HORST HASELSTEINER EMLÉKKÖNYVE
Europa Institut Budapest • Budapest 2012. 35–55. p.
ISTVÁN DEÁK
Die Reichsarmee der Habsburger
Bildungsfaktor der Einheit
Ich bin mir im Klaren darüber, dass sich mein Vortrag, der die nationalen Armeen aus pragmatischen Überlegungen heraus als Sonderinstitutionen behandelt, von anderen, meist theoretische Fragen herangehenden Papieren unterscheidet. Mein Versuch lässt zumindest einen Vergleich zwischen Theorie und Realität und die Untersuchung einer Frage zu: Existierte jemals überhaupt ein einheitliches und „funktionsfähiges” Mitteleuropa? Meiner Meinung nach war im Effekt so etwas vorhanden, von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918, jedoch nur im Falle der Reichsarmee der Habsburger. Keine andere politische Führung war in dieser Hinsicht mit dem Habsburgerheer vergleichbar. Andere Armeen waren entweder – in regionaler Hinsicht – in einer zu peripheren Lage oder Reichsarmeen nur in ihren Namen. Was anderes kann besser echte imperiale Streitkräfte charakterisieren als der Umstand, dass diese Armee nicht im Dienste einer Nation, sondern einer Dynastie oder einer universalistischen Ideologie stand? Im Sinne dieser Definition waren weder die russische noch die deutsche Reichsarmee echte imperiale Armeen, die dienten eher nationalen und nationalistischen Zwecken. Nur die Armee der Habsburgerdynastie war gezwungen, unter Umständen die Provinzgrenzen zu überschreiten; als einzige versprach sie ihre Loyalität keiner Nation, sondern einer Herrscherfamilie; es gelang ihr alleine, unter den vielen Völkern der Region eine Art Einheit zu schaffen. Was diese Einheit so bemerkenswert macht, besteht darin, dass die Streitkräfte der Habsburger kein unabhängiger Faktor sondern loyale Diener einer politischen Führung waren, welche ihrerseits außerstande war, innerhalb ihrer zahlreichen Ländereien eine dauerhafte Einheit zu verwirklichen. Diese gelang nur für kurze Perioden in der Geschichte der Habsburger, in denen die Schaffung eines echten und einheitlichen Habsburgerstaates dem Herrscher und seinen Beratern extrem große Anstrengungen bereitete. So etwas erfolgte unter Joseph II. 1780–1790 und in der sogenannten absolutistischen Zeit in den 1850er Jahren. Die politische Einheit jener Jahre war eher Illusion als Realität, hauptsächlich wegen der massiven Opposition der Ungarn und der norditalienischen Länder sowie – in den 1780er Jahren – der belgischen Provinzen. Im Ergebnis musste das Anliegen der Habsburger, ihre politische Dominanz über ganz Mitteleuropa auszudehnen, im Ganzen immer wieder aufgegeben werden. Als normale Bedingungen gab es innerhalb der Habsburgermonarchie fehlende politische Einheit, unterschiedliche konstitutionelle Systeme und theoretisch loyale, doch in Wirklichkeit oft weniger gehorsame Lokalbehörden. Die einheitliche Habsburgerarmee war es, die den Wandel der politischen Uneinigkeit in Chaos vorbeugte, ihr war vor allem zu verdanken, dass die innenpolitischen Differenzen nicht zur Auflösung der Monarchie führten. Wenn es jemals ein Mitteleuropa gab, so war es in der Armee der Habsburgerdynastie zu finden. Ironischerweise war keine andere Institution weniger eines territorialen Mitteleuropa-Konzeptes bewusst. Die Offiziere waren an der Schaffung eines einheitlichen mitteleuropäischen Staates nicht interessiert; ihr Ziel war eher, die Größe einer alten Dynastie zu erhalten, die ihnen im Gegenzug eine soziale Ausnahmeposition und Arbeit versicherte.
Es scheint sicher zu sein, dass die Region ohne die Reichsarmee der Habsburger viel früher auseinandergefallen wäre als es dann in Wirklichkeit erfolgte, und zwar 1867 als erster, 1918 als letzter Schritt. Allein die Armee garantierte die Stabilität des Systems, indem sie ethnische und konfessionelle Unterschiede außer Acht ließ und zumindest versuchte, politische Binnengrenzen nicht zu berücksichtigen. Um eine Einheit zu schaffen, verließ sich die Armee auf die theatralische Wirkung der blendenden Uniformen, der auf öffentlichen Plätzen durchgeführten Musikveranstaltungen und der schneidigen Kavallerieeskadrone sowie auf den Abschreckungseffekt der Gewehre und Bajonette. Damit bleibt allerdings die Frage offen, ob dieses undemokratische Habsburgerheer, während sie das Leben der Monarchie verlängerte, auch zur gegenseitigen Entfremdung der Regionsbevölkerung beitrug. Es ging dabei einerseits um diejenigen, die bei der Armee ihren Dienstverpflichtungen nachgingen und lernten – wie man in der Militärsprache zu sagen pflegte – „Schulter an Schulter”, zusammenzuleben und zu arbeiten, ungeachtet ethnischer, konfessioneller und regionaler Unterschiede. Der Armeealltag war andererseits unvermeidlich brutal, die üblichen Schikanen wurden häufig als Manifestation ethnischer Vorurteile und Unterdrückung verstanden. Überdies benachteiligte die Armee, während sie 1914 in einen verheerenden Krieg zog, selbst ihren eigenen Daseinszweck, welcher in der inneren Friedens- und Prosperitätssicherung bestand. Doch wenn wir uns wieder überlegen, was nach 1918 geschah, also die Entstehung einer Reihe von Pseudo-Nationalstaaten und einander gegenüberstehenden Armeen, dann lässt sich unsere Auffassung wieder bestätigen, dass Mitteleuropa als brauchbares Konzept 1918 mit der Auflösung der Habsburgerarmee endete. Seit dieser Zeit blieb die regionale Einheit bloß ein Traum, und – den jüngsten Erfahrungen nach – selbst wenn die Staaten der Region einander gegenüber keine offen feindliche Stellung bezogen, beabsichtigten sie nicht, ihre Aktionen abzustimmen. Vielmehr strebten sie eine Aufnahme in die westliche Welt an, unabhängig und manchmal direkt gegen die Interessen von ihren Nachbarn. Kurzum: Mitteleuropa ist heute nicht mehr als eine geographische Bezeichnung.
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Aber warum behaupte ich, dass die anderen Reichsarmeen möglicherweise nicht die gleiche Funktion als die Habsburgerarmee hätten erfüllen können, selbst wenn wir beim mitteleuropäischen Konzept sämtliche Länder von Polen im Norden bis zum Balkan im Süden und von Tirol im Westen bis an Rumänien im Osten mitberücksichtigen? Wir sollten nun auf Situation und Rolle der russischen, deutschen und osmanischen Armeen eingehen.
Trotz dessen, dass es zum „Dritten Rom” avancieren wollte, entwickelten sich das Zarenreich und seine Streitkräfte im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Instrument der russischen nationalen Interessen. Im Reich lebte eine Vielzahl von ethnischen Gruppen, doch es bestand keinerlei Zweifel an seiner durch russische Beamte und Militärs gesicherten Dominanz. Die russischen Streitkräfte trugen zum Zusammenhalt des Staates vor und nach der Revolution von 1917 bei, lediglich die slawophilen und russophilen Ideologien wurden durch die internationalistischen Forderungen der kommunistischen Führung ersetzt.
Das Deutsche Reich und seine Armeen bestanden fast gänzlich aus Deutsch Sprechenden. Trotz der Tatsache, dass die Fiktion der von den zahlreichen deutschen Staaten aufgestellten unabhängigen, eigenen Streitkräfte bis Ende des Ersten Weltkrieges erhalten blieb, standen die im Weltkrieg eingesetzten kaiserlichen Armeen im Dienste der ganzen deutschen Nation und des einheitlichen deutschen Staates. Nach der Niederlage Deutschlands und der Entfaltung von manchen schwachen politischen Bewegungen zur Wiederherstellung regionaler Selbstverwaltungen und regionaler Unabhängigkeit war die deutsche Armee in der Lage, die nationale Einheit wieder zu erzwingen, selbst wenn es beträchtliches Blutopfer kostete.
Im Gegensatz zu den Deutschen und Russen könnte man feststellen, dass die Armee der Osmanen im klassisch römischen Sinne eine echte Reichsarmee war, indem die osmanischen Militärs keinen nationalen Zielen, sondern dem Sultan und dem Islam dienten. In diesem militärischen System, ähnlich wie im Römischen Reich oder in der Habsburgermonarchie, hatten junge Leute nicht-türkischer oder nicht- moslemischer Abstammung die Möglichkeit, bis auf die höchsten Führungsebenen aufzusteigen. Der dafür zu zahlende Preis war die oft nur nominale Aufgabe der eigenen Religion. Aus verschiedenen Gründen fiel das Osmanenreich im Laufe des Jahrhunderts auseinander und wurde durch einen türkischen Staat ersetzt. Im Ersten Weltkrieg finden wir noch eine multiethnische türkische Armee, doch diese diente nicht mehr dem Sultan, sondern einer Kaste von nationalistischen Offizieren. Nach 1918 wurde die Armee zum Beschützer eines militanten Nationalstaates.
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Im Folgenden sollte untersucht werden, welcher Methoden sich die Habsburgerarmee zur Erhaltung der mitteleuropäischen Einheit bediente.
Die ständigen Armeen in Europa gehen auf buntgemischte Kampfeinheiten wie die feudale Aushebung, Söldnerkompanien, städtische Miliz und Bauerntruppen, fürstliche Leibgarden zurück, von denen keine einzige ständigen Charakters war. Auch die Länder der Habsburger waren keine Ausnahme; diese waren beispielhafte Schauplätze der rücksichtslosen fürstlichen Ambitionen, der Erbfolgekonflikte und der quälenden finanziellen Knappheit. Seltsamerweise war die erste permanente Militärinstitution im Habsburgerreich keine ständige Armee, sondern eine schroffe Grenzschutzlinie, 1522 zur Abwendung der Ottomanengefahr aufgebaut. Sie bestand aus in Militäreinheiten eingeordneten bewaffneten Bauern. Diese von Wien aus direkt kontrollierte Militärgrenze war hochwichtig zum Überleben der Monarchie, doch es war auch eine Quelle von immer wiederkehrenden Konflikten mit den Ungarn, den Siebenbürgern und den kroatischen Ländern, die die Militärgrenze unter ihre eigene Kontrolle ziehen wollten.1 Der Hofkriegsrat stellt die zweite ständige Militärinstitution zur Rettung der Monarchie dar.2 Diese 1556 installierte gemischte, militärisch-zivile Einrichtung überlebte bis 1848, als an ihre Stelle das Kriegsministerium trat. Der Hofkriegsrat (sowie sein Nachfolger, das Kriegsministerium) kämpften unentwegt mit den Provinzoppositionen für das Konzept einer zentralisierten Militärverwaltung. Vor allem die Ungarn betrachteten die Assoziierung ihres Königreiches mit dem Rest der Monarchie als ein aus souveränen Staaten bestehendes Gebilde, und sie bestanden auf der Entscheidung über den eigenen Militärhaushalt und der Anwerbung der eigenen Rekruten.
Maria Theresia (herrschte 1740-1780 als „König” von Ungarn und Böhmen) war diejenige, die, unterstützt von ihren talentierten Beratern, eine echte ständige Armee aufstellte. Diese Streitkräfte waren in Regimentern gegliedert, ein jedes Regiment hatte eine eigene Nummer und einen eigenen Namen; Deutsch wurde als einheitliche Kommando- und Dienstsprache eingeführt; die Truppen wurden mit Uniformen und standardisierten Waffen ausgerüstet; eine Militärakademie und technische Schulen wurden gegründet; Drill und Disziplin wurden vereinheitlicht. Maria Theresia machte die ersten Schritte auf dem Weg zur Schaffung echter „österreichischer” und nicht „deutscher” Streitkräfte. Als ihr Mann 1745 zum Römischen Kaiser gekrönt wurde, verordnete sie, dass ihre Armee fortan „kaiserlich-königlich” genannt werden müsse und ihre Streitkräfte die schwarz-gelben Habsburgerfarben als Zeichen der politischen Einheit ihrer Familienländer tragen müssen.3
All das bedeutete aber nicht das Ende der innenpolitischen Schwierigkeiten. Die Rekrutierung blieb schwankend, die Kampfbereitschaft blieb überwiegend ungenügend. Die umfassenden Modernisierungs- und Zentralisierungsversuche von Joseph II. stießen auf Widerstand der Provinzen und führten zur Bildung eines virtuellen Kriegszustandes in Ungarn und Belgien. Er starb 1790 und hinterließ eine Tradition des bürokratischen Zentralismus, die vor allem mit seinem Namen verbunden blieb. Die französischen Revolutionskriege und die napoleonischen Kriege erwiesen sich für die Monarchie als größte Zerreißprobe. Die österreichischen Truppen litten überall unter dem übermäßigen Drill und der Konzeptlosigkeit. Doch gegen Ende der napoleonischen Kriege delegierte Österreich das größte Armeekontingent im Feldzug gegen Frankreich. Es gab nur minimale Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Armee, und die Handvoll ungarischer Offiziere, die sich für die nationale Unabhängigkeit und vielleicht auch für die Republik auflehnten, wurden 1795 hingerichtet oder eingekerkert.
Infolge der Abschaffung des Heiligen Römischen Reiches 1806 und der Gründung des sogenannten Österreichischen Kaisertums zwei Jahre früher befand sich Mitteleuropa größtenteils in den Rahmen eines einheitlichen Staates. Die Habsburgermonarchie kam aus den napoleonischen Kriegen mit einem stark gewachsenen Prestige heraus. Unter Metternich wollte man in die Rolle des konservativen Polizisten Europas schlüpfen, doch dafür war zu wenig Geld vorhanden. Somit lastete die Armee nie seine theoretische Stärke aus. In den meisten Provinzen basierte die Rekrutierung auf einer selektiven Zusammenschreibung; die Dienstdauer variierte je nach Provinz, 1845 wurde sie dann im ganzen Reich einheitlich auf acht Jahre reduziert. Die Regimenter waren fast ständig in Bewegung, zum Teil als Antwort auf die politischen und militärischen Anforderungen, vor allem aber um der Fraternisierung mit der Zivilbevölkerung vorzubeugen.
Die ethnische und soziale Zusammensetzung des Offizierskorps, wie wir es im Folgenden sehen werden, der Anteil der Adeligen und Nicht-Adeligen, der Anteil der Deutschen, der Anteil der Ungarn, Slawen, Italiener und Rumänen (alles stark gemischt) änderte sich seit dem 18. Jahrhundert nicht drastisch. In dieser Periode, wie in allen anderen, war die ethnische und überraschenderweise auch die soziale Zugehörigkeit der Offiziere innerhalb der Armee völlig unwichtig, als Ausnahme galt dabei nur der Hochadel. Obwohl die römisch-katholische die Religion des höchsten Befehlshabers war, wurde die konfessionelle Treue und religiöse Frömmigkeit eines Offiziers bei der Beförderung als völlig unerheblich eingestuft. Die Offiziere waren apolitisch, und auch die Revolution von 1848 wurde nicht aus den Armeereihen initiiert. Es gab einige kleinere Konspirationen unter italienischen und polnischen Offizieren, doch diese wurden ohne Schwierigkeiten niedergeworfen. Die Armee sah im März ihrer größten oder, genauer gesagt, ihrer einzigen inneren Krise in ihrer Geschichte entgegen.
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Die sich im Österreichischen Reich entfalteten zahlreichen Revolutionen in Mailand, Wien, Budapest und an anderen Orten überraschten die Armee. Die Soldaten hatten keine polizeiliche Ausbildung und ihre Befehlshaber verloren den Kopf unter der Wirkung der Massendemonstrationen und wegen der Widersprüchlichkeit der kaiserlich-königlichen Edikte. Die in Ungarn stationierten Offiziere wurden beispielsweise alternierend dem neuen österreichischen oder dem neuen ungarischen Kriegsministerium unterstellt. Die Zentralverwaltung brach zusammen, und obwohl die meisten Revolutionäre sich als bloße Reformer verstanden und dem Herrscherhaus weiterhin loyal blieben, waren die von dem etwas retardierten Kaiser Ferdinand erzwungenen Zugeständnisse sehr umfassend. Wenn man all das umgesetzt hätte, wäre die Monarchie fast gleich danach auseinandergefallen. Die Probleme wurden noch weiter vertieft, als der König von Piemont-Sardinien am 23. März Österreich den Krieg erklärte und seine Streitkräfte, zusammen mit den italienischen Revolutionären der Region, die kaiserliche Armee aus der Lombardei verdrängten. In Venedig wurde eine Republik ausgerufen, und der dortige österreichische Gouverneur kapitulierte vor der Revolutionsführung.
Die besten Armeetruppen stationierten in Norditalien, doch ihr Oberkommandant, Feldmarschall Radetzky, verfügte nur über 73 000 Mann, von denen 20 000 Italiener waren. Die meisten Italiener gingen schnell verloren, teils wegen Fahnenflucht, teils wegen ihres venezianischen Stationierungsortes.4 Radetzky gab aber nicht so leicht auf. Als sein größter Vorteil galt seine Popularität unter seinen nicht-italienischen Soldaten und den italienischen Bauern. Die Letzteren neigten dazu, ihn als ihren Beschützer gegen jene aristokratischen italienischen Revolutionäre anzusehen, die nicht selten ihre Grundherren waren. Innerhalb weniger Monate schlug Radetzkys Armee, mit Deutschen, Österreichern, Ungarn, Kroaten, Tschechen, Polen und anderen in ihren Reihen, die Revolutionäre von Piemont und Italien. Radetzky und die norditalienische kaiserliche Armee waren bekanntlich diejenigen, die in jenem Jahr die Dynastie retteten.
Im März 1848 ergab sich für die erfahrenen ungarischen Politiker die Möglichkeit, von dem Herrscherhaus unter Berufung auf die alten ungarischen Freiheiten wichtige Zugeständnisse zu erzwingen. Durch eine Reihe von neuen, von Ferdinand erlassenen Gesetzen wurde Ungarn Österreichs Partnerstaat. Ungarn konnte sich so eigener Legislative und Exekutive rühmen und konnte ein eigenes Finanz-, Außen- und Kriegsministerium installieren. Doch die Verfassung ließ unklar, wie die beiden für die Außenpolitik und für das Militärwesen zuständigen Institutionen in Wien und Budapest ihre Aktionen abstimmen sollten. Als ein weiteres bedeutendes Zugeständnis erhielt Ungarn das Recht, sämtlichen in Ungarn stationierten kaiserlichen Truppen einen Treueid auf die ungarische Konstitution abzunehmen. Diese Soldaten wurden dann dem ungarischen Kriegsminister unterstellt. Es wurde aber nicht klargemacht, ob ein Austausch von Regimentern durchgeführt werden sollte, in dessen Rahmen die aus Ungarn und Siebenbürgen stammenden Soldaten heimkehren und die nicht-ungarischen Einheiten das Land verlassen sollten.5
Das Oberkommando der diversen Armee-Einheiten und ihre Loyalität wurden zu hochwichtigen Fragen, die anfangs fast blutlosen Revolutionen eskalierten zu einer Reihe von Bürgerkriegen und spätestens im Herbst 1848 zu einem regulären, großen Krieg zwischen Österreich und Ungarn. In diesen Konflikten fanden sich Bataillone des gleichen Regiments oft in einander gegenüberstehenden Lagern, manchmal mussten sie sogar gegeneinander kämpfen.
Die Krise entwickelte sich zu einer teilweise blutigen Auseinandersetzung, doch gleichzeitig war es etwas komisch, als sich beispielsweise serbische Grenzschutzeinheiten im Sommer 1848 in Südungarn gegen die Königlich Ungarische Regierung auflehnten. Die Budapester Regierung schickte kaiserlich-königliche Truppen und ungarische Nationalgardisten, Zugehörige der neugegründeten Miliz, gegen die Serben. Die Soldaten waren anfangs bereit, eine wahrscheinlich aus dem Ausland aufgehetzte Rebellion zu beseitigen, das Problem wurde aber immer komplizierter, als es klar wurde, dass die Grenzsoldaten unter dem Kommando von kaiserlichen Offizieren stehen und die kaiserlich-königliche Fahne tragen.6
In dem ausgebreiteten Konflikt versuchten die kaiserlichen Soldaten entweder neutral zu bleiben, oder sie rückten auf die ungarische oder serbische Seite. Dieser Schritt hing davon ab, in welchem Lager sie den Interessen des weit entfernten Herrschers am besten zu dienen gedachten. Bei dieser Entscheidung spielte die Nationalität der Offiziere selten eine Rolle; viel wichtiger waren die Tradition und der Standort des eigenen Regiments. Nicht zu sprechen davon, dass die Offiziere der sogenannten ungarischen, tschechischen oder deutschen Regimenter nicht unbedingt magyarischer, tschechischer oder deutscher Abstammung waren. Ziemlich viele der ungarischen Husarenoffiziere waren beispielsweise Engländer. Die übrigen stammten aus allen Teilen Europas und der Monarchie. Auch der Mannschaftsstand der ungarischen Regimenter war nicht notwendigerweise ungarischer Nationalität. Die Ungarisch Sprechenden bildeten jedenfalls eine Minorität in ihrem eigenem Königreich. Allerdings kämpften jene Soldaten in den gegnerischen Lagern, von denen ein jeder seinen Schwur auf den obersten Befehlshaber, Ferdinand, ablegte. 1848 verteilte der unglückliche Herrscher eine Zeitlang Beförderungen und Dienstorden unter ihren auf den beiden gegenüberstehenden Seiten dienenden, loyalen Offizieren.
Die serbische Revolte wurde massiv unterstützt von der gleichzeitigen antimagyarischen politischen Bewegung und Rebellion der Kroaten.7 Die kroatische Lage unterschied sich von der Situation der Serben, da das Königreich Kroatien-Slawonien unter der ungarischen Krone vor 1848 als juristische Person anerkannt wurde, und der kroatische Führer, Josip Jelacic, kaiserlich-königlicher General und hoher ungarischer Beamter in einer Person war. Er wurde ein verbitterter Feind der Ungarn, ein loyaler Untertan der Habsburger und ein kroatischer Patriot – in dieser Reihenfolge. Unter ihrer Führung entwickelte sich die progressive kroatische Nationalrevolution zu einer starken Bewegung im Dienst der Erhaltung der Monarchie und zur Zerstörung der ungarischen Souveränität. Unter geheimer Unterstützung von manchen Wiener Hofleuten mobilisierte Jelacic die kroatische Grenzschutzgarde und marschierte im September 1848 nach Ungarn ein.
Die Ungarn, angeführt, wenn auch noch nicht offiziell, vom Finanzminister der verfassungsmäßigen Regierung, Lajos Kossuth, erteilten einem kaiserlichen General den Befehl, gegen den rebellierenden Jellacic zu marschieren. Die Spaltung innerhalb der Armee schien endgültig zu sein. Doch die Generäle der ungarischen Seite wollten eher neutral bleiben, so konnte Jelacic nur unweit vor der ungarischen Hauptstadt von den üblichen buntgemischten Streitkräften aufgehalten werden, die diesmal aus tschechischen Artilleristen, ungarischen Soldaten und Nationalgardisten bestanden. Ihr Kommando übernahm ein energischer kaiserlich-königlicher General.
Zuerst fielen die Ungarn vorsichtig in österreichische Gebiete ein, dann drangen starke österreichische Streitkräfte nach Ungarn ein. Im Oktober erklärte der Kaiser die ungarische verfassungsmäßige Regierung für rechtlos, doch lange erließ der theoretisch arbeitslose ungarische Kriegsminister seine Verordnungen an die Truppen weiterhin im Namen des Königs. Die Ungarn widersetzten sich dem kaiserlichen Manifest und bereiteten sich auf den Krieg vor, in dessen Verlauf sie anfangs erstaunlich erfolgreich waren. Bis zum Frühling 1849 befreiten sie fast das ganze Land von den österreichischen Truppen.
Indem er eine Entscheidungsschlacht fürchtete, erbat und erhielt der neue Kaiser Franz Joseph (Ferdinand trat großzügig im Dezember zurück) russische Militärhilfe im Mai 1849. Das war ein großer Fehler seitens der Österreicher, denn dieser Schritt untergrab die Reputation der kaiserlichen Armee, denn die Österreicher hätten höchstwahrscheinlich die Ungarn auch alleine schlagen können. In Italien zerschlug Radetzky im März mühelos den zweiten Angriff von Piemont; Venedig wurde belagert und kapitulierte im August. Die Einheiten von beinahe allen Habsburgerregimentern marschierten nun in Richtung Ungarn. Es gab auf österreichischer Seite auch keinerlei Mangel an Rekruten oder Freiwilligen. Es wurde klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Monarchie – Deutsche, Tschechen, Kroaten, Serben, Rumänen und sogar Polen sowie die Bauern im Allgemeinen – dem ethnischen Krieg den österreichischen Absolutismus vorzogen. Eine Kriegsmüdigkeit griff in der ungarischen Bevölkerung noch vor dem Einmarsch der zaristischen Armeen um sich. Der ungarische Oberbefehlshaber kapitulierte im August, und die letzte ungarische Festung zog die Nationalfahne im Frühoktober ein.
Nach dem Krieg stellten die Österreicher Hunderte von früheren Habsburgeroffizieren vor Kriegsgericht, unter ihnen 24 kaiserlich-königliche Generäle. Über 40 Offiziere (jedoch keiner der Generäle der alten Armee) wurden hingerichtet, die Mehrheit der anderen erhielt strenge Haftstrafen.8
Was war der Grund für die Militärkrise von 1848-49? Die konstitutionelle Vereinbarung zwischen Ungarn und dem Kaiser wies ein Drittel der Habsburgerstreitkräfte der Zuständigkeit der ungarischen Behörden zu. Als ein kaiserlicher Offizier in Ungarn erkannte, dass er dem falschen Vorgesetzten gehorche, war es zu spät. Er legte seinen Eid auf die ungarische Konstitution ab, er erhielt seinen Sold von Budapest, er wurde von den Ungarn befördert – im Namen des Königs, versteht sich, und er wurde von ungarischen politischen Kommissaren kontrolliert. Außerdem war es gerade nach der Verkündigung des kaiserlich-königlichen Oktobermanifestes nicht ganz klar, ob ein Verbleiben in der ungarischen Armee wirklich illegal war. Die Budapester Regierung versicherte seinen Offizieren, dass das Manifest eine von den bösen Beratern des Königs angefertigte Fälschung sei oder sie würde dem König abgeschwatzt. Viele Berufsoffiziere der ungarischen Nationalarmee bestanden darauf, nicht beim „illegalen” Nationalen Verteidigungskomitee, sondern nur beim Königlichen Ungarischen Kriegsminister Meldung zu machen.
Im Grunde kann man behaupten, es war eine Frage der individuellen Entscheidung, ob ein Offizier auf der ungarischen Seite blieb. Mindestens 1000 oder über 10% des kaiserlichen Offizierskorps entschieden sich dafür, nachdem das ungarische Parlament „das Habsburg- Lothringische Haus” am 14. April 1849 offiziell „entthront” und Kossuth als Gouverneur-Präsident des Landes gefeiert hatte. Die Mehrheit der rebellierenden Offiziere war ungarischer Nationalität. Der ungarische Militärhistoriker Gábor Bona hat ausgerechnet, dass von den 830 Feld- und Generaloffizieren der Honvédarmee (die überwiegende Mehrheit von denen kaiserliche Soldaten) 68,8% Magyaren, 15,5% Deutsche, 4,2% Polen und 3,6% Serben oder Kroaten waren.9
Die 13 ungarischen rebellierenden Feldherren, die in Arad am 6. Oktober 1849 hingerichtet wurden, waren gemischter Nationalität: Ein nicht aus Österreich stammender Deutscher, ein Deutsch-Österreicher, zwei Ungarndeutsche, ein Kroate und ein Serbe. Zwei von den sechs Magyaren waren armenischer Abstammung; einer oder zwei von den anderen sprachen gar kein oder nur ein dürftiges Ungarisch. Die Ranghöhe der dreizehn schwankte in der vorrevolutionären Zeit zwischen Leutnant und Oberst. Die meisten von ihnen waren vor dem Krieg im aktiven Dienst gewesen, manche waren früher pensioniert worden. Einige waren in der alten Armee schnell befördert worden, die meisten aber nur langsam. Keiner von ihnen hatte mit den kaiserlichen Militärbehörden Probleme gehabt. Vor dem Militärgerichtshof behaupteten sie, dass sie nur ihre Pflicht getan hätten, auf den Posten, auf welche sie vom König bestellt worden wären. Auch direkt vor ihrem Tod und in ihren Privatbriefen verstanden sich einige von ihnen als loyale Untertanen der Habsburger.10
Was motivierte diese Offiziere? Einer von ihnen war Republikaner; ein anderer, ein Deutscher, meinte, er könnte am besten der Sache der deutschen Einheit dienen, wenn er in der Armee von Kossuth kämpfe. Die meisten von den anderen nützten die Gelegenheit, statt Züge und Kompanien nunmehr Brigaden, Divisionen und Armeekorps kommandieren zu dürfen. Der wichtigste Grund für die Präsenz der 1000 kaiserlichen Offiziere in der ungarischen Nationalarmee war höchstwahrscheinlich weder ihr ungarischer Patriotismus noch die Karriereperspektiven, sondern die Loyalität zum eigenen Regiment, zum echten Vaterland oder, wenn nicht das, dann die Verpflichtung zu einem charismatischen Befehlshaber.
Offenbar hatten die einfachen Soldaten, die in den beiden Lagern meistens als Wehrpflichtige einberufen worden waren, in diesen Fragen einen viel geringeren Entscheidungsspielraum als die Offiziere. Die meisten müssen nur vage Vorstellungen gehabt haben, auf welcher Seite sie eigentlich stünden. Es war tatsächlich nicht einfach, sich in der Situation auszukennen, so zum Beispiel im Sommer 1848, als – mit den Worten von Graf Majláth, einem ungarischen Aristokraten – „Der König von Ungarn dem König von Kroatien den Krieg erklärte, und der Kaiser von Österreich neutral blieb, und alle der drei Monarchen eine und dieselbe Person war.”11 Doch viele einfache Soldaten machten auch individuelle politische Entscheidungen während des Krieges.
Letzten Endes wurde die Monarchie und somit auch die mitteleuropäische Einheit von resoluten Generälen wie Radetzky, Windisch-Graetz, Jelacic und Haynau und den über 9000 Berufsoffizieren gerettet (vielleicht 2000 von ihnen stammten aus Ungarn), die während des ganzen Krieges im Dienst des Kaisers blieben. Diese Offiziere konnten sich mit dem Gefühl trösten, dass sie während der Schlachten gegen die Revolutionstruppen und die Ungarn für den inneren Frieden, für die Beseitigung des ethnischen Konfliktes und des Klassenkrieges gekämpft hätten.
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Es war in der Tat eine stolze Armee, die aus den Revolutionskriegen herauskam, doch die Hochstimmung dauerte nicht mehr lange. Wegen der horriblen Kosten der Revolutionskriege und anderer Gründe gab es wieder kein Geld für Waffen und Ausbildung. Das absolutistische Regime war außerstande, den inneren ethnischen Meinungsverschiedenheiten ein Ende zu setzen. Eine ungeschickte Außenpolitik trieb Österreich in zwei größere bewaffnete Konflikte, die es auch verlor. Der Krieg von 1859 gegen Frankreich und Piemont-Sardinien sowie der Krieg von 1866 gegen Preußen und Italien zeigten die Schwächen des österreichischen Militärkommandos und den relativen Rückstand der Wirtschaft der Monarchie. Diese Kriege machten aber immer noch keinerlei Untreue innerhalb der multinationalen kaiserlichen Armee bemerkbar. Die Truppen behielten ihre Einheit, und obwohl manche Soldaten Fahnenflucht begingen, gab es keine Meutereien, nicht einmal unter den italienischen und deutsch-österreichischen Soldaten, die wahrscheinlich nur ungern auf ihre ethnischen Brüder von jenseits der Grenze schossen.
1866 hatte Österreich eine liberale Regierung, die misstrauisch den Militärs gegenüber eingestellt war und eine Umwandlung der Armee in ein nützliches Instrument der liberalen Elite (und nicht des Kaisers) erhoffte. Diese Bestrebungen wurden noch durch die Wiederherstellung der ungarischen Rechte kompliziert, dessen Höhepunkt der Ausgleich von 1867 war. Ungarn wurde – ähnlich wie 1848 – wieder ein souveräner Staat, ein gleichrangiger Partner Österreichs innerhalb des Habsburgerreiches. Der Unterschied zwischen 1848 und 1867 bestand darin, dass ein Großteil der Armee, die auswärtigen Angelegenheiten und eine Reihe von anderen, weniger wichtigen Institutionen gemeinsame Einrichtungen blieben.
Die Auswirkung des Ausgleiches auf die Zukunft von Mitteleuropa kann nicht überschätzt werden. Es existierte nun ein größerer Staat in der Region, Ungarn, der öffentlich durch die Idee der Nation und nicht nur durch den Dienst der Dynastie geprägt war. Der ungarische Nationalstaat garantierte ihrer Bevölkerung umfassende Bürgerrechte, doch er war auch bemüht, die ethnischen Minderheiten, die mehr als die Hälfte seiner Population ausmachten, zu assimilieren. Eines der Assimilierungsinstrumente war die Honvéd oder die Ungarische Nationalgarde, die als Ergänzung der viel größeren gemeinsamen Armee diente. Die Ungarische Nationalgarde (oder ihr österreichisches Äquivalent) war anfangs viel schlechter ausgerüstet als die gemeinsame Armee, doch dies änderte sich stufenweise, und 1912 hatte die Nationalgarde fast so viele Truppengattungen wie das gemeinsame Heer. Das bedeutete, dass die Honvéd-Streitkräfte, zumindest theoretisch, imstande waren, selbständig einen Krieg zu führen.
Der ungarischen Regierung schwebte ein progressiver und liberaler Nationalstaat vor, der all seine Einwohner umfasst, vorausgesetzt, dass jene im Gegenzug die ungarische Nationalidee annehmen. In der Honvédarmee war die Führungs-, Befehl und Dienstsprache Ungarisch. Darüber hinaus war die ungarische Regierung zwischen 1867 und dem Ersten Weltkrieg bemüht, auch die ungarischen Einheiten innerhalb der gemeinsamen Streitkräfte zu „nationalisieren”. Die Zugeständnisse erhielt man von Franz Joseph, und die oberste militärische Führung bestand unter anderem auf die Schaffung eines virtuellen, separaten Generalstabes für die Honvédarmee, obwohl es theoretisch nur einen einheitlichen, gemeinsamen Generalstab gab; auf einen verbindlichen Ungarischunterricht für sämtliche werdende Offiziere der gemeinsamen Armee; ferner auf den Erlass von 1881, der vorsah, dass fortan die Einheiten der gemeinsamen Armee so nahe wie möglich ihrem Heimatort stationieren sollten. Das war gerade das Gegenteil der früheren Praxis, demnach die Truppen in von der Heimat weit entfernte Regionen geschickt worden waren.
Was die Ungarn also längerfristig anstrebten, war offensichtlich die Teilung der gemeinsamen Armee auf eine österreichische und eine ungarische Komponente. Nicht zu vergessen ist, dass die Hälfte der sogenannten ungarischen Soldaten nicht ungarischer, sondern serbischer, rumänischer, slowakischer, ruthenischer und deutscher Nationalität war. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass Mitteleuropa als ein relativ zusammenhaltendes politisches und administratives System 1867 aufhörte zu existieren. An seine Stelle trat Ungarn, dessen Ziel war, sich zu einem modernen und zentralisierten Staat zu entwickeln, und Österreich, die sich in ethnischen Konflikten und Chaos wälzte, und dessen viel moderateres Ziel das Überleben war. Das Überleben der beiden Staaten der Doppelmonarchie wäre ohne die Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „überschwemmende” industrielle und agrokulturelle Revolution und ohne den wachsenden Wohlstand undenkbar gewesen. Doch keine weniger bedeutende Rolle spielte die gemeinsame Armee, die trotz der durch die Nationalgefühle erzwungenen Zugeständnisse immer noch eine durchaus supranationale Institution war. Diese Armee machte 80%, oder wenn wir auch die ähnlich supranationale Österreichische Nationalgarde hinzuzählen, 90% der gesamten kaiserlichen Streitkräfte aus.
Die Nationalitätenpolitik der kaiserlichen Armee änderte sich während des ganzen 19. Jahrhundert bis hin zu 1918 nicht. Im Rahmen des 1868 eingeführten einheitlichen Militärdienstes wurden die Rekruten nach Möglichkeit in lokale Einheiten einberufen, doch dieser Umstand machte diese Armeeverbände nicht minder kosmopolitisch. 1914 galten beispielsweise 142 höhere Militärformationen (Regimenter und unabhängige Bataillone) als monolingual; 162 Einheiten waren zwei-, 24 Einheiten dreisprachig; es gab einige Formationen, in denen vier Sprachen gebräuchlich waren.12 Die Armeeregelungen sahen vor, die Sprache, die von 20% des Mannschaftsstandes gesprochen wurde, automatisch zur Regimentssprache oder „Nationalsprache” zu machen. In der gemeinsamen Armee und der Österreichischen Nationalgarde war die Kommando- und Dienstsprache einheitlich deutsch, die Kommandosprache bestand aber nur aus weniger als hundert kurzen Ausdrücken, und im Übrigen sollte man die Männer in ihrer eigenen Sprache ansprechen. Offiziere, die linguistisch nicht versiert genug waren oder eben zum Beispiel ein paar Brocken „Armeeslawisch” nicht lernen konnten, riskierten eine Entlassung aus dem Dienst.13
Erst in den 1870er Jahren fing man an, in den Militärstatistiken auch die Nationalität mit zu berücksichtigen, doch im sehr allgemeinen Sinne. Das Kriterium war die Sprachpräferenz des Soldaten. Laut dieser Statistiken waren beinahe 90% der Berufsoffiziere Deutsche. Diese Angabe ist aber irreführend, da die meisten Offiziere, selbst Soldatensöhne, ein Nomadenleben führten; natürlicherweise gebrauchten sie meistens Deutsch im Alltag. Die Tatsache, dass die Ostinden untereinander häufig Englisch sprachen, macht sie noch zu keinen Engländern. Meine Untersuchung anhand sinnvollerer Statistiken zeigt, dass kaum mehr als 50% der Berufsoffiziere deutscher Abstammung waren.14 Es ist bemerkenswert, dass am 1. November 1918 nur 166 der in der Habsburgermonarchie dienenden 387 Generäle als Deutsche betrachtet werden können, und von den neun Feldmarschällen der Doppelmonarchie nur drei deutscher Nationalität waren.15 Herkunft und Religion waren also keine ausschlaggebenden Charakteristika, als Ausnahme galten vielleicht nur die Fälle der ungetauften Juden.
Während sich die ethnische und konfessionelle Zusammensetzung des Berufsoffizierskorps nur wenig im Laufe der Jahre änderte, modifizierte sich seine soziale Zusammensetzung augenfällig durch den Schwund des alten Adels und den Aufstieg von Repräsentanten der Mittelklasse, der unteren Mittelklasse und des Bauerntums. Man findet eine große Zahl von Adeligen, doch diese waren Offiziere, die wegen ihrer eigenen oder des Vaters Langlebigkeit bei den Streitkräften geadelt worden waren.
Werfen wir auch einen Blick auf das Reserveoffizierskorps: Seine Bedeutung nahm bis zum Krieg und während des Krieges immer mehr zu, und in Wirklichkeit waren die Reserveoffiziere – bloße Zivilisten in Uniform – diejenigen, die sämtliche kleinere Kampfeinheiten kommandierten.
Das Militärgesetz von 1868 sah für die Hochschulabsolventen nur eine einjährige Dienstpflicht vor, statt der üblichen vierjährigen Variante. Überdies waren allein diese privilegierten Jugendlichen für die Offiziersschule und damit auch für ein Reserveoffizierspatent qualifiziert. Das Ziel der Regierung war es, für das professionelle Offizierskorps bereitwillige Rekruten aus den bevorzugten liberalen Mittelschichten zu akquirieren. Nicht viel wurde aus diesem Plan, doch mit der Zeit wurde es als Zeichen sozialer Unterscheidung der jungen Mittelklässler verstanden, als Leutnant oder Unterleutnant bei den Reservisten dienen zu dürfen. 1914 wusste die gemeinsame Armee 14 000 Reserve- und 18 000 Berufsoffiziere in ihren Reihen.16 Im Ergebnis waren die Nationalisten der Mittelklasse – die meisten Nationalisten kamen aus dieser Schicht – oft gezwungen, ihren politischen Eifer zu zügeln. Vor allem bei den Manövern und der Mobilmachung mussten sie ihre Dienstpflicht zusammen mit Berufsoffizieren erfüllen, die nationalistische Agitatoren verachteten und bereit waren, ein illoyales oder antisemitisches Großmaul zu einem Duell zu provozieren. Bei so einer Herausforderung konnte der Reservist ohne den Verlust seines Offizierspatentes nicht fallen. Damit gewann die Armee Tausende von qualifizierten Männern für die dynastische Loyalität, selbst wenn diese nur für die aktive Dienstzeit galt. 1914, während der Generalmobilmachung gab es nur sehr wenige Fahnenfluchtfälle unter den Reserveoffizieren.
Man kann nicht behaupten, dass es in der Armee keine ethnischen Unzufriedenheiten gab. Die partielle Mobilmachungen von 1908 und 1912-13 führten zu kleineren Meutereien in manchen von Tschechen besetzten Einheiten, und es kam immer eindeutiger zum Ausdruck, dass es längerfristig immer schwieriger wird, die Einheit der Armee und somit auch die bereits wackelige politische Einheit der Doppelmonarchie zu erhalten. Doch zumindest die ersten Kriegsjahre bezeugten in den Mannschafts- und Offiziersreihen einen erstaunlich hohen Grad an Loyalität zu den Habsburgern. Es gab sicherlich Deserteure an der Front, deren Zahl aber weit geringer war, als der vom Oberkommando geschätzte Wert, oder mit dem die tschechischen, südslawischen und rumänischen Politiker und Historiker nach dem Kriegsende prahlten. Den über zwei Millionen österreich-ungarischen Kriegsgefangenen kam die Zahl der russischen Kriegsgefangenen gleich; dieser zwischen den beiden Ländern in der Kriegszeit durchgeführte virtuelle Bevölkerungsaustausch zeigten auch, dass die Frontlinien im Osten fließend waren. Die meisten Soldaten wurden nicht einzeln, sondern zusammen mit ihren Regiments-, Divisions- oder Armeekommandeuren gefangen genommen – die, wie bei Przemysl, die allgemeine Kapitulation verordneten. Im Gegensatz zur von den Tschechoslowaken und anderen geführten Propaganda hörte die mitteleuropäische Solidarität in den Kriegsgefangenenlagern nicht auf. Die Zahl der Freiwilligen der tschechischen und südslawischen Legionen machte nur ein Bruchteil der Anzahl jener Tschechen und Südslawen der einstigen kaiserlichen Armee aus, die in russischen und italienischen Gefangenenlagern sassen.17
Umstände, wie der Verdacht seitens des Armeeoberkommandos den slawischen, italienischen und rumänischen Soldaten gegenüber, das gewaltige Blutopfer, die Defizite und schließlich die militärische Niederlage der Mittelmächte führten dazu, dass die Völker im Herbst 1918 die Doppelmonarchie demontierten. Auf dem Heimweg von der italienischen Front wurden österreich-ungarische Soldaten von österreich-ungarischen Soldaten aufgehalten, die nun das Armband des brandneuen südslawischen Staates trugen. Nur mit dem Visum des neuen Staates durften die Soldaten weiterfahren. Dieser symbolische Akt kennzeichnete nicht nur das Ende des Habsburgerreiches oder der Habsburgerarmee, sondern auch das der mitteleuropäischen Einheit, oder zumindest was davon nach dem Ausgleich von 1867 übrigblieb. Die mitteleuropäische Einheit wurde danach nie wieder aufleben lassen, es ergab sich nicht einmal die Chance, sie in absehbarer Zeit herzustellen. Nach 1918 wurde Mitteleuropa zu einem beinahe bedeutungslosen Begriff.
Anmerkungen
1 Zur Militärgrenze vgl. Gunther E. Rothenberg: The Austrian Military Border in Croatia, 1522-1747. Urbana, Ill., 1960, und The Military Border in Croatia, 1740– 1881. A Study of an Imperial Institution, Chicago, 1966.
2 Zum Hofkriegsrat vgl. Oskar Regele: Der österreichische Hofkriegsrat 1556–1848. Wien, 1949.
3 Gustav Adolph–Auffenberg Komarow: Das Zeitalter Maria-Theresias. In: Herbert S. Fürlinger und Ludwig Jedlicka (Hrsg.): Unser Heer. 300 Jahre österreichisches Soldatentum in Krieg und Frieden. Wien–München–Zürich, 1963. 131. f. Vgl. noch Christopher Duffy: The Army of Maria Theresa. New York, 1977.
4 Oskar Regele: Feldmarschall Radetzky. Wien–München, 1957. 262. Vgl. noch Alan Sked: The Survival of the Habsburg Empire: Radetzky, the Imperial Army and the Class War, 1848. London, 1979.
5 István Deák: The Lawful Revolution. Louis Kossuth and the Hungarians, 1848–1849. New York, 1979. 99–106 et passim.
6 István Deák: Beyond Nationalism: A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps, 1848-1918. New York, 1990, 34. f. Vgl. noch Deák: The Lawful Revolution, 140. f.
7 Die beste Quelle zur kroatischen Frage vor 1848, die die meisten Dokumente enthält: Gyula Miskolczy: A horvát kérdés és irományai a rendi állam korában. 2 Bde., Budapest 1927–1928. Vgl. noch Rothenberg: The Austrian Military Border in Croatia, 1740–1881, Kapitel 7–8. Zur Geschichte des kroatischen Ungarnfeldzuges im September 1848 vgl. Deák: The Lawful Revolution, 161–170., ferner Ferdinand Hauptmann (Hrsg.): Jelacic Kriegszug nach Ungarn 1848. 2 Bde. Graz, 1975 (Texte und Dokumente).
8 Zur Nachkriegsbestrafung der ungarischen Offiziere und Politiker vgl. u.a Deák: The Lawful Revolution, 329–337; Rudolf Kiszling: Die Revolution im Kaisertum Österreich. 2 Bde. Wien, 1948. Bd. 2. 291–294. Vgl. noch die folgende Dokumentensammlung: Gyula Tóth (Hrsg.): Küzdelem, bukás, megtorlás. Emlékiratok, naplók az 1848–1849-es forradalom és szabadságharc végnapjairól. 2 Bde. Budapest, 1978., ferner Tamás Katona (Hrsg.): Az aradi vértanúk. 2 Bde. Budapest, 1979.
9 Gábor Bona: Tábornokok és törzstisztek a szabadságharcban 1848–49. Budapest, 1983. 67. f. et passim.
10 Die Briefe enthält: Katona, a.a.O., Bd. 1. 209. f.
11 Aufgezeichnet von: Johann Heinrich Blumenthal: Vom Wiener Kongress zum Ersten Weltkrieg. In: Herbert St. Fürlinger und Ludwig Jedlicka (Hrsg.), a.a.O., 234.
12 Maximilian Ehnl: Die österreich-ungarische Landmacht nach Aufbau, Gliederung, Friedensorganisation, Einteilung und nationaler Zusammensetzung im Sommer 1914. In: Edmund von Glaise-Horstenau und Rudolf Kiszling (Hrsg.): Österreich-Ungarns letzter Krieg, 1914–1918. 7 Bde. und 10 Ergänzungshefte. Wien, 1930–1938. Ergänzungsheft 9. Wien, 1934.
13 Deák: Beyond Nationalism, 99-102. et passim.
14 Ebd., 184. f.
15 Wilhelm Winkler: Der Anteil der nichtdeutschen Volksstämme an der österreich-ungarischen Wehrmacht. Wien, 1919. 3. und Deák: Beyond Nationalism, 188. f.
16 Deák: Beyond Nationalism, 194.
17 Die beste aktuelle Arbeit über die österreich-ungarischen Kriegsgefangenen in Russland: Alon Rachamimov: Marginalized Subjects: Austro-Hungarian POWs in Russia, 1914-1918. unveröffentlichte Ph.D-Dissertation (Columbia University, 2000).