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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:145–156.

DUŠAN TŘEŠTÍK

Die Tschechen und die Ungarn im 10. Jahrhundert

 

Im Jahre 906, als die Ungarn die mährische Macht, wie es scheint, in einer einzigen Schlacht zerschlagen hatten, feierte man auf der damals noch neuen Burg Prag eine Hochzeit. Der Bruder des hier herrschenden Fürsten, Vratislav, aus der Familie, die sich für den halbgöttlichen „haltenden” Urahn, Přemysl aneignete, nahm Drahomíra, eine hevellische Prinzessin zur Gemahlin. Als im nächsten Jahr die Ungarn in der Schlacht bei Pressburg die Mehrheit des bayerischen Adels der Ostländer vernichtet haben, gebar Drahomíra ihren ersten Sohn. Die Eltern nannten ihn Václav, „mehr Ruhm”. „Mehr Ruhm” – Boleslav – wurde aber auch ihr zweiter Sohn genannt, der einige Jahre später auf die Welt kam. Die Eltern haben also damit ein Bruderpaar, das sich unzweideutig dem archaischen Muster nach der gleichnamigen, zu halbgöttlichen Zwillingen richtete, geschafft. Für eine kleine Familie, die in einem kleinen Fürstentum in der Mitte des böhmischen Kessels mit der Unterstützung des neuen bayerischen Herzogs und des ebenso in Böhmen im Namen des neuen christlichen Gottes herrschte, war es vielleicht zu hochtrabend, ihren Söhnen so eine ruhmreiche Zukunft vorzuschreiben.

Die Geschichte hatte ihnen aber doch recht gegeben. Merkwürdigerweise schienen sie sich doch dem archaischen Zwillingsmuster nach, der den Eltern vielleicht vorschwebte, zu richten. Nicht nur dass der ältere Sohn seine götterähnliche Natur bestätigte, indem er der erste slawische Heilige geworden ist, spielten die Brüder sozusagen den wichtigsten Zwillingsmythos ab als Boleslav den Brudermord begangen hatte und dadurch er – wie Romulus oder Kain – einen Staat gegründet hat. Dass diese Angleichung an das archaische Denkmuster keine leere Zumutung ist, ist durch die Tatsache bewiesen, dass noch im 11. Jahrhundert der Prager Bischof seinen Priestern ans Herz legen musste, dass sie den Gläubigen erläutern sollten: Wenzel wurde nicht darum zum Heiligen, weil er von seinem Bruder ermordet wurde, sondern darum, weil er ein vorbildliches christliches Leben geführt hatte.

Was aus dem Mord Boleslavs am 28. September 935 in Stará hervorging, war wirklich ein Staat, in dem alle öffentliche Macht direkt und allein in den Händen des in Prag regierenden Přemyslidenfürsten ohne jegliche Mittlerrolle irgendwelchen Adels lag. Boleslav beseitigte mit viel Tatkraft und nicht wenig Glück, sowie mit der ständigen Bedrohung seitens des ottonischen Reichs in seinem Rücken, die alten knjazi, Fürsten der Bohemannen. Er vernichtete ihre stolzen Burgen und baute neben den Ruinen seine kleinen Verwaltungsburgen auf, zu denen er alle freien Leute zuordnete, um hier die neue Friedenssteuer für ihre Freiheit zu entrichten, und ließ sie Sonntags zum Markt und zu der Messe in der ebenfalls neuen Burgkirche kommen. Dieses Modell eines Staates hatte mit dem Reich der Ottonen nichts gemeinsames, eher schon mit dem alten Reich der Karolinger. Den missing link muss man daher, aller Wahrscheinlichkeit nach, im Mähren des 9. Jahrhunderts suchen.

Die gens Bohemannorum konnte sich während des 9. Jahrhunderts erstaunlich erfolgreich gegen den ständigen Druck Karls des Großen und seiner Nachfolger wehren, wobei den Tschechen, besonders nach 871, das Mähren des Svatopluk als die wichtigste Stütze diente. Svatopluk entlohnte jedoch irgendwann um 882 mit der Eingliederung Böhmens in seinen direkten Herrschaftsbereich ihre Treue. Die Fürsten der Tschechen ließ er dabei selbstverständlich unangetastet, nur wählte er einen von ihnen aus, den Přemysliden Bořivoj, als einen Exponenten in Böhmen. Er hat ihn taufen lassen, wobei er offenbar als Pate auftrat und band ihn so – wie die byzantinischen Kaiser oder Karl der Große – als seinen geistigen Verwandten an sich. Mit Svatopluk im Rücken baute Bořivoj ganz neu auf und von einem gentilen Fürsten ist er ein autokratischer Herrscher geworden, wenn auch bloß in seinem mittelböhmischen Fürs- tentum. Sein Sohn, gleichzeitig sein Nachfolger organisierte dann die přemyslidische Domäne dem mährischen Vorbild nach als einen kleinen Staat. Damals wurde auch Prag gegründet, absichtlich als ein Mittelpunkt des neuen kleinen Staates im Zentrum Böhmens.

Dennoch, die mährische Herrschaft ist für die Tschechen unerträglich geworden und als Svatopluk 894 starb, waren sie die ersten, die von Mähren abgefallen sind. Als sich die tschechischen Fürsten im Jahre 895 an König Arnulf wandten, stellten sie an die Spitze ihrer Gesandten neben irgendeinem Vitislav den Sohn des „Quislings Bořivoj – den Spytihnĕv. Die Vormachtstellung der Přemysliden wurde schon so gefestigt, dass man sie gar nicht bestreiten konnte. Es ist daher kein Zufall, dass sie in den Quellen als im Einvernehmen politisch handelnder Fürsten der Bohemannen zum letzten Mal im Jahre 911 genannt sind. Seither sind es auschließlich die Přemysliden gewesen, die im Namen der Tschechen handelten, obwohl auch die übrigen Fürsten weiter in ihren Fürstentümern herrschten. Die Tschechen hielten während des ganzen 10. Jahrhunderts an dem Bündnis mit den Bayern fest, besonders als der neue gefährliche Feind, nämlich die Sachsen auftauchten, die kurz vor 906 die Sorben – von denen Ludmila, Mutter Spytihnĕvs und Vratislavs abstammte – zerschmetterten und die Heveller bedrohten. Dieses Ereignis führte zu dem Bündnis mit ihnen, der durch die Heirat Drahomíras mit Vratislav im Jahre 906 bekräftigt wurde.

Wenn wir uns immer dem Jahr 906 zukehren, ist das gewiss nicht zufällig. Das war wirklich das Jahr, in dem sich mehrere Geschicke erfüllt hatten, vor allem jenes Mährens. Für die Heiratsgäste in der Prager Burg war es sicher eine gute Nachricht und als sich herumgesprochen hatte, dass die Daleminzer die Ungarn gegen die Sachsen zu Hilfe rufen wollen, gaben ihnen die tschechischen Fürsten freien Weg über Böhmen. Die Ungarn benutzten den sogar zweimal, 906 und 907. Mit diesen Jahren beginnt auch die Geschichte des Lebens des Hl. Wenzels. Seine Legenden heben besonders – als ein Vorzeichen seiner Heiligkeit – die Tatsache hervor, dass seine Haarschur als eines kleinen, siebenjährigen Knaben, ein Bischof durchführte. Die dunkle Stelle könnte man so erklären, dass es sich hier um einen Bischof mit seinem Notar oder einen Bischof namens Nothar, oder auch irgendwelchen (jeter in dem slawischen Text) Bischof handelte. Der lange Streit der Slawisten darüber wurde mit dem Auffinden eines wirklich in dieser Zeit lebenden Bischofs mit dem Namen Notar vorläufig gelöst. Es handelte sich aber um den Bischof Nother II. von Verona, der hier von 915 bis 928 amtierte. Wie konnte ein Bischof von Verona in das völlig unbedeutende, am Rande der christlichen Gebiete liegende Prag gelangen?

Die Antwort muss vor allem in Erwägung ziehen, dass Verona seit 896 die Hauptstadt des regnum Italiae Königs Berengar war. Kaiser Arnulf hatte gegen ihn einmal, 898 die Ungarn benutzt. Berengar versöhnte sich aber mit ihnen und ist ihr treuer Verbündete geblieben. Einen anderen Verbündeten fand er dann in Bayern. Als er im Jahre 905 dem Kaiser Ludwig von Provence unterlag, floh er nach Bayern, kehrte umgehend mit einer bayerischen Streitmacht des dux Baiuvariorum, Luitpold zurück, eroberte Verona und nachgehend das ganze regnum zurück. Damals gab er höchstwahrscheinlich dem Sohn Liutpolds, Arnulf, seine Tochter zur Gemahlin, damit für Arnulf die – vorläufig nur vagen – Aussichten auf die Nachfolge im regnum Italiae. Arnulf war 907 Herzog, allerdings wie ein König und als dann mit dem Tod des Kindes Ludwigs das ostfränkische Reich auch formal zu aufhörte existieren, hatte er kaum ein Interesse daran, sich an den gemeinsamen Angelegenheiten der ostfränkischen Herzogtümer zu beteiligen. Er ignorierte praktisch die Wahl Konrads von Franken zum König im Jahre 911, im Jahre 914 kam es aber zu einem offenen Kampf zwischen ihnen. Arnulf unterlag und musste mit seiner Gemahlin fliehen. Die Quellen erzählen, dass er eine Unterkunft bei den Ungarn fand, sicher stand er aber lieber mit Berengar, dem Vater seiner Frau, die mit ihm das Exil teilte, in Verbindung. Er versuchte im nächsten Jahr, aus Kärnten kommend, Regensburg zurückzugewinnen, konnte das aber nicht erreichen. Erst im Jahre 917 hatte er einen Erfolg – wie allgemein bekannt – als die Bayern ihn begeistert als den Herrscher des regnum Baiuvariorum – und nicht Theutonicorum angenommen haben.

Mitten bei diesen Begebenheiten, im Jahre 915, feierte der Bischof Nother an den Stufen des Altars der Prager Marienkirche die Haarschur des kleinen Wenzels. In demselben Jahr sollten sich die Tschechen nach einer Nachricht Adams von Brehmen an dem Einfall der Ungarn in Sachsen beteiligen. Man wollte ihr kaum Glauben schenken, da man sich kaum vorstellen konnte, warum sich gerade die Tschechen zu einem solchen Abenteuer hinreißen ließen. Nimmt man aber die ganze verwickelte Situation Arnulfs und seiner tschechischen Verbündeten in Erwägung, muss doch die Angabe Adams ernst genommen und in Nother ein Gesandter Berengars und Arnulfs gesehen werden, der vielleicht eine ungarische Gesandtschaft nach Prag begleitete. Worum es den Ungarn hierbei ging, ist klar, nämlich um die Unterstützung der Tschechen bei dem Angriff der Sachsen, des gefährlichsten Feindes der Tschechen Vratislavs und der Heveller Drahomíras. Welche Angelegenheiten Nother mit dieser Reise zu erledigen hatte, wissen wir nicht; es ging sicher vor allem um Arnulf, gegen den sich damals gerade die gesamten Bischöfe Bayerns gestellt haben. Das war auch wahrscheinlich der Grund, warum der zuständige Bischof, Tuto von Regensburg, nicht nach Prag kommen wollte und man nahm so die Dienste eines fremden Bischofs bei der feierlichen Haarschur Wenzels dankbar an.

Nach einigen späten ungarischen Quellen war aber gerade Vratislav ein Gegner der Ungarn und nicht ihr Freund. Simon von Keza und das Chronicon pictum Vindobonense, die beide an die verlorenen Gesta Hungarorum vom Ende des 11. Jahrhunderts auf irgendeine Weise zurückgehen, erzählen davon, dass die Ungarn im siebenten Jahr nach ihrer Landnahme Pannonien, Böhmen und Mähren überfallen hatten und ihren dux Vratislav entweder in einer Schlacht getötet hatten (von Keza), oder mit ihm Frieden abgeschlossen haben (Chronicon pictum). Dazu kommt noch der berüchtigte Anonymus, der von einer Grenzsetzung zwischen den landnehmenden Ungarn und den Tschechen am Fluss Morava durch Zolta, den Sohn Árpáds spricht und zugleich schreibt er über eine Herrschaft der Tschechen in dem Dukat von Nitra schon vor der ungarischen Landnahme, wo ihr Statthalter Zubur residieren sollte. Einige Historiker haben immer wieder hartnäckig aus diesen offenbar phantastischen Angaben versucht etwas Brauchbares zu machen, selbstverständlich ohne jeden annehmbaren Erfolg.

Es genügt, sich den Kontext dieser Nachricht z. B. bei Keza (Cap. 34 f.) anzusehen. Er fasst hier die Taten der Ungarn nach der Landnahme so zusammen, dass die Ungarn vorerst Vratislav besiegten, dann kämpften sie in Kärnten mit dem Herzog von Meran, den es damals nicht mehr gab; dann spricht er über einen Zug Kaiser Konrads aus Rom gegen die Ungarn. Das bezieht sich ohne jeden Zweifel auf Konrad II. (1024–1039) und nicht Konrad I. (911–918). Beide Konrade sind hier ebenso ohne jeden Grund verwechselt, wie die tschechischen Vratislavs: Der erste lebte am Anfang des 10. Jahrhunderts (915–921), der zweite aber in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (1061–1092). Wird man diesen Angaben Glauben schenken, würde das bedeuten, dass Spytihnĕv oder eher Vratislav das herrenlose Mähren mitsamt des Neutragebietes besetzt haben. Das kommt aber überhaupt nicht in Frage, weil der kleine mittelböhmische Fürst Vratislav für ein solches Unternehmen nicht in der Lage war, genügend Mittel aufzubringen und er hätte mit den anderen tschechischen Fürsten höchstens in einem oder mehreren Plünderungszügen sich einigen, nicht aber eine dauerhafte Besatzung ausgedehnter Gebiete organisieren können.

Die Tschechen und Ungarn wurden ohne jeden Zweifel erst unter Boleslav I. Nachbarn, Um 950 schrieb Konstantin Porphyrogennetos, dass die Länder Boleslavs der Länge nach an die Ungarn grenzen. Es war das Ergebnis einer großen Expansion, die Boleslav nach 935 begonnen hat. Sie folgte dem irgendwelchen transeuropäischen Handelsweg von dem arabischen Spanien nach Chasarien, d. h. von Prag über Nordmähren mit Olomouc als eine Etappenstation nach Krakau und Kiew. Zugleich öffnete Boleslav mit der Besetzung Schlesiens den Weg zu dem baltischen Handel, an der Oder entlang zu der großen Hafenstadt Wolyn bei der Mündung der Oder. Er disponierte ja schon mit den Mitteln von ganz Böhmen, mit denen er eine schlagkräftige Armee aufbauen konnte, die sich dann bequem von den Trägern des ständigen Krieges ernährte. Im Zusammenhang mit den Trägern des Handels, den Boleslav kontrollierte und an dem er sich auch mit seiner Menschenbeute kräftig beteiligte, ergab es sich eine noch nie dagewesene Macht.

Er hatte gleich im Jahre 935 mit der Liquidation der böhmischen Fürstentümer und mit dem Aufbau der territorialen Verwaltung begonnen, dann kam Mähren an die Reihe. Boleslav wollte aber offenbar eine Konfrontation mit den Ungarn vermeiden, denn er versuchte überhaupt nicht den Süden von Mähren zu besetzen, das damals wahrscheinlich ein Niemandsland, zugleich aber eine empfindliche Grenzzone war. Mit dem eigentlichen Nordmähren machte er auch Anspruch auf die über die Pässe von Jablunka und Olava angrenzende provincia Wag geltend, nicht aber die davon südlich liegenden Gebiete, die ja ebenfalls zum Erbe von Altmähren der Moimiriden gehörten. Das bedeutet, dass das Gebiet am mittleren und oberen Wag damals nicht der Gegenstand eines Streites mit den Ungarn sein konnte, weil es von den Ungarn nicht besetzt war.

In Kleinpolen und Galizien, östlich auf dem Gebiet von Krakau und Przemyśl, versuchte man immer die von Konstantin Porphyrogennetos erwähnten Weißkroaten zu lokalisieren. Das kann aber jetzt als definitiv überholt gelten. Diese Weißkroaten waren ursprünglich sicher mit dem offenbar bedeutenden gens der Kroaten identisch, das in dem letzten Viertel des 9. Jahrhunderts in den Quellen auftaucht und um 950 wieder in denen nicht mehr zu finden ist. Seine Sitze sind schwer zu bestimmen, sicher ist nur, dass die kleinpolnischen Gebiete nicht in Frage kommen können. Am wahrscheinlichsten muss man sie irgendwo in Schlesien oder eher nördlich davon, an der Grenze zwischen Schlesien und Großpolen suchen. Offenbar sind diese Kroaten der Expansion Boleslavs I. zum Opfer gefallen. Bei Konstantin Porphyrogennetos sind sie mit dem gesamten Herrschaftsgebiet Boleslavs identisch. Das ist begreiflich, dieses Gebilde hat doch keinen Namen gehabt, „tschechisch” war es sicher nicht. Am treffendsten charakterisierte es Ibrahim ibn Jakub, der den Boleslav König der „Städte” Prag, Böhmen und Krakau nannte. Ein solches Hilfsgebilde könnte gut auch das „Weißkroatien” als pars pro toto sein.

Konstantin sagt, dass diese „Weißkroaten” besonders gute Beziehungen mit den „Türken”, d. h. Ungarn haben, sie haben auch sogar gegenseitig geheiratet. Das kann ganz gut wahrgenommen werden, denn gerade in Böhmen findet man auffällig viele altmagyarische archäologische Funde aus dem 10. Jahrhundert, die – von einigen unklaren Fällen abgesehen – in keinem Fall für Spuren irgendwelcher militärischer Aktionen gehalten werden können. Am ehesten handelte es sich wirklich um friedliche Beziehungen der tschechischen Elite mit den Ungarn, Heiraten inbegriffen. Das entspricht auch der auffälligen Zurückhaltung gegenüber den Ungarn, die sich in der Politik Boleslavs deutlich abzeichnet. Er beteiligte sich zwar in nicht unbedeutendem Maße an der Schlacht am Lech 955. Ob er dabei auch einen anderen Krieg mit dem Heer unter Lel führte oder ob es sich um eine Kampfhandlung in direktem Zusammenhang mit der Schlacht auf dem Lechfeld handelte, ist in den Quellen nicht klar zu beweisen.

In jedem Falle handelte es sich dabei um Mähren, wie man das öfters angenommen hat. Man hat indem behauptet, dass Boleslav die Niederlage der Ungarn am Lech dazu ausnutzte, um Mähren von den Ungarn zu erobern. Das hätte auch keinen Sinn gehabt, weil die Ungarn das jetzige Mähren aller Wahrscheinlichkeit nach nie besetzt haben. Alles was man darüber als angebliche Beweise bei verschiedenen Autoren lesen kann, ist nicht haltbar. Meistens sind es einfache Fehler wie, z. B. der Name der südmährischen Burg Breclav-Lundenburg, in den Quellen Laventenburg genannt, in dem der Name des Sohnes des Arpad, Levente anklingen soll, obwohl es sich um einen einwandfreien slawischen Namen Lovata handelt, dazu noch in einer Form (Lo mit a’ statt der späteren Lautung o’), die nur vor der Hälfte des 9. Jahrhunderts möglich ist. Der Name bezieht sich auf den großmährischen Burgwall Pohansko, der mit Großmähren auch zu Grunde ging, nicht auf die heutige Stadt Břeclav, beziehungsweise die Burg, die dort erst der Fürst Břetislav irgendwann nach 1020 gründete.

Dasselbe gilt für den Namen der Stadt Brno-Brünn, in dem man den Widerhall des ungarischen Stammesnamens Barany sehen wollte. Auch hier handelt es sich um einen einwandfreien slawischen Namen mit der einfachen Bedeutung: „sumpfiger Ort”. Was dann die archäologischen Funde angeht, muss man feststellen, obwohl die altmagyarischen Spuren in Mähren zwar nicht fehlen, sind sie aber gar nicht so zahlreich wie in Böhmen. Sie können kaum etwas beweisen, entscheidende Funde, altmagyarische Gräberfelder, findet man nämlich in Mähren jedenfalls nicht. Alles spricht für Südmähren als ein Niemandsland, in dem sich einige heimische Fürsten halten konnten, die dann auf der Seite Bolesławs des Tapferen (Chrobry) auch militärisch gegen die Tschechen aufgetreten sind. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Ungarn dieses Gebiet als ihr Interessengebiet betrachteten und das von Boleslav auch respektiert wurde und zwar vor 955, wie auch später, als die ungarische Gefahr aufhörte zu drohen.

Als der arabisch-jüdische Kaufmann Ibrahim ibn Jakub im Jahre 961–962 oder 965–966 (beide Daten sind gleichermaßen berechtigt) Prag besuchte, notierte er sorgfältig alle Handelsbeziehungen des hiesigen berühmten Marktes. Leider kennen wir seine Relation, die er für den Kalifen von Cordoba geschrieben hatte, nur aus späteren Auszügen, die nicht immer zuverlässig sind. Einer der allgemein bekannten und standardmäßig in der Forschung zitierten Auszüge spricht über die „ungarische Verbindung”, es sind nämlich aus Ungarn Muslime, Juden und Ungarn nach Prag angekommen. Das würde bedeuten, dass die bekannten Muslime aus Choresm, die wir in Ungarn seit dem 11. Jahrhundert kennen, sich schon damals hier angesiedelt haben. Eine andere, in den 60er Jahren entdeckte Version der Relation, schreibt aber offensichtlich genauer, dass nach Prag „aus den Ländern der Türken und aus den Ländern des Islams Juden und Türken” kommen, d. h. die Türken-Ungarn aus Ungarn und die Juden aus den Ländern des Islams.

Die Ungarn, die den Prager Markt regelmäßig besuchten, waren kaum professionelle Kaufleute, eher schon Lieferanten von Sklaven, da der Prager Markt vorrangig ein Sklavenmarkt war. Das funktionierte auch umgekehrt: Im 11. Jahrhundert war Ungarn jedenfalls für Böhmen das Absatzland für Sklaven par excellence; das „Verkaufen nach Ungarn” war eine standardmäßige Strafe für schwere Verbrechen. Ein rabbinischer Respons behandelt den Fall von zwei jüdischen Knaben die um 1018 irgendwo bei Przemyśl von den Leuten Bolesławs des Tapferen gefangengenommen worden. Einen von ihnen verkaufte dann ein Jude in Prag nach Byzanz und der Knabe sollte dann auch wirklich in Konstantinopel gesehen worden sein.

Bezeichnend für diese weiten Verbindungen Prags ist die Geschichte, die eine sog. chasarische Korrespondenz erzählt. Einmal sind mit einer der regelmäßigen Gesandtschaften Boleslavs I. nach Cordoba zwei, offenbar Prager Juden, Mar Saul und Mar Joseph gekommen. Sie wurden von Chazdai ben Schaprut, dem jüdischen Sekretär des Kalifen empfangen. Als sie ihre Botschaft erledigten, wollte Chazdai von ihnen auch etwas über das jüdische Königtum der Chasaren erfahren, das ihn schon seit Jahren interessierte. Die Prager Juden teilten ihm mit, dass sie leider keine direkte Verbindung nach Chasarien haben, sie könnten sich nur erinnern, dass zu ihnen nach Prag einmal ein blinder Rabbiner aus Chasarien kam. Sie haben dem Chazdai aber doch vorgeschlagen, er sollte nach Chasarien schreiben und ihr König – nicht ihre Gemeinde, sondern Boleslav selbst – werde dann den Brief den Juden in Ungarn schicken und die werden ihn nach Bolgar an der mittleren Wolga vermitteln. Von dort wird es dann sicher zu den Chasaren an der unteren Wolga gelangen. Aus einem anderen (nicht unverdächtigen) Schriftstück geht dann hervor, dass Boleslav endlich einen anderen Weg wählte. Er beauftragte damit den Rabbi Jakob ben Elizer „aus dem Lande Nemetz” – Bayern, ohne Zweifel aus Regensburg, der direkt nach Chasarien reiste.

Die hebräische Korrespondenz nennt Boleslav „König der Gebalim”. Gebal ist hier der hebräische Name für die biblische Handelsstadt Byblos. Die Juden benutzten ihn – mit gutem Grund – als ihren Namen für Prag; „König der Gebalim” bedeutet also „König der Prager”. Aus anderen hebräischen Quellen wissen wir aber, dass der übliche Name Böhmens Kaanan war – „weil die Bewohner des Landes ihre Söhne und Töchter an alle Nationen verkaufen”. Die Gebalim sind also nicht mit den Kaananiten identisch, das Reich des Boleslav ist ein „Prager” Reich, nicht ein tschechisches – dieselbe Hilfskonstruktion wie mit den Weißkroaten.

Das bedeutet aber nicht, dass das přemyslidische „Reich” selbst nur eine „Hilfskonstruktion” war. Sicher, es war schon eine Konstruktion. Am besten charakterisierte es Mieszko I., als er seinen Herrschaftsbereich wie einen „civitas Schinesghe (Gnesen) cum pertinentiis” beschrieben hatte. Boleslav sollte über einen „civitas Praga cum pertinentiis”, einen Prager Staat „mit seinen Zugehörigkeiten” sprechen. Diese „pertinentia” waren riesige Gebiete, die nur lose an das Zentrum angehängt waren. Boleslav und nach ihm auch Mieszko bemühten sich aber eifrig diesen seinen Konglomeraten festere Umrisse zu geben. Es ging dabei nicht um eine straffere und mehr effiziente Verwaltung, das wäre reine Utopie gewesen. Es ging eher um eine Identität, um den „Namen”. Polen des Bolesławs des Tapferen bekam seinen Namen – wenn es auch manchen überraschend und unwahrscheinlich klingen kann – von dem Kaiser im Rahmen des „Aktes von Gnesen” im Jahr 1000. Weitere Elemente dieser Identität bildeten das Königtum und das Erzbistum, die dem neu „benannten” Gebilde eine feste eigenständige Stellung innerhalb des universalen Kaisertums und der universalen Kirche gegeben haben. Man hatte es immer als etwas Selbstverständliches auf die Länder und Nationen, „Böhmen”, „Polen” oder „Ungarn” bezogen, die es aber in der Wirklichkeit nicht gab; sie existierten – wie auch das „Deutsche” Reich – zum guten Teil nur als Projektion der Lage des nationalen Staates des 19. Jahrhunderts in das 10. Jahrhundert.

Damit haben wir das wirklich Faszinierende in dieser ganzen Geschichte völlig verschleiert. Es ist – ganz allgemein ausgedrückt – das Ringen der Neuankömmlinge am Rande der „zivilisierten” Welt um ihren eigenständigen Anteil an jener, um die Eingliederung, aber ohne Unterwerfung. Das setzt natürlich voraus, dass die Eigenartigkeit ein authentischer Wert ist. Es ist sicher – wie bei allen Werten – eine Frage der Entscheidung, nimmt man aber in Erwägung, dass die schöpferische Pluralität vielleicht wirklich das ist, was Europa zum Unterschied von verschiedenen universellen Reichen mit Weltherrschaftsanspruch ausmacht, kann man es doch ja als Wert annehmen. Es ist eine Tatsache, dass die beiden Reiche, sowohl das östliche, d. h. byzantinische, als auch das westliche, d. h. fränkische nur eine einzige Alternative angeboten haben, eben die Eingliederung durch Unterwerfung. Das hat auch für das Christentum gegolten. Vom Standpunkt der Reiche gesehen, konnte es nämlich nur eine einzige Form der Christianisierung geben: Die mit der Unterwerfung verbundene.

Wenn Historiker über die vom Reich ausgegangene Mission sprechen, verschweigen sie zumeist – etwas heuchlerisch – gerade diese klare Tatsache. Das Christentum war auf diese Weise einerseits unbedingte Voraussetzung für die neuen Herrschaftsbildungen der Neuankömmlinge, und andererseits tödliche Bedrohung. Der einzige Ausweg war daher, die Taufe und den Aufbau der Landeskirche in eigener Regie zu arrangieren. Die Herrscher der Neuankömmlinge konnten nun selbstverständlich mit Hilfe der Schwerter ihrer Krieger relativ einfach Tatsachen schaffen, doch konnten sie keineswegs so einfach für ihre Anerkennung sorgen, ihren neuen Staaten Legitimität zu sichern. Sie kommt doch – wie zum guten Teil auch die Identität – vom außen, konstituiert sich in dem „internationalen” Spielraum der Ideen und Interessen. Wenn die neuen Staatenbildungen nun an die Türen der anti-christlichen Welt klopften und vom Fränkischen Reich abgewiesen worden sind, blieb doch noch die Suche nach einer anderen Tür. Da jene des östlichen Reichs, die von Byzanz, ebenso hoffnungslos verschlossen war, blieb nur die Autorität der Kirche, die Tür des Papsttums. Das war der Weg den in Mähren schon um 861 Rostislav angetreten hat, indem er sich in Rom um das Erzbistum (nicht Bistum) bemühte. Den Erfolg feierte dann im Jahre 880 Svatopluk, der sein Land dem Hl. Petrus schenkte und dafür bekam er das Erzbistum für Method. Vor allem kam er dadurch zu einer unbestreitbaren Legitimität seines „großen” Mährens.

Im 10. Jahrhundert standen etwa nach 955 alle mitteleuropäischen Neuankömmlinge, die Ungarn inbegriffen für die allerdings etwa das Datum 973 gelten kann, vor diesem Problem. Die Historiker schrieben immer über den tschechischen Boleslav I., dass er sich um ein Bistum für Prag bemühte. Das ist nicht wahr; er wollte und bekam endlich auch zwei Bistümer, nämlich in Prag und in Mähren – wobei er von dem letzteren wirklich nur einen Teil beherrschte. Der Grund dafür liegt auf der Hand (den Beweis können wir hier nicht führen). Mähren hatte doch immer noch sein Bistum, wenn auch keinen Bischof, ein Paar Kirchen in Ruinen und kaum Gläubige. Es war das alte mährische Bistum von Method, im Rahmen seines Erzbistums. Für Boleslav ist das gewichtige Argument, ihn nicht in den Verhandlungen in Rom zu benutzen, unverzeihlich gewesen. Zu diesem alten Erzbistum von Method gehörten aber auch weite Gebiete, die im 10. Jahrhundert die Ungarn hielten.

Damit kam Ungarn auch in das Spiel. Es ging ja um die lukrativen und prestigeträchtigen Missionsrechte in Ungarn. Sie interessierten freilich Boleslav kaum, er wollte zunächst doch nur das Bistum mittels der Ordination eines neuen Bischofs wiederbeleben; um so mehr interessierte das aber den Passauer Bischof Pilgrim. Seine Argumentation mit dem angeblichen Erzbistum in Lorch war nicht selbstständig, eher war es eine Reaktion auf die Bemühungen Boleslavs um eine wenigstens teilweise Wiederbelebung der Erzdiözese von Method in der Gestalt des mährischen Bistums. Das Lorcher Erzbistum Pilgrims war ja eine treue Kopie des mährischen Erzbistums (mit einem Passauer Anhang), obwohl Pilgrim mit der Ausdehnung der Rechte Passaus an Mähren kaum ernst rechnen konnte. Mehr realistisch waren dagegen die Ansprüche an Ungarn, die daraus folgten. Auch sie führten aber schließlich in die Leere.

Das mährische Bistum, ohne Zweifel mit dem Sitz in Olmütz (Olomouc), war – etwa nach dem Ableben des ersten Bischofs – aus irgendwelchen, nicht näher bekannten Gründen, nicht besetzt und die Diözese kam irgendwann nach 983 unter die Verwaltung des zweiten Prager Bischofs, des Hl. Adalberts. Der ist dadurch ein Herr über eine riesige Diözese geworden, die allerdings in ihrer mährischen Hälfte kaum Ertrag lieferte und praktisch ausschließlich auf die Mission ausgerichtet war. Die Legenden übergehen seine Amtstätigkeit auf diesem Gebiet mit Stillschweigen, doch lassen sie durchblicken, dass er damals rege Beziehungen zum ungarischen Hof hatte. Näheres darüber ist kaum bekannt, sicher wissen wir nur, dass er dabei keine Ansprüche an die kirchliche Hoheit über ungarische Gebiete, die er ja mit besserem Recht als Pilgrim geltend machen konnte, erhob. Die Beschreibung der Grenzen seiner beiden Diözesen, die in der berühmten Urkunde vom Jahre 1086 enthalten ist, respektiert die ungarische Grenze und die Beschreibung sagt das ja auch ausdrücklich. Hinter diesem Schriftstück stehen möglicherweise Adalberts Pläne auf ein Erzbistum. Wenn es wirklich so gewesen wäre, hätte es sich in keinem Falle um die Wiedererrichtung der Erzdiözese Methods, sondern um eine Neubildung auf der Grundlage des „Reiches” der tschechischen Boleslave gehandelt.

Dieses Reich ging aber nach 989 als Mieszko die alte Freundschaft mit den beiden ersten Boleslaven aufgab und in einem Zug Schlesien und das Krakauer Gebiet eroberte, sehr rasch zu Grunde. Die in der Struktur aller vergleichbaren staatlichen, auf Expansion eingestellten Gebilde vorprogrammierte Krise brach mit einer unerwarteten Wucht aus. Schon bei ihrem Ausbruch floh Adalbert nach Rom, auf jeden Fall nicht aus den schönen moralischen Gründen, die in den Legenden angeführt sind, sondern aus politischen Ursachen. Welche es waren, zeigte sich, als er in Rom dann seine kanonische Bewilligung zu der Bitte Mieszkos um ein Erzbistum, das selbstverständlich auch die von den Tschechen eroberten Länder einschließen sollte vorbrachte. Es ist auffällig, dass Mieszko dabei den alten Schritt Svatopluks wiederholte, indem er diese seine Länder – „civitas Schinezghe cum pertinentiis” – dem Hl. Petrus schenkte. Dass er sich wirklich nach diesem Vorbild richtete, zeigt die Tatsache, dass er einem seiner Söhne den Namen Svatopluk gab. Es ist daher wahrscheinlich, dass der Vermittler dieser Ideen Adalbert selber war.

Es war dabei keinesfalls der von den Historikern willkürlich konstruierte, in der Tat vor 995 gar nicht existierende Konkurrenzkampf der Slavnikider mit den Přemysliden im Spiel, sondern eine großartige, Grenzen überschreitende Vorstellung von einer neuen kirchlich-politischen Ordnung des ganzen mitteleuropäischen Raumes – nicht von einer Identität, sondern mehreren vergleichbaren und gleichwertigen Identitäten. Es drehte sich alles offenbar schon damals darum, was dann Otto III. beim Grabe Adalberts in Gnesen mit Bolesław dem Tapferen und nachher mit Stephan verwirklicht hat. Böhmen war für Adalbert nur ein Glied in diesem Grenzen überschreitenden Ganzen gewesen, er dachte – aufgrund seiner Erziehung und seinem Leben, das er in einer „europäischen” Umgebung führte – nicht in den Maßstäben seines Landes, sondern in der Christenheit. Es ist nicht möglich hier ausführlicher darüber zu reden, nur vielleicht eine kurze Bemerkung machen, dass es ganz gut möglich sein kann, in dieser Hinsicht seine Beziehungen zu Gezas Hof schon vor 989 bedeutsam gewesen sein konnten. Er taufte den Stephan nicht, es waren aber sicher seine Mitarbeiter, die sozusagen die Taufpaten Stephans ungarischen Kirche geworden sind.

Tschechen und Ungarn haben das Glück gehabt, während des 10. Jahrhunderts nicht lange Nachbarn zu sein. Ihre Beziehungen konnten daher friedlich, ja sogar freundschaftlich sein. Als bald die Tschechen in die ungarischen Angelegenheiten eingegriffen haben, waren es eben Adalberts Leute und seine Gedanken. Sobald die Tschechen im Jahre 1000 Verlierer geworden sind, haben Ungarn und Polen ihre Königskronen und Erzbistümer erhalten, und die Tschechen standen mit leeren Händen da. Die Ordnung Mitteleuropas war aber dadurch trotzdem für die folgenden Jahrhunderte, ja bis heute, gegeben. Aus den namenlosen Herrschaftsbildungen der Dynastien der Přemysliden, Árpáden und Piasten sind Staaten und später auch „politische” Nationen entstanden, und die Mitte Europas hat sein (neues) Gesicht bekommen.