzler] dodter auh gesegen; ih waß er wirdt ihm wider denckhen, waß ih fir ein freidt hab, dodte leidt zu segen.68
Ebenso wenig „Freude”, wie sie mit diesen beiden Besuchen an Krankenbett und Totenbett hatte, so wenig freudvoll war für sie der von ihrem Stand erwartete Besuch im Wiener Bürgerspital in der Fastenzeit 1677: nacher ist die firstin komen, hadt mich abgeholt, da sein mir ihn daz burgerspidall und haben 3 mesen und 2 seidenmesen geherdt, nacher gangen, die kranckhen zu speisen; haben nur ein suben gespeist, sein 83 bersohnen gewest, und derkleichen stuben sein ihr etlich, eß ist ein elendt zu segen wie die leidt beisamen ligen ihn bedern, daz kämb einer ligen kan; was haben mir alß gott zu danckhen, daz er unß ihn ein solchen standt hadt komen lasen und nicht so elendt sein.69 Für Johanna war es schon schlimm genug, wenn sie – wie auf der Reise von Spanien nach Wien und am Tag ihrer Ankunft in Wien 1676 – mit alle kindter und menscher hab ihn ein zimber geschloffen, es hat halt nidt anderst sein kenen, dan ich hab auch nit woll geschloffen, haben die schnarcheten alle auffgewegt alle augenblick; eß ist got lob alß verbei.70
Das Audienzbett
Dies waren Probleme, die sie normalerweise nicht hatte. Sie hatte ihr eigenes Zimmer und ihr eigenes Bett, sofern es nicht Ehebett war. Zu ihr kam (meist) nur, wer zu ihr auch vorgelassen wurde. Das konnten Bedienstete sein, sehr selten auch Händler. Nicht jeder Besuch war in dieser Weise auch erwünscht und angemessen: Heidt bin ih umb 10 mundter wordten, undt der graff Franz [= Ferdinands Onkel, der 1665 im selben Haus wohnte] hadt heidt ein cristir [= Klistier] genomen, so hadt ihn der Carel Sofftenberg heimbgesuht undt ist naher zu mir umer comen, hadt mih ihn bedt derdabt; ih hab mih recht geschambt, hadt bei mir zocoladte genomen; naher hab ih ihm weckh gesafft, undt hab mih angelegt und bin mitt mein Carel undt Sanfftenberg ihn die kirhen71. Von Karl Senftenberg fühlte sie sich im Bett ertappt und schämte sich deshalb. Er wurde – im Gegensatz zu Händlern oder Bediensteten – als Mann wahrgenommen. „Privates” und „Öffentliches” scheinen sich miteinander zu vermischen. Historisch und kulturell differente geschlechtsspezifische Zuweisungen „von und an konkrete und symbolische Räume wurden insbesondere im Zusammenhang mit der so genannten ,Arbeitsteilung’72 und daran geknüpften Rollenbildern untersucht; die Trennung in „öffentlich” und „privat” dabei hinterfragt. Das Modell „öffentlicher ist gleich männlicher Raum, privater ist gleich weiblicher Raum” wurde als „Denkschablone” erkannt – die Spannbreite und Vielfältigkeit der möglichen Geschlechterrollen und Räume ist enorm groß. ,Öffentlich’ und ,privat’ sind komplexe Begriffe, die zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliches bedeuteten.”73 Privatheit und Öffentlichkeit sind für die behandelte Zeit als Gegensatzpaar in einer von Familienzwängen geprägten Gesellschaft zu verstehen, in der das Interesse des „Geschlechtes”, des „Hauses” über den Einzelinteressen stand. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurde auf neue Weise begonnen, privates Leben zu entfalten und zu schützen. Dieser Prozess verlief, wie Chartier hervorhebt, keineswegs geradlinig, regelmäßig oder eindeutig.74 „Nicht der Rückzug in die Einsamkeit, in gehegte, abgeschlossene Bezirke prägte die Privatsphäre, sondern die freie Wahl der Freunde, mit denen man die Zeit, die nicht den beruflichen Aufgaben gewidmet war, verbringen wollte.”75 Demnach bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Vertrautheit häufiger Besuche, dem gemeinsamen Vergnügen am Zusammensein, das von den Ordnungsgeboten des Staates oder Standes entlastet war, und den Vorstellungen vom privaten Leben. Im vorliegenden Beitrag wird „Privatheit” einerseits für jene Bereiche als solche „definiert”, die das Ehepaar durch den „virtuellen Raum des Tagzettel-Schreibens” miteinander teilte, durch die im Wesentlichen die eheliche Kommunikation aufrecht erhalten wurde. Weiters werden auch jene Bereiche darunter verstanden, die als mit Verwandten und Bekannten ohne zeremonielle Zwänge geteilte Lebensbereiche gelten können. Dies traf beim Fall von Karl Senftenberg nicht zu, da in diesem Fall das Zeremoniell verletzt wurde, Johanna sich nicht wie in anderen Situation frei bewegen konnte.
Wer es sich leisten konnte bzw. einfach leistete, Audienzen im Bett abzuhalten, demonstrierte Macht. Das große Paradebett in Schönbrunn einerseits, gebaut für die Präsentation der neugeborenen Kinder Maria Theresias, sowie das zeremonielle Aufstehen des Sonnenkönigs Ludwig XIV. andererseits waren gedacht als Demonstrationen der Macht. Daz der Valencula son sich ihnß bedt legt, bottsaffter zu empfangen, ist ja auß der weiß, eß ist ja fill, daz sich die crändeß so hudeln lasen, ich mecht nur wisen waß der Medina und dieselbe geselsafft sagt.76 Die Politik in Spanien, die Machtverhältnisse am königlichen Hof in Madrid waren Tagesgespräch in Wien. Vom unangemessenen Verhalten des Günstlings der spanischen Königin Maria Anna, Fernando Valenzuela, war aus diesem Grund in Wien ein gross geredt.77
Mit den hier genannten Beispielen zeigen sich Bettgeschichten in vielen Formen. Bettgeschichten als Geschwätzgeschichten wären eine zusätzliche Variante in doppeldeutiger Aussage. Das Bett kann nicht nur in diesem Sinn und als Objekt im Raum gesehen werden, sondern es wurde der Versuch unternommen, das Bett als Kommunikationsraum darzustellen, in dem abends miteinander gesprochen wurde bzw. in dem Johannas Tagzettel an ihren Mann entstanden, das Bett wurde damit auch als eheliches Bett konstruiert, das es im Fall von Johanna Theresia Harrach in der beschriebenen Zeit eben gerade nicht war, sondern das nur erdachtes/erhofftes Ehebett war, in das sie ihren Mann wünschte78 und das sie deshalb (aus Einsamkeit) manchmal mit ihren Kindern teilte. Ebenso wie dieses Bett in einer sozialen Dimension in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Rolle spielte, die – wenn man von den Besuchen am Kranken- (meist im Krankhaus) und dem zeitlich auf ein Minimum reduzierten Kindbett absieht – in den meisten Fällen in der Neuzeit abgekommen sind.
Anmerkungen
1
Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Müller in: Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Brigitte Hamann, Wien 1988, S. 296–297.
2
Vgl. Raimund Magis, Pracht – Ehre – Hitze – Staub. Ferdinand Bonaventura Graf Harrach und seine Spanienreise im Sommer 1673, Diplomarbeit Wien 1996, S. 69f. Johanna blieb mit Maria Anna bis zu deren Tod (1696) in regem Briefkontakt, vgl. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA) – Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Familienarchiv (FA) Harrach, Karton 321.
3
Zu Johann Maximilian Lamberg und vor allem seiner Tätigkeit während der Friedensverhandlungen im Münster am Ende des Dreißigjährigen Krieges, wo er als Botschafter des Kaisers den Friedensvertrag von Münster 1648 unterzeichnete, vgl. Herta Hageneder (Bearb.), Diarium Lamberg 1645–1649, Münster 1986 (= Acta Pacis Westphalicae. Serie III, Abt. C: Diarien 4), sowie Harald Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse, Wien 1998, S. 763–776.
4
Zur Form der „Tagzettel”, die nicht nur in der Familie Harrach verbreitet waren, vgl. das Dissertationsprojekt von Alessandro Catalano. Sein Beitrag „Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) und sein Tagebuch” wird in der Zeitschrift Frühneuzeit-Info 12 (2001), H. 1, erscheinen.
5
Zu den Tagzetteln und ihrer Auswertung vgl. Susanne Claudine Pils, Stadt/Raum – Alltags/Raum. Die Tagzettel der Johanna Theresia Harrach in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Diss. Wien 2000. Vgl. die darin genannte weiterführende Literatur.
6
Vgl. Andreas Weigl, Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt. Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole, in: Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung – Gesellschaft – Kultur – Konfession, Wien 2001 (= Kulturstudien 32) (im Erscheinen).
7
Zum Hofquartierwesen vgl. Josef Kallbrunner, Das Wiener Hofquartierwesen und die Maßnahmen gegen die Quartiersnot im 17. und 18. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 5 (1925), S. 24–36.
8
Vgl. Otto Harrach, Rohrau. Die Grafschaft und ihre Besitzer, Wien 1906, S. 110–113, besonders auch S. 102.
9
Vgl. Georg Heilingsetzer, Die Harrach. Ihre Stellung in Politik, Wirtschaft und Kultur des alten Österreich, in: Palais Harrach. Geschichte, Revitalisierung und Restaurierung des Hauses an der Freyung in Wien, Wien 1995, S. 81–88, hier S. 83.
10
Vgl. dazu den Plan von Daniel Suttinger, Wien 1683, in: Historischer Atlas Wien 5.1/1684, der die Hausbesitzer der Stadt mit dem Stand des Jahres 1683 angibt.
11
Vgl. dazu ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 761–763, sowie den Sammelband, der aus Anlass der Revitalisierung des Palais Harrach 1995 (vgl. Anm. 5) erschienen ist, insbesondere die Beiträge von Heilingsetzer (wie Anm. 5); Herbert Jiranek, Zur Vorgeschichte der Revitalisierung, S. 101; Anton Kausel, Versuch einer Valorisierung der Baukosten von 1690 bis 1696 für das Palais Harrach zum Geldwert von 1992, S. 89–98; Konkordanz der Raumbezeichnungen 1698–1970, S. 174–175; Hellmut Lorenz, Domenico Martinelli und das Palais Harrach, S. 41–50; Eva B. Ottillinger, Das Atelier Franz Schönthaler und die Interieurs des Stadtpalais Harrach, S. 65–76; Wilhelm Georg Rizzi, Das Palais Harrach auf der Freyung, S. 11–40; Krista Süss, Die archäologischen Ausgrabungen auf der Freyung und im Palais Harrach, S. 131–144.
12
Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Totenbeschauprotokoll 1716, 3. Februar 1716. Johanna Theresia Harrach starb im Alter von 77 Jahren im Harrachschen hauß auf der Freyhung an einem stockschlag und alters halben.
13
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, Tagzettel (TZ) 26. Mai 1677.
14
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 26. Mai 1677.
15
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 31. Juli 1665.
16
Vgl. Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5), S. 162.
17
Vgl. Daniel Suttinger, Wien 1683 (wie Anm. 10).
18
Vgl. dazu das Kapitel „Tatendrang und Planungslust. Räume(n) im Haus” in: Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5), S. 91–105.
19
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 11. Februar 1677.
20
Zum Hof/Tratsch vgl. Susanne Claudine Pils, Hof/Tratsch. Alltag bei Hof im ausgehenden 17. Jahrhundert, in: Wiener Geschichtsblätter 53 (1998), H. 2, S. 77–99..
21
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 11. Mai 1677.
22
Vgl. Susanne Claudine Pils, „daz er mih nidt halb so lieb hadt alß wie ich ihm...”. Liebe und Sexualität im ehelichen Nicht-Alltag von Johanna Theresia und Ferdinand Bonaventura Harrach, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 52/53 (1996/97), S. 397–414, mit der darin genannten weiterführenden Literatur zu den Themen Ehe, Liebe und Sexualität im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Vgl. zuletzt auch Beatrix Bastl, Tugend – Liebe – Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien–Köln–Weimar 2000.
23
Projektantrag Mark Hengerer „Hof und Integration”, dem ich für die Überlassung des
Manuskriptes und zahlreiche Gespräche über unsere Arbeiten herzlich danke. An dieser Stelle sei auch den „üblichen Verdächtigen” gedankt, die meine Arbeit in vielfältiger Weise durch immer wieder neues Korrekturlesen, Literatur- und Denkhinweise, aber auch ablenkende Gespräche jenseits der Geschichte bereichern.
24
Zur umfangreichen Literatur zum Zeremoniell vgl. unter anderem den Sammelband von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn (Hg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995 (= Frühe Neuzeit 25), und auch den im Rahmen der Residenzen-Kommission herausgegebenen Sammelband von Werner Paravicini (Hg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Sigmaringen 1997 (= Residenzenforschung 6). Vgl. auch den im erscheinen begriffenen Sammelwerkbeitrag von Mark Hengerer, Hofzeremoniell und Grundmuster sozialer Differenzierung. Warum Fürst (sic!) Auersperg 1675 die Auffassung vertreten konnte, Geheime Räte sollten erforderlichenfalls in der Küche des Wiener Hofes den Braten wenden (erscheint im Rahmen der vom 28.–30. September 2000 von Klaus Malettke veranstalteten Tagung „Hof und Höfling” in Marburg/Lahn).
25
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 30. November 1665.
26
Zur Favorita (in der ehemaligen Wiener Vorstadt Wieden) vgl. Friedrich Polleroß, „Des Kaysers Pracht an seinen Cavalliers und hohen Ministern”. Wien als Zentrum aristokratischer Repräsentation um 1700, in: Polen und Österreich im 18. Jahrhundert, hg. v. Walter Leitsch u. a., Warschau 2000, S. 95–122; sowie Erich Schlöss, Hofburg und Favorita in Praemers Architekturwerk. Überlegungen zur Planverfassung der Fassaden, in: Wiener Geschichtsblätter 46 (1991), H. 4, S. 179–183.
27
Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main 1983, S. 73.
28
Vgl. Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5).
29
Zu den sakralen Räumen der Wiener Hocharistokratie vgl. den im erscheinen begriffenen Beitrag von Susanne Claudine Pils, Orte der Frömmigkeit. Überlegungen zum Festtagskalender der Wiener Hocharistokratie zur Zeit Kaiser Leopolds I. (Arbeitstitel) in der Zeitschrift Frühneuzeit-Info 12 (2001), H. 1.
30
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 1. Dezember 1676.
31
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 1. Dezember 1676.
32
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 11. Dezember 1676.
33
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 24. Oktober 1677.
34
Michael Schimek, Im Interesse der Förderung der Volksgesundheit... Staatliche Maßnahmen zur Abschaffung von Alkoven in Nordwestdeutschland, dargestellt anhand des Freistaates Oldenburg, in: Bettgeschichte(n) – zur Kulturgeschichte des Bettes und des Schlafens, hg. v. Nina Hennig und Heinrich Mehl, Cloppenburg 1997 (= Arbeit und Leben auf dem Lande 5), S. 215–234, hier S. 215.
35
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 1. Dezember 1677.
36
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 20. März 1677.
37
Zur Ehe und Sexualität von Johanna Theresia Harrach und ihres Mannes Ferdinand Bonaventura vgl. Pils, Liebe und Sexualität (wie Anm. 22).
38
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 10. September 1665.
39
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 10. November 1665.
40
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 19. April 1677.
41
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 17. November 1665.
42
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 8. Dezember 1665.
43
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 16. Dezember 1665.
44
Aus dem Tagebuch Ferdinands während seiner spanischen Gesandtschaft; vgl. ÖStA-AVA, FA Harrach, Handschrift (Hs.) 6/1 [1674] 1. Februar 1674.
45
ÖStA-AVA, FA Harrach, Hs. 6/1 [1674] 1. Februar 1674.
46
Vgl. dazu das Tagebuch von Ferdinand Bonaventura Harrach, der am 26. Jänner 1676 vermerkt, dass die Gräfin einen toten Sohn geboren hatte (ÖStA-AVA, FA Harrach, Hs. 6/1 [1676], 26. Jänner 1676). Vgl. Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5), S. 194.
47
Vgl. Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln– Weimar–Wien 1998.
48
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 10. April 1677.
49
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 17. September 1665.
50
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 24. September 1665.
51
Vgl. Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5), S. 188, sowie Susanne Claudine Pils, „Von Hühneraugen und Kinderkrankheiten” – Die Tagzettel der Johanna Theresia Harrach als Quelle zur Sozialgeschichte der Medizin, in: Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin, Vorträge des internationalen Symposions an der Universität Wien, 9.–11. November 1994, Wien 1996, 23–36.
52
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 2. Oktober 1665.
53
ÖStA-AVA, FA Harrach, Hs. 6/1 [1675] 23. Februar 1675.
54
Pils, Hühneraugen (wie Anm. 51) S. 32.
55
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 27. September.
56
Vgl. dazu beispielsweise Laurel Thatscher Ulrich, Ihre Arbeit – seine Arbeit. Geburtsberichte in Tagebüchern aus Neu-England im 18. Jahrhundert, in: Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, hg. von Jürgen Schlumbohm, Barbara Duden, Jacques Gélis und Partice Veit, München 1998, S. 30–49.
57
Zum „Aufstieg” der Ärzte vgl. zum Beispiel Claudia Huerkamp, Ärzte und Professionalisierung in Deutschland. Überlegungen zum Wandel des Arztberufs im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 349–382; dies., Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußen, Göttingen 1985; Marita Metz-Becker, Zangen und Becken. Zur symbolischen (De-)Konstruktion der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskundekongress in Karlsruhe vom 25. bis 29. September 1995, hg. v. Rolf Wilhelm Brednich und Heinz Schmitt, Münster u. a. 1997.
58
Zur Geschichte der Hebammen vgl. beispielsweise Eva Labouvie, Frauenberuf ohne Vorbildung? Hebammen in den Städten und auf dem Land, in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. v. Elke Kleinau und Claudia Opitz, Frankfurt/Main–New York 1996, S. 218–233. Zur Ausbildung von Hebammen in Niederösterreich und Wien vgl. Sonia Horn, Apotheker und Ärzte – Geschichte einer schwierigen Beziehung, in: Die Apotheke. 400 Jahre Landschaftsapotheke Horn. Ausstellung der Stadt Horn im Höbarthmuseum, 24. Mai bis 2. November 1997, Horn 1997, S. 43–60, hier S. 44, sowie etwa in Ungarn Lilla Krász, Zwischen Verbanntsein und Akzeptiertsein. Am Rande eines Hebammenprozesses aus dem 18. Jahrhundert, in: An der Schwelle der Europäischen Union, hg. v. Ferenc Glatz, Budapest 2000 (=Begegnungen. Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest 10), S. 217–232. Zur Konkurrenz zwischen Ärzten und Hebammen vgl. unter anderem Waltraud Pulz, Gewaltsame Hilfe? Die Arbeit der Hebamme im Spiegel eines Gerichtskonflikts (1680–1685), in: Rituale der Geburt (wie Anm. 56), S. 68–83; Gunda Barth-Scalmani, „Freundschaftlicher Zuruf eines Arztes an das Salzburgische Landvolk”: Staatliche Hebammenausbildung und medizinische Volksaufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 102–118; Christine Loytved und Bettina Wahrig-Schmidt, „Ampt und Ehrlicher Nahme”. Hebamme und Arzt in der Geburtshilfe Lübecks am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 84–101, hier S. 85: „Trotzdem waren auch bei normalen’ Geburten männliche Geburtshelfer ab Mitte des 18. Jahrhunderts im Gebärzimmer präsent [...]”.
59
Labouvie, Andere Umstände (wie Anm. 47), S. 198.
60
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 14. Juni 1677.
61
Vgl. Pils, Stadt/Raum (wie Anm. 5), S. 191.
62
Sabine Weiss, Die Österreicherin. Die Rolle der Frau in 1000 Jahren Geschichte, Graz 1996, S. 20.
63
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 29. Oktober 1665.
64
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 10. November 1665.
65
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 13. November 1665.
66
Die Purgier ist ein Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Körpersäfte entsprechend dem frühneuzeitlichen Körperverständnis, der Säftelehre.
67
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 23. September 1677.
68
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 12. November 1665.
69
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 22. März 1677.
70
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 4. Dezember 1676.
71
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 17. Juli 1665.
72
Maria Heidegger, Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf. Das Gericht Laudegg in der frühen Neuzeit – eine historische Ethnographie, Innsbruck 1999, S. 19.
73
Heidegger (wie Anm. 72), S. 19. Vgl. beispielsweise auch Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. v. Karin Hausen und Heide Wunder, Frankfurt/Main–New York 1992, S. 81–88.
74
Roger Chartier, Vorbemerkung zu Kapitel III: Gesellschaft, Staat, Familie: Bewegung und Spannung, in: Geschichte des privaten Lebens. Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, hg. v. Philippe Ariès und Roger Chartier, Frankfurt/Main 1995, S. 406–409, hier S. 406f.
75
Chartier, Vorbemerkung (wie Anm. 74), S. 407.
76
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 29. Dezember 1676.
77
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 1. Jänner 1677.
78
ÖStA-AVA, FA Harrach, Karton 350, TZ 7. Dezember 1995: undt ihm ein guedte naht zu mir ihnß bedt her gewinzt [= gewünscht].
Begegnungen16_Madl2
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:31–35.
FERENC MÁDL
Der Reichtum des neuen Europa – der Beitrag des „Ostens”
Wie so viele Menschen, denke auch ich gern darüber nach, ob Mitteleuropa eine tatsächlich existierende Wirklichkeit oder lediglich ein abstrakter Begriff ist?
Die Bedeutung des Begriffs Mitteleuropa kann man gewiss von mehreren Gesichtspunkten aus zu erschließen versuchen. Unter den ersten Aspekten bietet sich die Möglichkeit der geographischen Interpretation.
Man weiß jedoch, dass die gesellschaftlichen, kulturellen, historischen und politischen Aspekte diejenigen sind, die – neben den natürlichen Gegebenheiten – auch die Charakteristika einer Region, so auch die der mitteleuropäischen Region, bestimmen. Sei es Hegel oder Spengler oder Toynbee, die man näher betrachtet, trennt jeder von ihnen grundlegend drei europäische Zivilisationen – die mediterrane (antike), die westliche und die östliche – voneinander.
Im Laufe der Geschichte war und blieb Russland lange Zeit das Zentrum Osteuropas. Die Region gliederte sich jedoch in weitere kleinere Einheiten je nachdem, aus welcher Richtung beeinflussende Wirkungen auf sie ausgeübt wurden. Im westlichsten Teil Osteuropas kam bereits im Mittelalter ein starker deutscher, später sächsischer, preußischer und österreichischer Einfluss zur Geltung.
Von uns, Ungarn wird vielleicht der Historiker Jenő Szűcs am häufigsten zitiert. Nach seiner Meinung umfasst Mittel- oder Ostmitteleuropa das Baltikum, Polen, das Böhmisch-Mährische Becken, Ungarn und Kroatien. Diese Länder weisen die osteuropäischen Merkmale der Entwicklung und die starken westeuropäischen Wirkungen in unterschiedlichem Maße gleichzeitig auf.
Es ist schwer, im Rahmen eines Vortrages alle Kooperationsbestrebungen in allen ihren Details zu überblicken, die am Ende des 19. Jahrhunderts und hauptsächlich im 20. Jahrhundert allmählich feste Umrisse annahmen. Ihr wichtiges Merkmal war jedoch, dass diese Zwiespältigkeit – das Vorhandensein von nicht rein östlichen und nicht rein westlichen Zügen der Region – als ihr Wesenszug betrachtet wurde.
Einen wichtigen Faktor des mitteleuropäischen Erbes bilden natürlich die eigenartige Kultur und die gemeinsamen geistigen Schätze. Die lediglich herausgegriffenen Elemente sind die barocke Baukunst, die reiche Ornamentik der Sezession, die von Bartók mitteleuropäischer Jargon genannte Musik, oder die aus der Literatur so wohl bekannten Helden von Kafka oder Hrabal, die Dramen und Romane von Krleža oder die Welt des „Mannes ohne Eigenschaften” von Musil.
In dem nach dem Niedergang des sowjetischen Blocks entstandenen Machtvakuum mussten die über historische und kulturelle Gemeinsamkeiten verfügenden mittelosteuropäischen Völker die Frage beantworten: Wie weiter?
Die individuellen Integrationsbestrebungen haben die Bestrebungen nach regionaler Zusammenarbeit gelegentlich mal in den Hintergrund gedrängt, aber nie aufgehoben. Heute werden sich die Länder der Region immer klarer darüber, dass die Kooperation für ihren Beitritt zur Europäischen Union alles andere als hinderlich ist. Vielleicht formulieren wir jetzt nicht mehr nur unsere Wünsche, wenn wir sagen, dass diese Länder erkannt haben, dass die mitteleuropäische Solidarität keine Alternative sondern eine Ergänzung zum Prozess der Annäherung an den westlichen Teil Europas darstellt.
Im Weiteren würde ich jedoch lieber darüber sprechen, was Mitteuropa der Europäischen Union nach deren Erweiterung bieten kann?
Die ostmitteleuropäischen Länder, die der Europäischen Union beizutreten wünschen, haben eine Praxis der Zusammenarbeit entwickelt, die die Bedeutung der regionalen Formen der Zusammenarbeit unterstreicht.
Es genügt nur an die Zentraleuropäische Initiative, die vier Visegrád-Staaten oder die CEFTA zu denken, um uns davon zu überzeugen, dass die neuen Mitgliedstaaten der Union die in der Union entwickelten Formen der regionalen Zusammenarbeit nach der Osterweiterung weiter bereichern können.
Die bereits vorhandenen ostmitteleuropäischen Institutionen der Zusammenarbeit können mit den Organisationen der Europäischen Union nach der Erweiterung auf zahlreichen Gebieten verbunden werden. Dadurch werden weitere Möglichkeiten dafür geschaffen, dass die Bürger der Europäischen Union die traditionellen kulturellen Werte, die Mentalität und die speziellen Interessen der mitteleuropäischen Länder besser kennen lernen können.
Entlang den Ostgrenzen des erweiterten Europas können neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Regionen entstehen, die zur Steigerung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstands der an den beiden Seiten der Grenze lebenden Menschen beitragen können.
Die neue Erweiterung des Europas der Regionen und die Ausdehnung der über die nationalen Grenzen hinausgehenden Initiativen auf neue Dimensionen werden die Geltendmachung der grundlegenden Prinzipien garantieren, an deren Verwirklichung die Parlamentarier Europas seit vielen Jahren arbeiten. Denken wir nur an die Stärkung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kohäsion oder der Festigung der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit, von der die wichtigsten Dokumente der Europäischen Union geprägt sind; die Ungarn, die Tschechen, die Polen und die Slowaken konnten im Laufe der Geschichte erfahren, dass der Zusammenhalt und der Zusammenhaltsgedanke in einem gut umgrenzbaren geographischen Raum die Grundlage für die Harmonie und die Geltendmachung der gemeinsamen Werte und Interessen bedeuten.
Im mitteleuropäischen Raum war Deutschland als einer der Vorkämpfer des Integrationsprozesses unter den Gründungsmitgliedern der EU. Und Österreich wurde im Laufe der jüngsten Erweiterung Mitglied der Gemeinschaft. Diese Länder sind durch feste historische Bande mit den mittelosteuropäischen Ländern verknüpft, die sie im Prozess des Beitritts zur Union dementsprechend unterstützen.
Österreich spielte im Laufe der Geschichte traditionell eine integrierende Rolle in Mitteleuropa. Nachdem der Eiserne Vorhang niedergegangen war, trennte sich der Weg seiner Entwicklung von den Entwicklungswegen vieler Länder der Region. Der Umstand, dass es auf der anderen Seite war, gewährte ihm eine günstigere Entwicklungsmöglichkeit.
Die Geschichte gab uns jedoch eine neue Möglichkeit. Europa wird wieder einheitlich und sein mittlerer Teil wird nicht nur in Form von Vertretung durch Österreich, sondern auch in seiner Gesamtheit in die europäische Gemeinschaft zurückfinden. Mit der Osterweiterung werden die neuen Mitgliedstaaten die Kontinuität der mitteleuropäischen Dimension der EU symbolisieren.
Unsere Zugehörigkeit zur europäischen Wertordnung legt auch uns Aufgaben auf. Wir dürfen die Verantwortung nicht vergessen, dass wir zur Sicherheit sowie der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität Mitteleuropas, Osteuropas und Südosteuropas beizutragen haben. Unsere Aufgabe besteht darin, im Interesse dieses Zieles unsere Erfahrungen und unser Wissen mit den Ländern der Region zu teilen, ihnen beim Aufholen zu helfen und ihren euroatlantischen Beitritt zu unterstützen. Die Unionsmitglieder Mitteleuropas sollen die Aufgabe bekommen, die Sicherheit „der Bürger Europas” zu fördern, die neuen europäischen Grenzen zu festigen und zu kontrollieren.
Die neuen Mitgliedstaaten werden gleichzeitig die wichtige Rolle der Brücken im neuen Europa spielen. Nach der Erweiterung wird jedoch der ostmitteleuropäische Raum aus zwei Teilen bestehen. Es wird ja Staaten geben, die EU-Mitglieder sind und auch solche, die aus der Integration zeitweilig ausbleiben. Es kann eine reale Gefahr darstellen, wenn zwischen den beiden Lagern ein erheblicher Abgrund in der Zukunft entsteht, der auf dem europäischen Kontinent erneut das Gefühl der Teilung heraufbeschwören kann. Die Schengener Grenzen können nicht nur auf dem Gebiet der Politik und der Wirtschaft eine neue Bruchlinie bilden, sondern sie können auch im psychologischen Sinne das Gefühl der Ausgrenzung in den auf der anderen Seite der Grenze lebenden Menschen vertiefen. Die neuen Mitglieder können als Beispiel dafür dienen, wie die Entstehung eines neuen Eisernen Vorhangs verhindert und parallel dazu die Sicherheit der Bürger der Union garantiert werden kann.
Die nach der Erweiterung entstehenden Grenzen werden auch im „Europa der Minderheiten” eine wichtige Rolle spielen. Nach der ersten Osterweiterung werden auf dem Territorium der Nachbarstaaten der neu beigetretenen Länder in hoher Anzahl muttersprachliche Minderheiten leben. Gerade deshalb wird es von entscheidender Wichtigkeit sein, dass diese Mitgliedstaaten den Dialog weiterhin aufrechterhalten und die Rolle der Brücken spielen sowie die Bestimmungen der Kopenhagener Kriterien einhalten, in denen unter anderem die Sicherung der Rechte der Minderheiten und die Regelung der gutnachbarlichen Beziehungen als Beitrittsanforderungen vorgeschrieben sind.
Aufgrund seiner geopolitischen Lage kann die Rolle Mitteleuropas nach dem Beitritt zur Europäischen Union tatsächlich aufgewertet werden. Mitteleuropa kann dazu beitragen, dass Russland und die Ukraine engere Beziehungen zur Europäischen Union haben.
Neben dem Garantieren der Sicherheit der Bürger und der Aufrechterhaltung des Dialogs zwischen den Nationen trägt Mitteleuropa auch zu der die südöstlichen Grenzen der EU betreffenden politischen Stabilität in großem Maße bei.
Die zu Mitgliedern der Union werdenden ostmitteleuropäischen Länder können einer der wichtigsten Zielsetzungen der EU, der Verwirklichung einer auf dem Wissen basierenden Wirtschaft und Gesellschaft, ebenfalls einen Schwung verleihen. Sie werden die Konkurrenzfähigkeit Europas in der Epoche der Globalisierung steigern.
Seit der Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge gibt es zum ersten Mal eine Entwicklungsmöglichkeit für Mitteleuropa, in der die Gegebenheiten der Region mit den in der Union vorhandenen Tendenzen der Regionalisierung auf glückhafte Weise verbunden sind. Es ist wichtig, dass auch in Mitteleuropa die Form der Bildung von Regionen gefunden wird, in der die Besonderheiten Mitteleuropas am meisten berücksichtigt werden.
Die Bildung von Euroregionen in Mitteleuropa dient in diesem Gebiet des Kontinents einem ähnlichen Zweck wie das „Europa der Regionen” im Rahmen der Europäischen Union.
Im „Europa der Regionen” bekommt jedes Volk – unabhängig von seiner Stärke und Größe – die Möglichkeit, seine historische und sprachliche Vielfältigkeit, von den anderen abweichende kulturelle Identität zu bewahren.
Ungarn kann als Vertreter eines der stabilsten politischen Systeme der seit dem Systemwandel vergangenen Periode der Europäischen Union beitreten. Aus der Sicht der Union ist es keine unwesentliche Frage, dass solche Staaten ihre neuen Mitglieder werden, die in sicherheitspolitischer Hinsicht bereits einen Bestandteil des euroatlantischen Raums bilden.
Österreich, Tschechien und Ungarn werden aufgrund ihrer Größe und Bevölkerungszahl im Entscheidungsmechanismus der EU in einer annähernd gleichen Lage sein. Im Laufe der Durchführung der Reformen der Institutionen kann die Zusammenarbeit der Länder der Region die Position und die Möglichkeiten dieses Raums jahrzehntelang günstig beeinflussen.
Das System der Beziehungen zwischen Mitteleuropa und der Europäischen Union wird nach der Osterweiterung eine entscheidende Umgestaltung erleben. Die neuen Mitgliedsländer werden die in der EU bereits vorhandene, durch Österreich und Deutschland präsentierte, „mitteleuropäische” Dimension sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen und kulturellen Sinne erweitern.
Prof. Ferenc Mádl, Präsident der Republik Ungarn, ist Gründungsmitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Europa Institutes Budapest. Diesen Vortrag hielt er am 8. November 2001 in Wien anlässlich der Konferenz „Der Reichtum des neuen Europa – der Beitrag des »Ostens«”.