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Zwischen zwei Krisen – Vortrag von Prof. Iván T. Berend

8. Juni 2010

Prof. Iván T. Berend, der frühere Präsident der UAW, hält einen Vortrag mit dem Titel „Zwischen zwei Krisen: Europa im Wandel 1973-2010”. Die vom Europa Institut und dem Institut für Geschichtswissenschaft der UAW gemeinsam organisierte Veranstaltung findet im Jakobiner Saal des Sozialforschungszentrums der UAW statt.

 

 Ivan T. Berend: Zwischen zwei Krisen: Europa im Wandel, 1973-2010

 

 Prof. Berend ist seit langen Jahren regelmäßig Gast im Europa Institut Budapest. Seine Vorträge sind in breiten Kreisen beliebt. Auch diesmal waren zahlreiche führende Persönlichkeiten der UAW, Akademiemitglieder, Vertreter der Bereiche Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und öffentliches Leben bei der Veranstaltung anwesend. Eine Besonderheit war dennoch, dass zugleich der gegenwärtige Präsident der UAW, József Pálinkás, und die früheren Präsidenten Ferenc Glatz und Szilveszter E. Vizi dem Vortrag von Prof. Berend, der selber ehemaliger Präsident der UAW war, beiwohnten. In der Periode zwischen 1973-2008 entfalteten sich zwei Krisen, die das Schicksal von Europa bedeutend prägten. Die erste (doppelte) Krise fand zwischen 1968-1985 statt. Der Referent erläuterte, dass eine der Ursachen für die Krise es war, dass der Energie- und Rohstoff, bzw. der Arbeitskraftanspruch der zu Anfang der 1970-er Jahre gestarteten groß angelegten Investitionen die Wirtschaft in eine Lohnspirale jagten und die Inflation erhöhten. In dieser Periode fand jedoch auch ein anderer Prozess statt: eine neue technische Revolution entfaltete sich (Großcomputer und nukleare Technik, Jet-Flieg- und Raketentechnik), die zur Zurückdrängung der sich auf die alten technisch-technologischen Grundlagen stützenden leitenden Sektoren bzw. Exportbranchen sowie zur Verbreitung der die Errungenschaften der neuen Technik verwendenden Zweige geführt hat. Somit entfaltete sich ein neues Wirtschaftsphänomen, die Stagflation, die die parallel laufende Wirkung von Stagnation und Inflation ausdrückt. Die Wirtschaftskrise von 1970–80 setzte in einer Zeit ein als sich ebenfalls in der Gesellschaft und in der Politik eine Krise entwickelte: die von Prosperität gekennzeichneten Friedensjahre wurden von einer auf sozialer Ebene vollziehenden Konfrontation ergriffen. Zum anderen eroberte die Finanzwelt die Welt mit einer größeren Geschwindigkeit denn je. Im Laufe der Umgestaltung wurden die herrschenden Ideologien der Jahrzehnte nach dem Krieg in Frage gestellt. Die strukturelle Krise und die Globalisierung setzten neue Ideologien in den Vordergrund. Das Sowjetsystem vertrat damals keine Alternative mehr. Die jahrzehntelange Hegemonie der Wirtschaftspolitik von Keynes bezüglich des Eingriffs des Staates und der Schaffung von Nachfrage wurde gestürzt, da sie für die Stagflation keine entsprechende Lösung hat. Die westliche Welt schloss sich stark nach rechts ab. Als organischer Teil des sich neu entfaltenden Zeitgeistes verbreiteten sich die postmoderne Kultur und Ideologie. Im Zeichen der neuen Ideologien veränderte sich auch die Landkarte von Europa. Am meisten erfolgreich waren die neuen populistischen Partei-formationen, die ihre „Prinzipien“ den Ansprüchen der Politik entsprechend flexibel veränderten. Westeuropa spielte in der „ersten Globalisierung“ zur Wende des 19. – 20. Jahrhunderts eine vorrangige Rolle, doch mittlerweile hat es seine damaligen Monopolpositionen verloren. In den 1960er Jahren stürzte auch das Kolonialsystem endgültig zusammen, gleichzeitig schnitten sich die amerikanischen und japanischen Konkurrenten immer größere Brocken aus der Weltwirtschaft aus. Westeuropa musste auf diese Herausforderung eine Antwort geben und die Weltmächte haben das auch getan. Ihre Antwort war die europäische Integration sowie deren Vertiefung ab den 1970er Jahren. Das andere entscheidende Element bei der Formulierung einer Antwort auf die Globalisierung war die Vertiefung der europäischen Integration. Die westliche Hälfte Europas schloss sich schnell dem großen Konkurrenten, den Vereinigten Staaten von Amerika, auf. Obwohl Westeuropa im Jahre 1950 nur die Hälfte und 1970 70% des amerikanischen Produktionsniveaus erreichte. Mit der europäischen Integration konnten die sich neu beigetretenen, sich in einem Umwandlungsprozess befindlichen Staaten bedeutende Gewinne verbuchen, da die Veränderungen mit einer strukturellen Modernisierung, mit einer demokratischen Umwandlung, mit der Einströmung der neuen Technologie sowie mit einem bedeutenden Kapitaleinfluss verbunden waren. Obwohl die ersten Jahre der Umwandlung besonders schmerzvoll waren, und dabei große Schichten der Gesellschaften zu Verlierern wurden, wurde die Modernisierung begonnen und diese Staaten holten mit der Zeit immer weiter auf.

In dieser Situation brach 2008 die neue finanzielle Krise aus, die sich bald auf den ganzen Kontinent ausdehnte. Die neue Krise kann als Folge der Umwandlung nach 1973 betrachtet werden. Europa bezahlt den Preis des kurzfristigen Gewinns der neoliberalen Deregulierung, wobei dem Finanzkapital eine führende Stellung eingeräumt wird. Das Wachstum der Weltwirtschaft wurde gestoppt, die Arbeitslosigkeit nahm chronische Maße an und der Obligationsmarkt sank weltweit von fünfzig Milliarden USD auf fünf Milliarden USD zurück. Der aufsteigende Konjunkturzweig des langfristigen, fünfzig-sechzig Jahre dauernden Zyklus der Weltwirtschaft erreichte 2000–2007 seine Spitze, und der abfallende Zweig des fünften Zyklus hat die Phase der sogar bis 2020 dauernden Stagnierung und des langsamen Wachstums eröffnet.

 Mit der Krise im Jahre 2008 schloss sich der Kreis. Es scheint, dass damit auch die neoliberale Ideologie und Praxis in eine Krise gerieten, Europa kehrt zu einem solideren, geregelten Marktsystem zurück, wobei die Wirtschaft den sozialen Interessen untergeordnet wird. Europa muss eine Antwort darauf geben wie der Prozess der Integration beschleunigt werden kann. Mit dieser Krise kann erneut eine Periode von einem Dritteljahrhundert abgeschlossen werden, und es öffnet sich der Weg für zahlreiche neue Vermutungen und schockierende Vorhersagen sowie für einander widersprechende Visionen.