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Minderheiten/Programmschrift 2009

FERENC GLATZ

Minderheitenpolitik und Europa

Bilanz, Lagebericht, Möglichkeiten und Aufgaben

Konferenzmaterialien

 

„Jederzeit, überall und über alle Themen. Und wenn es sein muss, sofort.” Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns am 8. Juli 2008: die Vorsitzenden der drei großen ungarischen Parteien jenseits der Grenzen und der ehemalige Präsident der UAW. Die Parteivorsitzenden sind erfahrene Politiker, ehemalige Minister und stellvertretende Ministerpräsident, und ihr ungarischer Gastgeber ist Präsident des Komitees für Strategische Forschungen der UAW und des Kuratoriums für die Wissenschaftlichkeit der Über den Grenzen Lebenden Ungarn. Alle vier verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie leisten Tag täglich Robot – in der Politik, in ihren Schriften, in der Forschung und im öffentlichen Leben – im Interesse der Förderung der Erhaltung der nationalen-religiösen-gebräuchlichen Vielfalt im Karpatenbecken. Und vor allem im Interesse des Ungartums. Ein kurzer, halbtägiger Meinungsaustausch. Es sollen die Themen, die während des Jahres bei den Treffen an den offiziellen Foren angesprochen wurden – oder unter vier Augen –, zusammengefasst werden. Weil Menschen, die inmitten von Formalitäten leben, unbedingt „Raum für sich” benötigen. Wo sie selber ihre Gedankengänge erörtern können ohne der bürokratisierten, offiziellen Vorbereitungsprozedur ausgesetzt zu sein, und zugleich die freundschaftlichen Meinungen und Bemerkungen anh9ren können. Ohne Publizität, nur vor einem engen „akademischen” Publikum. (Wo unter den eingeladenen Gästen die ungarischen EU-Parlamentsabgeordneten Kinga Gál, István Szent-Iványi, Csaba Tabajdi anwesend sind – wie sie seit vielen Jahren an unseren Konferenzen und Diskussionen teilnehmen.) Eine zufällige Auswahl. Im Jahre 2008 waren die Initiatoren des Treffens Pál Csáky und Ferenc Glatz, und in 2009 István Pásztor und Ferenc Glatz. Das aktuelle Thema im Jahre 2008 war die Besprechung der ersten Erfahrungen der europäischen Pläne für die Jahre 2007–2013. Ab 2007 – nach dem EU-Beitritt Rumäniens – leben nunmehr 95% des Ungarntums im Karpatenbecken innerhalb der Union. In wieweit wird diese Tatsache zum Überdenken der Minderheitenpolitik anregen? Und wie können die gesamtungarischen Aspekte in der Region bei der langfristigen – strategischen – Planung (des Verkehrswesens, der Wasserbewirtschaftung, der Regionalorganisation und der Arbeitsorganisation des Karpatenbeckens) zur Geltung gebracht werden? Dazu kommen natürlich noch die Gesprächsthemen, die unter den Präsidenten im Voraus aufgekommen sind. So kommt es nach dem Treffen zur Unterzeichnung einer Erklärung. Im Burgviertel von Buda. Im Gebäudekomplex der Akademie. (Wobei die für die Beratung vorbereiteten Texte sowie das redigierte Protokoll der Diskussion auch veröffentlicht wird.)

Jetzt soll die Bilanz von 20 Jahren das Thema sein – sagten wir im Sommer 2009. Die zwanzigste Jahreswende von 1989 macht die Bilanz der Ergebnisse der politischen Wenden überall aktuell. Und auch die Enttäuschungen müssen diskutiert werden. Die Wahrnehmung ist notwendig: Wenn auch nicht aus einem anderen Grund als, dass die Umstrukturierung der Welt es unvermeidlich macht. (Dabei stellt die Finanz-Wirtschaftskrise nur einen Faktor dar.) Denn alle fühlen es: Europa wird infolge der Umstrukturierung anders sein, als es in der Zeit unseres „Beitrittes”, also nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war. Womit haben wir 1990, in den Jahren der politischen Wenden gerechnet, und womit müssen wir heute, oder morgen rechnen? Was haben wir von Europa – trotz unserer Erwartungen – nicht bekommen, und was Neues bietet sie an? Die Kunst der Leitung einer Gemeinschaft ist nämlich, dass die Vorstellungen mit den neuen, unerwarteten Möglichkeiten konfrontiert werden. – Und die neuen, aktuellen Themen sind bereits da. Auch deshalb liegt der Akzent auf „müssen und sofort”. In der Voivodina steht das Gesetz über die Nationalräte vor Verabschiedung. Wenn das Gesetz in Kraft tritt – mittlerweile wurde es bereits verabschiedet (am 31. August 2009) –, müssen die Ziele der Minderheitenpolitik in der Region neu gedacht werden. (Deshalb soll jetzt zuerst István Pásztor, der Vorsitzende der Partei aus der Voivodina als erstes zu Wort kommen.) In der Slowakei kann das Sprachgesetz verabschiedet werden – es wurde auch verabschiedet und am 1. September eingeführt –, das zum ersten Mal in der Region mit Gesetzeskraft in den Sprachgebrauch der Bürger innerhalb ihrer Privatsphäre eingreift. Und in Rumänien – wo sich die größte ungarische Minderheit befindet – kann die Frage jetzt beantwortet werden: waren die Politiker der Mehrheitsnation in den Nachbarstaaten nur in der Zeit vor dem EU-Beitritt gerecht mit dem Ungarntum? Wegen dem Zwang „der EU-Forderungen zu entsprechen”? Es wird deutlich zum Vorschein kommen, da die Wahlen (im November) bereits vor der Tür stehen.

So kam das zweite Treffen am 12. Oktober 2009 zustande. Und dem entsprechend wurde die Tagesordnung festgelegt. „Lagebericht aus der Voivodina, aus der Slowakei und aus Rumänien.” „Die aktuellen Fragen der Region aus der Sicht Strasbourgs.” „Der Überblick des sprachlichen und Minderheitendaseins der Ungarn im Karpatenbecken und der zwanzigjährigen Praxis der Minderheitenpolitik sowie die eventuelle Zusammenstellung eines Verhaltenskodexes für die Minderheiten in Ostmitteleuropa.” „Die Überprüfung der Möglichkeiten der neuen Fachpolitiken – der Wasserbewirtschaftung bzw. der ländlichen Politik.” (Hinsichtlich der Letzteren wurden beim Treffen von 2008 Stellungnahmen formuliert.) (Weiterhin ohne die Anwesenheit der Presse, aber diesmal werden wir uns dem Treffen folgend vor die Öffentlichkeit stellen.)

 

I. Was haben die zwanzig Jahre für Europa gebracht? (1992–2008)

 

Enttäuschungen unserer Erwartungen

Die Länder der sowjetischen Besatzungszone haben 1989–1990 mit Recht erwartet, dass sie bald unter die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen werden, und dass die Zeit der europäischen Demokratie, der Marktwirtschaft und der menschenrechtlichen Freiheit kommen wird. Die kollektiven Freiheitsrechte der nationalen-religiösen Minderheiten inbegriffen. Nicht ohne Grund haben wir all dies erwartet.

Die sporadischen Diskussionen, Pläne waren uns – zumindest teilweise – bekannt, die sich in den 1960–1980er Jahren in Westeuropa entfalteten, wie man in einem neuen, einheitlichen Europa die Grenzen der nationalen Siedlungsgebiete und der staatlichen Verwaltung einander anpassen könnte. Diskussionen über einen neuen Regionalismus, bei dem die Regionen die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten können: Nicht nur mit dem Zustandekommen einer wirtschaftlichen Autonomie, sondern auch mit der Entstehung von Autonomien auf ethnischer Grundlage. Wir haben in den 1980er Jahren – zu Hause, in Ostmitteleuropa – auch gesagt: Die Korrektion der Grenzen hängt von der Machtpolitik ab. Es war so, es wird auch so bleiben. Wenn die Vereinheitlichung in der nächsten Zukunft zustande kommt, und die Sowjetunion sich zurückzieht, wird Westeuropa nicht diesen Weg der Ordnung, die Grenzkorrektion wählen. Und es hat sich zwischen 1938–1941 sowieso nicht als eine gute Lösung erwiesen! Was bleibt, ist eine Lösung neuen Typs: Die Minderheitenautonomie auf territoriale- und Assoziationsgrundlage. Wir sprechen in Ungarn über eine kulturelle Autonomie. Anderswo in der Region, so im ehemaligen Jugoslawien sprechen unsere Freunde über eine wirtschaftliche- und Verwaltungsautonomie auf territorialer Grundlage. Wir hatten diesbezüglich Debatten.

1989–1990 nach dem Fall der Berliner Mauer, dann nach der deutschen Einheit und nach der Erklärung des Auszugs der Sowjets wurde in West-Europa weiter geplant. Das Ziel lautete: Die kollektiven nationalen Konflikte zu überbrücken, die sich aus der Abweichung der Grenzen des Staates und der nationalen Siedlungsgebiete ergeben. Den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Status quo zu überdenken. Drei – nicht von Regierungsorganen verfassten – Dokumente wurden zu diesem Themenkreis zwischen 1990–1992 zusammengestellt, bzw. veröffentlicht, in der Zeit der Entstehung der neuen Verwaltungsrahmen der Europäischen Union. Diese Dokumente sollten die Aufmerksamkeit erwecken und Lösungen anbieten. Das erste Dokument wurde von der Minority Rights Group in London zusammengestellt, das einen Überblick der nationalen Minderheiten in den westeuropäischen Staaten präsentierte. Dieses Dokument war gemeint, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Fragen zu lenken, ohne konkrete Vorschläge zu formulieren (Minorities and Autonomy in Western Europe. A Minority Rights Group Report. London, Oktober 1991.) Das zweite Dokument entstand auf Ansuchen der Bertelsmann Stiftung und beschrieb die Situation der Minderheiten in Ostmitteleuropa, zugleich lieferte es eine historische Analyse und einen Vorschlag für die Lösung der Konflikte (von Ferenc Glatz verfasst). Darin wurde ein Verhaltenskodex für die Minderheiten in Ostmitteleuropa vorgeschlagen, in dem die kollektiven und individuellen Grundrechte der Minderheiten zusammengefasst wurden, die in der Region zur Geltung gebracht werden können. (Minderheiten in Ostmitteleuropa. Historische Analyse und ein politischer Verhaltenskodex. Europa Institut Budapest. Budapest, November 1990–1993. Der Text wurde auf Deutsch verfasst, erschien jedoch auch auf Ungarisch, Englisch, Slowakisch, Rumänisch, insgesamt in einer Auflage von 42 Tausend Exemplaren. Dieser wurde beim Bertelsmann Europa Forum in Moskau im Mai 1992 zur Diskussion gestellt.) Das dritte Dokument wurde vom zivilen Forum „Magna Charta Gentium und Regiorum” zusammengestellt. Der Vorschlag lautete: Die Lösung wäre ein Föderalismus der europäischen Regionen, der die Grenzen der Nationalstaaten überschreitet. (Diskutiert in Maribor, Februar 1992.) Teil dieser „Entwürfe” war auch – ebenfalls auf Ansuchen der Bertelsmann Stiftung – die Kleinmonographie von G. Brunner, in der Grenzkorrektionen als Lösung für die Situation in Ostmitteleuropa vorgeschlagen wurden. – Georg Brunner: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa (Strategien und Optionen für die Zukunft Europas). Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh (1993).

Im schnellen Prozess der Gründung der EU (1990–1992) wurde jedoch statt der Europa-Träume die machtpolitische Realität zur Geltung gebracht. Damals war es unerwartet. Heute scheint es mit den Augen des Forschers betrachtet als eine „Selbstverständlichkeit” zu sein. Die nationalen Konflikte der ostmitteleuropäischen Region haben die westeuropäische öffentliche Meinung anfangs erschreckt: Zum Teil die Konflikte zwischen den Ungarn und ihren Nachbarn in Marosvásárhely (Târgu Mureş) und in Preßburg (Bratislava), zum Teil die nationalen Kriege infolge der Auflösung von Jugoslawien. Die Union hat jedoch außer den auf die Europäische Union bezogenen zwei Empfehlungen für die Mitgliedstaaten (1992, 1995) nichts getan. Für die Nicht-Mitgliedstaaten wurden nicht einmal Empfehlungen formuliert. Mit Hinsicht auf den Stand der gegenwärtigen Forschungen können drei Gründe für die Passivität angegeben werden. 1. Die durch die deutsche Wiedervereinigung ausgelöste Angst im Westen und im Osten. 2. Die EU, bzw. ihr Vorgänger die EG, fand sich in der ostmitteleuropäischen bzw. in der Balkanregion nicht zurecht. 3. Im Laufe des europäischen Vereinigungsprozesses trat letztendlich die erwartete Schwächung der Nationalstaaten nicht ein. Im Folgenden seien diese drei Gründe, diese drei Zeiterscheinungen untersucht.

1.) Die durch die deutsche Wiedervereinigung ausgelöste Angst. Die deutsche Wiedervereinigung, und zugleich die Angst vor einem wieder stark gewordenen Deutschland erzwangen – laut dem Stand der gegenwärtigen Forschung – die Beschleunigung der Errichtung der EU legten zugleich die Art ihrer Gründung fest. Die zu einer starken politischen Organisation gewordene europäische Integrationseinheit – statt der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union – schien den effektivsten Rahmen gegen eine eventuelle deutsche Übermacht schaffen zu können. (Sowie die Erweiterung von NATO auf die ehemalige osteuropäische „deutsche Interessensphäre”.) Teil dieser Logik war – und blieb bis heute –, dass die Überprüfung der nach 1945 eingeführten deutschfeindlichen (oder ungarnfeindlichen) Maßnahmen in der ostmitteleuropäischen Region nicht erwähnt werden durfte. Nämlich die Revision der Grundlagen der kollektiven Verantwortung. Die schlechten Erinnerungen und Folgen der deutschen territorialen Revisionen auf ethnischer Grundlage (1938–1942) wurden wachgerufen.

Damit ist zu erklären, dass während die Auflösung der Spannungen der kollektiven Minderheitengemeinschaften in Westeuropa 1990–1992 begann, wurde in Ostmitteleuropa kein Wort gesagt. Süd-Tirol erhielt in kürzeste Zeit ihre Autonomie, die Konflikte der Basken in Spanien wurden teilweise aufgelöst, den Südwalisen wurden in England und den Okzitanen in Frankreich Rechte zugesichert. Die ostmitteleuropäische Region wurde jedoch hierbei nicht bedacht. Wie sie ebenfalls vorerst außerhalb der EU-Grenzen verblieb. In welchem Maße die erschreckenden Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in der Denkweise der Großmächte lebendig waren und sind, konnte sogleich an der Vorbereitung des Beitrittes von Ostmitteleuropa zur Union (1995–2004), sowie bei der Verwirklichung bemerkt werden. Und man war nicht geneigt die kollektiven (Autonomie-) Bestrebungen in der Region zu unterstützen. (Vergebens haben wir uns angestrengt und erklärt, dass die Autonomie als kulturelle Autonomie verstanden werden soll, und gerade diese würde die staatbürgerliche Bindung der Minderheiten verstärken.) Alle konnten sich noch an die Lösungen des Nationalsozialismus entlang ethnischer Linien erinnern (1935–1942., die schlechte Erinnerungen und Folgen wachriefen.)

Die gemeinsame Regelung der Union konnte ohnehin nur nach endlosen Debatten erreicht werden: 1992 – über die Minderheitensprachen (Europäische Charta der Regionalen oder Minderheitensprachen, 2. Oktober 1992), und schließlich die Rahmenvereinbarung über die „Minderheiten” als Kollektiven im Jahre 1995. (Rahmenvereinbarung über den Schutz der nationalen Minderheiten, 1. Februar 1995, die bis heute noch nicht von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.) Diese Frage befand sich in Westeuropa auf dem gleichen Stand wie nach den Pariser Friedensverträgen 1919–1920.

2.) Die Verhandlung der ostmitteleuropäischen kollektiven Minderheitenrechte wurde in Westeuropa dadurch verhindert, dass es sich nach 1992 herausstellte:

Die westeuropäische Politik und die Elite der Intellektuellen sind im Allgemeinen nicht auf die Analyse der östlichen Region vorbereitet. Es stellte sich heraus: Die einseitige, Sowjetunion-zentrische Ostforschung und die außenpolitische Administration verfügt nicht über angemessene Kenntnisse. Gleichzeitig waren die neuen Regime in der ostmitteleuropäischen Region vor allem mit der Bewältigung des inneren Machtwechsels und der tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme beschäftigt, wobei der Vermittlung von Informationen an die europäische Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In Westeuropa herrschte eher die Angst davor, dass die von der sowjetischen Besatzung befreite Region neben den sozialen Konflikten auch noch ihre nationalen Konflikte mit sich in die Europäische Union bringt. Wo diese dann einheitlich von der EU geregelt werden müssen…

3.) Ein entscheidender Grund, dafür, dass die Verhandlungen über die Lage der ostmitteleuropäischen Minderheiten bzw. die diesbezügliche Regelung sich – trotz unserer Erwartungen – bis heute hinzieht, ist darin zu sehen, dass das laut verkündete Prinzip des Regionalismus von Jahr zu Jahr bedeutende Verluste gegenüber der Hartnäckigkeit der Nationalstaaten erlitt. Das wird gegenwärtig im Kreis der EU-Experten nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern auch im Westen mit Enttäuschung erwähnt.

Das Scheitern der Pläne der Überschreitung der Grenzen vor 1990 – also „das Europa der Regionen” – war bedeutend. Obwohl wir noch 1995–1998 wunderbare Karten über die Euroregionen zeichneten, gab es keinen politischen Willen, keine europäische Macht, die diese Euroregionen hätte lebensfähig machen können. Der Sturz der Pläne der Regionen verwies bereits darauf, dass die europäischen Kooperationen abebbten. Die Ergebnisse dieser Tendenz zeigten sich in 1999 (Jugoslawien) und in 2004 (bei der Krisen im Nahen Osten). Die Europäische Union wurde statt das Europa der Bürger und der Nationen das Europa der Nationalstaaten. (Wie diese gleichwohl über die Steuer der Bürger verfügen.) Auch das verstärkt die Administration der Nationalstaaten: Es ist ein verständliches Beharren auf ihre eigenen lokalen Machtpositionen. Wenn es sein muss auch durch die Vernachlässigung der Unionsnormen.

Soviel über die Gründe unserer Enttäuschungen. Über die Enttäuschungen unserer Erwartungen zwischen 1989–1992. Darüber, was die Forschung diesbezüglich im Jahre 2009 weiß. Und was zur Kenntnis genommen werden soll. Wenn wir auch nicht vergessen können, so müssen diese von der Liste der gegenwärtigen Ziele gestrichen werden. Und die Strategie der Zukunft soll dementsprechend aufgebaut werden.

Inzwischen müssen wir aber ebenfalls vor Augen halten, welche neuen, aus der Sicht der Minderheitenpolitik relevanten Faktoren in Europa erschienen sind, mit denen man 1989–1992 noch nicht rechnen konnte.

 

Neue Erscheinungen in Europa: die Umgestaltung der „nationalen Gemeinschaften” und der Konflikt um die Roma

1.) Die Umgestaltung der „nationalen Gemeinschaften”. Wenn schon unsere Mitbürger aus der Union – zumindest die Politiker der Großmächte – in ihrer Auffassung über die Nation bei 1945 stehengeblieben sind, sollten wir nicht das Gleiche tun. Die Nation als emotional-rationale Gemeinschaft der Menschen verändert sich auch. Wenn über das Verhältnis der nationalen Minderheit und Mehrheit gesprochen wird, so muss man gleichwohl auf die europäische nationale Gemeinschaft der Zukunft achten. Die Bindung der Menschen zur Heimat verändert sich auch – schon deshalb, weil der globale Betrieb der neuen industriell-technischen Revolution, der Produktion den Denk- und Bewegungsradius der Massen verändert und erweitert. Auch die Wertordnung verändert sich – sowie der Gegenstand der Bindung – an den Wohnort, an die Gemeinschaften der Heimat. (Während – im Gegensatz zu der Vorhersagen der Forscher – die Bindung an die Muttersprache erhalten bleibt. Da die optimistischen Voraussagen über die europäischen Menschenmassen, die in mehreren Sprachen auf Mutterspracheniveau denken können, sich als irreal erwiesen…)

Was am meisten in der Geschichte der vergangenen 20 Jahre auffällt: Das „Menschenmaterial” der europäischen Nationen verändert sich immer mehr. Die Proportion der im Ausland Geborenen ersten Generationen erreicht in West-Europa bereits 8-10%, in einigen Staaten sogar 15-18%. Gegenwärtig beschleunigen sich die Wanderung innerhalb der Union, sowie die Einwanderung aus den Gebieten außerhalb Europas. (2030 werden 70%, und im Jahre 2050 90% der Menschen auf Kontinenten geboren, die heute nicht von den sog. Weißen bewohnt werden. Ein bedeutender Teil dieser Menschen wird in die Regionen einströmen, die als traditionelle Gebiete der Lebensmittelproduktion gelten und reich an Trinkwasser sind, also in die Siedlungsgebiete der Weißen. Was bringt die Zukunft? Noch mehrere Mischehen und Vermischungen. Beisammenleben.) In England die Pakistaner, Inder, in Frankreich und in den Niederlanden die Nord-Afrikaner, in Deutschland wollen nunmehr die Türken und die Südslawen „alteingesessen” sein. Reibungen und gegenseitige Anpassung. „Integration”, „Assimilierung” – diskutieren die „Experten”. Am 26. Januar 2006 veranstaltete die Generalversammlung des Europäischen Rates eine Tagesdiskussion über die „Auslegung” der Nation. (Als Pflichtlektüre sollte diese Diskussion in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden! Auch in Ungarn, Rumänien und in der Slowakei.) Das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit erfährt einen Perspektivenwechsel. (Das strategische Programm der Partei der Ungarischen Koalition (MKP) in der Slowakei nähert sich diesen Fragen bereits auf eine europäische Weise an.)

Sollen die sich auf Grundsätze aus dem 19. Jahrhundert stützenden Nationalpolitiken neugedacht werden? Muss die auf zugefügte Wunden und Beschwerden gebaute Politik unserer Generation vergessen werden? Bei allen Nationen der Region? Stattdessen eher auf die Erfordernisse des neuen Zeitalters achten. Sowie auf das Angebot des neuen Zeitalters! Denn es gibt ein „neues Angebot” für den Aufbau eines vielnationalen Europas. Auch auf die Erwartungen der Jüngsten achtend. Die behaupten: Das Fortleben des kollektiven Unfriedens in der Region – auf nationaler Grundlage – ist auch die Verantwortung der leitenden Intellektuellen. Der Reibungen unter den Bevölkerungsgruppen einer Region, die genetisch so gemischt, hinsichtlich ihrer Ahnen ebenfalls verwandt, in ihrer Kultur gegenseitig verbunden, ihrem Aussehen nach kaum zu unterscheiden, in ihren Bräuche – Kochkultur, Beerdigung usw. – gegenseitig verwurzelt sind. Wie ist es möglich, dass die Gruppen und verwandten Gemeinschaften von den Unterhalts-Politikers und Intellektuellen gegeneinander gehetzt werden können? Auch diese Frage müssen wir beantworten.

2.) Die Roma in Europa. „2008 das Jahr der Roma in der Europäischen Union.” Die Leiter der Europäischen Union wurden jetzt mit einer neuen Form der Minderheitenkonflikte konfrontiert. Die „alteingesessenen” – also die wegen der Grenzänderungen entstandenen – Minderheiten stellen eben dadurch einen Konflikt dar, dass sie vor Ort bleiben und Gleichberechtigung fordern. In der Bildung, im Gebrauch der Muttersprache, in der Verwaltung, vor dem Gericht. Die „eingewanderte” Minderheit – das zeigen die Erfahrungen von Jahrhunderten – integriert sich eher, weil sie von der Arbeitskraft-Nachfrage angezogen werden, und sie passt sich deshalb umgehend an ihre Umgebung an, die wiederum die Notwendigkeit ihrer Präsens wahrnimmt: am Arbeitsplatz, im Bereich der Dienstleistungen.

Ab 2008 aber – dem Beitritt von Rumänien im Jahre 2007 folgend – erschienen Millionen der auf Gelegenheitsarbeit wartende und später Sozialhilfe beanspruchende Roma-Bevölkerung. Sie lassen – im Osten – ihre (Elends) Wohnung, sowie ihre elenden Lebensumstände leicht zurück. Und von denen in zu Hause keine Integration und Anpassungsfähigkeit gefordert wurde. Und so weiter… Das Europäische Parlament wurde sich – endlich bewusst: In Europa leben 10-14 Millionen, und innerhalb der Union 8-10 Millionen Roma (laut der Minority Rights Group 7-8 Millionen). Diese Menschen haben ein „Roma”-Bewusstsein (Zigeuner usw.), deren Schicksal einer neuen Minderheitenpolitik bedarf. Es taucht die Frage der „paneuropäischen Roma-Minderheit” auf. Der Minderheitenrechte der Roma… Da die allgemeinen Menschenrechte nicht genügend zum Zusammenleben beitragen. Im Verhältnis zwischen der Minderheit und der Mehrheit tauchte ein bisher unbekannter Konflikt neuen Typs auf – der infolge der Grenzkorrektionen entstanden ist oder der sich von den durch die bisherige Einwanderung hervorgerufenen Gegensätzen unterscheidet. Und wenn die nunmehr in der gemeinsamen Heimat, in der Union, lebende Roma-Bevölkerung sich auch formell als Minderheit – gar als paneuropäische Minderheit – organisiert, dann werden alle bisherigen Konflikte aus dem Augenmerk der Politiker der Union verdrängt.

Obwohl bei den Europa-Politikern alle anderen Minderheitenprobleme durch die offenen Roma-Konflikte in den Hintergrund gedrängt werden? Und sollten die tschechisch-slowakisch-ungarisch-rumänischen Politiker und Intellektuelle nicht mehr Aufmerksamkeit der Tatsache widmen: Auf ihrem Staatsgebiet leben beinahe 70% der Roma-Minderheit der Union? Dies stellt – sollte zumindest – ebenfalls eine Kohäsionskraft zwischen den Staaten dar. Es sollte weniger Energie dem Rivalisieren zugewandt werden, in Verbindung mit den Minderheiten, die infolge der Grenzänderungen von 1920–1992 entstandenen sind. Denn diese sind in die Gesellschaft integrierte Gruppen, die auf lokaler Ebene eventuell Konkurrenz bedeuten. Es sollte jedoch mehr Aufmerksamkeit den großen Minderheitenkonflikten des 21. Jahrhunderts gewidmet werden: Der Integrierung der Roma. Und nicht nur, weil die ersten Visionen über die Aufstellung eines aus der Region ausgerissenen Roma-Staates entstanden sind. Sondern, weil die nicht integrierte Roma-Minderheit die Funktionsfähigkeit der Arbeitsstruktur der Region gefährdet. Ernsthafter, als die „historischen” Minderheitenkonflikte…

 

II. Was bietet Europa für die Minderheitenpolitik im Jahre 2009

 

Was hat die jüngste Vergangenheit, „das europäische Jahr 2008” für die Minderheitenpolitiker gebracht? (Denn es waren diese neuen Tendenzen, die uns sagen ließen „wenn nötig, sofort”.) 2008 gab der regionalen, die Nationalstaaten überschreitenden Politik neuen Schwung. Und zwar in der Fachpolitik der Territorialentwicklung, und innerhalb deren in der ländlichen Entwicklung.

 

Die Verbindung der ländlichen Entwicklungs- und Minderheitenpolitik – 20. Juni 2008

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa formuliert Empfehlungen, die die Aufmerksamkeit der Minderheitenpolitiken auf regionale Kooperation auf beiden Seiten der Grenzen der Nationalstaaten lenken. (Bolzano Recommendations on National Minorities in Inter-State Relations 2008.) Die lokalen Selbstverwaltungen können miteinander – auch ohne die Abstimmung mit den Nationalstaaten – Aktionskontakte bilden, um die von ihnen festgelegten gemeinsamen wirtschaftlich-kulturellen Projekte zu verwirklichen. Plötzlich werden die so genannte Madrider Rahmenvereinbarung des Europarates aus dem Jahre 1980, sowie die diese Vereinbarung ergänzenden Dokumente aus den Jahren 1995, bzw. 1998 aufgewertet (Additional Protocol, 1995; Secondary Protocol, 1998). Das Protokoll von Madrid hat Ungarn bereits unterzeichnet und kodifiziert (XXIV/1997), die ergänzenden Protokolle – die den lokalen Selbstverwaltungen die nötigen Rechte für die Initiierung solcher Vorhaben gewährleisten – hingegen noch nicht.

Auch die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2006 (1082/2006) über die „europäische territoriale Zusammenarbeit” wird aufgewertet. Diese Verordnung trat in der Planungsperiode 2007–2013 an Stelle von PHARE (1994–2003), bzw. INTERREG (2004–2006). Und dies schaffte die Rahmenbedingungen für die Abrufung von beträchtlichen Summen – mehrere Hundertmillionen Euros pro Staat – für die Finanzierung der slowakisch-ungarischen, rumänisch-ungarischen, serbisch-ungarischen, ukrainisch-ungarischen, slowenisch-ungarischen gemeinsamen Projekte entlang den Grenzen. Das Blockungarntum – wie bekannt – ist meist entlang den Grenzen angesiedelt. (Bereits in den Publikationen der Jahre 2005 sowie in der Empfehlung an die Regierung und das Parlament verwiesen wir auf die Priorität der Entwicklung der Regionen entlang den Grenzen sowie auf die Übertragbarkeit der bilateralen Projekte entlang den Grenzen auch als Mittel der neuen Minderheitenpolitik. Damals bildeten noch die INTERREGs die Grundlage.)

 

Nationale Netzwerke für den ländlicher Raum – 31. Dezember 2008

Bis zum Abschluss des Jahres 2008 mussten in den EU-Mitgliedstaaten die Nationalen Netzwerke Ländlicher Raum gegründet werden.

Die Verordnung der Europäischen Union vom 20. September 2005 (1698/2005/EG) schrieb nämlich vor, dass die Mitgliedstaaten die langfristigen Entwicklungspläne der Jahre 2007–2013 mit einem Nationalen Entwicklungsplan Ländlicher Raum ergänzen müssen. Die Zielsetzung lautete: In den ländlichen Regionen Europas sollen die Voraussetzungen für ein lebenswertes Leben – für die Natur und den Menschen – geschaffen werden. Weitere Zielsetzungen waren: Die Gewährleistung der Erhaltung der Bevölkerung in den ländlichen Regionen durch das Schaffen von Arbeitsplätzen (in der Agrarwirtschaft und in der Industrie), dem Umweltschutz, der Entwicklung der Wohnorte, dem Ausbau der Administration ländlicher Entwicklung. Für die Verwirklichung dieser Ziele wurden EU-Förderungen in Milliarden Höhe zur Verfügung gestellt. Die gleiche Verordnung erklärt, dass die Regierungen bis zum 31. Dezember 2008 die Nationalen Netzwerke Ländlicher Raum aufstellen müssen, die das Programm der ländlichen Entwicklung „vergesellschaftlichen” sollen. Hierin kommt den lokalen Akteuren der Politik, der Administration und der Zivilgesellschaft eine Rolle (Unternehmer, Experten) zu. Die nationalen Netzwerke werden von einem Europäischen Netzwerk Ländlicher Raum (European Rural Network) koordiniert (gegründet im Jahre 2008).

Die ersten nationalen Erfahrungen – Frankreich, Deutschland, Finnland, England – zeigen: In Europa entfaltet sich ein neues Forum-System der Gemeinschaftsbildung. Es wird selbstverständlich Jahrzehnte dauern, bis die europäischen Agronomen akzeptieren, dass die ländliche Politik mehr als die Agrarpolitik, und mehr als Produktions- und Betriebswirtschaftslehre bedeutet, dass die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsumstände der Agrargesellschaft nicht nur eine „sozialistische Propaganda” war. Dass dieländliche Politik die Bereiche Schulwesen, Verkehrswesen, Wasserbewirtschaftung, Siedlungsentwicklung, Politik für Gesundheitswesen umfasst, also die Gesamtheit aller Aktivitäten der Politik und des öffentlichen Lebens in der Region. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Politik und die Administration zur Kenntnis nehmen: Die gesellschaftlichen Foren sind keine geschickten „Volksfront”-Einsätze; die Zivilgesellschaft auf dem Land muss in der Tat in die Region betreffende Planung und Durchführung eingezogen werden. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die osteuropäische Gesellschaft, die traditionell alles von der Exekutivgewalt erwartet, ihre eigenen Selbstverwaltungen verstärkt und die neuen Arbeitsgemeinschaften für die Entwicklung ausbaut. Aber: Wir sollen darauf achten, dass der Ausbau der neuen nationalen ländlichen Netzwerke ein neues Mittel für die Minderheitenpolitik darstellen kann. (Sowohl in der Minderheitenpolitik in Ungarn, als auch in der Ungarntumspolitik im Karpatenbecken.) Ein bedeutender Teil der ethnischen Minderheiten im Karpatenbecken lebt nämlich überwiegend in den ländlichen Regionen. Dieser Anteil wird unter den Ungarn jenseits der Landesgrenzen auf 90% geschätzt.

Die Erhaltung der Bevölkerung der ländlichen Regionen hängt davon ab, in wieweit die jeweilige ländliche Region die Lebensbedingungen lokal sichern kann. Eben darin liegt der Sinn der neuen ländlichen Politik, und die Aufgabe des Netzwerks ist eben der Ausbau der lokalen Entwicklungsstrategien. (Die LEADER-Organisationen und Aktionsgruppen, die bereits ein Netzwerk in der Europäischen Union ausgebaut haben – und sich auch in Ungarn verbreiten – sind Institutionen der lokalen Entwicklungspläne und der kulturellen Gemeinschaftsorganisationen.)

Also: Die Harmonisierung der neuen europäischen ländlichen Politik und der Minderheitenpolitik ist eine große Hoffnung für die Ungarnpolitik. Im Allgemeinen die Hoffnung für die Erhaltung der Minderheiten im Karpatenbecken. Die grenzüberschreitenden Projekte (siehe die oben zitierten Bozner Empfehlungen), sowie der Ausbau der Netzwerke Ländlicher Raum im Karpatenbecken bieten neue Aktivitäten der Minderheitenpolitik, und zugleich der Erneuerung der Minderheitenpolitik. Die Aktivität im Bereich der Menschenrechte und des Schutzes der Minderheiten sollen mit den Aktivitäten der Fachpolitiken ergänzt werden. (Diesbezüglich haben wir bereits 2008 Stellung genommen.) Die Parlaments- und Medienpolitik müssen mit einer neuen Geländearbeit (fieldwork) ergänzt werden. Die Erhaltung der örtlichen Bevölkerung kann dazu beitragen, dass die Bevölkerung die Bedeutung dieser Aktivitäten – und ihre staatsbildende Rolle – mittels der Initiativen der ländlichen Politik zur Förderung der Lebensqualität aller Beteiligten erkennt. (Denn die Förderung der Zustände der Erreichbarkeit, Bewirtschaftung, Lebensumstände, Bildung usw. liegt im Interesse aller im Siedlungsgebiet lebenden Nationen.)

 

III. Überlegungen nach 2010

 

Zur Kenntnis nehmen

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Das Kraftfeld der Nationalstaaten vermindert sich innerhalb der Europäischen Union langsamer als erwartet. Solange in Ostmitteleuropa das System der Nationalstaaten bestehen bleibt, ist die Existenz der nationalen Minderheiten sehr wohl davon abhängig, in wie weit die nationale Gemeinschaft zur politischen und kulturellen Interessenvertretung fähig ist. Somit werden auch weiterhin die Parteien benötigt, die aufgrund von Minderheiten- und nationalen Zugehörigkeit organisiert sind, und das Abschließen von Parteikoalitionen auf nationaler Grundlage bleibt ebenso als ein aktives Instrument der Minderheitenpolitik bestehen. Das Wirken der politischen Parteien der ungarischen Minderheiten gilt als die große Erfolgsgeschichte der vergangenen 20 Jahre. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Bei der Interessenvertretung der Minderheiten ist die Förderung des „Volkspartei”-Charakters dieser erfolgreichen Parlamentsparteien ein prioritäres Anliegen, und nicht zu Letzt sollen sie zum Mitdenken den Intellektuellen- und Unternehmerschichten der Gesellschaft angeregt werden.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Systemwandel das Heilen der Wunden, die dem Ungarntum im Zweiten Weltkrieg und im Laufe der „Regelungen” der Nachkriegsjahre zugefügt wurden, nicht bewirken konnte. Und auch in den kommenden Jahren wird es nicht zu einer Kompensation kommen. (Aussiedlung, Entzug der Staatsbürgerschaft, individuelle und institutionelle Enteignung, politische Verfolgung.) Wie dies auch den Deutschen nicht gelungen ist. Das heißt aber nicht, dass wir die Aufmerksamkeit nicht auf die unverheilt gebliebenen Wunden lenken sollen. Wie auch in den Lehrbüchern und den Foren zur Bildung der öffentlichen Meinung die Aufmerksamkeit – sehr richtig – auf die gegen die Menschheit verübten Verbrechen gelenkt wird. Das Zufügen solcher Wunden, die dem Ungarntum gegenüber geschehen ist, darf sich ebenso nicht wiederholen – und nicht nur dem Ungarntum, sondern keinem Kollektive – wie alle anderen im Laufe des 20. Jahrhunderts verübten, gegen die Menschheit gerichteten und auf kollektive Grundlage unternommenen Aktionen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass parallel zur Regelung der oben erwähnten kollektiven Rechte der „urheimischen” Minderheiten (Süd-Tirol, Korsika, Süd-Wales, Okzitaten, Basken usw.) nicht die Regelung der kollektiven Rechte des über den Grenzen hinaus lebenden Ungarntums durchgeführt wurde. (Während in Ungarn mit dem Minderheitengesetz des Jahres 1993 die Regelung der Rechte der Selbstverwaltungen und der Repräsentanzen der Minderheiten erfolgte.) Die Parteien der Minderheiten – und die sie unterstützenden Intellektuellen – müssen weiterhin enorme Energie daran setzen, dass der freie Gebrauch der Muttersprache und der Gebräuche und Sitten gewährleistet werden.

Wir müssen ebenfalls akzeptieren, dass voraussichtlich in ganz Europa der wesentliche Unterschied in der Rechtsstellung der urheimischen und der migranten Minderheiten aufgehoben wird. Somit kann sich einer unserer traditionellen und europaweit akzeptierten Argumente in Luft auflösen. Die Zahl der migranten Minderheiten werden nicht nur in den westlichen Teilen Europas, sondern auch in unserer Region ansteigen. Wir müssen uns verstärkt der Frage der Roma-Bevölkerung zuwenden. Das Verhältnis der Roma zum Ungarntum kann nicht geklärt werden, ohne sie selber einzubeziehen, ihre nationale Selbstbestimmung muss mit ihnen gemeinsam geklärt werden.

Wir müssen einsehen, dass die Europäische Union in der Minderheitenfrage lediglich „Empfehlungen” formuliert. Aber die bereits vorliegenden „Verordnungen” müssen aktiver genutzt werden. (Der „Vertrag von Lissabon” kann vielleicht zur verstärkten Exekutivkraft der Europäischen Union beitragen.)

Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Mehrparteiendemokratie günstigere Voraussetzungen für die Kraftgewinnung des nationalen Radikalismus schaffen kann. Was wiederum Gefahren für die gesamte Gesellschaft in sich bergen kann: es kann zur Zerrüttung der Demokratie und ihrer Funktionsfähigkeit führen. Die nationale Ungeduld auf der einen Seite verstärkt parallel die nationale Ungeduld auf der anderen Seite. Dies gilt nicht nur für die Slowakei, sondern auch für Rumänien und Serbien. Alle hier lebenden Völker müssen zur Kenntnis nehmen: die EU mischt sich zwar nicht in die internen Angelegenheiten der Staaten ein, aber sie prüft die Geltendmachung der von ihr formulierten Normativen. Und dies schwört die ethische Verurteilung, die „Distanzierung” herauf. Was wiederum zur negativen Diskriminierung der gesamten staatbürgerlichen Gemeinschaft führt. Das slowakische Sprachgesetz ist das Debakel der slowakischen Europapolitik, die von Revisionslosungen lauten Schreihälse können zur Niederlage der ungarischen Europapolitik beitragen.

Die Intellektuellen haben offensichtlich in den vergangenen 20 Jahren mit Hinsicht auf die Erhaltung des Ungarntums ihre Prüfungen mit Erfolg bestanden, somit auch im Bereich der Konsenssuche zwischen den Minderheitenungarn und der nicht-ungarischen Mehrheit. Als Gegengewicht zur verstärkten Präsens des nationalen Radikalismus sollen sie Foren öffnen, an denen die Intellektuellen der mit dem Ungarntum beisammen lebenden Nationen den europäischen Normen des Zusammenlebens entsprechend die Gründe und die Lösungsansätze der Konflikte gemeinsam diskutieren.

 

Die Möglichkeiten nutzen

Nutzen wir die sich innerhalb der Europäischen Union bietende volle Palette der neuen Gemeinschaftspolitiken. Wir sollen vor allem das Angebot hinsichtlich der Kooperationsmöglichkeiten zwischen den neuen territorialen Selbstverwaltungen (2006) und der Bozner Empfehlungen (2008) ausnutzen. Und nutzen wir das volle Potential der Fachpolitiken, die sich in Folge der Siedlungsstruktur des Karpatenbeckens und des Ungarntums bieten: die Palette der Politiken für den ländlichen Raum, der Wasserbewirtschaftung und Bildungspolitik sowie für das Verkehrswesen.

Passen wir uns an die gegenwärtig geltenden Entwicklungstendenzen an, somit daran, dass zwar im Wirtschaftsbereich eine starke Präsens der Globalisierung zu beobachten ist, aber in der Verwaltung und im kulturellen Leben die Rolle der Nationalstaaten unverändert bleibt. Das bedeutet ebenfalls, dass der ungarische Staat weiterhin eine prioritäre Verantwortung für die über den Grenzen des Landes hinaus lebende ungarische Minderheit trägt. – Die Effektivität der Parlaments- und Regierungsinstitutionen, die sich mit dem außerhalb des Landes lebenden Ungarntum beschäftigen, muss überprüft werden. – Es soll zur politischen und Intellektuellendiskussion ermuntert werden sogar zur Frage des Statusrechts oder zur verantwortungsvollen Politik der Fachverwaltungen oder der im Parlament vertretenen Parteien in Verbindung mit dem außerhalb der Grenzen lebenden Ungarntums. – Es wäre wünschenswert „in der Politik hinsichtlich der über den Grenzen hinaus lebenden Ungarn” ein Konsens unter den politischen Parteien zu erreichen. So wie dies in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und im Großteil der europäischen Staaten geschieht. – Es soll überprüft werden, ob die leitenden Persönlichkeiten des Staates eine Verantwortung dafür tragen, dass neue Spannungen und Konfliktsituationen zwischen dem Ungarntum und den Nachbarstaaten aufkommen. Ob die den Staat repräsentierenden leitenden Persönlichkeiten wohl in jedem Fall fähig sind eine Balance zu finden zwischen ihren individuellen Gefühlsregungen und ihrer Verantwortung den Staat zu repräsentieren? Ob sie ebenso viel Aufmerksamkeit der inneren Aufbautätigkeit widmen als den spektakulären Aktionen, die eine Medienpräsens gewährleisten?

Die Reihe der Roma-Konfliktsituationen in Europa und die Aufmerksamkeit der Europäischen Union zu der Roma-Frage bietet eine Möglichkeit dafür, dass wir in der ostmitteleuropäischen Region gemeinsame Strategien im Interesse der Integration der Roma-Bevölkerung ausarbeiten. Die Interessenvertretung und die Tätigkeit der ungarischen Minderheiten soll sich auf das Verhältnis der Roma-Minderheit und der ungarischen Minderheit, der Roma-Minderheit und der Nicht-Ungarischen-Mehrheit ausdehnen.

Das slowakische Sprachgesetz schafft Zwangssituationen und bietet zugleich neue Ansätze. Es zwingt zum Schutz und zur Abwicklung von Parlaments- und Intellektuellendiskussionen. Aber es bietet zugleich Ansätze dafür, dass die Politik und die Intellektuellen – auch an europäischen Foren – hinsichtlich der Muttersprache erläutern und beweisen kann, dass die Muttersprache weit mehr ist als lediglich ein Mittel zur Gewährleistung der nationalen Vielfalt. Das Lernen-Arbeiten Können auf der Muttersprache ist zugleich eine soziale Frage. Es liegt im Interesse des Staates, dass seine Bürger eine umso mehr gebildete und effiziente Arbeitskraft darstellen, umso mehr Steuern einzahlen, und es vermindert ebenfalls die Wettbewerbsfähigkeit der staatsbürgerlichen Gemeinschaft, wenn sie all dies nicht in der Muttersprache vollführen können.

Das neue serbische Gesetz über die Aufstellung der Nationalräte stellt die Minderheitenpolitik vor eine enorme Probe. Um nämlich die einzigartige kulturelle Autonomie verwirklichen zu können, bedarf es einer „nationalen Erklärung” von Seiten mehr als der statistischen Hälfte der Minderheitenungarn. Das heißt also, dass sich die Menschen mit ihrer Unterschrift dazu bekennen müssen, dass sie der Minderheit angehören. In Ostmitteleuropa bildete die nationale Volkszählung – und dies ist ebenfalls eine noch lebendige Erfahrung der Vor- und Nachkriegsjahre – die Grundlage für kollektive Verfolgungen. Bei Juden, Deutschen, Ungarn. Sofern die in Serbien lebenden Ungarn sich auch in Schrift zu ihrer Minderheitenzugehörigkeit bekennen, so geben sie für alle Nationen in der Region eine Art „befreienden” Impetus von der gegenseitigen Jahrhunderte langen Angst. Der Angst vor dem Nachbarn.

Die Jahreswende des Systemwandels und das Bestreben der System wandelnden Kräfte zur Erneuerung bietet eine Möglichkeit dafür, dass wir in der ostmitteleuropäischen Region die Grundvoraussetzungen für die Erhaltung der kulturell-sprachlichen Gemeinschaft des Ungarntums überblicken. (Die unerwartete Aktion der Slowaken mit dem Sprachgesetz lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Gewährleistung der juristischen Normen, die für diese Grundvoraussetzungen erforderlich sind.) Es ist an der Zeit, dass wir im Lichte der europäischen und mitunter der ostmitteleuropäischen Ereignisse den Text des in 1991 verfassten Verhaltenskodex für die ostmitteleuropäischen Minderheiten überprüfen. (Hierbei muss zur Kenntnis genommen werden, dass dies nur zur Festhaltung des „Minderheitenminimums” beiträgt, da das Verhältnis zwischen der Mehrheit und der Minderheit – die Minderheitenpolitik – in den einzelnen Staates der Region verschieden ist.) Die Ausarbeitung der analysierenden und beschreibenden Kapitel des Minderheitenkodexes bietet eine Möglichkeit für die Zusammenarbeit der außerhalb der Grenzen befindlichen ungarischen Forschungswerkstätten. Und dies soll ebenfalls eine Möglichkeit dafür bieten, dass wir gemeinsam mit den Fachexperten der Mehrheitsnationen in den Nachbarstaaten in offenen und kollegialen Diskussionen die Standpunkte der „Empfänger” ermessen mögen.

 

Budapest, 9. Oktober 2009.

 

Erschienen in der Zeitschrift Ezredforduló (Jahrtausendwende) Nr. 2010/1.