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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 1:89–102.

PÉTER HANÁK

Warum Fin de Siècle?

Die Bedeutungsänderungen eines Begriffs

Wenn ich sage: das Ende des Jahrhunderts (oder wissenschaftlicher: Fin de Siècle), verstehe ich darunter eindeutig das Ende des 19. Jahrhunderts, dabei gingen die vergangenen zwanzig Jahrhunderte alle einmal zu Ende, dennoch hob sie ihre Entwicklung nicht auf den Rang eines kulturgeschichtlichen Zeitalters. Warum gerade das Ende des 19. Jahrhunderts? Und dies nicht nur in der klassifizierenden Erinnerung der Nachwelt, sondern auch im Bewusstsein der Zeitgenossen. In der Tat wussten auch sie oder spürten zumindest, dass nicht nur eine runde Einheit der Zeitrechnung abgelaufen, sondern ein Zeitalter zu Ende gegangen war. Fin de Siècle tauchte als das Zeitalter bezeichnendes Substantiv um die Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts in Paris auf. 1884 wurde ein Stück mit diesem Titel aufgeführt, dass das Unbehagen der jüngeren Generation als das vom Ende des Jahrhunderts nannte. Im gleichen Jahr erschien der Roman À Rebours (Die Kehrseite) des zu dieser Zeit beliebten Schriftstellers Joris-Karl Huysmans, der als klassisches Vorbild des Lebensgefühls Fin de Siècle erwähnt und nachgeahmt wurde. Aus dem Substantiv wurde bald ein Attribut, das zum Ausdruck einer spezifischen Stimmung des Zeitalters, der Müdigkeit, dem Chanson, der Sängerin, der Prostitution und der Jugend des Fin de Siècle diente.

Was verstanden nun die Verfasser und Verbreiter des Begriffs unter dem Attribut Fin de Siècle? Im ersten und ursprünglichen Sinn war es Ermüden, Enerviertheit und Neurasthenie, die überwiegend in Neurose gefasst war. Zu Vertreibung oder zum Vergessen der neurotischen Lebenslangeweile diente der Gebrauch von Verschrobenheit, gefragter Weltgewandtheit (Dandyismus), raffinierter Genüsse, Betäubungs- und Aufmunterungsmitteln mit Neigung zur Sünde und Perversion. In all dem sah und verdammte der ehrbare Bürger moralische Verseuchung und übersteigerten Hedonismus, wo er doch hinsichtlich zweier Eigenschaften den konventionellen (und vorbildlich verheimlichten) bürgerlichen Hedonismus überflügelte. Die einer war die Anbetung der Kunst und der Kultus der Schönheit, die Ästhetisierung des Verfalls, die andere die sich im Ablehnen und Verwerfen der Konventionen, in der Bürgerverärgerung offenbarende, passive, mit vielen Posen und Manieren dekorierte und eher informative Opposition.

„Der wahrste Typ meiner Generation”, wie ihn Hofmannsthal charakterisierte, „hat eine subtile Seele, ermüdet jedoch bei zu heftigen Gefühlen, ist lebendig, hat aber keinen starken Willen, ist graziös, jedoch mit früh alternder Ironie, Neigung zum Guten und hier und dort mit einer gewissen inneren Ebbe”. Der genusssüchtige und die Schönheit anbetende Dandyismus drückte Lebensstil und Lebensgefühl aus, die Bedeutung erweiterte sich also von der temporalen Bestimmung zum Partizip.

Im Laufe der Zeit wurde jedoch die Isolation der jungen Schriftsteller als Isolierung, ihr Ausfall als Auszug und ihre Opposition als Programm bewusst. Ihre Pariser Zeitschrift erhielt den Titel La Décadence und ihre Haltung schon bald das Attribut „dekadent”. „Nous acceptons sans sensibilité comme sans orgueil le terrible mot de décadence”, schrieb Paul Bourget 1896 mit nicht geringem Selbstbewusstsein. Und damit war er nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin und Wien nicht allein. Im Namen seiner eigenen Generation, ein paar tausend jungen Künstlern, schrieb Hofmannsthal gerade über eines der Bücher von Bourget: „Um 1890 werden die geistigen Erkrankungen der Dichter, ihre übermäßig gesteigerte Empfindsamkeit, die namenlose Bangigkeit ihrer herabgestimmten Stunden, ihre Disposition, der symbolischen Gewalt auch unscheinbarer Dinge zu unterliegen, ihre Unfähigkeit, sich mit den existierenden Worten beim Ausdruck ihrer Gefühle zu begnügen, das alles wird eine allgemeine Krankheit unter den jungen Männern und Frauen der oberen Stände sein.” Sie hatten das Gefühl, dass ihnen ihre Ahnen anstelle der stolzen und brennenden Liebschaften aus dem Zeitalter von Renaissance und Barock, des heißen Lebensverlangens und der großen Gefühle der Romantik nur hübsche Möbel und überfeine Nerven hinterlassen hatten. Ihnen, der Generation der „Spätgeborenen”, „aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung.”

Anstelle der öden, gemeinen Wirklichkeit das ästhetisch schöne, das künstlerisch gelebte Leben: danach suchte und sehnte sich die dekadente Generation vom Ende des Jahrhunderts, fand es allerdings nur in den Spielen ihrer Vorstellung, nur in der Traum-Wirklichkeit des Gartens. Davon handeln eigentlich die modellwertigen, großen literarischen Werke vom Ende des Jahrhunderts.

Der Held des erwähnten Romans von Huysmans, Herzog des Esseintes, der reiche kunstverständige Sonderling, verlässt im wahrsten Sinne des Wortes die reale Welt und baut in seinem Schloss eine imaginäre Privatwirklichkeit aus, die nicht von Tradition und Logik eingerichtet wird, sondern von der Phantasie, noch dazu von einer neurotischen Phantasie, die das Außergewöhnliche und sogar das Unnatürliche als ihr Zuhause betrachtet. In dieser Welt meint er, in die Literatur und die Künste eintauchend, das Wesen zu finden: Das Kunstwerk ist realistischer als das Existierende, die Erinnerung an das Erlebnis intensiver und spannender als das Geschehene, die Substanz der vorgestellten Realität dichter und wahrer als das Original. Das höchste Verlangen des Herzogs ist, sein ganzes früheres Leben in den Spielen der Vorstellung zu vergessen, nur ruft das durch das Medium der Phantasie gefilterte Wiedererleben der Erlebnisse die unauslöschliche Vergangenheit und sogar die Konfrontation mit der Vergangenheit hervor. Am Ende seines Lebens sieht er ein, dass eine Loslösung von der Natur ebenso scheitern muss, wie das Verwischen der Vergangenheit. Schließlich kehrt er zur Theologie zurück und bekehrt sich in Glauben.

Das berühmte Werk vom zweiten bezeichnenden Schriftsteller des Fin de Siècle, Oscar Wilde, ist das Portrait von Dorian Gray. Dorian ist ein schöner und reicher, verantwortungsloser und von ethischen Hemmungen freier Londoner Beau. Begierig liebt er das Leben, ohne es zu kennen, trotzdem begehrt er die Totalität, die für ihn „ewige Jugend, unendliche Leidenschaft, raffinierte und heimliche Wonnen, wilde Freuden und noch wildere Sünden” sind. Seine Liebe, seine Freunde und die für ihn schwärmenden Jugendlichen ruiniert er und richtet sie zugrunde, doch sein sich zeitweise hin und her bewegendes Gewissen beruhigt er mit seiner eigenen Lebensphilosophie. Er ist der Meinung, dass die Schönheit der Empfindsamkeit nie verstanden wurde und die „Empfindungen nur deshalb tierisch bleiben, weil die Menschen sie durch Fasten zu unterwerfen, durch Quälen zu töten versuchten, anstatt sie zu Bestandteilen einer neuen Mentalität zu machen, deren vorherrschender Charakterzug das feine Gefühl der Schönheit ist”. „Ein neuer Hedonismus muss kommen, der das Leben neu erschafft und es vom groben, hässlichen Puritanismus befreit ... Das Asketentum, das die Gefühle tötet, und die gemeine Ausschweifung, die sie dämpft, braucht es in kleinster Weise kennenzulernen. Es muss jedoch den Menschen halten”, damit er sich auf die großen Momente des Lebens konzentrieren kann. Das hielten Dorian und seine engen Freunde für Lebenskunst. Indessen blieben die Sünden und Leidenschaften irgendwo in den unbewussten Kammern der Seele, rebellierten zeitweise und verunstalteten die schönen Züge im mystischen Portrait von Dorian und verzerrten dann bei seinem ebenso rätselhaften Tod sein vergreistes Gesicht.

Unser dritte Beispiel, Hugo Hofmannsthal, kannte gewiss die vorigen zwei Romane, als er sein erstes Erfolgsstück, das Versdramolett Der Tor und der Tod schrieb. Er ist noch keine zwanzig Jahre alt, jedoch bereits einsam, müde, voller Enttäuschung und Lebensangst. „Ich habe bisher nie eine große Freude oder einen großen Schmerz gehabt”, genau wie Claudio, der adlige Jüngling, die Hauptgestalt des Stücks. Claudio verließ und betrog jeden, den er liebte, seine Mutter, seine Liebe, seinen Freund. Schließlich, auf den Ruinen seines verpfuschten Lebens, mit dem schlechten Gewissen der nicht erkannten Gefühle ringend, kommt ihn der Erlöser holen: der Tod. Da wird ihm der Sinn des Lebens bewusst und erleichtert reicht er seine Hand: „Sei du das Leben, Tod!” Die Heilung liegt darin verborgen, schreibt der Dichter in seinen Aufzeichnungen, „daß der Tod der erste wahrhaftige Ding ist, die ihm (Claudio) begegnet... dessen tiefe Wahrhaftigkeit er zu fassen imstande ist. Ein Ende aller Lügen, Relativitäten und Gaukelspiele. Davon strahlt dann auf alles andere Verklärung aus.”

Die erwähnten (und noch viele hundert Gleichgesinnte) sind die Helden des Fin de Siècle, die Wahrheits- und Bewahrheitungssucher, die sie allerdings nicht in der äußeren Welt, nicht in den heißen Liebschaften von Renaissance und Barock und nicht in der heldenhaften Leidenschaft der Romantik zu finden meinen, sondern in der geschlossenen inneren Welt ihrer selbst. Diesen einsamen Helden (oder den ihr Schicksal mit Empathie verfolgenden Lesern) wird schließlich bewusst, dass die Leidenschaft ihrer Einsamkeit Sünde und unnatürlich ist und den Existenzgeboten des menschlichen Geschlechts widerspricht. (Bezeichnend ist der englische Titel von À Rebours: Against Nature.) Gleichzeitig sehen sie ein, dass das Verabsolutieren des Ästhetischen in der Kunst und besonders in der Lebenskunst durch das Vermeiden oder Verneinen der sozialen Bindung und der dazu geordneten Ethik äußere und innere Konflikte verursacht, die zum Verfall und zur Zerstörung führen. Hieraus ergibt sich die Todesnähe der Kunst vom Ende des Jahrhunderts.

In der Interpretation des Todes als Möglichkeit unterscheiden sich die Dekadenten vom Ende des Jahrhunderts. Die eine Tendenz betrachtet den Tod als absoluten Endpunkt und sogar als Weltgericht und vertritt damit extrem den von der europäischen Mentalität herrührenden Antibuddhismus. In Wildes zitiertem Roman murrte Lord Henry zur Charakterisierung des moralischen Verfalls des Zeitalters lediglich: „Fin de Siècle. »Fin de Globe«, sagte die Hausherrin [Lady Narborough]. »Wäre es doch Fin de Globe«, seufzte Dorian. »Das Leben ist eine große Enttäuschung.«” Die depressiven Dekadenten erwarten gleichzeitig mit dem Ende des Jahrhunderts ein Ende der Welt und wünschten es sich wahrscheinlich auch. Die andere Tendenz humanisierte den Tod und fasste ihn als lebensfreundliches Prinzip, als Immanenz des Lebens auf. An dieser Stelle erwähnen wir die Dramen und Novellen des Wiener Arthur Schnitzlers, deren Handlungen überwiegend vom Tod bewegt werden, der unser Leben als Gefährte, als Räsoneur begleitet. Der Tod ist einer der besonderen Punkte im ewigen natürlichen Kreislauf: gleichzeitig Ende und Anfang. Die in den letzten Jahren des Jahrhunderts von Westen her beginnende und sich in Mitteleuropa vervollkommnende Sezession kündigte nicht das Ende der Kunst, sondern ihre Erneuerung an. Sie ging nicht nach Art der hinduistischen Heiligen zum Sterben in die Wüste, sondern folgte dem Beispiel des römischen Plebejers: an eine neue Mons Sacer, an die Kultur zog aus dem ausgestorbenen Haus des positivistischen Naturalismus, des Akademismus aus. Diese Besessenen des Fin de Siècle bildeten den literarischen Kreis Junges Wien, die Künstlergruppe der Sezession. Die Sezession brachte die Botschaft vom Ende eines großen kulturellen Zeitalters und vom Anfang eines neuen.

Zerfall der liberalen Weltordnung

Eine künstlerische Geschmacksänderung allein schafft und erklärt keine globale kulturelle Zeitalterwende. Wir haben gesehen, wie das „Ende des Jahrhunderts” vom Substantiv zum Attribut, von der temporalen Bestimmung zum Partizip und wie dann daraus das Programm einer lockeren Generationsgruppierung wurde. Wie aber wurde daraus eine Weltanschauung, ein Lebensgefühl und im größten Teil der mittleren und oberen Klassen sogar eine Mode? Dies lässt sich kaum von der inneren Entwicklung der Kunst ableiten, selbst dann nicht, wenn eines der fundamentalen Prinzipien der Geschmacksänderung l’art pour l’art, die Selbstjustiz der Kunst war. Die Autonomie ist in ihrem Wesen eine ästhetische und zum Teil thematische Frage, die allerdings nie unabhängig von der tiefschichtigen Bewegung der Gesellschaft (Zeugen dafür sind die großen Stilperioden), von deren Lebensweise und Mentalität ist, die sich wiederum aus technologischen, Effektivitäts-, politischen, religiösen und anderen Faktoren zusammensetzen. Bei der Erforschung der Genese vom „Ende des Jahrhunderts” dürfen wir auch diejenige gesellschaftliche Umgebung nicht umgehen, in der die Großen der Gründerzeit, die Söhne der Gründerväter aufgezogen wurden. Wir dürfen die strukturellen Veränderungen und Konflikte der liberalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, die das feste System nicht nur in seiner Stabilität, sondern auch in seinem Selbstvertrauen zum Wanken brachten, nicht als gegeben und bekannt betrachten. Der Misskredit der Freiheitsidee und die sich vertiefende Krise des ganzen liberalen kapitalistischen Systems wurden nicht nur und auch nicht primär von den Urfeinden, der plebejischen Gleichheit in roten Mützen und den sozialistischen Kindern oder den kritischen Salven des sich erneuernden Konservativismus der Deklassierten verursacht, sondern von den Betriebsstörungen im Mechanismus der freien Konkurrenz und den sich aus der eigenen Entwicklung der Freiheitsidee ergebenden Antinomien. Die freie Konkurrenz schlug nämlich im Laufe der Zeit immer stärker auch auf die Mittelklasse der Bourgeoisie zurück, verschärfte die inneren Konflikte und bahnte den aufstrebenden, antiliberalen Kräften der Massendemokratie den Weg. Die Selbsteinschränkung der Freiheit wiederum steigerte den Einfluss des Staates und der starken Interessengruppen, die Zentralisierung und die Macht der Monopole und der Bürokratie.

Und was mindestens ebenso wichtig ist: Ob es die Freiheit nun einschränkte oder nicht, das Ethos der systemschaffenden Bourgeoisie erwies sich sowohl im öffentlichen Leben als auch im Privatleben als unterwürfig und für die neue Generation vom Ende des Jahrhunderts als inakzeptabel. Die Krise des Systems trat nicht nur in der Antisozialpolitik und im Veralten der Wertordnung, sondern auch innerhalb der Familie und des Einzelnen in Erscheinung. Das schockierende Zeichen dafür war die Lockerung der Bindungen der bürgerlichen Familie und der Verfall des „liberalen Ego”.

Rebellionen

Die bürgerliche Familie war eigentlich das Produkt des Jahrhunderts der industriellen Revolution und der modernen Urbanisation. Nach der Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort wurde der letztere zu einem richtigen Zu Hause, wie auch der „Haushalt” zur Familie wurde, in der die Rollen und die Positionen genau voneinander getrennt waren. Der Mann war das absolute Familienoberhaupt, der die Kämpfe des Lebens ausfechtende Brotgeber, der sorgende Gatte und Vater. Die Frau durfte, von der Arbeit, aus dem öffentlichen Leben und bei den Entscheidungen ausgeschlossen, zur Entschädigung in der Rolle der treuen, trauten und gütigen Mutter (Hausengel) glänzen. Diese Familienstruktur bot der Frau ein sicheres, obzwar einem Gefängnis gleiches, Prestige bietendes, wenngleich es auch das Prestige einer Haushälterin war, gefühlsreiches, wenn auch langweiliges Leben. Die Mehrheit der Mittelklassebürger akzeptierte dieses Frauenideal im Zeitalter des viktorianischen Verhaltenskodex und der Scheinmoral des Biedermeier lange, bis hin zur Wert- und Geschmacksänderung des Fin de Siècle. Danach begann und breitete sich unwiderstehlich die bürgerliche Frauenrebellion aus.

Eine Grundform der Rebellion können wir als die „Ibsensche” bezeichnen, denn die Nora blieb jahrzehntelang Diskussionsthema, literarisches und alltägliches Vorbild. Die Formel für den Nora-Typ ist eigentlich einfach: „ich muss versuchen, Mensch zu sein”, sagt sie, als sie die sichere und vielleicht traute „Kinderstube” verlässt. Nora lässt sich allerdings nicht aus dem Kontext des Ibsenschen Oeuvres herausreißen. Nach ihr kommen Hedda Gabler, die Frau des Meeres, Solness und Borkman: Tragödien eines verfehlten Lebens, verpasster Gelegenheiten und verworfener Wünsche.

Ein einfacherer, aber mehr politischer Typ war der feministische. Zum Ende des Jahrhunderts brachen aus den mittelständischen Jugendlichen mit elementarer Kraft die Berufung zum Lernen und zum Überschreiten der Rolle als Hausengel und das Verlangen nach Arbeit hervor, das sich bald zu einer Forderung erhärtete und zu einer Bewegung organisierte wie die der für politische Emanzipation kämpfenden Suffragetten. Noch alltäglicher und praktischer (ergo wirksamer) war die Kleidungsreform-Bewegung. Die Initiative ging in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts (mit bis zum Ende des Jahrhunderts mäßigem Erfolg) von Amerika aus. Dann verbanden sich Frauenbewegung, Modedesign und Medizin gegen Krinoline, Turnüre und oben und unten geschlossene, enge, stickige, mehrere Kilo schwere Bekleidung, vor allem gegen das Korsett. In den 90er Jahren brach eine wahrhaftige Antikorsett-Kampagne aus, die in einem friedlichen dreißigjährigen Krieg den vollständigen Sieg errang. Inzwischen durchbrach auch die Frauenmode die jahrhundertelange Tradition: Die Kleider wurden nun bereits aus leichten Stoffen gefertigt, schmiegten sich lockerer an den Körper, unten wurde der Rock oben die Ärmel kürzer, der Halsausschnitt öffnete sich und der Körper wurde freier.

Diese Reformbewegung war eng mit der Sternstunde der Naturheilkunde, der modernen Körperkultur und der Hygiene verbunden. Ende des Jahrhunderts trat die Bewegung Luft-Licht-Bad ihren Eroberungszug an, dessen Erfolg das Baden, den Strand, das Sonnen und das Sporttreiben im Freien innerhalb eines Vierteljahrhunderts nicht nur zur Mode, sondern zu einem unerlässlichen Bestandteil der Lebensweise werden ließ. Kurzum, die Reformkleidung und die Körperkultur machten vor allem den Körper der Frau freier und gesünder und selbstverständlich auch schöner und attraktiver. Dadurch hatten die Reformbewegungen in der Befreiung der verheimlichten und verbotenen Sexualität Zeitgenossen und sogar Verbündete.

An dieser Stelle traf sich die Reform der Kleidung und Körperkultur mit der anderen, allgemeineren Form der Rebellion, der Profanierung der Sexualität, der Befreiung vom religiösen Anathema der Sündhaftigkeit. Literatur und Kunst, die gesamte großstädtische Lebensweise gesellt sich hier an die Seite der Rebellen.

Den Frauen schlossen sich bald die Kinder an, für die der familiäre Zwang und die bürgerliche Scheinmoral ebenfalls unerträglich geworden waren. Die gebildetsten, empfindlichsten Mitglieder der zweiten und dritten Generation der reich gewordenen Bourgeoisie entflohen diesem familiären Milieu und der sie erwartenden Beschäftigung, dem Geschäft, der Geldjagd. Die Anhänger der zu jener Zeit gängigen Psychoanalyse entdeckten in dieser Ödipus-Rebellion ihre markante Offenbarung. Darin konnten auch einige Wahrheitselementen liegen, denn der Ödipus-Komplex war, wenn er auch nicht mit diesem wissenschaftlichen Namen bezeichnet wurde, mindestens seit Noah bekannt. Auch in der Blütezeit des Kapitalismus gab es hin und wieder schöngeistige Jugendliche, die sich vor der „Geschäftemacherei” in Acht nahmen, sich jedoch als Erwachsene besannen und auf den Stuhl des Direktors setzten oder ins Eckhaus einheirateten und die Kontinuität der bürgerlichen Familie und Moral aufrechterhielten. Warum brach der ödipale-Hass ausgerechnet zum Ende des Jahrhunderts aus ihnen hervor? Warum ist auch dieser Komplex einer des Fin de Siècle?

Ich bin der Meinung, die gesellschaftliche Motivation war zu dieser Zeit stärker als die psychologische. Die neue Generation des Großbürgertums, deren Mehrheit human gebildete Jugendliche mit Universitätsabschluss waren, blieb gegenüber den Ideen des Sozialismus und Argumenten des Antikapitalismus nicht empfindungslos, schon allein deshalb nicht, weil sie die Rechtmäßigkeit der Detentionen und Emotionen durch eine von innen heraus, aus ihrem eigenen Trauma erwachsende Empathie erlebten. Die flüchtende, Gerechtigkeit suchende Rebellion der Intellektuellen der Sezession stieß in ihnen mit der Wucht des großbürgerlichen Status zusammen und sie bemühten sich, den Konflikt entweder durch Aufgeben des Status oder durch das Sühneopfer des großzügigen Mäzenatentums zu lösen. Dieser moralische Konflikt wurde durch das auffallend häufige Dissidieren des Söhne aus dem emporkommenden jüdischen Großbürgertum gefärbt, wenngleich auch in dunklem Ton. Es reicht aus, hier die Deutschen George Simmel, den Philosophen, Carl Sternheim, den Schriftsteller, Fritz Mauthner, den Sprachwissenschaftler oder die Österreicher Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, aus dem Kreis Junges Wien Arthur Schnitzler, Felix Salten, Stefan Zweig, aus Prag Franz Kafka und aus Budapest Lajos Hatvani und György Lukács zu erwähnen. Trotz der zahlreichen Beispiele sollten wir die Generationsrebellion nicht als irgendeine exklusive jüdische Erscheinung betrachten. Sie riss auch Prominente aus dem christlichen Großbürgertum mit sich wie Thomas und Heinrich Mann, Friedrich Alfred Krupp und August Thyssen.

Außer der sozialen und moralischen Motivation nahmen auch die wissenschaftlichen Zweifel und Entdeckungen des Zeitalters starken Einfluss auf die Suche nach dem Weg der Weltanschauung am Ende des Jahrhunderts.

Änderung des Weltbildes

Wie verblüffend dies auch in den Ohren der vor allem humanen Intellektuellen klingt, in der Veränderung des Weltbildes vom Ende des Jahrhunderts spielten nicht Literatur und Kunst, sondern die Wissenschaften die Hauptrolle. Heben wir an dieser Stelle nur zwei Gebiete hervor, die Physik und die Psychologie. Die überraschenden Entdeckungen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stellten die ausgezeichneten Physiker der Zeit vor allem in den Bereichen Elektromagnetismus und Thermodynamik vor Verlegenheit auslösende Fragen. Aufgrund der newtonschen Gesetze der klassischen Physik ließen sich die Erscheinungen des Elektromagnetismus, die Beständigkeit der Lichtgeschwindigkeit sowie die Existenz und Bewegung von kleineren Teilen als das Atom nicht erklären. Die Forscher von Maxwell und Herz bis Michelson und Lorentz ahnten, was Ernst Mach als erster darlegte, dass der von Newton vorausgesetzte bewegungslose Äther und der darauf bezogene absolute Raum und die absolute Zeit unhaltbare physikalische Begriffe sind. Schließlich gab Einstein, wie bekannt ist, eine auch mathematisch bewiesene Erklärung dafür, dass Raum und Zeit nur in einem festgelegten Bezugssystem (Koordinatensystem) gültig sind. Nach seiner Relativitätstheorie ist der Raum nichts anderes als das elektromagnetische Feld der sich bewegenden Körper, d.h. Raum und Zeit sind die konsubstantielle Erscheinung von ein und derselben Bewegung, so wie sich auch die Materie und die Energie gegenseitig ersetzen lassen und konsubstantiell sind.

Wenn wir dazu die Entdeckung, Verwendung und die Theorie der radioaktiven Strahlen, die Entdeckung der Elektronen und die Quantentheorie hinzunehmen, können wir kühn behaupten, dass das zu Jahrhundertwende entstandene neue physikalische Weltbild eine ebensolche qualitative Veränderung mit sich brachte wie die newtonsche Physik, ihre Wirkung auf das Schicksal der Menschheit jedoch übertraf diese bei weitem. Wenn dieses Weltbild den relativierenden Skeptizismus des Fin de Siècle stark beeinflusst hat, was als sicher anzunehmen ist, dann konnte das innovative Zweifeln des Fin de Siècle wiederum Einstein dazu inspirieren, in den axiomatischen Fragen der Physik auch die Grundlagen der Erkenntnistheorie kritisch zu überprüfen.

Wie die Physik mit der Erklärung des Elektromagnetismus, so bahnte die Psychologie durch die Untersuchung der mystischen Krankheit des Zeitalters, der Hysterie, durchaus einen Weg. Die Psychologie war lange ein Teilgebiet der Philosophie. Aus ihrer stiefmütterlichen Situation wurde sie durch die Medizinwissenschaft, vor allem die Psychiatrie befreit. Die Schule von Charcot in Paris setzte in der Heilung von seelischen Verletzungen bereits die Hypnose und das Gespräch ein. Das Funktionieren, die Theorie und die Therapie der bewussten und unbewussten seelischen Vorgänge wurden von Sigmund Freud und seine Schüler im Wien Ende des Jahrhunderts ausgearbeitet. Die Entdeckungen und Methoden der freudschen Tiefenpsychologie sind verblüffend, umstritten und beliebt genug, so dass wir von ihrer Beschreibung an dieser Stelle absehen können. Wir werfen nicht einmal einen Blick in die Polemik der wissenschaftlichen Relevanz des Freudismus. Aus der Sicht unseres Themas ist wichtig, dass die von Freud skizzierte Persönlichkeitsstruktur und die Funktionsregeln vom gesunden und vom kranken Nervensystem die Grundlagen zu einem neuen psychologischen Menschenbild legten und diese in einen originalen, kulturellen anthropologischen Entwicklungsablauf betteten. Vielleicht ist es nicht notwendig, besonders zu betonen, und ausreichend lediglich zu erwähnen, dass die Weltliteratur und Freud beziehungsweise Freud und die Literatur des 20. Jahrhunderts in einer engen Mitverfasserbeziehung standen.

Physik und Philosophie sind einander fern liegende Gebiete. Können Zweifel darüber entstehen, ob sie aufeinander eingewirkt haben? Eine Gnade oder Laune des Schicksals ist es, dass sich ausgerechnet am Ende des Jahrhunderts ein ausgezeichneter Physiker fand, der sich nicht nur nebenbei und auch nicht wie ein Amateur sowohl mit der Philosophie als auch mit der Psychologie befasste: Ernst Mach. Seinen Namen erwähnten wir bereits im Zusammenhang mit der Kritik an der newtonschen Physik. Mach zog zuletzt nicht nur die objektive Existenz von Raum und Zeit, sondern auch die der Welt und der Gegenstände in Zweifel. In seiner Arbeit mit dem Titel Analyse der Empfindungen stellte er die Gegenstände (auch die wahrnehmende Person, das Ich) als Komplex der Empfindungen dar. Machs Phänomenologie betrachtete sowohl die Werte schaffende Seele als auch die Materie als Abstraktion. Er war also weder Idealist noch Materialist, sondern betrachtete das Verhältnis der Gegenstände und Empfindungen, der Welt und des Wahrnehmenden und die sich daraus ergebenden funktionellen Zusammenhänge als entscheidend. Dieser Relativismus und die „impressionistische” Erkenntnistheorie hatten einen gewaltigen Einfluss auf die europäischen und vor allem österreichischen und tschechischen Schriftsteller und Künstler vom Ende des Jahrhunderts.

Sezession

Zwischen reformierendem Geist vom Ende des Jahrhunderts und dem Historismus beziehungsweise dem traditionellen Geschmack des Naturalismus waren die Konfrontation und der Bruch unvermeidlich. In England begann dies bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des Jahrhunderts beim Auftreten der Präraffaeliten und in Belgien und Frankreich in den 80er Jahren. Danach folgte der „Künstlerauszug” 1892 in Berlin und München und 1897 in Wien. In der Architektur wendete sich die Rebellion gegen die längst vergangene Zeitalter zitierende „Stilarchitektur”, in der Malerei gegen den überholten Akademismus und den modischen Impressionismus, und in der Literatur gegen den Naturalismus. Die Sezession paarte das Schöne mit dem Nützlichen, das Ästhetische mit dem Realen und die Realität mit der Phantasie. Artem impenedere vitae verkündete: Die Kunst muss im alltäglichen Leben ein Zu Hause finden, nicht nur in der Kirche und im Museum. „Es darf nicht sein, dass wahre Moral, Glück und Kunst erblühen, wo die Städte ... den Körper des Landes wie grässliche Geschwüre bedecken und ihn aufzehren”, warnte der Meister der Präraffaeliten, John Ruskin. „Wenn wir unser verlorenes Gefühl ... für die kräftigen und festen Formen und die sinnvollen Konstruktionen wiederfinden wollen, müssen wir sie dort suchen, wo die »schönen Künste« nicht eindringen können, ... wo sich die künstlerische Absicht der Nützlichkeit zuwendet: in unserem Heim, schrieb der Pionier der neuen Wohnkultur, van de Welde. „Wir kennen keinen Unterschied zwischen der »hohen Kunst« und der »Massenkunst«, der Kunst für die Reichen und der für die Armen. Die Kunst ist Gemeingut ... notwendige Lebensoffenbarung des intelligenten Volkes”, verkündete der erste Aufruf der Wiener Sezession.

Außer der spektakulären Geste des Bruches und des gemeinsamen Programms der Erneuerung gab es jedoch zwischen den einzelnen Regionen, Ländern und den einzelnen Kunstrichtungen große Unterschiede. Was das Thema und die Form, die Lebens- und die Todesnähe betrifft, unterschieden sich die Ziele und die Wege scharf voneinander. Obgleich sowohl die Architektur als auch die Malerei von der Sezession ausgingen, gelangte die erstere schon bald zu einer die einfachen, geometrischen Formen, schmucklose, glatte Fronten, sonnige, saubere Wohnungen realisierende modernen Baukunst und die Malerei zu avantgardistischen formbrechenden „Ismen”.

In der Architektur der Sezession trafen drei große Strömungen aufeinander. Das zuvor verachtete Gewerbe, die Ingenieurs-Baukunst brachte die neuen Baustoffe – Eisen, Beton, Glas und mit ihnen die nicht einmal erträumten Möglichkeiten bravouröser Lösungen. Die englischen Präraffaeliten schufen das Model des modernen Familienwohnhauses (cottage house): die der funktionellen Zweckmäßigkeit der Wohnung dienende Konstruktion und ordneten ihr die äußere Gestaltung, die herkömmliche Symmetrie der Front und die klassischen Bauteile unter. Ihre sehenswerte Stilprägung erhielt die Sezession allerdings von der Phantasie der rebellierenden Künstler: die unregelmäßige Massenanordnung und ihre geometrische oder gewundene und geblümte Ornamentik. Die sezessionistischen Architekten beteten eine neue Dreifaltigkeit an, die Einheit von Material, Konstruktion und Form.

Die sezessionistische Architektur fasste in der Monarchie mit überraschender Schnelligkeit Fuß und nicht als exotische Seltenheit. Der Hauptgrund für den Erfolg war das Zeitalter selbst, das Ende des Jahrhunderts, das die Masse der ausfallenden und ausziehenden Intelligenz auswählte und verstieß und reich an hervorragenden Talenten war. Der bedeutendste Wiener Meister ist Otto Wagner. Aus seiner Schule gingen Josef Hoffmann, Josef Maria Olbrich, der Prager Jan Kotera und der Budapester Ödön Lechner hervor. Die Überwindung des Historismus bestand für ihn nicht in der Rückkehr zur Vertrautheit der kleinen Gemeinde in einer idealisierten mittelalterlichen Stadt, sondern in der innovativen Anpassung an die irreversible Urbanisation und die stürmische technische Zivilisation. „Aller modern geschaffene muss dem neuen Material, den Anforderungen der Gegenwart entsprechen. Wenn es zur modernen Menschheit passen soll, es muss unser eigenes, besseres, demokratisches selbstbewusstes, ideales Wesen veranschaulichen und den kolossalen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, sowie dem durchgehenden praktischen Zuge der Menschheit Rechnung tragen” – schrieb er in einem Architekturhandbuch. Die wichtigsten Forderungen des Menschen von heute sind Komfort und Hygiene, möglichst größte Bequemlichkeit und Sauberkeit. „Jede Bauform ist aus der Konstruktion entstanden und sukzessive zur Kunstform geworden.” Wagner experimentierte in Wien mit der geblümten und gerankten, der vergoldeten und der geometrisch angeordneten Ornamentik und fand schließlich zur Harmonie aus funktioneller Innenarchitektur und ästhetischer Formgebung, architektonischen Elementen und alltäglichen Gebrauchsgegenständen, Klinken, Öfen und Fenstern.

In Wagner und seinen Jüngern lebte das Verlangen nach der Schaffung eines neuen, einheitlichen Stils und eines Gesamtkunstwerks. Er arbeitete nicht nur mit Malern, Bildhauern, sondern auch mit Kunstgewerblern und den Möbel-, Glas- und Textilprojektanten und Kunstschmieden der Wiener Werkstätte eng zusammen. Zwar waren die Wohnungseinrichtungen, Vasen, Tapeten, der Schmuck und die Kunstgegenstände des alltäglichen Lebens nur für die Reichen erschwinglich, doch hatten Architektur und Heimkultur der Sezession noch einmal und letztmalig einen einheitlichen, schönen, wohnlichen, tragbaren und erträglichen Stil geschaffen.

Auch heute ist fraglich, ob die Moderne, Adolf Loos und der Ornamente ausrottende Purismus des Bauhaus richtig waren. Wären in Stahlbeton geschlossene, mit Glas gedeckte moderne Büros, Geschäfte und Wohnungen schöner und zweckmäßiger gewesen?

Das Geheimnis des mitteleuropäischen Erfolgs der Sezession liegt darin verborgen, dass sie an keinerlei historische Regeln gebunden und den lokalen und nationalen Variationen gegenüber frei und offen war. Darauf hatten die ungarischen (polnischen, russischen) Architekten seit Jahrzehnten gewartet. „Eine ungarische Formsprache gab es nicht, sondern es wird eine geben”, beschwörte der ungarische Meister der Sezession, Ödön Lechner, den Geist Széchenyis herauf. Endlich gab es einen noch nicht entwickelten, nach Formen suchenden Stil, der für die Volkskunst kein hochmütiger Fremder, sondern ein gastfreundlicher Freund war! Wenn wir doch nur das Keramikdach der Postsparkasse in Pest, die Stierkopfverzierungen, die wellige Krönung, die aus volkstümlichen Webereien übertragenen, Tulpenblumenmuster, oder die elegante Kartierung des Instituts der Erdkunde, dessen besondere hausförmige Fenster und Verzierungen betrachten, können wir eine sich von der in Wien unterscheidende, jedoch originelle und künstlerische Variation erkennen. Einige gingen in der Adaption der Volkskunst über Lechner hinaus und versuchten, selbst die Konstruktionsbestandteile des siebenbürgischen Bauernhauses in die großstädtischen Gebäude vom Anfang des Jahrhunderts zu verpflanzen. In speziellen Fällen konnte dies bei Künstlervillen, Schulen und im Tierpark Künstlern wie Károly Kós, Ede Thoroczkai Wigand, Dénes Györgyi oder Dezső Zrumeczky auch gelingen, allerdings vertrug das archaische Bauernhaus das Gewicht der Schrittzunahme und der stadtbildlichen Disharmonie insgesamt nicht.

In der ungarischen Sezession ist es bewundernswert, dass sie nicht in der Hauptstadt auf dem Niveau der großbürgerlichen und staatlichen Repräsentation stecken blieb, sondern sich innerhalb eines kurzen Jahrzehntes im ganzen Land von Máramarossziget bis Szeged und Marosvásárhely ausbreitete. Der ornamentierte Palast von Géza Márkus, das Rathaus von Lechner und Pártos in Kecskemét, der Kulturpalast von Marcell Komor und Dezső Jakab in Marosvásárhely, das Rathaus und die Synagoge der beiden in Szabadka und die evangelische Kirche von Károly Kós in Kolozsvár bezeugen, dass es einst eine Sezession der Donaugegend gab, die mit der Volkskunst dekoriert eine sehr originelle und auf hohem Niveau stehende regionale Variation schuf.

Wie die Wiener Meister, so kamen auch die jungen Architekten der Lechner-Schule zur Vereinfachung der sezessionistischen Überwucherung, zur Harmonie von Funktion Form und zu einer diskreten, stilisierten Ornamentik, die gleichzeitig auch die Frontgliederung erfüllte. Das Geschäftshaus Rózsavölgyi von Béla Lajta, seine Schulgebäude und sein Pfründhaus sind die ästhetischen Andenken und Erinnerungen an den organischen Übergang zur prämodernen Architektur. Waren das, was danach kam, die protzigen neobarocken Villen, ungarischer und moderner? Waren die auf nackte Blöcke reduzierten, schmucklosen Reihenhäuser des Bauhaus wohnlicher?

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Wie davon bereits die Rede war, wich der Weg der Malerei entschieden von der in Richtung der gesellschaftlichen Ansprüche und der Verbesserung der Lebensqualität verlaufenden Architektur ab. Während der Architekt am Ende des Jahrhunderts von Höfling zum städteplanenden Akteur des öffentlichen Lebens wurde, verließ der Maler den Hof, den Salon und die Stadt und flüchtete in die provinzielle Einsamkeit (oder die von Tahiti). Die Sezession griff auch in der Malerei auf die Präraffaeliten (Rosetti, Burne-Jones) und die Symbolisten (Gustave Moreau) zurück, von denen sie die Themen und die Mittel des Malerischen fertig erhielt. Insofern war also die Sezession (als Art Nouveau) nicht brandneu: ihre Maler waren von Ästhetischen und vom Mystischen, von der Erotik und vom Tod und von den mit ihnen verbundenen elementaren Symbolen und verzaubernden Dekorationen ergriffen. Auf dem Bild des Begründers der Wiener Sezession, Gustav Klimt, erscheint die nackte Wahrheit (nuda veritas) in der Gestalt eines schönen Frauenaktes. Seine Malereien und vor allem seine graphischen Studien sind wahrhaftig von nackter Erotik durchzogen, die häufig die Grenzen der Pornographie berührt. Nur ist bei ihm die Erotik kein Selbstzweck, sondern erlebte Philosophie und zwar der Träger eines tiefen pessimistischen Gedankens. Klimt erlernte von dem ihm mental nahe stehenden Schopenhauer den Gedanken vom hoffnungslosen Kreislauf des Lebens. Der ewige Kreislauf von Fruchtbarkeit und Vergänglichkeit, Tod und Geburt wird von Eros und Thanatos bewegt. Auf diese Weise ist, was für die Menschheit das Gesetz der Natur ist, für das Individuum das niederschmetternde Bewusstsein vom Ende. Dagegen bietet nur die Liebe im Moment der Zeitlosigkeit Trost. Von hier kommt das rein Ästhetische des Eros und die Anwesenheit des Todes und eine ambivalente Todeserotik auf den bedeutenderen Werken Klimts, den Abbildungen der Judith-Salome und vor allem auf seinen von der Wiener Universität bestellten, aber nie akzeptierten Wandmalereien (Philosophie, Medizin, Rechtswissenschaft.)

Das andere Thema Klimts vom Fin de Siècle ist das Ineinanderverwachsen von Traum, Phantasie und Wirklichkeit. Wachsein und Traum, Einbildung und Wirklichkeit trennen sich selbst mit Hilfe der Komposition aus Farben und Konturen nicht voneinander. Die meisten Bilder, selbst die Landschaftsbilder haben eine Ebene und es fehlt hinter ihnen die perspektivische Tiefe, was durch den überflutenden Reichtum der Dekoration noch mehr hervorgehoben wird. Der Künstler wollte auch mit dieser Ikonenhaftigkeit den symbolischen Zusammenhang der philosophischen Gedanken und der malerischen Komposition ausdrücken.

Die Wiener Sezession florierte ein kurzes Jahrzehnt lang, danach war sie auf die angewandte Kunst angewiesen und in der Malerei leitete eine härtere und ernstere junge Generation zur Avantgarde über. Egon Schiele, Oskar Kokoschka und ihre Mitstreiter zerstörten den Schönheitskult und wiesen anstelle des verschönernden Traumes die Hässlichkeit der nackten Realität, die Brutalität der Todeserotik und die Leiden der Seele vor. Doch das war nicht mehr das Ende des Jahrhunderts, sondern die mit bösen Vorahnungen volle Kunst des 20. Jahrhunderts.

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Das Ende des Jahrhunderts und die Sezession von Budapest entwickelten sich auf eigene Weise und waren aufgrund der zeitlichen und gedanklichen Verspätung abschnittsweise gegliedert. Zur Zeit der Entfaltungen des geistigen Endes des Jahrhunderts herrschten bei uns noch der anekdotische adlige Literaturgeschmack, die die heldenhafte Vergangenheit belebende historische Malerei und die Liederwelt der nationalen Romantik vor. In dieser kulturellen Umgebung galt das Erscheinen einer neuen, großstädtischen Zeitschrift (Die Woche) im Jahr 1890 tatsächlich als Sezession. Die Mehrzahl ihrer Verfasser waren bereits Bürger oder Verbürgerlichte, waren der Vergangenheit entrissen und sahen die Schatten und auch das Elend der Großstadt, jedoch wussten sie von Dekadenz, Einsamkeit, Liebe und Tod ebenso viel, wie sie sich von Arany, Ibsen, höchstens von Zola und Maupassant abgeguckt hatten.

Sezession war dann 1896 der Auszug von Simon Hollósy und seiner Schüler nach Nagybánya. Es war ein echter Bruch mit dem Akademismus: Plein Air, Lichtstudien, impressionistische Initiativen, aber noch mehr angezogen wurden die Leute von Nagybánya wie später die von Szolnok und Gödöllő von der malerischen Landschaft und der Malergemeinschaft und nicht vom Zwang der Isolation in die metaphysische Einsamkeit. János Vaszary, József Rippl-Rónai oder István Csók ließen die Farben und Zierden der Sezession auf dem einen oder anderen ihrer Bilder zwar aufleuchten (und werden auch die Pioniere der Sezession genannt), allerdings waren dies nur formelle Zeichen und kein inhaltlichen Bestandteile, wie dies selbstbewusst auch für die sezessionistische Schule von Gödöllő gilt.

Das verspätete Ende des Jahrhunderts erschien bei uns irgendwann um die Mitte der ersten Jahrzehnte vom neuen Jahrhundert, dann jedoch mit vulkanischer Kraft. Wenn sich eine revolutionäre Erneuerung mit Namen und Gruppen in Zusammenhang bringen lässt, dann würde ich die ungarische künstlerische Zeitenwende mit Endre Ady und dem Westen, Gyula Krúdy, Lajos Gulácsy und Béla Bartók verbinden. Adys Stellung ist unbestritten. Nicht nur er zählte sich zu diesem Lager, in dem er sagte, dass „meine Sezession der Kampf des Fortschritts gegen den Zopf ist”, und in die Verse geschlossene Sehnsucht nach Ferne, Paris, wilder und heiliger Liebe, nach Gott und Tod, nach dem Leben, das eilig vor ihn floh. Krúdys Stellung ist ebenso unbestritten. Auch er kennzeichnete seinen Platz auf dem ungarischen Globus selbst: Er war ein Sindbad, der ohne Meere „auf den toten Wassern der Vergangenheit Abenteuer bestritt”, in einer farbenprächtigen Traumwelt, die realistisch war wie die Welt der kleinen Kneipen in Buda und in der sich nicht nur die Gegenwart zu einem bittersüßen Abenteuer auflöste, sondern wo auch die Zukunft zusammen mit ihren schönen Hoffnungen, Utopien und ihrem Willkommen aufhörte. Bartók brauchte ebenfalls keine besondere Aufnahmeprüfung bestehen, schon mit dem Schloss des Blaubarts und dem Wunderbaren Mandarin wurde er Ehrenmitglied im Klub der musikalischen Erneuerer. Einige Worte sind jedoch für Lajos Gulácsy zu verlieren, der wohl der echteste ungarische Sezessionist war.

Lajos Gulácsy, das abgerutschte Mitglied der ungarischen Gentry, erbte von seinen Vorfahren nur Träume, Schulden und Geisteskrankheit. Er lebte nicht in einem Schloss, sondern im achten Stadtbezirk in zwei Zimmern in der Rigó utca. Aus der Gesellschaft seiner Zeit brauchte er sich nicht zurückzuziehen, denn er hatte nie in ihr gelebt. Er war ein geborener Außenstehender und ein geborener Maler. Er hätte Gabriele Dante Rosetti von Ungarn sein können, wenn er fünfzig Jahre früher geboren wäre. Er wurde 1882 geboren, als Rosetti starb. Vielleicht ist die Seele von Rosetti in ihn eingezogen, denn er sehnte sich sein ganzes Leben lang nach Italien, in das Florenz Dantes. Quattrocentofarben, traurige Liebschaften, Francesca und Paolo, jungfräuliche Extasen, verwelkte Rosen und Frauen. Feine Pastellschattierungen, trübselige Menschen, nie dagewesene Landschaften, Gärten, die von Zauberern und Clowns. Er selbst spielte auch Dandy, benahm sich exzentrisch und trieb Possen. Er lebte närrisch und starb im Irrenhaus. Er war der erste und der letzte König im Land der Glücklichen, Na Conxypan, das er selbst erfunden hatte.

Das ungarische Ende des Jahrhunderts, die ungarische Sezession unterschied sich von der europäischen und besonders von der Wiens durch zwei wesentliche Züge. Der größte Teil der Intelligenz stand mit einem Bein noch in der feudalistischen Vergangenheit, drängte und erwartete mit schwindendem Glauben die Verbürgerlichung. Selbst in ihrer Bedrängnis wandte sie sich nicht von der Gesellschaft und trotz ihrer Exkommunikation nicht von der Nation ab.

Ende des Jahrhunderts und Intelligenz

Durch die Gärten und Werkstätten vom Ende des Jahrhunderts streifend stoßen wir ständig auf die seltsame Erscheinung, dass aus der betonten Enerviertheit und aus der mit Stolz getragenen Neurose, mit einem Wort aus der Dekadenz eine lebensstarke, epochemachende Kultur entstand. Das dekadente Lebensgefühl des Fin de Siècle lebte sogar in enger Symbiose mit dem sorglosen, begierigen Lebenswunsch der Belle Epoque zusammen, woraus es sich nicht schämte, reichlich zu schöpfen. Wer und welche Schichten erfanden und verbreiteten dann die Stimmung vom Ende des Jahrhunderts und Ende der Welt? In den obigen Ausführungen ist die Antwort verborgen, wir müssen nur das Wesen herausschälen: die kreative humane Intelligenz. Diese Schicht ging (oder fiel?) selbstverständlich aus vielen verschiedenen Wiegen hervor. In England war es, wenn wir Wilde Glauben schenken dürfen, die funktionslos gewordene, herumschlendernde Aristokratie und in Frankreich waren es die Schriftsteller, Künstler und Kunstliebhaber, die vor den der ersten weit verfremdeten Sitten der dritten Republik Abscheu bekamen. In Deutschland und Österreich deklassierten sie sich aus dem Bildungsbürgertum, aus dessen Prestige und Position sie ausgefallen sind. Anfang des 19. Jahrhunderts bildete eine über ein Diplom verfügende, freie Intelligenz, die in der nationalen Vereinigung, in der Modernisierung und in der Verbürgerlichung des Kaiserreiches beziehungsweise des mit den Ungarn ausgeglichenen österreichischen Reiches eine große Rolle spielte, das Rückgrat der Schicht. Die schnelle Modernisierung brachte allerdings in den Mittelschichten der Intelligenz tiefgreifende strukturelle Veränderungen mit sich. Die moderne Verwaltungsbürokratie, die zu Machtfunktionen kam, entstand beziehungsweise wurde um das alte josephinische Beamtentum erweitert. Gleichzeitig wuchs die technische Intelligenz heran und vermehrte sich, die die Wirtschaft mit großer Kompetenz leitete. Derzeit sank das Bildungsbürgertum herab und wurde selbst in kultureller Sphäre aus der Leitung verdrängt. Wenn es loyaler Untertan blieb, konnte es sich einen Rest seines Ranges und Einkommens bewahren. Wenn es sich jedoch nicht mit den Eroberungszielen des wilhelminischen Reiches oder mit dem in Österreich entflammenden deutschen Nationalismus und den Liberalismus zerfressenden Antisemitismus identifizierte, dann „marginalisierte” es sich und gelangte endgültig an die Peripherien.

Was geschah nun in Ungarn? Wohin verschwanden einflussreiche Beamtengarde der Komitate und die adlige Intelligenz? Infolge des Zusammenbrechens der beiden Stützpfeiler Komitat und Grundbesitz, wurde der überwiegende Teil von ihnen in die Ämter gezwungen und zum Diener des Staates und verteilte sich in dieser seiner Eigenschaft in der etatistischen nationalen Bürokratie. Ein anderer Teil von ihnen kam auf die Diplomlaufbahn, als Rechtsanwalt oder Ingenieur, und fand den seinem Rang entsprechenden Platz in der vornehmen Mittelschicht. Ein wertvoller Teil jedoch wurde Schriftsteller, Journalist, Lehrer, Künstler, Schauspieler oder Musiker, d. h. Teil der humanen Intelligenz und in dieser Gesellschaft vermengte sich mit der aufstrebenden bürgerlichen (häufig gerade assimilanten) Intelligenz. Wenn er den Mut hatte, sich vom Establishment der Großrundbesitzer und der Großkapitalisten und auch von der Regierungspartei von Siebenundsechzig, ja auch von der nationalen Opposition von Achtundvierzig unabhängig zu machen, und wenn er mit den Radikalen oder vielleicht auch mit den Sozialisten sympathisierte oder sich zu gar nichts bekannte, dann fiel er ohne jegliche Möglichkeit auf Rettung aus seinem Establishment, vereinsamte und wurde an die Peripherie getrieben.

Wir haben ja bereits darauf hingewiesen, dass die ungarische Intelligenz der Jahrhundertwende selbst in ihrer Stellung an der Peripherie bestehen blieb und auch die Werkstatt nicht verließ. In den Jahrzehnten vor dem Krieg schaltete sie sich sogar (anders als die von Wien) aktiv in die Politik ein und unternahm noch einmal den Versuch, die soziale Emporhebung der Gesellschaft mit der nationalen Erneuerung zu verbinden. Mit dieser aktiven geistigen Teilnahme schritt sie allerdings bereits in das 20. Jahrhundert, dessen lauernde Gefahren sie ziemlich zeitig erkannte.

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Erneut nähern wir uns dem Ende eines Jahrhunderts, dem Ende eines schweren Jahrhunderts. Es gibt jedoch keine neue erneuerte Stimmung des Fin de Siècle, keine Erwartung eines neuen, weder eines lebensstarken noch eines dekadenten. Zum Schluss bietet sich hier die Frage an: Warum gibt es heutzutage kein Fin de Siècle?