Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:9–20.
FERENC GLATZ
Die Europäische Union und die Sprachen*
Weltsprachen, regionale Linguae francae, Muttersprachen und die deutsche Sprache
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Gestatten Sie mir, die Konferenzteilnehmer, die anwesenden Mitglieder des diplomatischen Korps im Namen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie in meiner Eigenschaft als Gastgeber und Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften herzlich zu begrüßen. Das tue ich auch als ein Mensch, der die Kultur und Europa gern hat und die deutsche Kultur schätzt.
In meinem Vortrag möchte ich einige diskussionswerte Gedanken thesenhaft, jedoch z.T. als Frage formuliert vorführen, die die Europäische Union, die europäische bzw. deutsche Kultur und die deutsche Sprache betreffen.
These 1: Warum hat die Europäische Union keine humane Strategie?
Die EU ist – wie bekannt – aus der Europäischen Gemeinschaft für Eisen und Stahl (der Montanunion) hervorgegangen. Nach einer Vorgeschichte von 40 Jahren verfügt die EU heute schon über eine politische Organisation und über einen Verwaltungsapparat (die Kommission, die Administration, das Parlament, das Wahlsystem usw.), ihre Grundlagen sind niedergelegt (denken wir nur an Maastricht 1992), sie hat ihre Organisationen für Verteidigung und strategische Aufgaben (denken wir an die Erweiterung der NATO), auch die wirtschaftspolitische Struktur ist fertig (Normen für die industrielle und landwirtschaftliche Produktion, die Europäische Zentralbank, die Einführung des Euro 1999). Die EU hat bereits klare Vorstellungen über Umweltpolitik und auch ihre Wissenschaftspolitik ist im Entstehen begriffen, die sich jedoch in erster Linie auf die Forschungsdisziplinen richtet, die vor allem der Produktion zugutekommen. Bis heute fehlt jedoch in der EU eine humanpolitische Konzeption, eine humanpolitische Vision.
Wir vergessen häufig, dass in der EU auch Menschen leben werden, die nicht nur Verteidigungs-, Produktions-, Verwaltungs- und Ordnungsprobleme haben werden, dass diese Menschen nicht nur Individuen sind, die Industrieprodukte und Nahrungsgüter produzieren, nicht nur Militärdienst leisten oder bei den Wahlen ihre Stimmen abgeben. Sie sind auch Individuen, die fühlen, denken und das Leben auch intellektuell genießen wollen, die auch eine kulturelle und emotionale Welt haben. Es sind Menschen, die sich auf dem Kontinent bewegen, die sich an neue Gemeinschaften anpassen und sich in sie einleben müssen: Türken, Polen und Ungarn in Westeuropa, Deutsche, Engländer und Franzosen in Osteuropa. All das löst Konflikte zwischen den Ankömmlingen und den traditionell etablierten Systemen von Gewohnheiten und Bräuchen aus.
Gleichzeitig und parallel damit erfolgt die Globalisierung der Produktion und Kultur, eine Revolution in der Informationstechnologie; die materiellen Träger der kulturellen Kommunikation (Computer, Fernsehen, fernmeldetechnische Mittel) entwickeln sich in einem rasanten Tempo und dadurch entstehen neue Formen der Umgangskultur.
Deshalb muss sich die EU auch damit befassen, welche Sprachen diese Menschen sprechen werden, wie die Harmonisierung der Aus- und Fortbildungssysteme auf dem Kontinent verwirklicht wird. Und auch auf die Frage muss sie eine Antwort geben, ob es möglich ist, Bildungs- und Kulturpolitik im Grunde genommen nur auf der Ebene der Nationalstaaten zu betreiben. Weshalb verfügt die EU über keine Kulturpolitik? Selbst ein Einblick in den Haushalt der EU zeigt, dass in ihrem Budget die Humanpolitik nicht vorgesehen ist: verblüffend geringe (nur einige Prozente) Aufwendungen sind für das Unterrichtswesen, für Sprachprogramme eingeplant, ganz zu schweigen davon, dass eine Kulturpolitik im modernen Sinne auch im System der EU aufgespalten ist, nämlich in einen kleinen Bereich Unterrichtswesen, in Jugendpolitik bzw. Medienpolitik. Die EU entfernt sich vollkommen von der überlieferten europäischen politischen Struktur, in der die Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert eine sehr wichtige Position eingenommen hatte. Wir könnten auch sagen, dass ein Geheimnis für den Aufstieg Europas im 19. und 20. Jahrhundert gerade der Ausbau einer Bildungs- und Kulturpolitik auf hohem Niveau war. Mit dem Geld der Steuerzahler muss man nicht nur für die materiellen sondern auch für die geistigen und emotionalen Komponenten der Lebensqualität sorgen. (In Klammern möchte ich hinzufügen: Ich bin mir nicht sicher, ob wir auf diesem Gebiet unbedingt die amerikanische Politik nachahmen müssen, die die Kultur im Grunde genommen für eine Angelegenheit des Individuums hält.) Eben deshalb ist es zu begrüßen, dass die Sprachen von der EU auf die Tagesordnung gesetzt werden, dass sie Konferenzen initiiert, als deren Ergebnis sich eine Sprachstrategie der EU herausbilden kann.
These 2: Was ist eigentlich das Ziel der EU?
Das Ziel Nummer eins der Europäischen Union als Verwaltungseinheit kann unserer Meinung nach nichts anderes sein, als dass sie mit den Mitteln der Verwaltung und der Fachverwaltung die Wettbewerbsfähigkeit der Bürger auf ihrem Gebiet fördert.
Das 21. Jahrhundert wird unvermeidlich das Jahrhundert der Globalisierung sein. Das bedeutet, dass jedes Dorf, jedes Klassenzimmer und sogar jedes Arbeitszimmer Bestandteil des Wettbewerbs im Weltmaßstab sein wird. Der Umbruch in der Informationstechnologie scheint einstweilen nur eine industriell-technische Revolution zu sein, doch wird es sich bald abzeichnen, dass hier von einer weltweiten kulturellen Revolution die Rede sein wird. Einerseits geht es um die Modernisierung des Bildungsstoffes, andererseits um die Umgestaltung der gesamten Umgangskultur. Wer sich die Errungenschaften der modernen Informationstechnologie nicht aneignet, der wird der grundlegenden Elemente der neuen Umgangskultur auch nicht mächtig und wird in diesem Wettbewerb von Weltformat untergehen.
These 3: Sprachkenntnisse sind heute keine soziale Frage mehr
Was hat Wettbewerbsfähigkeit mit Sprachen zu tun? Damit wir Zugang zum globalen Wissensstoff haben, ist es unumgänglich, eine Weltsprache oder mehrere Sprachen zu beherrschen. Gegenwärtig scheint das Englische die einzige Weltsprache zu sein, obwohl auch Esperanto immer mehr verwendet wird. Ein Argument für das Letztere ist: Das Esperanto ist leichter zu erlernen, man kann sich darin präzis ausdrücken und es ist weniger arbeitsaufwendig, im Esperanto ein hohes Niveau zu erreichen als im Englischen. Hinter dem Englischen steht jedoch gerade die dynamischste wirtschaftliche und militärische Großmacht der Welt und das materielle Interesse entscheidet die theoretischen Diskussionen, es sichert den Engländern und vor allem den Amerikanern, deren Muttersprache es ist, einen uneinholbaren Vorsprung. Handel, Diplomatie, Wissenschaft und Informatik sind heutzutage ohne das Englische unvorstellbar. Das sind Fakten und keine Gefühlsfragen.
Neben der Beherrschung der Weltsprache ist jedoch zugleich auch die Kenntnis der regionalen Linguae francae – des Französichen, Spanischen, Russischen, Arabischen, Chinesischen und Deutschen – erforderlich. (Darauf komme ich noch zurück.)
Von dieser Tatsache spricht heute schon jeder, dies ist in der Politik – sogar in den Medien selbst – zu einer Art Gemeinplatz, common place geworden. Leider wird aber auf EU-Ebene sehr wenig dafür getan, den Gebrauch der Linguae francae im Unterricht zu festigen. Die Frage ist, ob wir die Einsicht, dass Fremdsprachen gelernt werden müssen, den einzelnen Individuen überlassen dürfen. Müsste im Schulsystem der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der Unterricht der obligatorischen Fremdsprachen nicht genauso festgelegt werden wie z.B. die Einhaltung der Form und Größe von Tomaten?
Die Notwendigkeit von fremdsprachlichen Kenntnissen ist ein Gemeinplatz. Leider wird über die Wichtigkeit der Muttersprache weniger gesprochen.
Eine Lingua franca ist eine Vermittlungssprache, ein Mittel der Kommunikation in der Verwaltung, im Handel und Tourismus, in der Wissenschaft und in der Arbeitswelt. Eine Zeit lang dachten viele, dass die Muttersprachen von der Weltsprache verdrängt werden. Wir glaubten seinerzeit, dass im Jahre 2000 in der Großen Ungarischen Tiefebene jedes Kind das Abitur schon in englischer Sprache ablegen wird. Das ist jedoch nicht der Fall und das trifft sowohl für Deutschland als auch für China zu. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Mensch die moderne Technik und die komplizierten gesellschaftlichen und weltanschaulichen Konflikte der neuen Welt nur in seiner Muttersprache richtig verstehen kann. Seine Gefühlswelt wird er auch in der Zukunft nur in seiner Muttersprache ausdrücken können. Deshalb müssen auch die kleinen Sprachen modernisiert werden. Wenn es im Ungarischen, Slowakischen oder im Rumänischen usw. keinen modernen Physik-, Chemie- und Biologieunterricht gibt oder wenn keine Belletristik oder Dichtung existiert, dann werden die kleinen Kinder aus der Ungarischen Tiefebene oder dem rumänischen Regat bzw. aus der Karpatenukraine im Wettbewerb der Welt von Morgen bereits im Alter von 6 Jahren benachteiligt sein im Vergleich zu den Kindern aus dem mittleren Westen oder aus anderen großen Kulturen. Heute droht nicht mehr die Gefahr des Untergangs der kleinen Sprachen, sondern die Gefahr ihrer Konservierung. Eine weitere Gefahr besteht in der Diskriminierung auf sprachlicher Basis. Es entsteht eine obere Mittelklassenschicht, die eine oder mehrere Weltsprachen mit moderner Terminologie spricht und schreibt bzw. darin denkt und es wird eine ungebildete Masse geben, die nur ihre unmoderne, in die Subkultur abgesunkene Muttersprache spricht. Um diesem entgegenzuwirken ist einerseits die Modernisierung dieser kleinen Muttersprachen, andererseits die Förderung des Unterrichts der Weltsprache bzw. der lokalen Lingua franca aus Staatshaushaltsmitteln notwendig.
Und damit sind wir wieder bei den Zielen der EU, bei der Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften auf unserem Kontinent angelangt. Ein Geheimnis des Aufstiegs Europas im 16.–20. Jahrhundert war immer, dass sich die Elitekultur und die Massenkultur nie voneinander getrennt hatten. (Im Gegensatz zu der chinesischen, arabischen, der heutigen amerikanischen Kultur und zu anderen Kulturen.) Und dabei half uns die Befolgung der jüdisch-christlichen Lebensprinzipien sowie die griechisch-lateinische demokratisierende Schreib- und Lesekultur. Das 21. Jahrhundert wird sich gerade infolge der neuen Kommunikationsformen zum Jahrhundert der Menschenqualität gestalten. Heute hat man in den USA und China erkannt, dass die Anforderungen der Chip-Epoche eine Niveau-Erhöhung der Massenbildung verlangen. Ihr eigenes Unterrichtssystem kritisieren sie eben deshalb, weil die Elite- und die Massenkultur voneinander getrennt ist. Europa wird erst jetzt durch die Amerikanisierung bedroht: Nicht die Verbreitung der englischen Sprache ist die Gefahr und weniger das Eindringen der amerikanischen Elitekultur (dies halten wir sogar für zu wenig!), die Gefahr besteht in dem Vormarsch der amerikanischen primitiven, kommerziellen Kultur – unter deren Einfluss die europäischen Gesellschaften – nach amerikanischem Vorbild – soziokulturell auseinandergerissen werden.
Es gilt, die Tradition der ausgewogenen europäischen Massenkultur wieder zu festigen. Eine Voraussetzung dafür ist die Festlegung des Niveaus der sprachlichen Umgangsformen. Der obligatorische Unterricht einer Weltsprache, einer Lingua franca, die Schaffung entsprechender Bedingungen ist zum Teil Aufgabe der EU, zum Teil die der Nationalstaaten. Das Aufzeigen der Wichtigkeit der Kultur der kleinen Sprachen ist jedoch Aufgabe der EU. Dies erfolgt einstweilen auch insofern, dass die EU die Gleichberechtigung der Sprachen der Mitgliedstaaten deklariert.
These 4: Kulturelle Diversität
In den Naturwissenschaften wird oft von biologischer Diversität gesprochen, d.h. dass es dem Interesse der Menschheit dient, die Vielfalt des Globus, unserer natürlichen Umwelt – also die Biodiversität – zu erhalten. Ich halte die kulturelle Diversität für zumindest genauso wichtig, womit ich auch meine, dass die Vielfalt, die sich in der Geschichte der Menschheit im Laufe von mehreren hunderttausend Jahren entwickelte, ebenfalls erhalten bleiben muss. Europa hat im Laufe seiner Geschichte eine einzigartige kulturelle Diversität hervorgebracht. Auf seinem relativ kleinen Gebiet leben mehr als 20 gleichrangig herausgebildete, entwickelte Kulturen, deren Angehörige sich Kenntnisse in ihrer Muttersprache auf Weltniveau erwerben können.
Diese kulturelle Diversität ist nicht nur vom ethischen, sondern auch vom materiellen Gesichtspunkt aus wichtig. Die kulturelle Diversität ist sogar nützlich. Das Nebeneinanderleben unterschiedlicher Kulturen und ihre Begegnung haben zwar auch zu Konflikten geführt (wie z.B. zu den ständigen Kriegen in Europa), gleichzeitig jedoch auch zu einem gesunden Wettbewerb. Die Konfrontation von durch Brauchtum und Traditionen bedingten Besonderheiten stellte oft Herausforderungen dar; diese Herausforderungen schufen gleichzeitig aber auch Wettbewerbssituationen. (Den heutigen USA ähnlich, wo Kulturen mit afrikanischen, spanischen, asiatischen, europäischen Wurzeln mit der Yankee-Kultur zusammenleben, worüber nur selten gesprochen wird, sondern das Ganze wird unter dem Begriff der sog. amerikanischen Kultur zusammengefasst. Hinzufügen möchte ich noch, dass wir diese Aufnahmebereitschaft ehrlich bewundern.) Das 21. Jahrhundert wird unseren Vorstellungen nach das Jahrhundert der kulturellen Diversität sein. Diese europäische Tradition kann also sehr modern sein. Wie kann diese kulturelle Diversität aber bewahrt, ja sogar weiterentwickelt werden?
Diese menschliche Vielfalt wird in den Bräuchen, in der Lebensform und in den Sprachen manifestiert. Unter diesen Erscheinungsformen ist heute schon zweifelsohne das stärkste Mittel die Sprache. Durch die Bewahrung der Muttersprache wird auch die kulturelle Diversität bewahrt, wobei – nach meiner Sicht – nicht die Konservierung der Muttersprachen das anzustrebende Ziel ist sondern ihre Modernisierung. Und ich halte es für selbstverständlich, dass die verschiedenen Muttersprachen gerade durch eine Lingua franca miteinander in ständigem Kontakt sind. Zwischen den einzelnen Muttersprachen und den lokalen Vermittlungssprachen sowie der Weltsprache besteht eine kontinuierliche Interferenz. Zumindest diese Dreistufigkeit halte ich für die folgenden Jahrzehnte für ideal.
Die Weltsprache (oder die Weltsprachen), die lokalen Linguae francae und die modernisierten Muttersprachen können als Grundlage für die europäische Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert dienen. Ich wiederhole: der Ausbau und die Förderung dieses dreistufigen Sprachgebrauchs ist nicht nur eine humanethologische Grundfrage, sondern es ist äußerst wichtig für unsere Zukunft.
These 5: Die Emanzipation Europas
Die Schaffung der Grundlagen der Europäischen Union und der größte Teil ihrer Entstehungsgeschichte entfiel auf die Zeit des Kalten Krieges. In dieser zweigeteilten Welt stand Westeuropa auf der Seite seines „natürlichen“ Verbündeten, der Vereinigten Staaten, Osteuropa aber lebte unter der Besatzung des Gegners, der Sowjetunion. Jetzt, da die Sowjetmacht zusammengebrochen ist und Russland sich in seine historischen Grenzen zurückgezogen hat, sind die spezifischen kontinentalen Interessen Europas deutlich zu sehen. Nach wie vor lebt es im natürlichen Bündnis mit der gesamten atlantischen Welt, doch sind heute die Wettbewerbsfaktoren innerhalb dieses Bündnisses sehr stark. Heute sind die Produktionsschwerpunkte auf dem europäischen Kontinent überhaupt nicht mehr nach ideologisch-politischen Linien gegliedert, sondern nach geschäftlichen bzw. lokalen Interessen. Und die europäische Produktions- und Kulturgemeinschaft ist nicht selten der stärkste Konkurrent der Vereinigten Staaten oder Japans, d.h. der Staaten der früheren sog. freien Welt. Europa muss also auch seine eigenen kontinentalen wirtschaftlichen und kulturellen Zielsetzungen formulieren können. In ihrer neueren Entwicklungsphase setzt sich die Europäische Union für die Förderung der Emanzipation von Europa ein.
Die erste Bedingung für die Emanzipation Europas ist eine Überprüfung der historischen Rolle der europäischen Kultur. Meine amerikanischen, aber auch meine chinesischen Freunde fragen mich häufig, warum es keine stolzen Europäer gibt, während die Amerikaner, ja sogar die Südamerikaner, die Afrikaner und die Chinesen demgegenüber außerordentlich stolz auf ihre Vergangenheit und Gegenwart seien. Meine Antwort auf diese Frage lautet immer: Es gibt keinen kritischer eingestellten Menschentyp als den Europäer. Darauf folgt dann die nächste Frage: Weshalb ist es so, dass die Weltauffassung anderer Kontinente im Grunde genommen zukunftsorientiert ist, während die europäische Weltauffassung vor allem vergangenheitsorientiert ist und die Europäer neben berechtigten Selbstkritiken nicht imstande seien eine Zukunft aufzubauen, welche die Vergangenheit zwar integriert, jedoch eher zukunftsorientiert ist.
Die Fragen und Antworten führen hiernach zur Kultur der einzelnen europäischen Nationen, unter ihnen in erster Linie zu jener der deutschen bzw. zur Bewertung dieser Kulturen sowie zu der Tatsache, dass die Geschichte Europas im 19–20. Jahrhundert in Lehrbüchern und selbst in Filmen in erster Linie negativ eingestellt erscheint.
Europa tritt im 19. Jahrhundert in den Büchern der Weltgeschichte als Kolonialmacht auf, die damals die Völker in Afrika, Asien oder eben Südamerika ausbeutete. Doch wird wenig über die unaufhörliche Neugier des jüdisch-christlichen, d.h. europäischen Kulturkreises geschrieben, darüber, dass die Mittel der modernen Technik, die Achtung der Menschenrechte und die politische Kultur von Europa auf diese Erdteile übertragen wurden. In der Geschichte der Menschheit war also die Rolle Europas im 19.–20. Jahrhundert sehr positiv. Selbst dann, wenn die europäische Anwesenheit in den verschiedenen Teilen der Welt mit der Festigung der Vorherrschaftspositionen der Europäer einherging. (Genauso wie sich auch die japanische, chinesische und die arabische kulturell-militärische Okkupation später in der Folgezeit den rückständigen Gebieten gegenüber verhalten hatte.) Das bedeutet: Wir Europäer, Engländer, Franzosen, Deutsche, Niederländer, Portugiesen, Belgier und Ungarn sollten auch weiterhin selbstkritisch über die kolonialisierenden Momente des Zeitalters der Industrierevolutionen schreiben, doch seien wir stolz auf jene Technik und auf jene literarische, sprachliche Gemeinschaft stiftende Kultur, die wir auf dem Kontinent entwickelt haben und die wir – wenn auch nicht mit den besten Mitteln – in den verschiedenen Gebieten der Welt verbreitet haben. Und seien wir auch heute ehrlich, neugierig und aufnahmebereit gegenüber den asiatischen, afrikanischen, südamerikanischen und arabischen Kulturen.
Der größte Vorwurf uns Europäern gegenüber ist jedoch, dass der Kontinent zwei Weltkriege vom Zaune gebrochen hatte. Und dies trifft völlig zu. Einige sind geneigt, die Verantwortung für diese kriegerischen Konflikte einer oder zwei Nationen (im Allgemeinen der deutschen Nation) oder dem europäischen Kapital (auch hier in erster Linie dem deutschen und nur zum geringeren Teil den englischen und französischen Kapitalbeteiligungen) aufzubürden, andere jedoch ideologischen Strömungen, dem Auftreten des Kommunismus und des Faschismus. Egal wer Recht haben sollte, diese Weltbrände bewegen die heutigen Repräsentanten der europäischen Kultur mit Recht zur Selbstkritik, so auch uns. Die Praxis der staatlichen Kriege, die Diktaturen, welche Menschenrechte verachten und die massenhafte Vernichtung von unschuldigen Menschen kann nie eine „Erlassungssünde“ sein. Deshalb ist also das europäische selbstkritische Verhalten berechtigt. Und doch bin ich der Meinung, dass der Zweite Weltkrieg endlich abgeschlossen werden muss. Man kann nicht hundert Millionen für die Verbrechen von politischen Regimes oder Regierungen oder politischen Parteien verantwortlich machen. Und vor allem kann man die Enkel nicht verantwortlich machen für die Sünden oder Irrtümer ihrer Großväter. Und es kann nicht weiter zugehen, dass im wirtschaftlichen Weltwettbewerb die Konkurrenten der europäischen Firmen die Taten der europäischen Staaten im Weltkrieg vor sechzig Jahren Tag für Tag hervornehmen und dadurch versuchen, ihren europäischen Wettbewerbern moralisch, mit Hilfe der Medien, das Wasser abzugraben. (In diesem Zusammenhang fällt mir eine Erinnerung aus meiner Jugend ein, als die Propaganda der proletarischen Diktatur das Ansehen, das Image der amerikanischen Autos und das der technischen Produkte verringern wollte mit der Aussage: Ja, aber die Amerikaner haben die Indianer ausgerottet, um diese Errungenschaften erreichen zu können.)
Und diese Europafeindlichkeit im wirtschaftlichen Bereich zeigt sich auch im geistigen Leben. Der Leidtragende ist vor allem die deutsche Kultur.
These 6: Die Emanzipation der deutschen Kultur und der deutschen Sprache
Die Tragödie des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus sowie des Holocaust wurde und wird von der Menschheit nur schwer aufgearbeitet. Dies ist verständlich. Und verständlich ist auch, dass die damaligen faschistischen Bewegungen – den Tatsachen häufig völlig widersprechend – in erster Linie vom deutschen Faschismus und von der deutschen Geschichte abgeleitet wurden. Damit wollte sich die französische, englische, skandinavische, italienische, die osteuropäische – so auch die ungarische – nationale Geschichte von ihrem eigenen nationalen Faschismus befreien. Wenn das auch weder richtig noch wahr ist, verständlich ist es doch. Und es ist noch zu verstehen, dass in der Filmkultur und in der Belletristik nach 1945 das Verhalten der negativen Helden überall auf der Welt sozusagen deutsche Züge aufwies, was ebenfalls eine Fälschung ist. Das Thema einer Seminararbeit war z.B., durch welche Eigenschaften sich die Deutschen in Filmen über den Weltkrieg auszeichneten: durch Unmenschlichkeit, Zynismus, hohen technischen Bildungsgrad, Arroganz, Verachtung anderer Menschen, ja sogar Grobheit und Ungebildetheit. Diese sog. kollektiven Eigenschaften gingen dann auch auf die Filme über zivile Themen über; wenn dann in diesen Filmen irgendwo ein Deutscher auftrat, war er meistens mit einer dieser Eigenschaften versehen. Analysen zeugen jedoch auch davon, dass mit diesen Eigenschaften des „Fritz“ in der Filmkunst sich immer die negativen Helden auszeichneten.
Aus den Gegenstücken Faschismus – Humanismus, Lebensgefühl in der Diktatur – Lebensgefühl in der Demokratie bildete sich ein weiteres Gegenstück: Kultur kontra Deutsche heraus. (Vor einigen Jahren begann man mit einer Untersuchung zur Frage, wie in den negativen Figuren der modernen Kinderfilme – sogar in den berühmten Harrison Ford-Filmen bei der Darstellung des „Krieges der Sterne“ – die Grundeigenschaften der Faschisten bzw. der Deutschen aus früheren Jahrzehnten in der Beschreibung des Reiches der Bösen noch erscheinen.) Ganz zu schweigen davon, dass all die Elemente der deutschen Geschichte, die vom Hitlerschen politischen Regime ideologisch genutzt wurden – von den germanischen Überlieferungen über die lutherische Tradition bis hin zur Musik Wagners – in der deutschen Kulturgeschichte in den Hintergrund gedrängt wurden. Die deutsche Geschichte trat in erster Linie als die Vorgeschichte des deutschen Faschismus auf.
Was hiernach überhaupt nicht mehr verständlich ist, das ist das diskriminative Verhalten nach 1945 der deutschen Sprache gegenüber. Es ist allgemein bekannt, dass der Deutschunterricht in sehr vielen staatlichen Unterrichtssystemen mit Gewalt zurückgedrängt wurde. Die deutsche Sprache konnte nicht einmal in die Reihe der von der UNESCO bestimmten Weltsprachen aufgenommen werden und sie wurde auch von den Sprachen ausgeschlossen, die bei wissenschaftlichen Konferenzen auf UNESCO-Initiative verwendet wurden. Dies bewirkte eine Deformierung in der Praxis mehrerer Wissenschaftsdisziplinen und Berufe, in denen die deutschsprachige Tradition und Fachliteratur bis dahin als grundlegend galt.
Die berechtigte Entfaltung des späteren Antifaschismus verursachte in einem Teil der deutschen Intelligenz eine Deformität. Deutsche Intellektuelle betrachten und untersuchen die Geschichte ihrer Nation mit einer außerordentlich strengen Selbstkritik, was ich für vorbildhaft halte und somit auch meine, dass die Deutschen am kritischsten gegen ihre negativen Überlieferungen aufgetreten sind. Ich wiederhole, dass dies ein zu befolgendes Beispiel sowohl für Europäer als auch für Amerikaner oder Japaner, Chinesen und für die Araber ist. Dennoch kann ich nicht verschweigen, dass die Verbindung dieses selbstkritischen Verhaltens mit einer Kompensierung mich auf Schritt und Tritt stört. Es war zwar verständlich, manchmal doch eigenartig, wenn man deutsche Kollegen darauf aufmerksam machen musste, dass zumindest sie nicht dagegen protestieren sollen, wenn wir die Unberechtigtheit der deutschen Vertreibungen kritisieren oder die Frage nach der kollektiven Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnen.
Von anderen ebenfalls eigenartigen Ereignissen der vergangenen 15 Jahre möchte ich vielleicht noch eines erwähnen. 1999 veranstalteten wir in Budapest den I. Weltkongress der Wissenschaften. Als Vorsitzender des Organisationskomitees ersuchte ich die UNESCO, neben den sechs Weltsprachen auch das Deutsche zur offiziellen Sprache zu erklären. Und dazu mussten zuerst die Kollegen des deutschen diplomatischen Korps überzeugt werden, dass die Diskriminierung der deutschen Sprache doch nicht in Ordnung ist. Ich glaube, dass eine Grundbedingung für die Emanzipation Europas die Emanzipation der deutschen Kultur ist. Die germanische Eisenschmiedekunst und die vorwärtsweisende Rolle der germanischen Dorfgemeinschaften gehören genauso zum allgemeinen europäischen Kulturschatz wie die Territorialverwaltungsorganisation des mittelalterlichen Deutschland, wie die Religionserneuerung, die Traditionen des Dramas, der Musik, der Natur- und Sozialwissenschaften und die deutsche Sprache.
Meinerseits ist es zu begrüßen, dass auch diese Tagung dazu beitragen wird, dass in den nächsten Jahrzehnten für die Wiederherstellung des Prestiges der deutschen Kultur und der deutschen Sprache sicherlich vieles unternommen wird und diese Anstrengungen von Erfolg gekrönt werden. Es freut mich weiterhin, dass wir auf dieser internationalen Tagung bereits von der Rolle sprechen können, welche die deutsche Sprache in der künftigen europäischen Koexistenz spielen wird.
These 7: Die Rolle der deutschen Sprache und Literatur in Ostmitteleuropa und Ungarn
Die Deutschen besiedelten die östlichen Grenzen des Okzidents und dadurch hatten sie an diesen seit 1500 Jahren ständig Kontakte zu den Awaren, Slawen, später zu den Ungarn bzw. zu den Türken, die diese Region unterwarfen und sich lange Zeit hier aufhielten. Zwischen dem 10. und 19. Jahrhundert waren deutsche Siedler im Dreieck zwischen der Nordsee, der Adria und dem Schwarzen Meer immer wieder vorzufinden, da es in diesen Gebieten Arbeitsmöglichkeiten gab, die ausgebildete Arbeitskräfte, Bauern und Handwerker oder eben Soldaten verlangten. Es ist bekannt, wie die verschiedenen Siedlergruppen vom Baltikum bis in die südliche Ecke des Karpatenbeckens, ins heutige Rumänien und Jugoslawien entstanden. Ebenfalls bekannt ist, dass die städtische Kultur dieses Raumes beinahe bis zum 20. Jahrhundert stark von der deutschen Kultur geprägt war. Die Siedler brachten nicht nur ihre Werkzeuge, ihre Gerätschaften mit sich, sondern auch die Formen ihrer Gemeinschaftsorganisation und ihre Sprache. (Sogar in der Hauptstadt Ungarns, in dem heutigen Budapest sprachen 70 Prozent der Bevölkerung bis in die 70er Jahre Deutsch und ein großer Teil bekannte sich zum Deutschtum.) Die deutsche Sprache war in diesem Raum fast bis 1945 die Weltsprache Nummer eins, in einzelnen Berufen war sie als Weltsprache vorherrschend. Es erübrigt sich vielleicht zu betonen, dass es den Weinbauern, Drehern oder Bierbrauern, die in diesen Raum eingewandert waren, nicht einmal im Traume eingefallen wäre, der deutschen Nationalidee zum Sieg zu verhelfen, wie das von der deutschen nationalistischen und faschistischen Ideologie, der Ideologie des Dranges nach Osten zwischen 1930 und 1945 mit dem Bestreben verkündet wurde, eine historische Begründung für die Ausbreitung des Dritten Reiches nach Osten aufzubringen. Aber auch die Behauptungen der antifaschistischen Ideologie nach dem Krieg stimmen nicht, nach denen diese Menschen die Vorkämpfer des deutschen Imperialismus und der Germanisierung gewesen wären. Auch das war von 1945 bis zur Gegenwart eine Ideologie, deren eine Quelle die Leiden waren, die von der Zerstörung durch den deutschen Faschismus in Osteuropa verursacht waren, die Leiden, die durch den Überfall auf die kleinen Völker in Osteuropa und durch den Genozid hier ausgelöst worden waren. Diese Ideologie hatte jedoch auch eine andere legitimierende Quelle, sie stand auch im Dienste der Interessen der russischen Großmacht, die in diesen Raum vorstieß.
Erwartungsgemäß begann nach 1990 in der Geschichte der Beziehungen zwischen den Völkern in diesem Raum und dem Deutschtum ein neues Kapitel. Nach dem Untergang der sowjetischen Macht, nach dem Ende der Besatzung wurde eine engere Beziehung zum Okzident, die so genannte Angliederung an Europa, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Westeuropa und die Vereinigten Staaten versprachen viel und unternehmen auf politischer Ebene sowie auf jener der Verteidigungspolitik (der NATO) auch vieles. (Vor allem die Vereinigten Staaten waren auf diesem Gebiet aktiv.) Was die Alltagswelt anbelangt, so waren es hier allein die deutsche Intelligenz und die deutsche Mittelklasse, welche die inneren gesellschaftlichen Probleme des osteuropäischen Raumes beharrlich mit Aufmerksamkeit verfolgten.
Während der Aktionsradius der multinationalen Firmen global ist – unter ihnen befinden sich zahlreiche Informatikfirmen aus den USA und Japan –, sind an mehr als 80 Prozent der Gemeinschaftsunternehmen in diesem Raum Miteigentümer aus den benachbarten westlichen Gebieten, aus Deutschland und Österreich beteiligt, was auch zeigt, dass die jahrhundertealten Mechanismen wieder aktiv geworden sind. Hier ist nicht vom deutschen Imperialismus, vom Drang nach Osten, sondern ganz einfach von menschlichen, wirtschaftlichen Interessen und von der damit engstens und stets zusammenhängenden kulturellen Interferenz die Rede. (Ich könnte noch hinzufügen, dass dies auch selbstverständlich ist, da der geographische Radius dieser kleinen Unternehmen beschränkt ist.)
Für die Völker Osteuropas ist also die deutsche Sprache die lokale Lingua franca des 21. Jahrhunderts und die deutsche Kultur eine natürliche und verwandte Vermittlungskultur. Die (nicht ausgesiedelten und vertriebenen) Deutschen, die in unserem Raum leben und auch die Gemeinschaft der Germanisten mit ihrem Interesse für die deutsche Kultur, können ein Pfeiler für eine sich erneuernde, mitteleuropäische deutsche Kultur sein. Dies setzt jedoch voraus, dass die Intelligenz und die politische Mittelschicht dieses Raumes ihre antideutschen Vorurteile ablegt und sie die Kultur, die Goethe und Schiller repräsentieren, von den Nachfolgern von Mein Kampf unterscheiden kann.
In diesem Geist wünsche ich der Konferenz eine erfolgreiche Arbeit und lebhafte Diskussionen. Vergessen Sie nicht: Die traditionelle deutsche Kultur beruht – dies wurde im Wesentlichen von der Reformation formuliert – auf einem wunderbaren, stets diskussionsoffenen Verhalten.
* Wortlaut des Plenarvortrags