Begegnungen21_Hirnok
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 244–248.
JÓZSEF HIRNÖK
Der slowenische Sprachgebrauch in Ungarn
Die Slowenen haben sich im Gebiet zwischen den Flüssen Rába und Mur im 6. Jahrhundert mit den Awaren zusammen niedergelassen, sie stellen die einzige Nationalität dar, mit denen die Ungarn seit mehr als einem Jahrtausend kontinuierlich zusammenleben. Im Laufe der Geschichte bildete das „Jenseits der Mur” genannte Gebiet im heutigen Slowenien und das von den Slowenen besiedelte „Gebiet an der Rába” im heutigen Ungarn den bedeutendsten Schauplatz der seit einem Jahrtausend währenden interethnischen Beziehungen der zwei Völker. Die Wirkung war von Anfang an wechselseitig, aus der Natur der Dinge ergibt sich schon, dass der slowenische Einfluss in der ersten Zeit stärker war. Wir wissen, dass das zum Christentum übergegangene Ungartum die umgestaltenden Impulse in erster Linie durch die Vermittlung von jenen Völkern erhielt, mit welchen Völkern es im Karpatenbecken unmittelbare Kontakte hatte. In den späteren Jahrhunderten nimmt der Einfluss in der umgekehrten Richtung zu, infolge der zahlenmäßigen Überlegenheit der Ungarn, des Unterschieds in der Gesellschaftsstruktur, infolge der Entwicklung in der Machtstruktur und in der Kultur. Der Friedensvertrag von Trianon löste die Einheit der hier lebenden Völker auf. Der größte Teil der Slowenen gelangte zu Jugoslawien, ein kleinerer Teil zu Österreich, während die heute „Slowenisches Gebiet” genannte Region um die Stadt Szentgotthárd auch weiterhin zu Ungarn gehört. Dieses Gebiet umfasst sieben, mehrheitlich von Slowenen bewohnte Gemeinden. In bedeutender Zahl ließen sich Slowenen noch in Szentgotthárd nieder, doch leben Slowenen in größerer Zahl auch in Budapest, in Szombathely und in Mosonmagyaróvár.
Die relative Abgeschlossenheit des Gebiets an der Rába mehrere Jahrzehnte hindurch, die beinahe hermetische Abgeschlossenheit vom Mutterland hat auf dem wirtschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Gebiet solche Vorgänge ausgelöst, hier denke ich natürlich an die Assimilation, deren Aufhalten bzw. Umkehren eine außerordentlich zeitintensive Aufgabe darstellt.
Die Fachliteratur stimmt mehr oder weniger darin überein, dass in der letzten Zeit im Erhaltenbleiben als Minderheit die Rolle der Umgestaltung der traditionellen Kraft, der Familie, der Dorfgemeinschaft, der ethnisch kompakten Region, das Abnehmen an Bedeutung der an der Weitergabe des sprachlichen Bewusstseins teilnehmenden, infolge der Industrialisierung und der Urbanisierung zunehmenden Mobilität die Rolle des Unterrichts zugenommen hat. Die Entfaltung der Muttersprache steht unzweifelhaft in der Wechselwirkung zwischen der Effizienz der unterschiedlichen Schauplätze der Sozialisierung der Minderheit und der Entwicklung des kulturellen Identitätsbewusstseins. Wie im neuen slowenischen Lehrplan in Ungarn festgehalten ist, spielt die Minderheitenschule eine entscheidende Rolle bei der Aneignung und Bewahrung der Muttersprache und der Nationalitätenkultur. Einer der bedeutendsten unterscheidenden Marker der Existenz als Minderheit ist die Sprachpflege, die Pflege der Überlieferungen, die Beibehaltung und Entwicklung der besonderen Kultur. Das Unterrichtswesen der Minderheiten ist die Grundlage der gesamten kulturellen Tätigkeit der Minderheit. Der gute Minderheitenunterricht ist einer der größten Garanten für die Erhaltung und das Fortleben der Nationalität. Jener erzieherische Prozess, in dem das Individuum sich die sozialen Erfahrungen und Erkenntnis aneignet und sich selbst definiert und identifiziert, wird von der Sozialpsychologie als Sozialisierung bezeichnet. Die zur Herausgestaltung des Selbstbewusstseins der Nation, der Nationalität unentbehrliche Sprache, das Brauchtum, die Überlieferung, die Besonderheiten in der Betrachtungsweise, d. h. die nationale, die Nationalitätenkultur wird im Laufe der Sozialisierung in die Struktur der Persönlichkeit eingebaut. Für die jüngsten Angehörigen der Nationalität, für die Kinder spielen die Familie, das unmittelbare Umfeld, die Gruppe der Gleichaltrigen, die Schule und die Mittel des modernen Massenverkehrs eine bedeutende Rolle bei der Herausgestaltung des Zugehörigkeitsbewusstseins zur Gemeinschaft und auch dabei, wie sie die das soziale Identitätsbewusstsein tragenden oder begleitenden Faktoren assimilieren. In der Hierarchie der erwähnten Schauplätze der Sozialisierung stehen unserer Auffassung nach das Zuhause und die Schule auf Platz eins. Keiner der beiden entscheidenden Faktoren kann auf die Unterstützung des anderen verzichten, und zwar im Interesse der perspektivischen Erhaltung der Ethnie.
Die ersten Schulen des slowenischen Gebiets wurden um die Wende des 16.-17. Jahrhunderts von der evangelisch-lutherischen Kirche gegründet. Zur Zeit der Gegenreformation wurde die Bevölkerung rekatholisiert, so wurde auch der Unterricht von katholischen Geistlichen übernommen. Die älteste Schule der Landschaft, die in der Gemeinde Felsőszölnök, wird zum ersten Mal im Jahre 1601 erwähnt. In den Volksschulen wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Grunde genommen in der Muttersprache unterrichtet. In den fünfundzwanzig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde parallel zur Verstaatlichung der Schulen von der nationalen Intoleranz die Unterrichtssprache in das Ungarische verwandelt. Nach dem Friedensvertrag von Trianon wurde in den Schulen des Gebiets an der Rába der örtliche Dialekt als Unterrichtsfach gelehrt. Seit 1945 sind neben der allmählichen Entwicklung der Unterstufen- und Oberstufenlehrerausbildung auch Grundschulen vom Typ des Sprachunterrichts tätig, es wurde eine sprachlich-literarische Ausbildung in drei-vier Wochenstunden durchgeführt. Seit dem Schuljahr 1985/86 wird zum zweisprachigen Unterricht übergegangen.
Das Experiment erlebte jedoch innerhalb einiger Jahre ein Fiasko, so sind auch heute Sprachunterricht betreibende Grundschulen tätig. Das Gebiet an der Rába befindet sich von allen Gesichtspunkten aus in einer spezifischen Situation. Jahrzehnte hindurch hatte die slowenische Gemeinschaft keine direkte Beziehung zum Mutterland, zu Slowenien. Das Gebiet an der Rába stellte eine Insel dar im stürmischen Meer, war unerreichbar und beinahe vergessen. So begann auch die slowenische Sprache in Vergessenheit zu geraten und die tragenden Pfeiler der Slowenen begannen erschüttert zu werden. Danach kamen neue Zeiten, der Eiserne Vorhang wurde abgebaut, die Festungen des Sozialismus fielen wie Kartenburgen zusammen. Es wurde eine Möglichkeit zum Erwachen des slowenischen Selbstbewusstseins, zur Festigung der tragenden Pfeiler geschaffen.
Und wem könnte diese Aufgabe obliegen? Natürlich der Schule und den Lehrern, die die slowenische Sprache unterrichten.
Von den vier Grundschulen mit 8 Klassen des slowenischen Gebietes sind nur mehr 4 erhalten geblieben. Die Grundschule in Szakonyfő wurde im Juni des Vorjahres geschlossen. Diese negative Tendenz setzt sich trotz aller unserer Anstrengungen fort, dies hat zahlreiche Ursachen.
– Mit dem Rückgang des Bevölkerungszuwachses ist die Zahl der neugeborenen Kinder immer geringer.
– Die Unterhaltung der Schulen mit niedrigen Kinderzahlen bedeutet für die Gemeindeselbstverwaltungen immer mehr Probleme.
– Die Arbeit der Lehrer wurde mangels gesellschaftlicher Anerkennung immer mehr abgewertet.
Dies ist natürlich keine slowenische Besonderheit, doch lässt sich dies auf dem Gebiet der nationalen Minderheit besonders verspüren. Mit Rücksicht auf die vorstehend umrissene, nicht gerade rosige Situation muss der Unterricht der slowenischen Sprache auf neue Grundlagen gelegt werden, mit Einbeziehung der Eltern muss damit bereits im Kindergartenalter begonnen werden. Grundlegendes Ziel des Unterrichts ist die Entwicklung jener Fähigkeiten der Kinder, die ihnen die grundlegende schriftliche und mündliche Kommunikation ermöglicht. Wichtig ist außerdem auch, dass sie über ihre Muttersprache die Kultur des Mutterlandes, Sloweniens, kennen lernen und so ihre Nationalitätenzugehörigkeit festigen.
Aus Vorstehendem geht hervor, dass der Nationalitätenunterricht, zumindest im slowenischen Gebiet an der Rába, in eine Krise gelangt ist, bzw. unter den veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seine Stelle sucht. Deshalb ist ein wichtigeres Element der Sprachenpolitik in Ungarn der außerschulische Unterricht der Muttersprache. Diese Aktivitäten sind folgende:
1. Im Februar 1991 ist das erste Heft unserer Zeitschrift „Porabje” erschienen. Das Blatt erscheint zweiwöchentlich in 1200 Exemplaren und gelangt zu fast allen slowenischen Familien. Das Organ spielt eine unersetzliche politische, kulturelle, sprachliche und informative Rolle im Leben unserer Nationalität, zugleich ist es ein wichtiges Hilfsmittel in unseren Schulen. Unser Verband hat in den vergangenen zehn Jahren auch auf dem Gebiet des Buchverlags bedeutende Ergebnisse erzielt. Die Zahl der verlegten Bände liegt über zehn.
2. Im Juni 2000 nahm in Szentgotthárd der slowenische Rundfunk seine Sendungen auf. Gegenwärtig sendet er in acht Stunden wöchentlich und kommt seiner informativen, muttersprachlichen, kulturellen und identitätsbewahrenden Aufgabe nach. Unter unseren Zielsetzungen befindet sich das Erhalten einer selbständigen Frequenz und die Erweiterung der Sendezeit. Mit unseren Sendungen wollen wir auch die Bevölkerung der benachbarten Gemeinde Bricskó in Slowenien erreichen. Diese grenzüberschreitende Wirkung könnte die Zusammenarbeit unserer Region festigen.
3. Der Bewahrung unserer Muttersprache dient auch die Tätigkeit der Kulturgruppen im Gebiet an der Rába. Mehr als hundert Mitglieder dieser acht Kulturvereine gehören der jungen Generation an. Ihre aufopfernde Arbeit dient der Bewahrung der slowenischen Kultur, der Muttersprache und unserer Nationalität von geringer Zahl.
4. Im November 1998 wurde in Szentgotthárd das Slowenische Kultur- und Informationszentrum eröffnet. Die Arbeit und die Aufgaben des Zentrums, oder wie wir es sagen, des Slowenischen Hauses, sind sehr vielseitig. Unmittelbares Ziel der im Slowenischen Haus veranstalteten Programme ist die Bewahrung der slowenischen Sprache und Kultur, sowie die Darstellung der kulturellen Werte unseres Mutterlandes Sloweniens. Unser wichtigstes Ziel besteht darin, dass die slowenische Kultur nicht nur zu unserer engsten Gemeinschaft gelangt, sondern dass wir sie auch der ungarischen Mehrheitsbevölkerung vorstellen. 1992 wurde von den beiden Ländern, von Slowenien und Ungarn, das Abkommen zur Sicherstellung der Sonderrechte der in der Republik Ungarn lebenden slowenischen nationalen Minderheit und der in den Republik Slowenien lebenden ungarischen Gemeinschaft mit dem Ziel, der in der Republik Ungarn lebenden slowenischen nationalen Minderheit und der in der Republik Slowenien lebenden ungarischen Gemeinschaft einen juristischen Schutz auf je höherem Niveau zu sichern.
Im Sinne des Abkommens sichern die Vertragspartner den Minderheiten und den ihnen angehörenden Personen die Möglichkeit der Bewahrung und Entwicklung der Kultur, der Sprache, der Religion und der umfassenden slowenischen bzw. ungarischen Identität sowie der freien Äußerung. Außerdem erkennen die Vertragsparteien das Recht der beiden Minderheiten auf die Information in der Muttersprache über die Presse, den Rundfunk und das Fernsehen an. Und was am wichtigsten ist, sichern die Vertragspartner zur Realisierung der in diesem Abkommen vorgesehenen Verpflichtungen die entsprechende finanzielle und sonstige Unterstützung. Der Text des Abkommens bzw. sein Gehalt liegt über den europäischen Normen bzw. Standards. Und wir ungarische Slowenen haben viel von diesem Abkommen erwartet. Mit Recht, war doch die Unterzeichnung dieses Abkommens von der ungarischen Seite angeregt worden. Ich glaube, ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich es sage, dass jedes Abkommen so viel wert ist, was von ihm verwirklicht wird. Das Abkommen bedeutet also die entsprechende juristische Grundlage bzw. kann sie bedeuten zu unseren weiteren Tätigkeit, die Wirklichkeit ist aber viel prosaischer als diese:
– Leider erhält unsere seit 1991 erscheinende Zeitschrift „Porabje” relativ wenigere finanzielle Unterstützung im Vergleich zu den anderen Minderheitenblättern.
– Der seit Juni des Vorjahres tätige slowenische Rundfunk in Szentgotthárd hat bis heute kein Budget, gegenüber dem ungarischen Rundfunk in Lendava (Lendva), der von der slowenischen Regierung eine Förderung von 170 Millionen Forint im Jahre erhält.
– Die Gründung des 1998 eröffneten Slowenischen Kulturzentrums wurde von der ungarischen Regierung mit 8 Millionen Forint gefördert. Die Gesamtkosten der Investition beliefen sich auf 260 Millionen Forint.
Trotz aller dieser Mängel blicken wir dem dritten Jahrtausend optimistisch entgegen, und vertrauen darauf, dass sich nach dem EU-Beitritt Ungarns und Sloweniens für die Slowenen in Ungarn neue Möglichkeiten bieten. Wie wir diese werden ausnützen können, hängt leider nicht nur von uns ab.
Literatur
Székely, András Bertalan: A Rábától a Muráig [Von der Rába bis zur Mur]. Budapest, 1992.
Oktatás, kultúra, közművelődés és tömegkommunikáció a magyarországi szlovének körében [Unterricht, Kultur, öffentliche Bildung und Massenkommunikation im Bereich der Slowenen in Ungarn]. p. 44–45
Perger, Valerija: Ezek mind ti vagytok. Rába-vidéki szlovének. A Rába-vidéki tanár a szlovénség legfőbb támasza [Das alle seid ihr. Slowenen im Rába-Gebiet. Der Lehrer des Rába-Gebietes ist die wichtigste Stütze der Slowenen]. p. 35–36
Begegnungen21_Gyivicsan
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 248–254.
ANNA GYIVICSÁN
Die Muttersprache der Slowaken in Ungarn
Im Kreis der auf dem Territorium des heutigen Ungarns lebenden Nationalitäten hat sich am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ein spezifisches, doch sehr ungünstiges, ja sogar ausgesprochen benachteiligendes Modell der Zweisprachigkeit herausgebildet. In diesem Modell gelangte die Sprache der Minderheiten in das Stadium der Diglossie.
Zur Herausbildung dieses ungünstigen Modells trug in einem hohen Maße auch der Diasporacharakter der Minderheiten in Ungarn bei, verhinderte doch diese Zerstreutheit – und verhindert es auch gegenwärtig noch – die innere kulturelle Kommunikation zwischen den Sprachinseln bzw. ein kulturelles Voranschreiten in einem gewissen Grade. Und all dies gilt in einem höheren Maße auch für die Sprache als ein grundlegendes Mittel der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Diese Diglossie in negativer Richtung kam im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschließlich im gesellschaftlichen Leben zur Geltung, in den letzten vier Jahrzehnten breitete sich die untergeordnete Rolle der (Nationalitäten-)Sprache auch auf die Familie aus. Die Frage ist, wie aus dieser ungünstigen Situation eine Zweisprachigkeit „geschaffen” („neu geschaffen”) werden kann, die einen gesellschaftlichen Rang hat und auch in der subjektiven Sphäre wieder neu zu leben beginnt, und zwar so, dass die gesunde und nützliche Triebkraft Kultur nicht nur einer engeren „Elite”, sondern einer vollständigeren Nationalitätengemeinschaft dient.
Der obige Problemkreis soll von mir am Beispiel der ungarländischen Slowaken dargestellt werden.
Als entscheidender Faktor im Prozess der sprachlichen Werteveränderungen ist in der Geschichte der Minderheiten in Ungarn die besondere, herausragende Rolle der Sprachen in Mittelosteuropa enthalten. Es ist bekannt, dass in dieser Region vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ein ganzes Jahrhundert hindurch, in den nationalen Bewegungen die Kultur und die Sprache eine herausragende Rolle spielt; die Sprache hatte eine politische Rolle erhalten, war zum Bestandteil des politischen Kampfes geworden. Im erwähnten Jahrhundert mussten die sich herausbildenden Nationen einen großen Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz der eigenen Sprache und Kultur austragen. Es hatte sich eine Atmosphäre herausgebildet, die man gewissermaßen übertrieben so charakterisieren könnte, „wessen Sprache siegt, dem gehört die Macht”. Dieser Prozess und das sich herausgebildete ungünstige Milieu ließ auch die Sprachinseln der ungarländischen Slowaken nicht unberührt, die in das Kreuzfeuer von zwei – der ungarischen und der slowakischen – nationalen Bewegungen, und innerhalb dieser der sprachlichen und kulturellen Bewegungen, bzw. der zwischen diesen Bewegungen entstandenen Kämpfe und Zwistigkeiten geraten; häufig lösten sie die ambivalenten Reaktionen und Verhaltensweisen der nationalen Gemeinschaft und der Individuen aus. Diese negativen historischen Wurzeln, diese kulturellen Erlebnisse motivieren auch in unseren Tagen immer noch die sprachlichen Werte und behindern es, dass im Bereich der ungarländischen Slowaken eine ausgeglichene slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit zustande kommen kann.
Unseren Vermutungen nach konnte der negative Trend der sprachlichen Werte in den slowakischen Sprachinseln in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen stärker werden, obzwar die aktive Mitteilungsform der Verhaltensweise in den letzten vier Jahrzehnten zunehmen konnte, als die Gemeinschaft immer häufiger mit der slowakischen Literatursprache und mit den modernen, institutionalisierten Formen der Sprache konfrontiert wurde. All das erlebte man aber schon zu dem Zeitpunkt, als sich die eigene lokale Sprache im Stadium der typischsten Diglossie befand, zu dem Zeitpunkt, zu dem die slowakische Sprache – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ganz isoliert vom gesellschaftlichen Leben den internsten Angelegenheiten der Gemeinschaft, der Familie und des Individuums diente, und nicht zu den äußeren Beziehungen der Gemeinschaft. In diesem Zustand der Rückentwicklung, in einem solchen Modell leben bei einigen kleineren Gemeinschaften oder bei einzelnen Schichten größerer slowakischer Gemeinschaften noch die lokalen Dialekte, und zwar so, dass weder der seit vier Jahrzehnten währende Unterricht der slowakischen Literatursprache, noch andere Formen der muttersprachlichen Bildung dieses benachteiligte Modell der sprachlichen Kommunikation verändern konnten.
Der Prozess des Werteverlusts der Muttersprache und der Raumgewinn der ungarischen Sprache widerspiegelt sich in den Angaben der Volkszählung, was die angegebene Muttersprache anbelangt [A], bzw. in den demographischen Angaben der muttersprachlichen Angaben, also in der Relation der Altersstufe und der Muttersprache [B].
[A] Die Zahl der auf dem Territorium des heutigen Ungarns lebenden Slowaken nach der Muttersprache entwickelte sich zwischen 1880–1990 wie folgt:
1880: 213 249
1900: 192 227
1910: 165 317
1920: 141 877
1930: 104 786
1941: 75 877
1949: 25 988
1960: 30 690
1970: 21 176
1980: 16 054
1990: 12 745
Einige Angaben über die Proportionen dieser negativen Veränderung in Prozent ausgedrückt:
zwischen 1880 und 1930, also innerhalb von 50 Jahren, ging die Zahl der Slowakischmuttersprachler von 213 249 auf 104 786 zurück, nahm also um mehr als 50 % ab. Zwischen 1930 und 1945, also kaum innerhalb von zehn Jahren, machte der Rückgang schon 29,3 % aus (von 104 786 auf 75 000).
Sowohl aus dem historischen statistischen Prozess, als auch aus den Proportionen in Prozent ausgedrückt ergibt sich, dass ein solcher paradoxer sprachlicher – und vermutlicher kultureller – Werteverlust eingetreten ist, für den es nicht leicht sein wird, eine „exakte” Erklärung zu geben – sei es nun unter Anwendung von vielseitigen, als auch von interdisziplinären Methoden. Die Beantwortung der Frage wird auch dadurch erschwert, dass im Kreis der anderen nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn diese umfangreiche negative sprachliche und kulturelle Veränderung nicht eingetreten ist. Wenn wir nämlich die muttersprachlichen Angaben der Volkszählungen bei den ungarländischen Slowaken und bei den anderen Nationalitäten miteinander vergleichen, zeigt dieser Vergleich, dass die Angaben bei den Slowaken am meisten sinken, und auf eine zu widersprüchliche, ambivalente Weise schwanken.
[B] Der Werteverlust bei der Muttersprache wird auch von den aufgrund der Volkszählungen analysierten Altersklassengliederungen unterstützt. Die unten stehende Tabelle stellt aus der Volkszählung des Jahres 1970 die Angaben der Muttersprachenangaben, die ungarischen und slowakischen Beziehungen bzw. die Gliederung nach dem Alter dar.
Lebensalter |
Männer |
Frauen |
||
Ungarn |
Slowaken |
Ungarn |
Slowaken |
|
0 – 14 |
1 044 334 |
870 |
985 535 |
809 |
15 – 39 |
1 772 168 |
2 473 |
1 761 649 |
2 605 |
40 – 59 |
1 128 614 |
2 897 |
1 252 245 |
3 527 |
60 – X |
707 573 |
3 106 |
926 270 |
4 642 |
insgesamt |
4 015 873 |
9 346 |
4 926 199 |
11 583 |
Auch ohne die tiefere Analyse der Angaben fällt ins Auge, dass bei den Slowaken die Altersklasse, die in der größten Zahl die Muttersprache übernimmt und sich dazu bekennt, die Generation der Ältesten ist, während bei den Ungarischmuttersprachlern die mit den größten Zahlen die gesellschaftlich aktivsten Generationen, die zwischen des Jahren 15 und 39 bzw. zwischen den Jahren 40 und 59 sind. Bei den Slowakischmuttersprachlern bedeuten die jüngeren Generationen eine immer niedriger werdende Zahlenreihe, in der die jüngste Gruppe (die 0- bis 14-Jährigen) im Vergleich zu den anderen Altersklassen die kleinste Gruppe darstellt, die neben den anderen Generationengruppen als „Torso” existiert. Die Zahl der jungen Altersstufen hat sowohl bei der Volkszählung des Jahres 1980 und bei der von 1990 weiter abgenommen. Das bedeutet wiederum, dass die klassische („instinktive”) Form der Kulturvermittlung-Kulturübergabe, die kulturelle Transmission innerhalb der Familie – zumindest den statistischen Indizes nach – in Gefahr geraten ist, und wahrscheinlich bei mehreren slowakischen Gemeinschaften ganz zu bestehen aufgehört hat: die jungen Generationen sind auf diesem klassischen Weg nicht zu Trägern der slowakischen Kultur und der slowakischen Sprache geworden und werden es auch nicht.
Die obigen Zahlen sind zum Teil die Spiegelbilder einer realen Situation. Denn die Kinder im Schulalter kennen schon seit ungefähr zwei Jahrzehnten die lokale Mundart nicht mehr, nehmen sie nicht mehr an, höchstens als passives Wissen. (Doch die letztere Erscheinung ist auch eher eine Ausnahme.)
Die Veränderung des sprachlichen Verhaltens der Kinder und Jugendlichen hat in den einzelnen slowakischen Siedlungen schon in den 1930er, vor allem aber in den 1940er Jahren begonnen. Meine familiensoziologischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass diese Veränderung sehr häufig innerhalb der Familie begonnen hat. Ob vielleicht der vorgestellte negative Änderungsprozess die Hoffnung dazu bietet, die ich in der Einleitung angesprochen hatte: gibt es überhaupt die Möglichkeit dazu, dass sich im Kreise der ungarländischen Slowaken eine „gleichrangige(re)” slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit herausbildet, die auch funktionsfähig ist. Dieses Bild und dieser Sprachzustand, die ich analysiert habe, waren zwischen 1965-1975 schon in Bezug auf alle slowakischen Siedlungen allgemein geworden, und zwar so, dass die gesellschaftliche Bedeutung der ungarischen Sprache auch außerhalb des institutionellen Rahmens stärker geworden ist, und dass die slowakische Sprache auf der Ebene der Gemeinschaft in einer benachteiligten Funktion beibehalten wurde, auch gegen diese Tatsache gerichtet, dass in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftliche Rolle der slowakischen Sprache in einigen Siedlungen und Institutionen wieder zu wirken begonnen hat. Die Mundart der Gemeinschaft hat das Stadium der vollständigen Krise, des vollständigen Absterbens erreicht. Auch in dem Fall, wenn sie in den Generation der über Fünfzigjährigen noch eine familiäre und eine beschränkte gemeinschaftliche Rolle hat. Hier geht es um die Krise und das Absterben jener Mundarten, auf denen bisher die asymmetrische slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit beruhte.
Die slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit hat nach 1949 eine neue Quellenbasis erhalten. Es wurde das slowakische Unterrichtssystem oder das Unterrichtssystem von slowakischer Art (von den Kindergärten bis zum Lehrstuhl an der Hochschule) – wenn es auch bis heute noch nicht ganz komplett ausgebaut ist – und die außerschulischen kulturellen Institutionen ausgebaut (Klubs, Zeitung, Buchverlagswesen, slowakische Sendungen der Medien usw.), die zu Vermittlern der slowakischen Literatursprache geworden sind.
Bereits diesem neuen kulturellen Modell ist es zu verdanken, dass sich ein neues sprachliches System bzw. eine neue slowakisch-ungarische Zweisprachigkeitsfunktion herausgebildet haben: die slowakische Mundart/die slowakischen Mundarten. Sie lebt/leben auch als Kommunikationssprache in der engen Familie, doch auch in der engeren Gemeinschaft; die ungarische umgangssprachliche Kommunikation hat sich auch in diesem Bereich – abgesehen von wenigen Ausnahmen – verbreitet;
die slowakische UMGANGSSPRACHE: sie fehlt als kollektive Kommunikationssprache bei den slowakischen Gemeinschaft ganz; eine enge slowakische Intelligenz – vor allem durch die Vermittlung der Absolventen der Universitäten und Hochschulen in der Slowakei – verwendet sie gemeinsam mit der ungarischen Umgangssprache;
die slowakische LITERATURSPRACHE: die Mittlersprache der Schule und der kulturellen Institutionen; die Arbeits- und Schöpfersprache der slowakischen Intelligenz in Ungarn, also der Wissenschaftler, der Schriftsteller und der Pädagogen. Diese Schicht ist natürlich auch umfassender Inhaber der ungarischen Kultur und der ungarischen Sprache. In ihrer gesellschaftliche Kommunikation ist die ungarische Sprache und die ungarische Kultur dominierend. Damit dieses schwache sprachliche System zum Leben erwacht, bräuchte es eine ständige anregende Kraft und eine sprachliches Planen. In der nahen Vergangenheit hat dieses System für sein Funktionieren eine anregende Rechtsgrundlage bekommen, sichert doch das am 20. Oktober 1993 in Kraft getretene Nationalitätengesetz den Nationalitätengemeinschaften in Ungarn eine umfassende Autonomie der Verwaltung, der Kultur und des Unterrichts. Das Gesetz macht den Gebrauch der Muttersprache auf sozusagen allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens möglich. Die Realisierung des letzteren wird es im Falle der Slowaken – wie ich bereits mehrmals darauf verwiesen habe – erschweren, dass die in der Schule gelernte slowakische Literatursprache nur bei einer zahlenmäßig kleinen Intelligenz das Kennenlernen der slowakischen Umgangssprache und ihren sehr beschränkten Gebrauch ermöglicht hat.
Bei der Neugestaltung der gesellschaftlichen Rolle der slowakischen Sprache muss man aber auch mit einem neueren behindernden Faktor rechnen. Infolge der seit 1989 vor sich gehenden gesellschaftlichen Veränderungen wurde nämlich auf allen Ebenen der schulischen Institutionen der Unterricht der westlichen Sprachen zu einer primären Aufgabe. Der Unterricht der „kleinen Sprachen”, das Interesse für sie ist allmählich in den Hintergrund gerückt. Während z. B. im Jahr 1988 die slowakische Sprache in 76 Schulen von 7 637 Schülern gelernt wurde, lernten im Jahre 1991 nur mehr 5 527 Schüler in 67 Schulen Slowakisch. Leider hat sich dieses Bild auch im Schuljahr 1999/2000 in negativer Richtung verändert, als in 59 Grundschulen 4 424 Schüler in slowakischer Sprache oder die slowakische Sprache lernten. Auch das trifft zu, dass die muttersprachliche Angabe der Volkszählung des Jahres 1990 (12 745 Personen) bei der Volkszählung des Jahres 2001 ebenfalls gesunken ist, denn nur mehr 11 817 Personen bezeichneten die slowakische Sprache als ihre Muttersprache. Andererseits ist diese Zählung aber positiver, weil sie für die Lage der slowakischen Sprache auch vitalere Angaben enthält. So wird die slowakische Sprache von 18 057 Personen im Familien- und Freundeskreis verwendet, während 26 631 Personen in irgendeiner Form mit der slowakischen Kultur verbunden sind. Eine der interessantesten „slowakischen” Angaben der Volkszählung des Jahres 2001 ist die, dass die Angabe in Bezug auf die Zugehörigkeit zur slowakischen Nationalität weit über der Angabe der Muttersprache liegt (17 693). Bei den bisherigen Volkszählungen machte die Angabe in Bezug auf die Nationalität am häufigsten nur ein Viertel der Muttersprachenangabe aus. Nach der Darstellung der asymmetrischen Zweisprachigkeit der Slowaken in Ungarn muss gesagt werden, dass auch für die Nationalitätensprachen jene allgemeine sprachliche Gesetzmäßigkeit gültig ist, dass Quelle und Unterpfand der Entwicklung einer jeden Sprache ist: die möglichst umfangreiche gesellschaftliche Rolle der Sprache, darunter verstehen wir den Gebrauch der geschriebenen und gesprochenen Form der Sprache im politischen und im wirtschaftlichen Leben, in der Kultur, in der alltäglichen Kommunikation, in der Familie usw. Nur so kann die Sprache ein vollständiges Leben führen! Wenn irgendetwas in dieser Kette fehlt, wird die Entwicklung der Sprache schon verzerrt.
Was könnte man für die in der Diaspora lebenden Slowaken in Ungarn noch schaffen, was könnte man ihnen bieten, mit Institutionen helfen, damit die gesellschaftliche Rolle, der gesellschaftliche Wert zumindest zum Teil ansteigen kann? Falls diese erwünschte Veränderung nicht eintritt, kann die asymmetrische Zweisprachigkeit der ungarländischen Slowaken wirklich zu einer Sackgasse werden.
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 117–132.
LAJOS GÖNCZ
Sprachliche Rechte der Minderheiten in der Föderativen Republik Jugoslawien mit dem Auge des Psychologen
Die Rechte des Sprachgebrauchs des Ungartums in Serbien (in der Wojwodina)
1 Einführung
Überall auf der Welt leben Millionen Menschen als Minderheiten. Auch jeder siebente europäische Bürger gehört irgendeiner nationalen Minderheit an, ihre Gesamtzahl kann sogar die 100 Millionen Personen erreichen. In unserer Arbeit befassen wir uns mit den Ungarn in der Wojwodina. Diese Minderheit in Ostmitteleuropa ist nicht nur eine nationale, sondern zugleich auch eine sprachliche und eine konfessionelle Minderheit.1 Sie hält sich nämlich für zur ungarischen Nation und zur eigenen Minderheit gehörend, ihre Muttersprache gehört zu dem finnisch-ugrischen Zweig der nicht indogermanischen Sprachen, sie verwendet die lateinische Schrift und ist in der Mehrheit römisch-katholisch. Die größte Ethnie jenes Staatsgebildes, in dem sie lebt, hat die serbische Muttersprache, sie spricht also eine zur südslawischen Gruppe der indogermanischen Sprachen gehörende Sprache, verwendet die kyrillische Schrift und ist prawoslawischer Religion. Die Situation der Ungarn in der Wojwodina ist der Situation zahlreicher ostmitteleuropäischer Minderheiten ähnlich, so können die für sie geltenden Feststellungen, abgesehen von gewissen spezifischen Besonderheiten, auch auf diese bezogen werden können (Szépe 2000a: p. 132). Da heute bereits die Erkenntnis allgemein geworden ist, dass die Zukunft der Menschheit zu einem großen Teil von der Sicherstellung der Menschenrechte abhängt, und dass für den Frieden die größte Gefahr jenes Verfahren ist, wegen dessen die Minderheiten sich bedroht fühlen, ist die gesellschaftliche Anforderung immer nachdrücklicher, dass auch die Wissenschaften einen Beitrag zu deren Ausarbeitung leisten und auf die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung verweisen sollen. Zur wissenschaftlichen Fundierung der sprachlichen Rechte und des Minderheitenschutzes kann in erster Linie die Rechtswissenschaft dienen, doch können auch zahlreiche andere Disziplinen dazu beitragen. In einem gesteigertem Ausmaß gilt dies für die Psychologie, die sich mit dem Verständnis und der Voraussagung des menschlichen Verhaltens beschäftigt, das Funktionieren der Gesellschaft aber hängt von dem Verhalten und den Interaktionen der in ihr lebenden Menschen ab. Die psychologischen Kenntnisse können zweifelsohne das Funktionieren der modernen Gesellschaften auf zahlreichen Gebieten unterstützen, so auch auf dem Gebiet der Sicherstellung der Menschenrechte, innerhalb dieser der sprachlichen und Minderheitenschutzrechte.
Wenn wir den Inhalt der sprachlichen Rechte berücksichtigen und den Umstand, mit welchen anderen Rechten sie zusammenhängen2, werden die psychologischen Beziehungen dieser eindeutig. Falls nämlich jemand im Gebrauch seiner Muttersprache behindert wird, er seinen Glauben nicht in dieser Sprache praktizieren kann, und nicht den entsprechenden Unterricht genießen usw. kann, beeinflusst all das stark seine Situation in der Gesellschaft und sein ganzes Verhalten.
Die psychologische Untersuchung dessen, was für Einwirkung das Individuum oder die Gruppe in einer heterogenen Gemeinschaft betreffen (was zum größten Teil von den geltenden Gesetzen abhängt), und wie es diese am vollständigsten erlebt, kann durch die Unterscheidung der dazugebenden (additiven) und vertauschenden (subtraktiven) Situationen der Zweisprachigkeit (bzw. mit dem Begriff der auf ihren Einfluss entstehenden additiven und subtraktiven individuellen Zweisprachigkeit) durchgeführt werden3. Das Begriffspaar verweist auf den Umstand, ob die Mitglieder oder Gruppen einer heterogenen Gemeinschaft aufgrund ihrer ethnischen / kulturellen / sprachlichen / konfessionellen Zugehörigkeit hierarchisiert werden.
Von einer additiven Zweisprachigkeitssituation sprechen wir, wenn die Nationalitäten, Sprachen und Kulturen des heterogenen Umfelds gleich gewertet werden, also wenn ihr Status annähernd gleich ist. Subtraktiv ist die Zweisprachigkeitssituation demgegenüber, wenn das Umfeld die eine Ethnie, die eine Sprache und Kultur wünschenswerter als die anderen hält, sie also bevorzugt. In der Wirklichkeit treten diese Situationen nicht als einander ausschließende und einander gegenüberstehende Kategorien auf, sondern bezeichnen die Endpunkte einer Geraden, mit zahlreichen Übergängen zwischen ihnen.
Von den psychologischen Forschungen wurde nachgewiesen, dass die stark um additive und subtraktive Elemente gefüllten Zweisprachigkeitssituationen – im Vergleich zur Einsprachigkeit – den Vorgang der seelischen Entwicklung modifizieren. In der additiven Zweisprachigkeitssituation können sich wegen der mehrerlei sprachlichen/kulturellen Einwirkungen die rationellen Potenzen des Kinder auch vollständiger entfalten (Peal & Lambert 1962; Göncz 1988), kann sein metasprachliches Bewusstsein (Göncz & Kodžopeljić), seine sprachliche und kulturelle Toleranz wachsen, kann sein Ethnozentrismus abnehmen. Die rationellen Potenzen des Kindes sind heute noch zum größten Teil nicht genutzt. Wenn wir es allen Kindern der Welt, dazu zählen auch die einsprachigen, ermöglichen würden, mit Hilfe des Unterrichts eine Zweisprachigkeit von additivem Typ zu entwickeln (und das ist kein unerreichbares Ziel, da jedes durchschnittliche Kind durch zusätzliches Lernen zweisprachig werden kann), würden die rationellen Potenzen der Menschheit in einem unvorstellbaren Maß wachsen. Im Falle der subtraktiven zweisprachlichen Situation kann aber die sozio-emotionale Entwicklung und die Entwicklung der Sprache Schaden davontragen, auch die kognitive Entwicklung kann sich verlangsamen. Wenn das gesellschaftliche Zur-Geltungkommen nur in der Mehrheitssprache möglich ist, dann vermittelt eine derartige Umgebung an die Minderheitenangehörigen jene Nachricht, dass ihre Sprache und Kultur nicht erwünscht ist, dass sie keine Funktion hat, dass sie aufgegeben werden muss. Abhängend von der Intensität und der Dauer der Einwirkung dieser Richtung kann dadurch die Sprache und Kultur der Minderheit gleichgültig, ja sogar unsympathisch gemacht werden. Zur gleichen Zeit können sich mit der Mehrheitssprache Erfolgserlebnisse assoziieren und diese anziehend machen. In derartigen Situationen beginnt der Wechsel der Sprache und meldet sich die doppelte Halbsprachigkeit: das Individuum kennt keine seiner Sprachen auf einem solchen Niveau wie die einsprachigen Sprecher der gegebenen Sprachen. Nähert man sich der Frage vom Gesichtspunkt der Lernpsychologie aus, „gestaltet” eigentlich die breitere Gemeinschaft mit Hilfe der Belohnung, der Bestrafung, der Außerachtlassung und mit deren „entsprechenden” Portionierung das Verhalten der Angehörigen der Minderheit, zwingt sie, die verachteten Verhaltensweisen aufzugeben und die mit zweckmäßigeren zu ersetzen. In motivationspsychologischer Hinsicht jedoch können die Elemente der wechselnden Situation für die Frustrationen auslösende, die Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen verhindernden Fakten gehalten werden, die Frustration aber ist ein Erlebnis, das emotional negativ gefärbt ist.
Eng mit der subtraktiven Zweisprachigkeit hängen die Begriffe Linguizismus und Ethnizismus zusammen (Skutnabb-Kangas, 1990). Diese sind in Wirklichkeit die modernen Äußerungen des Rassismus, solche Ideologien, die die Individuen und Gruppen einer heterogenen Gemeinschaft auf sprachlicher/ethnischer/kultureller Grundlage in eine Reihe stellen. Derartige Ideologien können die Gesetzgebung und über diese die Herausbildung der subtraktiven Zweisprachigkeitssituation beeinflussen.
Aus diesen Kenntnissen geht hervor, dass jene Rechtsnormen zu bevorzugen sind, in denen mehr additive Situationen schaffende Elemente als in den vorstehenden sind. Theoretisch wären nur solche Rechtsnormen wünschenswert, die ausschließlich additive Situationen zustande bringen würden, nicht nur wegen der Beseitigung der Diskriminierung, sondern auch aus dem Grund, weil sie es sichern würden, dass die Vorteile des potenziell anregenden mehrsprachigen und mehrere Kulturen habenden Lebensraumes zum Ausdruck gelangen können.
Vorstehende Gesichtspunkte halten wir vor Augen, wenn wir die jugoslawischen sprachlichen und Minderheitenschutzgesetze, deren mögliche psychologische Auswirkungen und die Rechte des Sprachgebrauchs des dort lebenden Ungartums analysieren.
2. Historischer Überblick
2.a Geschichte, geographische und demographische Verhältnisse
In der Geschichte des Ungartums in der Wojwodina (ungarisch: Vajdaság) können zwei große Abschnitte getrennt werden. Der erste beginnt mit der Ansiedlung des Ungartums im 9. Jahrhundert, als es die Pannonische Tiefebene, so auch die heute als Wojwodina bezeichnete Region bevölkerte. Den in diesem Gebiet entstandenen humanistischen Zentren ist es zu verdanken, dass den hier lebenden Ungarn eine große Bedeutung bei der Entwicklung der Kultur des mittelalterlichen Staates zukam. Nach 1526, nach dem Zerfall des einheitlichen ungarischen Staates, fielen die Ungarn in der Wojwodina den Türken zum Opfer, oder aber flohen sie nach Norden, ihre Zahl ging sehr zurück. Das demographische Vakuum wurde mit einer serbischen Bevölkerung gefüllt.
Der zweite Abschnitt begann von den 1730er Jahren an, als zur Bevölkerung der verwüsteten Landstriche ungarische, deutsche, slowakische und ruthenische Einwanderer kamen. Der Geist des 18. Jahrhunderts stützte sich aber nicht mehr auf die reichen mittelalterlichen ungarischen kulturellen Traditionen dieses Gebiets, so spielte in den Prozessen der Nationswerdung das hiesige Ungartum nur eine marginale Rolle, und der bürgerlichen ungarischen Kultur kam in der schwungvollen Entwicklung des 19. Jahrhunderts nur mehr das Zurückbleiben hinter den Hauptströmungen. Im Ersten Weltkrieg brachten die Ungarn der Wojwodina große materielle und menschliche Opfer.
Die Wojwodina wurde am 25. November 1918 von Ungarn abgegliedert, und dieses Gebiet kam mit anderen südlichen Landschaften des historischen Ungarns zu dem am 1. Dezember proklamierten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, zum einheitlichen Staat der Südslawen. Das Staatsgebilde wird seit 1929 Jugoslawien genannt. Damals lebten in diesem Gebiet mehr als eine halbe Million Ungarn. So gelangten die Ungarn der Wojwodina in das Minderheitenschicksal der Neuzeit, in dem sie, die Batschka ausgenommen, die eine kurze Zeit mit einer Unterbrechung von dreieinhalb Jahren (von 1941 bis 1944 wurde es wieder an Ungarn angegliedert), seit mehr als acht Jahrzehnten lebt. Innerhalb dieser acht Jahrzehnte lebten die Ungarn im I. Jugoslawien (zwischen den beiden Weltkriegen), im II. Jugoslawien (unter Tito) (von 1945 bis 1991), seit 1992 jedoch im III. Jugoslawien (in der Föderativen Republik Jugoslawien), das aus zwei Republiken des Titoschen Jugoslawiens, aus Serbien und Montenegro entstanden ist. Innerhalb Serbiens, zu dem die Wojwodina gehört, unterschied sich der Verwaltungsstatus dieses Gebiets in den erwähnten Perioden: von der kleineren oder größeren Autonomie bis zu deren gesamten Beseitigung.
Auch aus diesem kurzen historischen Überblick ist zu entnehmen, dass das Gebiet der Wojwodina seit mehreren Jahrhunderten von einer außerordentlich heterogenen Bevölkerung besiedelt ist. So sind z. B. nach dem Machtwechsel nach dem Ersten Weltkrieg mehrere zehntausend Ungarn freiwillig nach Ungarn gezogen, viele wurden jedoch aus dem Land ausgewiesen, deshalb mussten sie es verlassen. Im Kreis der Ungarn ist die Zahl der Auswanderer auch seitdem kontinuierlich, nach Nord- und Südamerika, nach Australien, nach Westeuropa, in den 1990er Jahren sind wegen des ethnischen Bürgerkrieges viele geflohen, rund 50 000 sind nach Ungarn übersiedelt. Nach dem Weltkrieg wurde auch planmäßig eine serbische Bevölkerung angesiedelt (nach dem Zweiten Weltkrieg z. B. eine Viertel Million), die auf allen Gebieten des Lebens Vorrechte genossen, zur gleichen Zeit ist aus der Wojwodina die deutsche Bevölkerung verschwunden, die im Jahre 1941 332 200 Personen ausmachte. Hunderttausende Flüchtlinge kamen auch nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahre in die Wojwodina, viele zogen aber ins Ausland. Infolge dieser ethnischen Bewegungen hat sich bis zur Gegenwart die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung verändert, ebenso das zahlenmäßige Verhältnis zueinander. Als typische allgemeine Tendenz ist hervorzuheben, dass das mehrere Jahrhunderte währende Zusammenleben zwischen den hier lebenden unterschiedlichen Volksgruppen in der Mehrheit der Bevölkerung die Achtung voreinander, die Anerkennung des Andersseins, eine Toleranz auf hohem Grade entwickelt hat. Zur gleichen Zeit haben sich auch in dieser Region unter dem Einfluss der von den jeweiligen Mächtekreisen vertretenen Politik die vor allem auf nationaler, kultureller und sprachlicher Grundlage hierarchisierten Mehrheits- und Minderheitsgruppen herausgebildet, und auch die letztere betreffenden unterschiedlichen Diskriminierungsformen traten auf. Keine der hier lebenden Volksgruppen bildete im Laufe ihrer Geschichte eine Ausnahme hiervon. Der Ethnizismus und der Linguizismus hat in einer weniger verhüllten oder einer verhüllteren Form auch das Leben der ungarischen Volksgruppe stark beeinflusst, vor allem in den vergangenen acht Jahrzehnten. (Göncz 1999: p. 49-60)
Das heutige, das III. Jugoslawien mit seinen 10 Millionen Einwohnern, und innerhalb Jugoslawiens auch Serbien, ist ausgesprochen ein Vielvölkerstaat. Aufgrund der Angaben der Volkszählung des Jahres 19914 besteht die Bevölkerung zu 62,7% aus Serben, zu 5% aus Montenegrinern, der Rest sind Minderheiten anderer Nationalitäten. Die sprachliche, ethnische, kulturelle und konfessionelle Vielfalt kommt vor allem in der nördlichen Provinz, in der Wojwodina zum Ausdruck, die mehr als 1/5 des Territoriums und der Bevölkerung der Republik Serbien ausmacht. Die Wojwodina besteht aus drei größeren Landschaften: dem Banat, der Batschka und Syrmien. Die Wojwodina besteht verwaltungsmäßig aus 45 Gemeinden5, die Zahl der Siedlungen beläuft sich auf 464. 99% der Ungarn Serbiens leben in der Wojwodina.
Aufgrund der Angaben des Jahres 1991 macht die Zahl der Bevölkerung der Wojwodina 2 013 889 aus. Am bedeutendsten ist die Zahl der Serben (1 143 727 – 56,8%), gefolgt von den Ungarn (339 491 – 16,9%), dann von jenen, die sich als Jugoslawen bezeichnen (174 295 – 8,7%), dann kommen die Kroaten (74 808 – 3,7%), Slowaken (63 545 – 3,2%), die Montenegriner (44 838 – 2,2%), die Rumänen (38 806 – 1,9%), die Roma (24 366 – 1,2%), sowie die Bunewazen (21 434), die Ruthenen (17 652) und die Makedoner (17 472). Die anderen ethnischen Gruppen, die unbekannten und die sich über ihre ethnische Zugehörigkeit nicht geäußert hatten, machten 2,65% der Bevölkerung aus.
Fast 3/4 der Ungarn leben in der Batschka, ein Viertel im Banat, in Syrmien erreichen sie nicht die 2% der Bevölkerung. 60% leben zentralisiert in 11 Gemeinden. 1991 bildeten sie in 81 Siedlungen die Mehrheit, 55% aller Ungarn lebten in solchen Siedlungen.
2.b Die sprachlichen und Minderheitenschutzrechte der Ungarn
in der Wojwodina zwischen 1918 und 1991
Die Bestrebungen der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Nationalstaaten, dass die Landesgrenzen zugleich auch zu ethnischen/sprachlichen Grenzen werden sollen, betrafen in erster Linie die in die Minderheit geratenen Ungarn, dass sich nach Ländern, nach gesellschaftlichen Einrichtungen und nach historischen Situationen Unterschiede in der Härte der Formen der Realisierung zeigten. Auch die Ungarn in der Wojwodina bildeten keine Ausnahme davon.
Obzwar vom südslawischen Staat nach dem ersten Weltkrieg die (übrigens sehr eng bemessenen) internationalen Garantien des Minderheitenschutzes anerkannt wurden6, hielt er in der Praxis mit seiner ausgesprochen diskriminierenden und verschmelzenden Politik die eingegangenen Verpflichtungen nicht ein, schuf die Bedingungen zur Anwendung der grundlegenden Minderheitenrechte (Schulbildung in der Muttersprache, Gebrauch der Muttersprache und im Allgemeinen die staatbürgerliche Rechtsgleichheit) nicht. Eine ganze Reihe von Rechtsverletzungen wurde den Ungarn in der Wojwodina zugefügt und zahlreiche Maßnahmen zielten auf die Zerstörung der Volksgruppe ab7. Der Abbau war vor allem auf dem Gebiet des Schulwesens stark zu fühlen (Tóth 1994: p. 9-12), und dies wirkte sich auch stark auf die sprachliche Lage des Ungartums aus. Das Recht auf Schulbildung in der Muttersprache, das für die 4- bzw. 6-jährigen Elementarschulen galt, verpflichtete den Staat, dort Minderheitenschulen zu eröffnen, wo die Minderheitenbevölkerung in höherer Zahl lebt. Von den neuen Schulbehörden wurden die ungarischen Elementarschulen in den Ortschaften mit ungarischer Mehrheit mit der Bedingung belassen, dass der ungarische Klassenzug mindestens 30 Schüler haben musste, die Lehrer mussten mit einem Staatsexamen nachweisen, dass sie die Staatssprache sprechen, denn sonst durften sie nicht unterrichten. Jene Schüler, deren Namen nicht ungarisch klangen, durften sich nicht zum ungarischen Zug melden, auch dann nicht, wenn sie sich als Ungarn bekannten („Namensanalyse”). Im fünften und sechsten Schuljahr wurde der Unterricht im Allgemeinen in serbischer Sprache gehalten. Die Zahl der ungarischen Klassenzüge nahm im I. Jugoslawien kontinuierlich ab. Dies bezog sich vor allem auf den Oberschulunterricht. Auch die ungarischen Züge der Gymnasien hörten allmählich zu bestehen auf, so dass bis zum Jahr 1939 in zwei Gymnasien, in denen zahlreiche Fächer in serbischer Sprache unterrichtet wurden, nur mehr 337 ungarische Gymnasiasten blieben.
Im II. Jugoslawien veränderte sich die Lage des Ungartums in der Wojwodina grundlegend. Anfangs fielen einige Tausend ungarische Einwohner den Säuberungsaktionen zum Opfer, die von der einige Monate tätigen Militärverwaltung veranstaltet wurden, danach nahm aber das Schicksal des Ungartums in der Wojwodina auf mehreren Gebieten einen Wandel zum Besseren. Die jugoslawische Variante des Sozialismus wurde aufgebaut, das System der sozialistischen Selbstverwaltung, ein Einparteiensystem (die Kommunistische Partei, bzw. der Bund der Kommunisten war an der Macht), das im Verhältnis zu den ähnlichen Systemen eine akzeptierbarere Lebensform ausbaute. Trotz aller Verzerrungen existierte in ihm eine Art von multikulturellem Zusammenleben im Interesse des empfindlichen ethnischen Gleichgewichts. Zur gleichen Zeit war das Erkennen und die Behebung der die ethnischen Gruppen erreichten Beleidigungen ausschließlich das Monopol der Partei, die Gründung von Organisationen auf ethnischer Grundlage war verboten. Von der kommunistischen Partei wurde auf allen ihren Parteitagen die wirtschaftliche, kulturelle und sprachliche Gleichberechtigung aller Minderheiten verkündet, dies wurde auch in zahlreichen, die Rechtsgleichheit regelnden Dokumenten formuliert. Der Anfang war vielverheißend, in den 50er Jahren bildete sich das institutionelle System der ungarischen Kultur in der Wojwodina heraus, das der Meinung vieler nach sehr literaturzentrisch war. Später blieben aber die weiteren Institutionalisierungsaktionen aus, ja ein großer Teil der bestehenden Institutionen wurde sogar in die serbischen Institutionen eingegliedert. Die Ungarn wurden bald auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens in den Hintergrund verdrängt, auch in Bezug auf ihre Ausbildung wurden sie hin in Richtung der Berufe verschoben, wo die Kenntnisse der Universität und der Mittelschule nicht so erforderlich waren. So machten im Jahre 1969 in Serbien die Ungarn 4,8% der Gesamtbevölkerung des Landes aus, doch verfügten nur 2,4% von ihnen über ein Diplom. Auch für das Unterrichtssystem mit ungarischer Unterrichtssprache waren ähnliche Tendenzen charakteristisch. In den 50er Jahren war ein Unterrichtssystem ausgebaut worden, das auf dem Niveau der Grundschule der großen Mehrheit der ungarischen Schüler, auf dem Mittelschulniveau einem großen Teil, im Hochschulwesen jedoch es nur einem kleinen Teil ermöglichte, in seiner Muttersprache zu lernen bzw. zu studieren. Später wurden die serbischen und die Schulen mit Nationalitätensprachen (Gebietsschulen, Zentralschulen) vereint, dann wurde der berufsausgerichtete Unterricht eingeführt (die beiden ersten Schuljahre der Mittelschule waren einheitlich, dann kam ein nach Berufen ausgerichteter Unterricht, in dem die Berufe zu sehr aufgegliedert wurden), dies erschwerte dann sehr das Weiterlernen in der Muttersprache. Zu Beginn stieg die Zahl der Grundschüler sehr, dann nahm sie stark ab (von 40 000 im Jahre 1964 auf 23 000 in den 90er Jahren). Von der Mitte der 60er Jahre bis zur Gegenwart besuchten 20% der ungarischen Schüler den serbischen Zug der Grundschule, in der Mittelschule machte dieser Anteil die 35-40% aus, die Zahl der an Hochschulen studierenden ungarischen Jugendlichen ist seit Jahrzehnten sehr niedrig, nie hatte sie den Anteil erreicht, der dem Anteil der Ungarn entsprach (1992 z. B. betrug der Anteil der ungarischen Studenten an den Hochschulen und Universitäten der Wojwodina 6,9%, obzwar damals der Anteil der ungarischen Bevölkerung in der Wojwodina ungefähr 17% ausmachte. 59% von ihnen lernten in ihrer Muttersprache).
3. Die Regelung der Rechte der Minderheitensprachen und die Rechte des Sprachgebrauchs der ungarischen Minderheit in der Wojwodina im III. Jugoslawien
(von 1992 bis zur Gegenwart)
Mit dem Ausbruch des Krieges zwischen den südslawischen Völkern in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, mit dem Zerfall des II. Jugoslawiens und der Gründung des III. Jugoslawiens (im Jahre 1992) haben sich die Lebensumstände der Ungarn in der Wojwodina wiederum bedeutend verändert. Ihre Zahl hat bedeutend abgenommen, sie sind benachteiligenden Situationen ausgeliefert, die unter den schwierigen wirtschaftlichen und den ständig wechselnden gesellschaftlichen und politischen Umständen in gesteigertem Maße wirken (z. B. Zwangsmobilisierungen, eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Assimilierung), infolgedessen ist die Situation der ungarischen Ethnie in der Wojwodina in den letzten zehn Jahren außerordentlich unsicher.
Einem juristischen Gutachter zufolge wird im Jahre 2002 im III. Jugoslawien der Schutz der Minderheiten von 3 Verfassungen (der Verfassung des Bundesstaates und der beiden Republiken) und von 27 Gesetzen geregelt. Unter diesen befinden sich vor 1992 (in einem anderen System) angenommene Rechtsnormen, auch solche, die zwischen 1992 und 2001 in Kraft getreten sind, doch auch solche, die nach den Veränderungen des Jahres 2001 angenommen wurden8 . Da in diesen Dokumenten häufig auch einander widersprechende Vorschriften enthalten sind, spricht man auch von einem normativen Chaos. Natürlich kann nicht die Analyse aller unternommen werden, doch kann als allgemeine Tendenz festgestellt werden, dass von den neuesten Verfügungen einzelne Thesen der gegen die Minderheiten gerichteten, häufig diskriminierenden Regelung der 90er Jahre gemildert werden. Die praktische Realisierung wird jedoch auch heute von vielen nicht für ausreichend gehalten, der Sprachgebrauch der Minderheiten wird stark durch die noch gültigen älteren Verordnungen beschränkt.
Das Verhältnis der Gesetzgebung des III. Jugoslawiens zu den individuellen und kollektiven Rechten der Minderheiten wird von Varga (1995: p. 12-13) im Vorwort zum Band von Bozóki (1992) so charakterisiert, dass in den Verfassungen vielverheißende Verfügungen enthalten sind (obzwar auch diese von den kollektiven Rechten, von der Autonomie der Minderheiten schweigen), für die Außenwelt ein Empfehlungsschreiben darstellen dadurch, dass in einige Artikel auch einige Feststellungen aus den internationalen Dokumenten übernommen sind, die gesetzlichen Verfügungen jedoch derartige Rechte nur reduziert enthalten, die nationale Ausschließlichkeit widerspiegeln, ganz zu schweigen von jener alltäglichen Praxis, für die Gefühllosigkeit, Missachtung und Ungeduld charakteristisch sind. Seine Meinung, die sich auf die 90er Jahre bezieht, wird gut von nachstehenden Fakten beleuchtet:
1990 wurde in Serbien eine neue Verfassung angenommen9, in der nicht die Idee des Nationalstaates, sondern das Prinzip der bürgerlichen Souveränität fixiert wurde. Das die Gleichberechtigung und die Gleichrangigkeit der Gruppen der Minderheiten sichernde Rechtssystem beruht(e) aber in vielen Beziehungen nicht auf diesem Prinzip, so dass man eher von einer sich als bürgerlicher Staat gebärdenden nationalstaatlichen Rechtsregelung sprechen kann. Mit der Begründung, dass das frühere System die Minderheiten mit überdimensionierten Rechten versehen hatte (was zur Schmälerung der Rechte der Mehrheit führte), sind im III. Jugoslawien in erster Linie Rechtbeschneidungen auf dem Gebiet des Sprachgebrauchs und des Unterrichts vorgenommen worden.
Der Status der im III. Jugoslawien gesprochenen Sprachen, so des Serbischen und des Ungarischen (und der Sprachen, deren Status dem Ungarischen ähnlich ist, in der Wojwodina z. B. des Slowakischen, des Rumänischen und des Ruthenischen) wird von dem im Jahre 1991 vom Serbischen Parlament angenommenen „Gesetz über den amtlichen und den öffentlichen Gebrauch der serbokroatischen Sprache und der Minderheitensprachen”10 festgelegt. Diese Gesetz über die Sprache will die bedingungslose Gültigkeit der serbischen Sprache im amtlichen und öffentlichen Gebrauch, und den Primat der kyrillischen Schrift gegenüber der lateinischen sicherstellen. Der Gebrauch von anderen Nationalitätensprachen, so der ungarischen Sprache als öffentliche, amtliche Sprache wird nur als Ausnahme als allgemeingültig aufgefasst (z. B. in der richterlichen Praxis bei der Verfügung über das Dolmetschen vor Gericht), dies wird in die Kompetenz der Gemeinderäte, der Selbstverwaltungen verwiesen, aber als beschränkte territoriale Variante, als alternative Variante. Doch werden auch in solchen Fällen die Eigennamen, z. B. die Ortsnamen nicht als organische Bestandteile des Ungarischen aufgefasst (als ungarische Entsprechung für den Ortsnamen Senta kann also nicht Zenta stehen), doch wird dem Namen Senta als Transkription Szenta als „ungarische” Form beigeordnet. Zugleich wurde vom Gesetz die für gewisse Arbeitskreise obligatorische Zweisprachigkeit abgeschafft, die Kenntnis der Nationalitätensprachen wird also nicht für erforderlich gehalten.
Im Zusammenhang mit den Unterrichtsgesetzen der 90er Jahre11 werden von Tóth (1994: p. 123) nachstehende Einengungen aufgezählt:
– eine Nationalitätenklasse in der Grundschule darf nur im Falle des ausdrücklichen Wunsches von 15 / mindestens 15 Schülern tätig sein, für weniger Schüler darf ein Klassenzug nur mit einer Sondergenehmigung des Ministeriums eröffnet werden;
– der muttersprachliche Unterricht wird sozusagen mit dem zweisprachigen Unterricht identifiziert;
– die Kenntnis des Ungarischen ist für jene nicht obligatorisch, die in ungarischen Klassenzügen unterrichten (so kann unter Berufung auf Lehrermangel der muttersprachliche Unterricht mit dem Unterricht in der Staatssprache ersetzt werden);
– vom Gesetz wird auf der Mittelstufe die Einführung des zweisprachigen Unterrichts bevorzugt, die Einrichtung von ungarischen Klassenzügen wird von den Schulen von Jahr zu Jahr festgelegt, dadurch wird in den Eltern eine Unsicherheit ausgelöst.12
Auch diese beschränkenden Maßnahmen tragen immer dazu bei (neben den sonstigen, sich aus der Minderheitensituation ergebenden anderen Benachteiligungen), dass sich zwischen dem Status und den Funktionen der Sprachen einer gegebenen heterogenen Gemeinschaft große Unterschiede herausbilden. Dies wird auch von der Situation in der Wojwodina bestätigt. Die von den Gemeinschaften der Sprecher in der Wojwodina gesprochenen Sprachen unterscheiden sich sehr. Die serbische Sprache erfüllt in der Wojwodina nach der in der Soziolinguistik verwendeten Einteilung auf allen drei Ebenen der Sprachverwendung (der familiär-alltäglichen, der öffentlich-fachlichen, der publizistisch-belletristischen) restlos aller ihre Funktionen. Dies gilt für das Ungarische und die anderen Sprachen in einer ähnlichen Rechtsstellung aber nicht, der Bereich ihrer Funktionen ist bedeutend eingeengt, sie leben in der Gesellschaft ein reduziertes Leben. Der ungarische Sprachgebrauch in der Wojwodina ist auf der untersten Ebene, der familiär-alltäglichen, und (zum Teil) auf der obersten Ebene, der publizistisch-belletristischen Ebene aktiv, auf der Ebene des öffentlichen Lebens und des fachlichen Lebens dagegen kaum. Folge der Verarmung der Funktion ist, dass die Staatssprache gewisse Gebiete von der Minderheitensprache übernimmt (z. B. den Wortschatz der Verwaltung, die Fachsprachen), und dies gilt zum Teil auch für das öffentliche Leben (die Verwaltung, das Bildungsleben, das Unterrichtswesen, den Handel und das Gesundheitswesen usw.). Natürlich sind auch in unserem Fall die bekannten soziolinguistischen Gesetzmäßigkeiten bekannt:
– ohne die entsprechenden Lebensbedingungen – und dies bedeutet die vollständige Anwesenheit im Kreise der die Sprache als Muttersprache gebrauchenden Sprecher – verkümmert eine Sprache, und falls sie in die Privatsphäre verdrängt wird, verschwindet sie innerhalb von einigen Generationen.
– Die Verarmung der Funktionen einer nur partiell zur Geltung gelangenden Sprache kann durch nichts (weder durch die Sprachpflege, noch durch den Unterricht in der Muttersprache) vollständig ersetzt werden, den Schwierigkeiten kann man eventuell durch flexible Gesetze Abhilfe schaffen.
Dass der Gebrauch der Muttersprache der Ungarn in der Wojwodina auf gewissen Gebieten des Lebens stark beschränkt ist, und dass diese Gesetzmäßigkeiten ihre Auswirkungen verspüren lassen, wird auch von den Angaben einer 1996 durchgeführten Terrainforschung bewiesen. Den Lehren dieser Untersuchung zufolge (Göncz 1999: p. 123-132) verwenden die Ungarn in der Wojwodina schriftlich und am Arbeitsplatz gleich häufig die ungarische und die serbische Sprache. Obzwar auf allen anderen Schauplätzen des Sprachgebrauchs (in den Privatkontakten, beim Lesen, bei dem Hören und Sehen von Rundfunk- und Fernsehsendungen, auf anderen Gebieten) der Gebrauch der Muttersprache signifikant häufiger ist, verweisen die detaillierteren Analysen innerhalb der einzelnen Kategorien darauf, dass der Gebrauch der Muttersprache auf die Privatkontakte zurückgedrängt wurde, und in solchen offiziellen und formellen Sprachsituationen stark beschränkt ist, die mit der Verwaltung und dem Beruf zusammenhängen. In letzterem Fall dominiert die Mehrheitssprache. So werden z. B. im engeren familiären Umkreis 90% der verbalen Kommunikation in ungarischer Sprache abgewickelt, mit den Freunden und Nachbarn zu 59%, auch in der Privatkorrespondenz wird vor allem das Ungarische verwendet, auch die Belletristik und die Zeitung wird häufiger ungarisch gelesen. Doch in Schreiben im Zusammenhang mit dem Beruf sind nur mehr 41,5%, in Schreiben an Ämter aber nur mehr 33,5% ungarisch geschrieben, ähnlich ist der Anteil auch im Zusammenhang mit dieser Lektüre. In der Kirche wird beinahe ausschließlich das Ungarische verwendet, in den Geschäften, auf der Post und auch beim Arzt ist die Muttersprache im Durchschnitt häufiger als der Gebrauch der Mehrheitssprache (55%), doch auf der Bank, auf dem Gericht, in Ämtern und auf der Polizei dominiert schon die mehrheitssprachliche Kommunikation. Während in den Dörfern 64,3% aller Sprachverwendungen auf das Ungarische entfallen und 26,3% serbisch sind, liegen in der Stadt diese Proportionen bei 45% und bei 43,5%. Von geringeren Abweichungen abgesehen sind diese Proportionen auch im Falle der in anderen Ländern lebenden Sprecher der ungarischen Minderheit im Karpatenbecken ähnlich, mit der Bemerkung, dass in der Wojwodina die Muttersprache im Durchschnitt etwas häufiger verwendet wird. (Dies kann mit vielerlei Gründen, unter anderem auch mit der Siedlungsstruktur zusammenhängen, und bedeutet nicht unbedingt flexiblere Gesetze und im Allgemeinen eine größere sprachliche Toleranz). Diese Situation ist die Ursache dafür, dass den Angaben der erwähnten Forschung zufolge die Ungarn der Wojwodina der Meinung sind, dass sie an ihrem Wohnort nur mit Kenntnissen der Mehrheitssprache relativ leicht, mit Kenntnissen nur des Ungarischen kaum zurecht kommen können. Dies ist aber übrigens auch die Meinung aller ungarischen Sprachgemeinschaften der Minderheiten im Karpatenbecken. Dass der Gebrauch der Minderheitensprache die Alltage vergällen kann, zeigt auch die Angabe, dass 33% der Ungarn in der Wojwodina sagen, dass es ihnen schon passiert ist, dass sie zurechtgewiesen wurden, nicht die Muttersprache zu verwenden (in einer Gesellschaft, am Arbeitsplatz, im Autobus vom Schaffner, oder vom Polizisten), meistens auch mit einem Hinweis, „das hier ist nicht Ungarn, sondern Serbien”. Bei den anderen ungarischen Gemeinschaften im Karpatenbecken lag dieser Anteil bei über 50%.
Der Umstand, dass die in der Situation der Minderheit Lebenden ihre Muttersprache nur beschränkt verwenden können, hat auch andere Auswirkungen. Der wechselnde Gebrauch der beiden Sprachen hat auf individueller Ebene Interferenz-Erscheinungen zur Folge, diese nehmen bald einen Gemeinschaftscharakter an, und werden in das muttersprachliche und in das zweitsprachliche System der Sprecher integriert. Deshalb weichen beide Sprachen der Zweisprachigen bis zu einem gewissen Grade von der Sprache der beiden Sprachen als einsprachige Sprecher Sprechenden ab, und es bilden sich von den zweisprachigen Normen gesteuerte Kontaktvarianten heraus. So ist für die Muttersprache der Ungarn in der Wojwodina einerseits charakteristisch, dass sie eine Kontaktvariante ist, also bilden sich wegen des ständig vorhandenen Kontakts mit der Mehrheitssprache gewisse Spezifika heraus. Z. B. ist für alle ungarische Kontaktvarianten der Minderheiten im Karpatenbecken die Bevorzugung der analytischen Konstruktionen typisch, die Feminisierung und der ausdrucksvollere Gebrauch der Diminutivformen im Vergleich zum Sprachgebrauch der Ungarn in Ungarn. Andererseits kommen auch andere typische Besonderheiten vor: die Sprache hat eher einen mundartlicheren Charakter, da die Sprecher weniger Möglichkeiten zur Aneignung und zum Gebrauch der Standardsprache haben, und auch der sprachliche Konservativismus kommt vor: es werden Archaismen bewahrt und die Neologismen kommen seltener vor. Parallel hierzu sind auch gewisse Erscheinungen der spontanen Sonderentwicklungen zu beobachten, d. h. Ausdrücke, die wegen der abweichenden gesellschaftlichen Verhältnisse nur für die Kontaktvariante der Minderheit charakteristisch sind. Wegen der Beschränktheit des Sprachgebrauchs und wegen der geringeren Möglichkeit zum Üben wird der Sprachgebrauch der Minderheitensprecher unsicher, in erster Linie in den amtssprachlichen und fachsprachlichen Registern (Versprecher, zögernde Anwendung, falsche Wort- und Strukturwahl, Kontaminierungen von Strukturen sind charakteristisch). (Lanstyák – Szabómihály 1997: p. 5–6)
Die Beurteilung dessen, in welchem Maße sich die Gesetzgebung des III. Jugoslawiens an die internationalen Dokumente des Minderheitenschutzes und an die Normen des OSZE und des Europarates hält, die den europäischen Schutz der Minderheitenrechte betreiben, ist eine außerordentlich zusammengesetzte Frage. In den 90er Jahren nahm das Land wegen seiner internationalen Isoliertheit nicht an den neuesten internationalen und europäischen Bestrebungen zum Schutz der Minderheiten teil, so schloss es sich z. B. nicht an die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen an. Demgegenüber unterzeichnete es im Jahre 2001 das Rahmenabkommen über den Schutz der nationalen Minderheiten, weil es Mitglied des Europarates sein will.
In Bezug auf die internen Rechte haben die neueren großen politischen Veränderungen, die sich im Jahre 2001 zugetragen haben, günstigere Umstände sowohl für den Sprachgebrauch13, als auch auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes14, diese lassen aber im wirklichen Leben die Auswirkungen noch nicht verspüren. Die Möglichkeit aber ist gegeben, dass sich die Minderheitenpolitik des Landes in der Zukunft konsequenter nach den auf den internationalen Foren angenommenen Leitprinzipien und Anforderungen richtet. So richtet sich z. B. das im Jahre 2002 verabschiedete Gesetz über den Minderheitenschutz, obzwar es noch Mängel hat15, auch in Bezug auf den Sprachgebrauch und die Fragen der Unterrichtsfragen schon besser nach den europäischen Normen. Da die juristische Regelung dieser Fragen auf die Wojwodina übertragen wurde, sind in der nahen Zukunft neuere, flexible, für die Minderheiten günstigere Maßnahmen zu erwarten, die zum Teil die schwierige (sprachliche) Situation der ungarischen Minderheit in der Wojwodina ausgleichen können.
4. Abschließende Gedanken
Abschließend kann festgestellt werden, dass im vergangenen Jahrzehnt für die Sprachgesetze und sonstigen juristischen Dokumente, die den Sprachgebrauch und den Minderheitenschutz der Ungarn in der Wojwodina regelten, sowie für die aufgrund dieser entstandene Praxis zahlreiche linguizistische und ethnizistische Elemente bezeichnend waren, und in ihrem Lebensraum die Merkmale der subtraktiven Zweisprachigkeitssituation im Übergewicht waren. Obzwar sich hiervon erst einige wenige Merkmale abzeichnen, sind in den vergangenen anderthalb Jahren die Möglichkeiten gegeben, dass an die Stelle dieser auf zahlreichen Gebieten die für die additive Zweisprachigkeit typischen Besonderheiten treten, und so die überhaupt nicht als leicht zu bezeichnende Situation etwas verbessern.
Anmerkungen
1
Die Minderheit ist nach der Definition von Capotorti (1979) eine in einer nicht dominanten Position befindliche, zahlenmäßig untergeordnete Gruppe im Verhältnis zum anderen Teil der Bevölkerung des Staates, deren Angehörige, da sie Staatsangehörige dieses Staates sind, über von dem anderen Teil der Bevölkerung abweichende ethnische, konfessionelle oder sprachliche Besonderheiten verfügen und – wenn auch nur stillschweigend – einen Geist der Zusammengehörigkeit aufweisen, der auf die Bewahrung ihrer Kultur, ihrer Konfession oder ihrer Sprache abzielt. Für das Ungartum in der Wojwodina ist vorstehende Definition auch dann gültig, wenn wir ihre Zugehörigkeit zu der Gruppe nicht aufgrund von objektiven Indizes bestimmen, sondern als Frage des Sich-Bekennens (also als ein subjektives Kriterium) verstehen, weil es eng mit ihrer eigenen Minderheit verbunden ist (Göncz, 2000: p. 85).
2
Zu den sprachlichen Rechten gehört das Recht der Aneignung und des Gebrauchs der Muttersprache, das Recht der Aneignung der Amtssprache des Staates, das Recht der freien Wahl und des Lernens der Fremdsprachen, das Recht der Bekämpfung der Kommunikationsnachteile, das Recht, dass jeder sich mit jedweder Sprache identifizieren kann und in dieser unterrichtet werden kann, all das hängt mit der Redefreiheit, mit der Gleichheit vor dem Gesetz, mit dem Recht der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, mit dem Recht auf Unterricht, dem Recht des Gebrauchs des Personennamens, dem Recht des Kindes, der Religionsfreiheit, mit dem Recht des freien Verkehrs und der Wahl des Aufenthaltsortes zusammen (Szépe 2000b: p. 120–121).
3
Diese Unterscheidung wurde von kanadischen Sozialpsychologen eingeführt (Lambert 1972 ; 1975 ; 1977), und hat sich als ein außerordentlich produktives erläuterndes Prinzip erwiesen, als die einander häufig widersprechenden Ergebnisse der empirischen Untersuchungen über die möglichen Auswirkungen der Zweisprachigkeitssituationen der verschiedenen Typen gedeutet werden mussten.
4
Die Angaben der Volkszählung von 1991 haben sich infolge der großen politischen Veränderungen und der kriegerischen Ereignisse der folgenden Jahre (Auswanderung, Ansiedlung von Flüchtlingen, usw.) wahrscheinlich bedeutend verändert, hierüber stehen aber keine zuverlässige Quellen zur Verfügung, da die Ergebnisse der neuesten Volkszählung noch nicht veröffentlicht wurden. Deshalb müssen die Angaben von 1991 mit gewissen Vorbehalten behandelt werden, wenn wir sie auf den heutigen Zustand (des Jahres 2002) projizieren und so behandeln.
5
Gemeinde oder Kommune ist eine mit gesellschaftlich-verwaltungsmäßigen Selbstverwaltungsrechten bekleidete territoriale Einheit, gebildet von der Stadt oder dem größeren Dorf, nach der/dem sie den Namen erhält, und den im Umland liegenden und angegliederten/eingemeindeten Siedlungen.
6
Im Vertrag von Saint Germain-en-Laye.
7
Z. B. die vollständige politische Rechtlosigkeit zwischen 1919–1922; Aufteilung von Land nur an Siedler; Entlassung der Beamten, Staatsangestellten; eine diskriminierende Steuerpolitik; Abbau des ungarischen Schulnetzes (Domokos 1992: p. 55–57). Im Jahre 1929 wurde die Wojwodina zum Donau-Banat, zu einer der neun neuen Verwaltungseinheiten geschlagen, in der der Anteil der ungarischen Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sehr abnahm. Nach dem Machtwechsel wurde auch der Einfluss der Kirchen der Ungarn geschwächt: den Kirchen wurde der Grundbesitz weggenommen, es gab keine Möglichkeit zur Ausbildung von Theologen, die konfessionellen Schulen wurden abgeschafft.
8
Mit dem Ende der Ära Milošević.
9
Die Verfassung der Republik Serbien [Službeni glasnik Republike Srbije, 1/90].
10
Gesetz über den offiziellen Sprach- und Schriftgebrauch [Zakon o službenoj upotrebi jezika i pisma, Službeni glasnik Republike Srbije, 1991/45, 1802).
11
Das Gesetz über die Grundschule (Zakon o osnovnoj školi, Službeni glasnik Republike Srbije, 1992/50, p. 1726), Das Gesetz über die Mittelschule (Zakon o srednjoj školi, Službeni glasnik Republike Srbije, 1992/50, p. 1716).
12
Analysieren wir das ungarische Unterrichtssystem der Wojwodina des III. Jugoslawiens mit Hilfe der für die heterogenen Gemeinschaften ausgearbeiteten Unterrichtstypologien (u. a. Skutnabb-Kangas, 1984), kann festgestellt werden, dass dies sich nicht ausreichend genug auf die Ergebnisse der Zweisprachigkeitsforschungen stützt, und dass es zahlreiche Lösungen gibt, die nicht im Interesse der Minderheitenschüler sind. So sind z. B. in den Grundschulen 20% der Schüler, auf der Ebene der Mittelschule 35–40% der Schüler den sprachlichen „Erstickungsversuchen” ausgesetzt (die Muttersprache lernen sie nicht einmal als Unterrichtsfach), die Zahl der transitiven Unterrichtsprogramme nimmt zu (viele Fächer werden sogar im ungarischen Klassenzug serbisch unterrichtet), in den Lehrplänen der humanistischen Fächer fehlen die kulturellen Elemente mit ungarischen Bezügen, ein Großteil der Lehrbücher sind Übersetzung aus dem Serbischen in schlechter Qualität.
13
Beschluss über die mehrsprachigen Musterformulare der Auszüge aus den Büchern des Standesamtes und die Art und Weise der Eintragungen. Amtsblatt des Autonomen Gebietes Wojwodina, 2001/1.
Beschluss über die zur Aufnahme an die Hochschulen und Universitäten berechtigenden Qualifikations-, Aufnahme- bzw. Befähigungsprüfungen in der Sprache der Minderheiten (Odluka o polaganju klasifikavionog ispita, prijemnog ispita, odnosno ispita za proveru sklonosti i sposobnosti za upis ma višu školu a fakultet na jezicima narodnosti, Službeni list APV, 2001/1).
14
Gesetz über den Schutz der Rechte und der Freiheitsrechte der nationalen Minderheiten (Zakon o zaštiti prava i sloboda nacionalnih manjina, Službeni list SRJ, 2002/11).
15
Das Gesetz enthält z. B. keine Sanktionen und koppelt die Berechtigungen, die als subjektive Rechte zustehen, an solche Bedingungen (die Loyalität), die der Verfassung nach sowie so von allein gültig sind. So wird eine Betrachtungsweise widerspiegelt, dass der Staat und die Mehrheit die Minderheitenrechte dann verleiht, wenn die Minderheit keinen Missbrauch mit diesen treibt.
Literatur
Biacsi, Antal (1994) : Kis délvidéki demográfia [Kleine Demographie des südlichen Ungarns]. In: Életjel könyvek 57 [Lebenszeichenbücher Nr. 57]. Subotica [Szabadka]: Magyarságkutató Tudományos Társaság [Wissenschaftliche Gesellschaft der Erforschung des Ungartums].
Bozóki, Antal (1995) : Kisebbségi jogok. Dokumentumok és jogrendszer [Minderheitenrechte. Dokumente und Rechtssystem]. Novi Sad [Újvidék]: Forum-Dolgozók Kft. (GmbH).
Capotorti, Francesco (1979) : Study of the rights of the persons belonging to ethnic, religious and linguistic minorities. New York : United Nations.
Domonkos, László (1992) : Magyarok a Délvidéken [Ungarn im südlichen Ungarn]. Zrínyi Verlag: Budapest.
Göncz, Lajos: A research study of the relation between early bilingualism and cognitive development. In: Psychologische Beiträge, I-2: p. 75-91.
Göncz, Lajos (1999) : A magyar nyelv Jugoszláviában (Vajdaságban) [Die ungarische Sprache in Jugoslawien (in der Wojwodina)]. Budapest – Novi Sad [Újvidék]: Osiris Verlag–Forum Buchverlag – Werkstatt zur Erforschung der Minderheiten Ungarische Akademie der Wissenschaften [MTA Kisebbségkutató Műhely].
Göncz, Lajos (2000) : A vajdasági magyarság területi és nemzeti kötődése [Die territoriale und nationale Bindung des Ungartums in der Wojwodina]. In: Borbély Anna (red.): Nyelvek és kultúrák érintkezése a Kárpát-medencében [Berührung von Sprachen und Kulturen im Karpatenbecken]. Budapest: Sprachwissenschaftliches Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften [MTA Nyelvtudományi Intézete].
Göncz, Lajos–Kodžopeljić Jasmina (1991: Exposure to two languages in the preschool period, metalinguistic development and the acquisition of reading. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development, p. 65-81.
Lambert, Wallace E. (1972) : Language, Psychology and Culture. Stanford, California: Stanford University Press.
Lambert, Wallace E. (1975) : Culture and language as factors in learning and education. In: Wolfgang, A. (ed.): Education of immigrant students. Toronto: OISE.
Lambert, Wallace E. (1977) : The effects of bilingualism on individual: cognitive and sociocultural consequences. In: Hornby, P. A. (ed.): Bilingualism: psychological, social, and educational implication. New York: Academic Press, p. 15-28.
Peal, Elizabeth–Lambert, Wallace E. (1962) : Relation of bilingualism to intelligence. In: Psychological Monographs 76: p. 1-23.
Skutnabb-Kangas, Tove (1984) : Bilingualism or not–The education of Minorities. Clevedon: Multilingual Matters p. 7.
Skutnabb-Kangas, Tove (1990) : Language, Literacy and Minorities. London: Minority Rights Group.
Szépe, György (2000a) : Az anyanyelvhasználat mint emberi jog [Der Gebrauch der Muttersprache als Menschenrecht]. In: Csernusné Ortutay, Katalin – Forintos, Éva (red.): Nyelvi jogok [Sprachliche Rechte]. Veszprém: Veszprémi Egyetemi Kiadó [Verlag der Universität Veszprém], p. 132-150.
Szépe, György (2000b) : A nyelvi jogokról a nyelvész szemével [Über die sprachlichen Rechte mit dem Auge des Liguisten]. In: Csernusné Ortutay, Katalin – Forintos, Éva (red.): Nyelvi jogok [Sprachliche Rechte]. Veszprém: Veszprémi Egyetemi Kiadó [Verlag der Universität Veszprém], p. 118-131.
Tóth, Lajos (1994) : Magyar nyelvű oktatás a Vajdaságban 1944-től napjainkig [Ungarischsprachiger Unterricht in der Wojwodina von 1944 bis zur Gegenwart]. Életjel könyvek 56 [Lebenszeichenbücher Nr. 56]. Subotica [Szabadka]: Volkshochschule [Szabadegyetem].
Varga, László (1995) : Előszó [Vorwort]. In: Bozóki, Antal: Kisebbségi jogok. Dokumentumok és jogrendszer [Minderheitenrechte. Dokumente und Rechtssystem]. Novi Sad [Újvidék]: Forum–Dolgozók Kft. (GmbH).
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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 217–221.
FERENC GLATZ
Die „kleinen Nationen” und die „kleinen Sprachen” in Mittelosteuropa
Vorwort
Eine der großen Fragen unseres Zeitalters ist die, ob neben den sich zu politischen und kulturellen Weltmächten auswachsenden Kulturen der großen Sprachen die Nationalkulturen der kleinen Sprachen als lebensfähige kulturelle Gemeinschaften erhalten bleiben können. Werden die kleinen nationalen Gemeinschaften nicht ihre Kultur in der eigenen Muttersprache verlieren? Besonders uns Völker in Mittelosteuropa beschäftigt diese Frage, wo ungefähr ein Dutzend kleine Kulturen auf einem relativ kleinen Gebiet nebeneinander leben. Was für ein Schicksal werden die unterschiedlichen slawischen Kulturen, die rumänische und die ungarische Kultur sowie die anderen Kulturen haben? Werden die kleinen Nationalkulturen von der Produktions- und Handelsglobalisierung, von der damit verbundenen Wanderung der Arbeitskräfte, von der Verbreitung der Kulturen in den großen Sprachen, vom Fernsehen, vom Rundfunk und vom Reisen beseitigt? Welche Sprachen werden die Menschen des folgenden Jahrhunderts gebrauchen?
Eine Detailfrage in den Zukunftsanalysen in Bezug auf die kleinen Nationalkulturen ist folgende: was wird mit der Kultur der kleinen nationalen Gemeinschaften werden, die innerhalb eines Staates heute als nationale Minderheit leben? Auch dies ist eine ziemlich spezifische Frage in Ostmitteleuropa, decken sich doch, wie es allgemein bekannt ist, in diesem Raum die Grenzen der Staatsgebiete und der nationalen Siedlungsgebiete nicht. Beinahe in allen Ländern leben nationale Minderheiten, obzwar die entnationalisierenden Aktionen des 20. Jahrhunderts – sowohl zur Zeit der demokratischen, als auch der diktatorischen politischen Systeme – die als nationale Minderheiten lebenden Menschen des Gebrauchs ihrer ursprünglichen Sprache, ja sogar ihrer Bräuche beraubt haben. Ganz zu schweigen von dem auf ethnischer Grundlage erfolgten Blutvergießen.
Als die Ungarische Akademie der Wissenschaften sich der Aufgabe unterzogen hatte, dass ihre Wissenschaftler die gesellschaftlichen und weltpolitischen Alternativen der vor uns liegenden Jahrzehnte umreißen sollen, hatten wir natürlich auch die Erörterung der Frage der mittelosteuropäischen Minderheiten unter unsere Forschungsthemen aufgenommen. Und als im Jahre 1990 das Europa Institut Budapest gegründet wurde, nahmen wir als große europäische Frage dieses Raumes unter die Zielsetzungen des Instituts die Themen der kleinen mittelosteuropäischen Nationen auf. Im vergangenen Jahr wurden dann dem Europa Institut Budapest auch finanzielle Fördermittel zur Behandlung des Themas gewährt. In Zusammenarbeit mit den Strategischen Programmen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, mit dem Institut für Minderheitenforschungen und mit dem Germanistischen Institut will das Europa Institut Budapest auf einer Reihe von Konferenzen und im Rahmen von Publikationen und von Abhandlungen die Situation der mittelosteuropäischen Minderheiten untersuchen. Und es will die Alternativen erforschen, welche Möglichkeiten sich zum Erhalten der Kulturen der Minderheiten ergeben.
Gestatten Sie mir, in meinem Referat einige praktisch scheinende Thesen vorauszuschicken.
• Erste These: Von der Europäischen Union können wir einstweilen nur wenig Unterstützung auf dem Gebiet der Förderung der Minderheitenkulturen innerhalb der Staaten auf der Ebene der Gemeinschaft erwarten. Dennoch muss alles unternommen werden, damit es die Politikmacher akzeptieren: es ist Bestandteil der gesellschaftlichen Demokratie und der Menschenrechte, dass die Minderheitenkulturen bestehen bleiben können.
Erläuterung: Auch in den großen Staaten Westeuropas, vor allem in Frankreich, Großbritannien und in Spanien, wurden vor anderthalb Jahrzehnten in den ethnisch-sprachlichen Minderheiten nur destabilisierende Faktoren erblickt. Die einseitige staatsbürgerliche Identität, die eine der mehrdeutigen Errungenschaften der großartigen Französischen Revolution war, hatte die kollektive Repräsentanz der von der Staatsangehörigkeit unabhängigen sonstigen Identitäten nicht akzeptiert. Es sei hinzugefügt: deshalb wurden für mich so ideale klassische liberale Politiker sowohl mit dem sozialen Kollektivismus, als auch mit dem nationalen Kollektivismus konfrontiert. Die Situation wandelt sich nur langsam, zur Zeit der Entstehung der Europäischen Union (1992) wurden die ersten Empfehlungen des Minderheitenschutzes angenommen, deren Reihe dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahren langsam erweitert wurde.
• Zweite These: Eine der ungeklärten Bedingungen für die Osterweiterung der Europäischen Union: die Fixierung der kollektiven Rechte der innerhalb der einzelnen Staaten lebenden nationalen Minderheiten.
Erläuterung: Von den westeuropäischen Politikern werden in den mittelosteuropäischen nationalen (und religiösen) Minderheitenkonflikten politisch und gesellschaftlich destabilisierende Faktoren erblickt. Sie kennen die neuzeitliche Entwicklung dieses Raumes nicht ausreichend, sie wissen nicht, dass in diesem Raum neben der staatsbürgerlichen Identität die nationale Brauchtumsidentität der Menschen sich mehr erhalten hat als in Westeuropa. Von den hiesigen Reichen, in der Zeit als feudalistisch bezeichnet, vom Habsburgerreich und vom Türkischen Reich, wurde auf paradoxe Weise auf dem Territorium des Staates die nationale und religiöse Vielfalt in einem höheren Maße zugelassen als von den liberalen Demokratien in Westeuropa.
Deshalb muss es den westeuropäischen Kollegen erklärt werden, dass sie mit der mittelosteuropäischen ethnischen Vielfalt als Gegebenheit umzugehen haben. Sie müssen zur Kenntnis nehmen: die westeuropäischen gemeinschaftlichen Normativen können nicht in unveränderter Form in Mittelosteuropa angewendet werden.
• Dritte These: Die Kulturen sind gleichwertig, alle stehen unseren Göttern gleich nahe. Die Regelung der Rechte der nationalen Minderheiten dieses Raumes kann nur auf einheitlicher Grundlage vorgenommen werden. Auch der ungarische Staat muss zur Kenntnis nehmen: man kann die juristische Stellung der in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn nicht regeln, ohne dass die Stellung der nicht-ungarischen Völker in Ungarn geregelt würde.
Erläuterung: In diesem Raum wurden mit der Entstehung der Nationalstaaten nach 1920 die vor 1918 entstandenen nationalen Gegengefühle und nationalen Interessengegensätze auf eine institutionelle Ebene angehoben. Nach 1945, zur Zeit der sowjetischen Besetzung, wurden die Widersprüche unter den Teppich gekehrt. So auch die Probleme der nationalen Minderheiten innerhalb des Staates.
Nach 1990, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems, wurde von allen Nationen der Welt mitgeteilt: sie wollen ihre nationalen Brüder, die in den Nachbarstaaten in der Minderheit leben, verteidigen. Und inzwischen vergaßen sie die auf dem Territorium ihres eigenen Staates lebenden nationalen Minderheiten.
Auch die heutige ungarische Minderheitenpolitik verfällt in diesen Fehler: in der Erbitterung wegen des Minderheitenschicksals der jenseits der Grenzen lebenden Ungarn vergisst sie ihre Pflicht, bei den in Ungarn lebenden deutschen, rumänischen, kroatischen, slowakischen, serbischen Minderheiten, ja sogar bei der Roma-Minderheit oder dem sich auf unterschiedlicher Grundlage, doch nicht als „Minderheit” identifizierenden Judentum, die menschlichen Rechte zu achten und für das Fortleben ihrer Kultur zu sorgen.
• Vierte These: Die Minderheitenfrage ist keine „innere”, sondern eine regionale Angelegenheit. In Bezug auf die nationalen Minderheiten haben sich die mittelosteuropäischen Staaten in Bezug auf einen Verhaltenskodex miteinander zu einigen.
Erläuterung: In der Denkweise der in diesem Raum in der Politik gegenwärtig eine Rolle spielenden Generation lebt immer noch die politische Innervation des sowjetischen Systems fort: jeder soll vor seiner eigenen Tür kehren. Vor kurzer Zeit hatte ich dem slowakischen Unterrichtsminister angeboten, die Slowakei solle den ungarländischen Slowaken slowakische staatliche Fördermittel zur Bewahrung ihrer Identität gewähren. Auch ich habe es angeboten: von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sollen Stipendien, Ressourcen zur Sicherung der Selbstidentität des dortigen Ungartums in die Slowakei vergeben werden. Die Antwort war eine starre Ablehnung. Der Minister antwortete: Alle Rechte der slowakischen Ungarn sind gesichert, dies ist die innere Angelegenheit des slowakischen Staates, das Schicksal der ungarländischen Slowaken ist die innere Angelegenheit Ungarns, die Slowakei interessiert die Frage nur auf dem Niveau, ob der ungarische Staat den internationalen Konventionen nachkommt oder nicht. Ich muss aber sagen: auch den kroatischen Unterrichtsminister musste ich darum ersuchen, er möge kroatische Ressourcen und Bücher nach Ungarn bringen, damit die Kultur der ungarländischen Kroaten bewahrt wird. Der Minister ist ein kluger, gebildeter und demokratische Mann, er erwiderte: Kroatien freut sich, wenn die Kultur der Ungarn in Kroatien vom ungarischen Staat gefördert wird, Kroatien habe aber keine Mittel, um den Kroaten in Ungarn helfen zu können.
In der Europäischen Union muss hierüber aber anders gedacht werden.
• Fünfte These: Der Staat hat eine Minderheitenintelligenz auszubilden und am Leben zu erhalten. Dazu reicht es nicht aus, nur die Minderheitenverbände zu finanzieren. Zur Erhaltung der Minderheitenkultur müssen vom Staat Institutionen gegründet und Stellen geschaffen werden: Stellen an Universitäten, bei Verlagen und Redaktionen, als Wissenschaftler, als Redakteure und Reporter beim Fernsehen und Rundfunk, als Übersetzer. Wenn kein persönliches Interesse besteht zur Betreibung der Minderheitenkultur, dann werden in unseren Staaten die nationalen Minderheiten aussterben.
Erläuterung: Ein bedeutender Teil der in der Minderheit lebenden Menschen gehört zur sozialen Schicht der physischen Werktätigen oder niedrigen Beamten. Es ist das Interesse aller mittelosteuropäischer Gesellschaften, die Grenzen der Staaten dieses Raumes durchgängig zu machen. Einen Unterhalt sichert der Austausch der materiellen und kulturellen Güter: Slowaken, Deutsche, Rumänen und Südslawen können Tagewerker des Vermittlerhandels, der regionalen Kooperationen sein. Und diese Mittlerrolle wird weder englisch noch deutsch abgewickelt werden. Es ist das Interesse aller Nationen dieses Raumes, dass hier eine multikulturelle Intelligenz besteht.
Wir sind also bei der Harmonie von Vernunft, Gefühlen und Interessen angelangt. Diese soll unser Denken durchdringen! Jene Institutionen, an deren Spitze ich mit entscheiden kann, was die Verwendung der Ressourcen anbelangt, werden immer für die Interessen der Entwicklung dieser menschlichen Werte kämpfen.
Begegnungen21_Glatza
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 7–9.
FERENC GLATZ
Europa der Muttersprachen
Thesen über die Muttersprache, ihre Pflege, ihre Forschung und ihre Modernisierung
Über das Europa der Zukunft
Wir wollen in einem Europa, in einem 21. Jahrhundert leben, in dem sowohl die großen als auch die kleinen nationalsprachlichen Kulturen ihren Platz haben. Unserer Meinung nach ist die Zukunft Europas die sprachliche, brauchmäßige Vielfalt und die darauf basierende bürgerliche Toleranz.
Über die doppelte Funktion der Muttersprache
Die Muttersprache ist das allgemeinste Instrument der gesellschaftlichen Berührung. Sie ist der Spiegel der gesellschaftlichen, der technisch-kulturellen Entwicklung und ist als solcher auf ständige Modernisierung und Instandhaltung angewiesen. Zur gleichen Zeit ist die Muttersprache die Bewahrerin der nationalen und brauchmäßigen Traditionen, Garantin des nationalen Identitätsbewusstseins. Als solche ist sie ständig auf Pflege angewiesen. Die Berührung in der Muttersprache wird auch im Europa der Zukunft akzeptiert werden. Diese ist die Sprache des Unterrichts, der Gesetze, der Belletristik und das allgemeine Instrument der lokalen menschlich-gesellschaftlichen Berührung.
Über die Herausforderungen der Zeit der Informatik
In unserer Epoche werden die Kenntnisse und das Fachwissen aufgewertet. Voraussetzung für den freien Fluss der Kenntnisse – für ihren Erwerb und ihre Weitergabe – ist die Präzision der Mitteilung und des Verständnisses. Von unserer Zeit werden neue Anforderungen an die Kultur der Berührung gestellt.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Bürgers
Die Modernisierung der Muttersprache und die Festigung der sprachlichen Bildung sind Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit des Bürgers in der Weltwirtschaft und in der allgemeinen Kultur der Zukunft. Die Angehörigen der kleinen sprachlichen Kulturen können leicht in eine benachteiligte Situation gegenüber den in große sprachliche Kulturen hineingeborenen Individuen und Gemeinschaften gelangen. Deshalb muss alles unternommen werden, damit die Angehörigen der kleinen sprachlichen Kulturen in allen Berufen, auf allen Gebieten des alltäglichen Lebens im Besitz von modernen muttersprachlichen Berührungsmitteln sind. Die Frage der Bewahrung und Modernisierung der muttersprachlichen Kultur ist also auch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Frage.
Über die Aufgaben des Staates
Die Mehrheit der großen sprachlichen Kulturen hat den Zwang der Modernisierung erkannt. Riesige Privatkapitale setzen sich im Interesse der Anhebung der die Sprache tragenden Techniken auf das Weltniveau in Bewegung. Das Modernisierungsprogramm der kleinen Sprachen kann nie auf wirtschaftlicher Grundlage erfolgen: es ist keine sich rentierende Investition. Deshalb muss man sich hier auf die eingezahlten Steuern der Bürger stützen. Aufgabe des Staates ist es, mit den Ressourcen des Budgets die sprachliche Kultur seiner Bürger zu bewahren, das Niveau anzuheben, im Falle der sowohl zur Mehrheitskultur des Staates als auch zur Minderheitenkultur des Staates gehörenden Gemeinschaften.
Programm zur Modernisierung der Muttersprache
Zur Pflege und Modernisierung der Kultur der ungarischen Muttersprache ist ein umfassendes Programm auszuarbeiten. Dies hat das technische Leben, die Verwaltung, die Belletristik, die Wissenschaft, also die gesamte gesprochene Sprache zu umfassen. Dieses Programm hat dem Muttersprachenunterricht, den Foren der allgemeinen und fachlichen Wissensvermittlung, dem Rundfunk und dem Fernsehen sowie der Presse eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Ungarische Akademie der Wissenschaften hat sich mit der Ausarbeitung dieses Programms zu befassen.
Programm zur Sprachpflege
Von der Regierung bzw. vom Parlament soll eine öffentliche Stiftung ins Leben gerufen werden, die die Traditionen der nationalsprachlichen Kultur zusammenfassenden und diese am Leben erhaltenden oder modernisierenden Handbücher besonders fördert sowohl in den Printmedien als auch in den elektronischen Medien, dies gilt auch für die die Traditionen bewahrenden zivilen Initiativen.
Über die wissenschaftliche Forschung
Die aus öffentlichen Geldern unterhaltenen wissenschaftlichen Werkstätten – Institute, Lehrstühle – sollen sich besonders intensiv mit dem Studium der Sprache, der Traditionen der ungarischen Sprache und der im ungarischen Staat lebenden Minderheitennationen, mit ihrer Modernisierung beschäftigen.
Unterricht der Fremdsprachen
Eine größere Aufmerksamkeit ist dem Unterricht, dem Lernen der Fremdsprachen zuzuwenden! Es ist das elementare Interesse der kleinen sprachlichen Kulturen, dass sie sich in das intellektuelle, materielle und kulturelle Leben der Welt einschalten. Im nächsten Jahrhundert wird die Kenntnis der großen Mittlersprachen (Englisch, Spanisch, Russisch, Deutsch, Französisch usw.) Bedingung für das individuelle Weiterkommen, die Ausbildung, für die Entwicklung der Produktion sein. Auch deshalb muss der Staat erhöhte Budgetressourcen für die sprachliche Ausbildung innerhalb und außerhalb der Schule aufwenden.
Über die sprachlichen Kulturen der Mehrheits- und der Minderheitensprachen
In unserem Raum sind die Staatsgrenzen und die Grenzen der nationalen Siedlungsgebiete nie zusammengefallen. Sie werden es auch in der Zukunft nicht. Deshalb müssen die hier existierenden Staaten einsehen, dass die Pflege aller auf ihrem Territorium lebenden sprachlichen Kulturen das Interesse der Gesamtheit der Staatsbürger und der ganzen Region ist. Die auf einem guten Niveau ausgebildeten Bürger sind wettbewerbsfähige Werktätige und bilden zugleich eine gebildete, menschen- und umweltfreundliche Gemeinschaft. Die Staaten garantieren in internationalen Verträgen die umfassende muttersprachliche Bildung der nationalen Minderheiten. Die Staaten sollen gemeinsam an der Entwicklung der muttersprachlichen Kulturen teilnehmen. Die Intellektuellen des Raumes sollen Bewegungen initiieren, damit in ihren Staaten die Pflege und Modernisierung der muttersprachlichen Kultur jeder Muttersprache fester wird.