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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 19:53–63.

HEINZ DUCHHARDT

Europäische Geschichte

Der neue Königsweg der Geschichtswissenschaft?

 

Europa hat Konjunktur. Ich will die – zumal in einem Europa Institut – banale Generalaussage mit Beispielen aus der Verlagslandschaft untermauern. Es dürfte in Deutschland wohl kaum einen Fachverlag im engeren oder weiteren Sinn mehr geben, der nicht europäische Reihen oder Periodika in seinem Sortiment hätte. Fischer gibt seit geraumer Zeit eine 65 Bände umfassende „Europäische Geschichte” heraus, der freilich alles andere als eine geschlossene Konzeption zugrunde liegt, Beck hat die Reihe „Europa bauen” in seinem Programm, Kohlhammer verlegt ohne eigenen zugkräftigen Namen eine Sequenz von vier Bänden „Geschichte Europas” zwischen 1789 und 1939, Ulmer startete vor wenigen Monaten mit seinem auf zehn Bände angelegten „Handbuch der Geschichte Europas”.

Und da Verleger nüchtern zu denken verstehen und gewinnorientiert planen, muss man wohl davon ausgehen, dass zumindest sie vom Verkaufserfolg solcher Unternehmen überzeugt sind und davon, einen Trend der Zeit zu treffen; seit den Zeiten, als ein auf die Universitäten zugeschnittenes Vorhaben wie das „Handbuch der europäischen Geschichte” nahezu unangefochten und fast monopolartig das Feld beherrschte, also seit den frühen 1970er Jahren, hat sich die Welt verändert. „Europa” scheint in der deutschen Verlagslandschaft inzwischen zu dem Zauberwort schlechthin geworden zu sein, und es gibt nur wenige Verlage, die der Suggestion dieses Zauberworts nicht erliegen. Dass sich die Situation in den Nachbarstaaten nicht viel anders darstellt, soll hier nur angedeutet werden. Selbst auf den britischen Inseln, die mit Europa ja lange genug ihre Schwierigkeiten hatten, ist kaum noch ein Fachverlag zu finden, der nicht mit viel Aplomb seine europäischen Reihen auf den Markt gibt, etwa Blackwell mit einer auf 11 Bände geplanten „History of Europe” oder Macmillan mit einer gleichnamigen 7bändigen Reihe. Und diese Bände haben überraschenderweise in aller Regel durchaus Format, erschöpfen sich längst nicht nur im Additiven, einem eher scheuen Blick auf den Kontinent, wie es manche britischen Fachzeitschriften der 70er und 80er Jahre taten, die sich des Epithetons „European” bedienten, damit aber doch nur meinten: nicht-britisch, also kontinental. Für Ungarn fehlt mir, nicht zuletzt des Sprachenproblems wegen, der Überblick, aber wenn ich die Situation in anderen vergleichbaren Staaten, die in der Türfüllung der Europäischen Union stehen, hochrechne, dürfte die Situation nicht grundsätzlich anders sein.

Nun ist es bekanntlich keine Frage, dass die Geschichtswissenschaft, seitdem sie Wissenschaftsanspruch erhebt und Wissenschaftscharakter hat, periodisch, aber letztlich nicht kalkulierbar über ihre Paradigmen, über Methoden und Erkenntnisziele diskutiert, und das angesichts der Überfülle von kurzfristig anberaumten Konferenzen, angesichts von Tausenden von Fachzeitschriften, angesichts der Mobilität der Wortführer des Fachs rasch weltweit. Mitte des 20. Jahrhunderts standen die politische Geschichte und die klassische Ideengeschichte mit dem Rücken zur Wand und hatten dem Druck der mit Platzhirschambitionen auftretenden Sozialgeschichte und der aus ihr erwachsenden Gesellschaftsgeschichte zu widerstehen, in den 1970er und 1980er Jahren kamen die Geschlechtergeschichte, die Alltagsgeschichte, die historische Demographie und die historische Anthropologie auf, seitdem diskutieren wir über den linguistic turn und den cultural turn in der Geschichtswissenschaft. Damit wandelten sich im Übrigen auch die Präferenzen für Quellentypen; diplomatische Akten gerieten in den 50er Jahren rasch in den Geruch des Vorgestrigen, zeitweise schien sich eine Mathematisierung und eine Reduktion der Geschichte zu Kurven aufgrund serieller Quellen abzuzeichnen, im Zuge der Alltags- und Kulturgeschichte erfreuten sich dann wieder die persönlichen, mehr oder weniger narrativen Quellen allgemeinen Interesses, für die man rasch den Begriff der Ego-Dokumente erfand. Und jetzt „Europa” als neues Paradigma?

Wenn mein Eindruck nicht täuscht, stehen diesem fachwissenschaftlichen Europäisierungsprozess parallele Trends auf den anderen Kontinenten nicht zur Seite. Sieht man einmal ganz davon ab, dass die Produktion anspruchsvoller geschichtswissenschaftlicher Werke auf den anderen Kontinenten – Nordamerika natürlich immer ausgenommen – quantitativ längst nicht an die europäischen Zahlen heranreicht, so fehlen dort auch die massiven Bemühungen, den jeweiligen gesamten Kontinent in den Blick zu nehmen. Ein Pendant zu Michael Salewskis „Geschichte Europas”, so problematisch sie auch im Einzelnen sein mag, für Asien oder Afrika ist noch lange nicht absehbar, und eine „Zwischenbilanz nach 1000 Jahren Europa”, wie sie vor kurzem der Mediävist und Bohemist Ferdinand Seibt vorlegte, scheint für die beiden Amerika noch in weiter Ferne zu stehen.

Man wird nach Gründen suchen und sie auch finden können. In Europa wird der europäische Ansatz sicher erheblich begünstigt dadurch, dass wir es nicht nur mit einem vergleichsweise überschaubaren, sondern auch mit einem alles in allem relativ homogenen Kontinent zu tun haben: homogen in Bezug auf Religion und Verfassungsrecht, etwa was die politische Partizipation der Untertanen betrifft, homogen in Bezug auf die aus dem römischen Recht erwachsenden Rechtsvorstellungen oder auf gemeineuropäische Phänomene wie das Städtewesen, das nirgendwo jene Dichte und besondere Rechtsgestalt erreichte wie in Europa. Schon allein im kulturell-religiösen Bereich fehlt Asien oder Afrika eine vergleichbare Geschlossenheit, sieht man einmal ganz von den dort am stärksten voneinander differierenden verfassungsrechtlichen Strukturen ab.

Aber der wissenschaftliche Europäisierungsprozess hat natürlich nicht nur etwas mit wissenschaftsimmanenten Faktoren zu tun, sondern weist selbstverständlich auch eine politische Komponente auf, die mit Bestimmtheit sogar initial war. Vor dem politischen Europäisierungsprozess kann in Europa – und außerhalb Europas – niemand die Augen verschließen, und dies schärft, ganz unabhängig von etwaigen politischen Vorgaben, die Sinne für das Gemeinsame – für ähnliche und vergleichbare politische Strukturen, für kulturelle Interaktionen und Interdependenzen, für gemeinsame Wegstrecken unter einer und derselben Dynastie, für gemeinsames Leiden. Aber es kamen und kommen natürlich die direkten politischen Vorgaben hinzu, die großen Programme der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union wie jetzt das so genannte 6. Rahmenprogramm, ein europäisches Bewusstsein zu befördern und zu fördern, und von diesem großen Kuchen sind immer auch einige kleine Stücke für die Wissenschaft reserviert. So schwierig es ist, an diese Stücke heranzukommen: marginalisieren darf man diese Impulse und Möglichkeiten nicht. Eine im offiziösen Feld angesiedelte Stiftung wie die European Science Foundation beispielsweise ließ über einen längeren Zeitraum viele Dutzende von Forschern aus EU- und Nicht-EU-Staaten über die „Origins of the modern state” arbeiten und hat damit der Geschichtswissenschaft einen nachhaltigen Impuls gegeben.

Und der politische Prozess, also der mit den Römischen Verträgen einsetzende Europäisierungsvorgang, stand ganz fraglos auch am Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Europa-Thematik überhaupt. Denn eine eigentliche Europaforschung ist ein Phänomen des letzten Drittels des zurückliegenden Jahrhunderts, das muss mit großer Nüchternheit festgehalten werden. Sicher hat es seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts Periodika und Reihen gegeben, die sich mit dem Epitheton „europäisch” schmückten und die in der Tat die aktuellen politischen, literarischen oder geistigen Entwicklungen des ganzen Kontinents, soweit sie erfahrbar waren, in den Blick nahmen, ebenso sicher hat es schon im 16. Jahrhundert – man mag an Pier Francesco Giambullaris „Historia dell’Europa” oder an Alfonso de Uloas „Le historia di Europa” aus den Jahren 1566 bzw. 1570 denken – in Einzelfällen Geschichtswerke gegeben, die den ganzen Kontinent in den Blick nahmen. Und ebenso sicher hat es, verstärkt seit dem frühen 19. Jahrhundert und mit einem weiteren deutlichen Gipfel im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, eine breite Publizistik gegeben, die Europa im Sinn von „Vereinigten Staaten von Europa” herbeizuschreiben suchte: seine „Verbrüderung” unter der politischen Leitung des Nobel-Komitees, wie es etwa ein Darmstädter Autor 1912 mit Blick auf die mutmaßlichen Bedrohungen von außen forderte, insbesondere durch die „gelbe Gefahr”, seine Organisation als „Paneuropa”, wie es der Weltmann Richard Coudenhove-Kalerghi erstmals 1923 auf die Agenda setzte, von dem freilich das bolschewistische Russland und das britische Commonwealth ausgeschlossen bleiben sollten, über ein System von „Kernbildungen” auf rassischer Grundlage, die sich in einem Mehrstufenprogramm gesamteuropäisch vereinigen sollten, wie es einer nahezu unbekannten lettischen Autorin 1932 vorschwebte. Die Fülle und Vielstimmigkeit des europäischen Chors, der es ja gegenüber rivalisierenden Konzepten wie der Nationalstaatsidee und der Idee des weltumspannenden Völkerbundes im Kern nicht leicht hatte, sich Gehör zu verschaffen, kann mit diesen drei ganz willkürlich herausgegriffenen Beispielen nur angedeutet werden, die aber indirekt anzeigen, dass über die recht schablonenhaften Anmerkungen zur Einheit des Kontinents eine wirkliche Erforschung seiner Strukturen und seiner Europäizität noch nicht in Gang kam. Die nationalgeschichtlich akzentuierte Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung beherrschte unverändert das Feld – Europa war für die Geschichtswissenschaft zumal im Deutschland der Weimarer Republik noch kein Thema. Das änderte sich übrigens auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur zögernd und bedingt, als Europa nach dem katastrophalen Scheitern des hypertrophen deutschen Nationalstaats im politischen Raum eine ungeheure Popularität gewann, sich dies aber – verständlich angesichts der Zeitumstände – noch nicht in der Vielzahl historischer Forschungsarbeiten niederschlug, obwohl sich unter anderem ein seit 1947 bestehender, prononciert im „abendländischen” Christentum wurzelnder „Arbeitskreis christlicher Historiker” mit Alfred Mirgeler an seiner Spitze des Themas anzunehmen begann. Ein Einzelbeispiel wie Heinz Gollwitzers grundlegendes Buch über den Europagedanken und das Europabild im 18. und 19. Jahrhundert, in der Endphase des 2. Weltkriegs als Habilitationsschrift konzipiert, 1949 in München angenommen und 1951 publiziert, und einige wenige Dissertationen dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Im westlichen Ausland war man da sicher mutiger und progressiver; zumal auch die Rahmenbedingungen andere waren; hier erschienen in den mittleren 50er Jahren doch schon etliche Gesamtsynthesen europäischer Geschichte, die bei allem Versuchscharakter und allen Einseitigkeiten doch schon eine Menge empirisches Material bereitstellten. Ich denke hier etwa an Dennis Hay’s „Europe. The emergence of an idea” aus dem Jahre 1957, an Christopher Dawsons „Understanding Europe” aus dem Jahr 1956 oder auch an Carlo Curcio’s „Europa. Storia di un’idea”, 1958 publiziert. Auch die „Origines de la Civilisation Européenne” des ersten Rektors des College d’Europe in Brügge, Henri Brugmans, sollen genannt werden, 1958 veröffentlicht. In Deutschland fand das Thema im wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Raum – trotz Mirgelers „Geschichte Europas” von 1953, trotz eines großen, von mehreren hundert Teilnehmern besuchten Europa-Kongresses des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz im Jahr 1955 –, erst deutlich nach den Römischen Verträgen eine breitere Resonanz, die sich dann zum Teil eines zentralen wissenschaftlichen Organs des Europäisierungsprozesses bediente, des Europa-Archivs, das sich seit den späten 1950er Jahren auch historischen Untersuchungen öffnete.

Dieses relativ zögernde Herantasten der deutschen Geschichtswissenschaft an die Europa-Thematik, also an das, was wir heute europabezogene Grundlagenforschung nennen, stand selbstverständlich auch in einem indirekten, wenn nicht direkten Zusammenhang damit, dass die einschlägigen wissenschaftlichen Bemühungen stark von einem dezidiert christlich geprägten, im Terminus des Abendlandes kulminierenden christlichen Europa-Verständnis ausgingen. Der „Arbeitskreis christlicher Historiker” wurde eben schon genannt, eine auf den bayerischen Gymnasiallehrer Wilhelm Wühr zurückgehende und von ihm präsidierte lockere Vereinigung protestantischer und katholischer Historiker, die sich die konsequente Revision des Geschichtsbildes auf der Grundlage des Christentums als „Geschichts- und Gegenwartsmacht” zum Ziel setzte und vor diesem Hintergrund als eigentliches Konstituens Europas das Christentum begriff. Im Kern war das ja kein absurder Ansatz, denn bei allen Versuchen in den zurückliegenden Jahrhunderten, Europa zu definieren oder seine Einigungsbedürftigkeit herauszustellen, hatte natürlich immer das Christentum eine Rolle gespielt, selbst bei manchen Kulturpessimisten der 1920er Jahre. Das Entscheidende – und Problematische – war, dass dieser Kreis, dem unter anderem so renommierte Historiker wie Theodor Schieffer und Georg Stadtmüller, Max Spindler und Wolfgang Zorn, Gollwitzer und Mirgeler angehörten, das Christentum verabsolutierte und „Europa” nur in der Variante des christlichen Abendlandes, des „Okzidents” zu denken willens war, also dem zu schaffenden Europa eine Ideologie überzustülpen suchte, die die Europa-Thematik wissenschaftlich erheblich belastete. Die Tagungsdokumentation des genannten Mainzer Kongresses von 1955 spiegelt wider, wie sehr das Denken von einer christlichen Abendlands-Ideologie dominiert wurde, und auch ein wenig später vom Direktor der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte des Mainzer Instituts herausgegebener Sammelband „Europa und das Christentum” lässt das geradezu krampfhafte Bemühen erkennen, den Europa-Gedanken mit der Idee des christlichen Abendlands zu verbinden und zu verschmelzen. Die deutsche Europa-Forschung tat sich unendlich schwer, sich aus diesem Käfig zu befreien.

Die Skepsis gegenüber diesen mit dem Abendland-Begriff assoziierten Europa-Konzepten gründet sich heute – und gründete sich auch in den 1950er Jahren – ganz wesentlich auf der engen, längst nicht die geographische Gesamtheit des Kontinents einschließenden Europa-Definition. Ich will hier nicht über die vielfältigen Versuche seit der Antike, den Kontinent nicht nur biblisch-eschatologisch (Japhet), sondern durch seine Außengrenzen zu definieren, sprechen, was ja vor allem in östlicher Richtung für alle Intellektuellen immer eine große Herausforderung blieb, weil der lange, letztlich seit Strabo, als verbindlich gehandelte russische Fluss Don eben doch keine besonders prägnante Grenzscheide darstellt, will auch nicht thematisieren, wie lange, bis hin zu Martin Waldseemüller und Sebastian Münster, der skandinavische Raum als nicht oder doch nur eingeschränkt Europa zugeordnet angesehen wurde und will mir auch einige Bemerkungen ersparen, wie viele Denker des Mittelalters – Geographen, Historiker, Seeleute – mit der Zugehörigkeit der britischen Inseln zu „Europa” ihre Schwierigkeiten hatten.

Wenn auch – Zedlers Universallexikon aus den 1730er Jahren spiegelt das wider – seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts dank der „Erfindung” der Ural-Grenze über die geographische Ausdehnung Europas im wesentlichen Konsens herrschte, hatten die Abendland-Ideologen der unmittelbaren Nachkriegszeit natürlich nicht den geographischen Raum vor Augen, den sie formieren wollten. „Abendland” meinte für sie immer den Bereich der lateinischen Christenheit, also jenen Bereich, der sich kirchlich nach Rom bzw. nach Wittenberg und nach Genf hin orientierte, und das schloss dann eben einen guten Teil der slawischen Welt und selbstverständlich auch die muslimischen Relikte auf dem Balkan von ihrem Europabegriff aus. Auch viele Europa-Publizisten des 19. und 20. Jahrhunderts hatten diese Grenzen ganz scharf gesehen, zumal nach der Bolschewisierung Russlands dann noch ein zusätzliches Argument – das der politischen Nicht-Kongruenz – hinzukam, um einen bestimmten geographischen Raum von allen Europa-Projekten auszugrenzen; auch bei Coudenhove-Kalergi ist das ja noch fassbar. Ich muss nicht in Ihre Erinnerung zurückrufen, dass diese Gedanken – also die zu wahrende „geistige Einheit” und die Komponente der gemeinsamen Erfahrung der Völker der Gemeinschaft – auch bei den heutigen Diskussionen über die Erweiterung der Europäischen Union immer wieder hochkommen, obwohl ihr mit Griechenland ja schon seit geraumer Zeit ein Staat angehört, der dem nichtlateinischen Lager zuzurechnen ist.

Aber, um zu meiner Leitfrage zurückzukehren, ist das wirklich nun an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert der neue Königsweg der Geschichtswissenschaft, europabezogen zu forschen und europäisch zu schreiben? Das Fragezeichen, das der Titel enthält, ist nicht nur als rhetorisches Mittel zu verstehen, sondern begründet sich aus der Sache.

Jeder europäische Zugriff, ob eher politik- oder sozial-, eher kultur- oder wirtschaftsgeschichtlich akzentuiert, tendiert selbstredend dazu, das Gemeinsame hervorzuheben und zu betonen: die zumindest ähnliche politische oder Sozialverfassung, die weitgehend identische Kirchenorganisation, vergleichbare demographische Strukturen und lebensweltliche Verhaltensweisen. Aber nichts wäre falscher, als diese Ergebnisse absolut zu setzen. Gewiss, überall in Europa gab es Adel, aber sein Anteil an der jeweiligen Gesamtbevölkerung bewegte sich in der frühen Neuzeit zwischen 0,3 und rund 20 Prozent. Das lässt sich nicht über einen Leisten schlagen, weil derart unterschiedliche Ziffern nicht nur in der Schicht selbst unterschiedliche Bewusstseinsformen schufen, sondern auch auf die ganze Gesellschaft unterschiedlich zurückwirkten. Gewiss, überall in Europa, sieht man einmal von dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich ab, gab es Partizipationsrechte der Untertanen, aber wie unterschiedlich wurden sie zumindest auf der nationalen Ebene artikuliert – in einem englischen Parlament, das seit dem frühen 18. Jahrhundert sozusagen in Permanenz tagte, grundsätzlich anders als in Frankreich, wo die Generalstände zwischen 1614 und 1788 kein einziges Mal zusammentraten, auf der eidgenössischen Tagsatzung anders als im polnischen Sejm. Gewiss, im monarchischen Europa war die mehr oder weniger glanzvolle und mehr oder weniger öffentliche Krönung des Monarchen eine der zentralen rites de passage, aber davon gab es einerseits Ausnahmen – in Spanien etwa setzte sich die Krönung nicht durch, in Preußen starb sie nach 1701 für gut 150 Jahre wieder ab –, und andererseits wurde sie in vielen Teilen Europas vor dem Hintergrund eines an Kraft gewinnenden Erb- und Primogeniturrechts zunehmend zu etwas Akzidentiellem, nicht mehr im eigentlichen Sinn Herrschaftsbegründendem. Krönung war also nicht gleich Krönung, sie veränderte zudem in der Frühen Neuzeit ihren Charakter, und vom europäischen Normalfall gab es außerdem signifikante Ausnahmen. Diese Feststellung bestehender Heterogenität muss Europa nichts von seiner Faszination nehmen, aber es ist redlich, diese Spannung von Vergleichbarem und Speziellem sich immer wieder vor Auge zu führen. „Europäische Geschichte” als eine historiographische Herausforderung muss immer in der letztlich unaufhebbaren Spannung der gemeinsamen Strukturen verschiedener oder gar vieler europäischer Staaten und Gesellschaften und der jeweiligen regionalen Besonderheiten und Spezifika stehen.

Damit im Zusammenhang steht ein zweites: Jeder europäische Zugriff ist seinem Wesen nach auf Vergleich angelegt, und der wirklich tief dringende, nicht nur an der Oberfläche kratzende Vergleich gehört zu den großen historiographischen Herausforderungen. Nicht selten strecken Doktoranden schon vor dem „nur” zweiseitigen Vergleich die Waffen, weil die Aneignung einer intimen Kenntnis auch nur zweier Kulturen eine immense intellektuelle Leistung darstellt. In ein Drittmittelprojekt zur historischen Elitenforschung, das vor einigen Jahren am Institut für Europäische Geschichte lief, gingen fast alle Nachwuchswissenschaftler mit der erklärten Absicht hinein, etwas Komparatives auf die Beine zu stellen, um am Ende fast durchgängig mit eindimensionalen Fallstudien abzuschließen. Und stellt sich der Vergleich schon für hochentwickelte Geschichtskulturen als ein riesengroßes Problem dar, so potenziert sich dieses Problem an der Peripherie noch weiter. Ein opus magnum wie das Wolfgang Reinhards über die Entstehung der Staatsgewalt wäre undenkbar gewesen zum Beispiel in der Ukraine, wo die ganz wenigen heimischen Historiker im Moment noch nur ein Ziel sehen und verfolgen, nämlich die Wurzeln der eigenen Nation aufzudecken und Argumente und Quellen für die nationale Selbständigkeit ihres Volkes zusammenzutragen. Der europäische Vergleich kann dort einfach noch kein Thema sein. dass dort insofern an einen linguistic oder cultural turn, an flächendeckende demographische Untersuchungen oder Ähnliches noch auf längere Zeit nicht zu denken ist, liegt auf der Hand.

Da es für erhebliche Teile Europas an empirischem Material und an entsprechenden Aufarbeitungen fehlt, befindet sich die Forschung für viele Bereiche auf einem ganz schwankenden Boden. Was nützen unter einer europäischen Perspektive die besten demographischen Untersuchungen über England, Frankreich, das alte deutsche Reich oder Schweden, wenn für den Osten und den Südosten kaum Vergleichsmaterial zur Verfügung steht: wann heiratete man dort, wie viele Kinder gingen aus einer Ehe hervor, wie war deren Lebenserwartung, wie verhinderte man unerwünschte Konzeptionen, wie ging man mit außerehelichen Konzeptionen um, gab es längere Witwen- oder Witwerschaften oder das Phänomen der umgehenden Wiederverheiratung, um nur einige der Standardthemen der modernen Demographiegeschichte hier anzusprechen. Was nützt es uns, wenn wir, oft mühsam, für die vorstatistischen Jahrhunderte, also den Zeitraum bis zu den ersten staatlichen Erhebungen, die meist im 18. Jahrhundert einsetzten, die Einwohnerzahlen von Kommunen, Regionen und Staaten in der Mitte, im Westen, Norden und Süden des Kontinents ermitteln, wenn wir für die weiten Gebiete im Südosten und Osten dagegen auf bloße Vermutungen angewiesen bleiben? Man mag daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dann müsse man sich eben bis auf weiteres mit einer Geschichte Europas begnügen, die nur den Bereich – praepter propter – der Europäischen Union abdeckt; das käme dann schon, wie mir scheint, einer Art Etikettenschwindel und einem Offenbarungseid gleich. Was man aber ehrlicherweise sagen muss (und worüber auch manche Synthesen nicht hinwegtäuschen sollen), ist, dass „europäische Geschichte auf absehbare Zeit wohl noch eine Art „Schneisenwissenschaft” bleibt in dem Sinn, Schneisen, die für den Kontinent typisch und die zugleich von Einzelforschern oder kleinen Teams zu leisten sind, zu schlagen, etwa im Sinn einer vergleichenden Geschichte der studia generalia des Abendlandes, ihrer Verfassungen und Curricula, ihrer Dozenten und Studenten, ihrer Frequenzen und ihrer Beziehungen zur Gast-Kommune, etwa im Sinn einer komparatistischen Aufarbeitung der europäischen Akademien, die ja seit dem mittleren 17. Jahrhundert ein verbindendes Element der europäischen Staatenfamilie wurden, auch in eher randständigen Gemeinwesen anzutreffen waren und in ihren wissenschaftlichen Zielen, Vernetzungen und ihren Formen der Öffentlichkeitsarbeit nach Vergleich und Zusammenschau geradezu rufen.

Da umfassende gesamteuropäische Synthesen auf längere Zeit aus den genannten Gründen noch nicht absehbar sind bzw. unbefriedigend bleiben müssen, scheinen mir wissenschaftsorganisatorisch und methodisch zwei Alternativen auf der Hand zu liegen. Die eine sind Studien, die eine europäische Großregion – also den Balkan, Skandinavien, den baltischen Raum und Ähnliches – ins Auge fassen und die Strukturen herausarbeiten, die gegenwärtig machbar sind. Dieser Weg wird von der internationalen Geschichtswissenschaft auch mehr und mehr beschritten, wie es sich etwa in Edgar Höschs „Geschichte der Balkanvölker...” oder in David Kirbys „Northern Europe in the early modern period” widerspiegelt. Allerdings ist es in den meisten Fällen solcher „Raumstudien” bis zu jener Durchdringung eines Raums, wie das Fernand Braudel in so fulminanter und die ganze moderne Geschichtswissenschaft so nachhaltig befruchtender Weise für das Mittelmeerbecken im Zeitalter Philipps II. getan hat, noch ein weiter Weg.

Das andere ist, nach europäischen Ereignissen im wahrsten Sinn des Wortes zu fragen und nach ihrer Ausstrahlung bis in die Ecken des Kontinents hinein. Der Mainzer Historiker Rolf Reichardt hat das am Beispiel des Französischen Revolution exemplarisch vorgeführt, indem er etwa der Rezeption und Auseinandersetzung mit den Revolutionsideen in Irland und Italien nachging, leider nicht auch der in Rumänien und Bulgarien. Über die Resonanz der Revolution in den Niederlanden und in Deutschland wissen wir ja ohnehin seit langem Bescheid. Hier sind den Ansätzen selbstverständlich kaum irgendwelche Grenzen gesetzt, und so vermag es auch nicht zu verwundern, dass eine bestimmte Forschungsrichtung, die sich mit dem Transfer von kulturellen Phänomenen zwischen zwei Nationen und Gesellschaftssystemen oder mit Rezeptionsvorgängen von Ideen und geistigen Bewegungen befasst, derzeit ausgesprochene Konjunktur hat.

Aber es gilt darüber hinaus, findig zu bleiben und über den Transfer bestimmter Fragestellungen, die für einen nationalen Rahmen entwickelt worden sind, auf eine europäische Ebene nachzudenken und zu diskutieren. Pierre Noras im Lauf der Jahre immer weiter ausdifferenziertes Projekt über die französischen lieux de mémoire hat in vielen europäischen Staaten, in Italien und den Niederlanden, in Deutschland und Österreich, Nachfolgeprojekte veranlasst, die im Fall Deutschlands in Gestalt der von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen „Deutschen Erinnerungsorte” bereits abgeschlossen sind. Aber damit nicht genug: Jetzt diskutieren Historiker in halb Europa darüber, ob es denn vielleicht auch so etwas gäbe wie europäische Erinnerungsorte, also Ereignisse, Plätze, Personen, geistige Phänomene, die für ganz Europa oder doch große Teile des Kontinents von signalhafter und damit symbolischer Bedeutung waren – die Französische Revolution wäre mit Bestimmtheit einer dieser lieux. Mit noch größerer Intensität wird seit geraumer Zeit darüber geforscht, welche Rolle der Europagedanke, also die seit dem 15. Jahrhundert virulente Idee, den Kontinent stärker zu formieren und zu organisieren, in den verschiedenen Großregionen und auch an der europäischen Peripherie spielte. In einem deutsch-französischen Projekt sind in den zurückliegenden Jahren mit großer Konsequenz die Kultur- und politischen Zeitschriften der Jahrzehnte zwischen dem Bismarckreich und der Mitte der 1950er Jahre diesseits und jenseits des Rheins auf den Prüfstand ihrer Europäizität gestellt worden. In einem an meinem Institut herausgegebenen Periodikum wird in Kürze der Nachweis geführt, dass z.B. in Dänemark in der ansonsten der Europaidee fruchtbaren Zwischenkriegszeit der Europa-Diskurs völlig fehlte und auch die Klassiker wie etwa Coudenhove-Kalergis Buch nicht ins Dänische übersetzt wurden, und dass nach dem Zweiten Weltkrieg zur dänischen Europa-Bewegung lange keine prominenten Politiker hinzustießen.

Immerhin gibt es in Dänemark heute sowohl an der Universität Aarhus als auch an der Universität Kopenhagen einen Studiengang Europa-Studien mit einer ausgeprägt historischen Komponente. In Deutschland sind geschichtswissenschaftliche Professuren mit einer Europa-Denomination noch ausgesprochen rar; die seit den 1980er Jahren ins Leben getretenen sog. Jean-Monnet-Professuren, die von Brüssel finanziert wurden und werden, waren weitaus überwiegend gegenwartsbezogen ausgerichtet und, soweit sie doch eine historische Ausrichtung hatten, ganz auf den Integrationsprozess seit den Römischen Verträgen ausgerichtet. 2001 wurden in Deutschland ganze zwei Jean-Monnet-Professuren neu eingerichtet, beide im Bereich der Rechtswissenschaft, und die beiden einzigen neuerrichteten „historischen” Professuren – in Brünn und im rumänischen Klausenburg – sind ganz auf den Integrations- und Erweiterungsprozess ausgerichtet. In Deutschland schmückt sich zwar heute so gut wie jede Hochschule mit einem Studiengang European Studies, aber hier dominieren regelmäßig Recht, Wirtschaft und Sprachen, gelegentlich auch der Tourismus. Und wenn es denn schon einmal zur Einrichtung dezidiert historischer Europa-Professuren aus dem Schoß der Universitäten selbst kommt, dann haben sie, wie in Siegen, den Schwerpunkt europäischer Regionalforschung. Gute Voraussetzungen, um die historische Europa-Forschung zu befördern, sind das selbstverständlich nicht.

Alle Europa-Forschung steht zudem selbstverständlich immer in der doppelten Konkurrenz zu konkurrierenden Ansätzen. Es ist gar keine Frage, dass die Nationalgeschichte auch in den Zeiten eines zusammenwachsenden Europa ihren Sinn behält, und so erstaunt es denn auch nicht, dass ein Handbuch, das seit über einem Jahrhundert die deutschen Studenten begleitet, Bruno Gebhardts „Handbuch der deutschen Geschichte”, gerade in diesen Monaten eine Neuauflage erlebt, inzwischen die 10. Und das ist kein deutsches Spezifikum; Ländergeschichten erfreuen sich großer Resonanz, was sich etwa daran ablesen lässt, dass wohlfeile Unternehmen von Verlagen wie Reclam oder Beck auf eine beachtliche Resonanz stoßen. Auf der anderen Seite vermag sich auch die Geschichtswissenschaft nicht völlig dem zu entziehen, was geradezu zu einem Schlüsselwort unserer Gegenwart geworden ist: der Globalisierung. Der 38. Deutsche Historikertag in Aachen beispielsweise stand unter dem Rahmenthema „Eine Welt – eine Geschichte?”, auf dem 10. Internationalen Historikertag in Oslo im Jahr 2000 war das erste von drei „großen Themen” den „Perspectives on global history: Concepts and methodology” gewidmet. Für den einzelnen, nicht im großen Team oder in einem förmlichen „Laboratorium” arbeitenden Historiker ist „Globalisierung” freilich eher ein Trauma denn eine wirkliche Herausforderung. Für Historiker in den Atlantikanrainerstaaten mag es eine reizvolle Herausforderung sein, die Beziehungen ihrer eigenen Gesellschaften und politischen Systeme zu der Welt jenseits des Atlantik – also den früheren Kolonien – aufzuarbeiten, aber mit einem wirklich globalistischen Ansatz werden sich auch die niederländischen und spanischen Historiker schwer tun. Vielleicht ruht meine Skepsis aber auch in der Kenntnis einer in den frühen 1950er Jahren in meinem eigenen Institut konzipierten „Historia Mundi”, die ausgesprochen viele Defizite aufweist und nur höchst sporadisch zu einer wirklich universalen Sicht der Geschichte vorstieß. Andere Reihenwerke, die sich mit dem Titel „Weltgeschichte” schmückten, etwa die auch unter Schülern und Studenten früher sehr populäre des Fischer-Verlags, betrieben im Grunde eine Art Etikettenschwindel, weil sie über eine Addition von Darstellungen der Geschichte von Großräumen (Indien, Lateinamerika usw.) noch nicht hinauskamen.

Europa ist vielleicht nicht der Königsweg der nationalen und europäischen Geschichtswissenschaft, weil er Lokal- und Regionalstudien nicht überflüssig macht und der Landes- und Nationalgeschichte nie gänzlich das Wasser abgraben wird. Er kann auch deswegen nicht in jeder Hinsicht zum Königsweg werden, weil er Anfänger in der Regel überfordert, nur begrenzt dissertationsgeeignet ist und das Sprachenproblem massiv im Spiel beläßt. Aber Europa ist ein Ansatz, der das Panorama der Forschungsthemen deutlich erweitert, der Einsichten in Denk- und Handlungsformen eröffnet, die bisher nicht von Belang waren, der Interaktionen und Transferprozesse, das spannende Thema der wechselnden Bilder vom anderen, also Fremd- und Feindbilder, in den Blick nimmt, die für die heutigen Konturen des Kontinents bedeutungsvoll sind. Wir haben es bei dem wissenschaftlichen Europäisierungsprozess mit einem Phänomen zu tun, das von einem politischen Prozess indirekt angestoßen wurde, ihn aber nicht a tout prix in legitimatorischer Absicht wissenschaftlich abfedern will. Was sich zudem sicher auch schon sagen lässt, ist, dass Europa nicht nur kurzfristig Konjunktur hat; wir haben es hier nicht mit einer wissenschaftlichen Eintags- oder Dezenniumsfliege zu tun, sondern mit einem Thema, das über kurz oder lang die Schulen erreichen und die Druckmaschinen am Laufen halten wird.

 

Vortrag im Europa Institut Budapest am 24. März 2003. Der Autor ist Direktor der Abteilung für Universalgeschichte am Institut für Europäische Geschichte im Mainz, das 1989-90 in vieler Hinsicht als Vorbild bei der Gründung des Europa Institutes Budapest diente.