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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:31–35.

FERENC MÁDL

Der Reichtum des neuen Europa – der Beitrag des „Ostens”

 

Wie so viele Menschen, denke auch ich gern darüber nach, ob Mitteleuropa eine tatsächlich existierende Wirklichkeit oder lediglich ein abstrakter Begriff ist?

Die Bedeutung des Begriffs Mitteleuropa kann man gewiss von mehreren Gesichtspunkten aus zu erschließen versuchen. Unter den ersten Aspekten bietet sich die Möglichkeit der geographischen Interpretation.

Man weiß jedoch, dass die gesellschaftlichen, kulturellen, historischen und politischen Aspekte diejenigen sind, die – neben den natürlichen Gegebenheiten – auch die Charakteristika einer Region, so auch die der mitteleuropäischen Region, bestimmen. Sei es Hegel oder Spengler oder Toynbee, die man näher betrachtet, trennt jeder von ihnen grundlegend drei europäische Zivilisationen – die mediterrane (antike), die westliche und die östliche – voneinander.

Im Laufe der Geschichte war und blieb Russland lange Zeit das Zentrum Osteuropas. Die Region gliederte sich jedoch in weitere kleinere Einheiten je nachdem, aus welcher Richtung beeinflussende Wirkungen auf sie ausgeübt wurden. Im westlichsten Teil Osteuropas kam bereits im Mittelalter ein starker deutscher, später sächsischer, preußischer und österreichischer Einfluss zur Geltung.

Von uns, Ungarn wird vielleicht der Historiker Jenő Szűcs am häufigsten zitiert. Nach seiner Meinung umfasst Mittel- oder Ostmitteleuropa das Baltikum, Polen, das Böhmisch-Mährische Becken, Ungarn und Kroatien. Diese Länder weisen die osteuropäischen Merkmale der Entwicklung und die starken westeuropäischen Wirkungen in unterschiedlichem Maße gleichzeitig auf.

Es ist schwer, im Rahmen eines Vortrages alle Kooperationsbestrebungen in allen ihren Details zu überblicken, die am Ende des 19. Jahrhunderts und hauptsächlich im 20. Jahrhundert allmählich feste Umrisse annahmen. Ihr wichtiges Merkmal war jedoch, dass diese Zwiespältigkeit – das Vorhandensein von nicht rein östlichen und nicht rein westlichen Zügen der Region – als ihr Wesenszug betrachtet wurde.

Einen wichtigen Faktor des mitteleuropäischen Erbes bilden natürlich die eigenartige Kultur und die gemeinsamen geistigen Schätze. Die lediglich herausgegriffenen Elemente sind die barocke Baukunst, die reiche Ornamentik der Sezession, die von Bartók mitteleuropäischer Jargon genannte Musik, oder die aus der Literatur so wohl bekannten Helden von Kafka oder Hrabal, die Dramen und Romane von Krleža oder die Welt des „Mannes ohne Eigenschaften” von Musil.

In dem nach dem Niedergang des sowjetischen Blocks entstandenen Machtvakuum mussten die über historische und kulturelle Gemeinsamkeiten verfügenden mittelosteuropäischen Völker die Frage beantworten: Wie weiter?

Die individuellen Integrationsbestrebungen haben die Bestrebungen nach regionaler Zusammenarbeit gelegentlich mal in den Hintergrund gedrängt, aber nie aufgehoben. Heute werden sich die Länder der Region immer klarer darüber, dass die Kooperation für ihren Beitritt zur Europäischen Union alles andere als hinderlich ist. Vielleicht formulieren wir jetzt nicht mehr nur unsere Wünsche, wenn wir sagen, dass diese Länder erkannt haben, dass die mitteleuropäische Solidarität keine Alternative sondern eine Ergänzung zum Prozess der Annäherung an den westlichen Teil Europas darstellt.

Im Weiteren würde ich jedoch lieber darüber sprechen, was Mitteuropa der Europäischen Union nach deren Erweiterung bieten kann?

Die ostmitteleuropäischen Länder, die der Europäischen Union beizutreten wünschen, haben eine Praxis der Zusammenarbeit entwickelt, die die Bedeutung der regionalen Formen der Zusammenarbeit unterstreicht.

Es genügt nur an die Zentraleuropäische Initiative, die vier Visegrád-Staaten oder die CEFTA zu denken, um uns davon zu überzeugen, dass die neuen Mitgliedstaaten der Union die in der Union entwickelten Formen der regionalen Zusammenarbeit nach der Osterweiterung weiter bereichern können.

Die bereits vorhandenen ostmitteleuropäischen Institutionen der Zusammenarbeit können mit den Organisationen der Europäischen Union nach der Erweiterung auf zahlreichen Gebieten verbunden werden. Dadurch werden weitere Möglichkeiten dafür geschaffen, dass die Bürger der Europäischen Union die traditionellen kulturellen Werte, die Mentalität und die speziellen Interessen der mitteleuropäischen Länder besser kennen lernen können.

Entlang den Ostgrenzen des erweiterten Europas können neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Regionen entstehen, die zur Steigerung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstands der an den beiden Seiten der Grenze lebenden Menschen beitragen können.

Die neue Erweiterung des Europas der Regionen und die Ausdehnung der über die nationalen Grenzen hinausgehenden Initiativen auf neue Dimensionen werden die Geltendmachung der grundlegenden Prinzipien garantieren, an deren Verwirklichung die Parlamentarier Europas seit vielen Jahren arbeiten. Denken wir nur an die Stärkung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kohäsion oder der Festigung der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit, von der die wichtigsten Dokumente der Europäischen Union geprägt sind; die Ungarn, die Tschechen, die Polen und die Slowaken konnten im Laufe der Geschichte erfahren, dass der Zusammenhalt und der Zusammenhaltsgedanke in einem gut umgrenzbaren geographischen Raum die Grundlage für die Harmonie und die Geltendmachung der gemeinsamen Werte und Interessen bedeuten.

Im mitteleuropäischen Raum war Deutschland als einer der Vorkämpfer des Integrationsprozesses unter den Gründungsmitgliedern der EU. Und Österreich wurde im Laufe der jüngsten Erweiterung Mitglied der Gemeinschaft. Diese Länder sind durch feste historische Bande mit den mittelosteuropäischen Ländern verknüpft, die sie im Prozess des Beitritts zur Union dementsprechend unterstützen.

Österreich spielte im Laufe der Geschichte traditionell eine integrierende Rolle in Mitteleuropa. Nachdem der Eiserne Vorhang niedergegangen war, trennte sich der Weg seiner Entwicklung von den Entwicklungswegen vieler Länder der Region. Der Umstand, dass es auf der anderen Seite war, gewährte ihm eine günstigere Entwicklungsmöglichkeit.

Die Geschichte gab uns jedoch eine neue Möglichkeit. Europa wird wieder einheitlich und sein mittlerer Teil wird nicht nur in Form von Vertretung durch Österreich, sondern auch in seiner Gesamtheit in die europäische Gemeinschaft zurückfinden. Mit der Osterweiterung werden die neuen Mitgliedstaaten die Kontinuität der mitteleuropäischen Dimension der EU symbolisieren.

Unsere Zugehörigkeit zur europäischen Wertordnung legt auch uns Aufgaben auf. Wir dürfen die Verantwortung nicht vergessen, dass wir zur Sicherheit sowie der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität Mitteleuropas, Osteuropas und Südosteuropas beizutragen haben. Unsere Aufgabe besteht darin, im Interesse dieses Zieles unsere Erfahrungen und unser Wissen mit den Ländern der Region zu teilen, ihnen beim Aufholen zu helfen und ihren euroatlantischen Beitritt zu unterstützen. Die Unionsmitglieder Mitteleuropas sollen die Aufgabe bekommen, die Sicherheit „der Bürger Europas” zu fördern, die neuen europäischen Grenzen zu festigen und zu kontrollieren.

Die neuen Mitgliedstaaten werden gleichzeitig die wichtige Rolle der Brücken im neuen Europa spielen. Nach der Erweiterung wird jedoch der ostmitteleuropäische Raum aus zwei Teilen bestehen. Es wird ja Staaten geben, die EU-Mitglieder sind und auch solche, die aus der Integration zeitweilig ausbleiben. Es kann eine reale Gefahr darstellen, wenn zwischen den beiden Lagern ein erheblicher Abgrund in der Zukunft entsteht, der auf dem europäischen Kontinent erneut das Gefühl der Teilung heraufbeschwören kann. Die Schengener Grenzen können nicht nur auf dem Gebiet der Politik und der Wirtschaft eine neue Bruchlinie bilden, sondern sie können auch im psychologischen Sinne das Gefühl der Ausgrenzung in den auf der anderen Seite der Grenze lebenden Menschen vertiefen. Die neuen Mitglieder können als Beispiel dafür dienen, wie die Entstehung eines neuen Eisernen Vorhangs verhindert und parallel dazu die Sicherheit der Bürger der Union garantiert werden kann.

Die nach der Erweiterung entstehenden Grenzen werden auch im „Europa der Minderheiten” eine wichtige Rolle spielen. Nach der ersten Osterweiterung werden auf dem Territorium der Nachbarstaaten der neu beigetretenen Länder in hoher Anzahl muttersprachliche Minderheiten leben. Gerade deshalb wird es von entscheidender Wichtigkeit sein, dass diese Mitgliedstaaten den Dialog weiterhin aufrechterhalten und die Rolle der Brücken spielen sowie die Bestimmungen der Kopenhagener Kriterien einhalten, in denen unter anderem die Sicherung der Rechte der Minderheiten und die Regelung der gutnachbarlichen Beziehungen als Beitrittsanforderungen vorgeschrieben sind.

Aufgrund seiner geopolitischen Lage kann die Rolle Mitteleuropas nach dem Beitritt zur Europäischen Union tatsächlich aufgewertet werden. Mitteleuropa kann dazu beitragen, dass Russland und die Ukraine engere Beziehungen zur Europäischen Union haben.

Neben dem Garantieren der Sicherheit der Bürger und der Aufrechterhaltung des Dialogs zwischen den Nationen trägt Mitteleuropa auch zu der die südöstlichen Grenzen der EU betreffenden politischen Stabilität in großem Maße bei.

Die zu Mitgliedern der Union werdenden ostmitteleuropäischen Länder können einer der wichtigsten Zielsetzungen der EU, der Verwirklichung einer auf dem Wissen basierenden Wirtschaft und Gesellschaft, ebenfalls einen Schwung verleihen. Sie werden die Konkurrenzfähigkeit Europas in der Epoche der Globalisierung steigern.

Seit der Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge gibt es zum ersten Mal eine Entwicklungsmöglichkeit für Mitteleuropa, in der die Gegebenheiten der Region mit den in der Union vorhandenen Tendenzen der Regionalisierung auf glückhafte Weise verbunden sind. Es ist wichtig, dass auch in Mitteleuropa die Form der Bildung von Regionen gefunden wird, in der die Besonderheiten Mitteleuropas am meisten berücksichtigt werden.

Die Bildung von Euroregionen in Mitteleuropa dient in diesem Gebiet des Kontinents einem ähnlichen Zweck wie das „Europa der Regionen” im Rahmen der Europäischen Union.

Im „Europa der Regionen” bekommt jedes Volk – unabhängig von seiner Stärke und Größe – die Möglichkeit, seine historische und sprachliche Vielfältigkeit, von den anderen abweichende kulturelle Identität zu bewahren.

Ungarn kann als Vertreter eines der stabilsten politischen Systeme der seit dem Systemwandel vergangenen Periode der Europäischen Union beitreten. Aus der Sicht der Union ist es keine unwesentliche Frage, dass solche Staaten ihre neuen Mitglieder werden, die in sicherheitspolitischer Hinsicht bereits einen Bestandteil des euroatlantischen Raums bilden.

Österreich, Tschechien und Ungarn werden aufgrund ihrer Größe und Bevölkerungszahl im Entscheidungsmechanismus der EU in einer annähernd gleichen Lage sein. Im Laufe der Durchführung der Reformen der Institutionen kann die Zusammenarbeit der Länder der Region die Position und die Möglichkeiten dieses Raums jahrzehntelang günstig beeinflussen.

Das System der Beziehungen zwischen Mitteleuropa und der Europäischen Union wird nach der Osterweiterung eine entscheidende Umgestaltung erleben. Die neuen Mitgliedsländer werden die in der EU bereits vorhandene, durch Österreich und Deutschland präsentierte, „mitteleuropäische” Dimension sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen und kulturellen Sinne erweitern.

 

Prof. Ferenc Mádl, Präsident der Republik Ungarn, ist Gründungsmitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Europa Institutes Budapest. Diesen Vortrag hielt er am 8. November 2001 in Wien anlässlich der Konferenz „Der Reichtum des neuen Europa – der Beitrag des »Ostens«”.