Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:61–72.
HARALD BURGER
Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache in den Massenmedien
1. „Tendenz” – zur Problematik des Begriffs
In Arbeiten zur Sprache der Massenmedien ist oft die Rede von „Tendenzen” – der Tendenz zu immer mehr Fremdwörtern, zu immer mehr Mündlichkeit, zu immer mehr Boulevardstil, zu immer mehr Phraseologie, in der Schweiz etwa zu immer mehr Mundart, komplementär dazu dann zu immer weniger sprachlicher Sorgfalt im Detail, zu immer weniger Schriftsprachlichkeit usw.
Das scheint mir in vielen Belangen eine kurzsichtige und letztlich verfehlte Optik. Sicherlich gibt es einige Tendenzen, die sich seit Anfang der Massenmedien kontinuierlich durchgehalten haben: Beispielsweise hat sich die Zeitung von einem Medium für sog. „Ganzleser” – die also die Ausgabe von vorne bis hinten lesen und auch lesen müssen, wenn sie voll orientiert sein wollen – zu einem Medium für selektive Leser entwickelt, also Leser, die sich zunächst grob orientieren und dann hier und da den einen Artikel genauer, anderes weniger genau lesen. Doch ist diese Entwicklung wohl am Ende angelangt, darauf komme ich noch zurück. In vielen anderen Hinsichten aber sind die Entwicklungen vor allem in neuerer Zeit eher diskontinuierlich. Ich nenne nur zwei Beispiele, eines aus der Stilistik und eines aus dem Problembereich der Textsorten.
1. In der Werbung, aber nicht nur dort, sondern z. B. auch in informierenden Magazinen des Fernsehens, beobachten wir heute ein Grassieren von Wortspielen, insbesondere mit Phraseologie und Metaphorik (vgl. Hemmi 1994). Ein beliebiges Beispiel mag zur Demonstration genügen:
„Mit dem neuen Passat Variant ziehen Sie den Kürzeren. Denn der Variant ist gegenüber der Limousine um genau 4 Millimeter kürzer. Und hat doch einen Laderaum von 1500 Litern. Und wenn Sie sich jetzt fragen, wie das denn gehe: »Kürzer als eine Limousine und doch so viel Platz«, dann möchten wir Ihnen in Erinnerung rufen, dass es sich beim Passat ja schließlich um einen VW handelt. Und da ist bekanntlich nichts unmöglich. [...] Der neue Passat Variant. Da weiß man, was man hat.”
Hier wird mit dem Idiom den Kürzeren ziehen (‘benachteiligt werden, unterliegen’ nach Duden 11) gespielt, das in der phraseologischen Lesart eigentlich negativ konnotiert ist, hier aber wörtlich genommen und positiv umgedeutet wird.
In ihrer für die Sprache der Werbung in Deutschland bahnbrechenden Studie „Die Sprache der Anzeigenwerbung” von 1968 schreibt Ruth Römer noch: „Wortspiele kommen vor, sind aber nicht sehr häufig.” (Römer 1968, 197.)
Wenn man nur die Daten vom Anfang der 60er Jahre und diejenigen der 90er Jahre nimmt, gewinnt man den Eindruck, es handle sich um einen linearen Anstieg der Sprachspiele. Dem ist aber nicht so, wie Bass (2000)1 an Werbeanzeigen seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts quantitativ gezeigt hat. So weist die Dichte der Phraseologismen Spitzenwerte Ende der 40er und der 80er Jahre auf, und die Zahl der modifizierten, d. h. vor allem sprachspielerisch verwendeten Phraseologismen – wie im obigen Beispiel – ist bereits in den 30er und 40er Jahren erstaunlich hoch, sinkt dann wieder ab und erreicht in den 80er und 90er Jahren neue Höchstwerte.
2. Das zweite Beispiel betrifft das Textsortenensemble (im journalistischen Sprachgebrauch „Format”) Fernsehnachrichten mit seinen unterschiedlichen Konstellationen von Textsorten wie Sprechermeldung, Interview, Reportage usw2. In den siebziger und achtziger Jahren hatte man den Eindruck, dass sich die Formate der Fernsehnachrichten immer stärker in Richtung auf den amerikanischen Typ der „Newsshow” hin entwickeln würden, vor allem bei den privaten, aber partiell auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Newsshow bedeutet: Mehrfachmoderation mit gewollt witzigem Geplänkel zwischen den Moderatoren, Absenkung des Stilniveaus auf eine sehr saloppe Ebene, in thematischer Hinsicht zunehmende Wichtigkeit von „soft news” (Gesellschaftsklatsch) und „spot news” (Unglücke, Verbrechen). Dieser Trend ist eindeutig gebrochen. In den letzten Jahren sind mehrere Nachrichtensendungen, die man mit einem solchen Konzept aufgebaut hatte, wieder abgesetzt worden, und heute haben wir eine Palette von Angeboten, auf der zwischen den Polen RTL Aktuell und ARD Tagesschau alles Mögliche vorkommt, aber nichts wirklich dominant geworden ist; die geradezu asketische ARD Tagesschau ist immer noch die erfolgreichste Nachrichtensendung in Deutschland.
Unter dem Vorbehalt, dass es sich bei Tendenzen der Mediensprache offenbar um relativ kurzfristige Erscheinungen handelt, möchte ich im Folgenden einige Tendenzen skizzieren, die sich heutzutage relativ deutlich abzeichnen und die sich in unterschiedlichen Stadien befinden. Dabei stehen weniger die Bereiche Wortschatz und Syntax im Vordergrund, sondern eher großräumigere sprachliche Einheiten auf der Textebene.
2. Die Zeitung als Hypertext
Der Entwicklung auf der Rezipientenseite, die ich angesprochen habe – vom Ganzleser zum selektiven Leser – entspricht auf der Textseite eine De-Linearisierung des Zeitungstextes und eine Entwicklung in Richtung auf das, was man heute als Hypertext bezeichnet. Ein echter Hypertext kann die materielle, auf Papier gedruckte Zeitung nicht werden, da Hypertext die elektronische Publikation voraussetzt, mit deren spezifischen Möglichkeiten einer sozusagen unendlichen Vernetzung im WorldWideWeb. Aber die Zeitung kann gewisse Merkmale mit dem echten Hypertext teilen, vor allem die Multi-Medialität und die Nicht-Linearität (vgl. Bucher 1996, Strassner 2001).
Mit Multi-Medialität ist gemeint, dass die Zeitung sich nicht nur der geschriebenen Sprache bedient, sondern in hohem Masse auch der Medien Foto und Grafik. Nicht-Linearität meint: Ein Pressetext ist nicht mehr ein durchlaufender Text, sondern ein Ensemble von z. T. ganz kurzen Textbausteinen, ein Cluster mit modularem Aufbau. Modular bedeutet: Jeder Baustein ist als Text zwar selbständig und kann selbständig rezipiert werden, hat aber im Text-Ganzen eine bestimmte Funktion. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die schon früher in Ansätzen vorhanden war – man denke an den Aufbau eines Berichts mit Schlagzeile, Vorspann (Lead) und Fließtext oder das komplementäre Nebeneinander von Bericht und Kommentar. Prototypisch realisiert ist das modulare, nicht-lineare Prinzip vielfach in Nachrichtenmagazinen wie Focus oder in der Schweiz Facts, aber auch viele Tageszeitungen zeigen einen Trend in diese Richtung.
Die Kohärenz eines Clusters als eines Ensembles ist häufig nicht nur durch die thematische Einheit gesichert, sondern auch durch spezifische sprachliche Mittel, beispielsweise eine durchgehende Metaphorik. So wird – um ein beliebiges Beispiel zu nehmen – ein Text-Ensemble über „Allergie” in Focus (14/1999), das aus 10 Modulen besteht, mit kriminalistischer Metaphorik zusammengehalten. Im einleitenden Text, wo es um die Erklärung der Entstehung von Allergien geht, ist von einem „Hauptverdächtigen” die Rede („der moderne Lebensstil – Stress, Rauchen...”). Eine Liste der Allergie-Tests hat die Unterzeile: „Detektivarbeit: die Suche nach dem Allergen”. Einer schematischen Darstellung des menschlichen Rückens ist als Legende unterschrieben: „Überführt: Gerötete Haut verrät das Allergen”. Eine Grafik mit Darstellung des Immunsystems hat als Legende den Satz „Der Steckbrief wird in der Zelle angelegt”. Ein Balkendiagramm mit Allergie-Auslösern ist übertitelt mit „Die Hitliste der Täter” usw.
Das Ende dieser Entwicklung ist jedoch absehbar. Eine Zeitung kann wie gesagt nicht ein eigentlicher Hypertext werden, die Vernetzung der Textbausteine kann kaum über die einzelne Zeitungsausgabe und allenfalls deren unmittelbare Vorläufer hinausgehen; die Zeitungsrezeption kann kaum mehr selektiver werden, als sie es derzeit schon ist. Der nächste Schritt wäre die konsequente Umstellung von Produktion und Rezeption auf die on-line-Zeitung. Der anfängliche Optimismus der on-line-Zeitung gegenüber ist inzwischen aber schon deutlich gedämpft3. Der durchschlagende Erfolg der on-line-Versionen lässt generell noch auf sich warten. Hier ist also eine textlinguistisch fassbare Entwicklungstendenz an ihr Ende gekommen oder steht unmittelbar vor ihrem Ende. Für die materielle Zeitung ist die Entwicklung eine Einbahnstraße.
Eine ganz andere Tendenz zeigt sich bei der Presse in Bezug auf den Bereich Intertextualität (s. unten).
3. Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Radio und Fernsehen
In den Anfängen pflegten Radio und Fernsehen einen im hohen Masse schriftlichen Sprachstil, da sie sich am Vorbild der Presse orientierten. Es gab dann vor allem in den siebziger Jahren einige wesentliche Impulse, die der Mündlichkeit zu immer stärkerer Geltung verhalfen: Im Radio war es die Einführung der sog. „Begleitprogramme”, in denen über Stunden hinweg ein und derselbe Moderator den Zuhörer bei seinen alltäglichen Aktivitäten begleitet. Im Fernsehen war es der Trend zu live-Schaltungen, die mindestens die Illusion von Spontaneität der Berichterstattung erzeugte, sowie zu dialogischen Formen auch im Nachrichtenbereich, in exzessivem Maße dann die bis heute ungebrochene Welle von Talkshows, in denen Leute „wie du und ich” reden dürfen und sollen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Für den Bereich der Moderationstexte und für journalistische Texte im Informationsbereich wurde der Begriff der sekundären Oralität geprägt. Damit meint man u. a., dass ein Moderator nicht wirklich spontan spricht, wie man es im Alltag tut, sondern dass er eine Sprache verwendet, die auf schriftlicher Vorbereitung basiert, die dann aber gezielt Elemente von Mündlichkeit aufweist, also ein artifizielles Sprachprodukt, das eine mündliche Sprachform jenseits von Schriftlichkeit produziert.
Eine neue Tendenz, die wohl erst in ihren Anfängen steht, ergibt sich nun aus der zunehmenden Bedeutung der Neuen Medien, insbesondere des Internets und der Mobilkommunikation. Ohne dass man jetzt schon Prognosen machen könnte, wie sich das Verhältnis von Fernsehen und neuen Medien künftig gestalten wird, zeichnet sich bereits eine Entwicklung ab, die eine mögliche Richtung andeutet: Die neuen Medien können als Ergänzung der Radio- und Fernsehkommunikation (als neue Art der Folgekommunikation) dienen, insofern sie deren Einwegkommunikation auf interaktive Weise weiterführen können. Wie diese Ergänzung in Gang kommt, kann man tagtäglich in den verschiedensten Bereichen verfolgen. Das fängt damit an, dass in vielen Sendungen eine Internetadresse angegeben wird, auf der man ergänzende Informationen erhalten kann. Über solche unpersönliche Weiterführung der Kommunikation hinaus gibt es aber zunehmend auch persönlichere Formen: So wurde man kürzlich nach der Übertragung eines Fußballländerspiels Frankreich – Deutschland aufgefordert, sich an einem unmittelbar anschließenden Chat mit Günther Netzer zu beteiligen.
Während das Mobiltelefon teils mündlich, teils schriftlich (SMS) funktioniert, ist das Internet – bis jetzt – vor allem schriftorientiert bzw. multimedial in dem Sinne, dass auch Bilder transportiert werden. Wie einige linguistische Analysen zu diesen neuen Kommunikationsformen gezeigt haben, weisen Chats, aber auch e-mail-Kommunikation, deutliche Zeichen von Mündlichkeit im schriftlichen Medium auf. Es handelt sich vielfach um eine Art Simulation mündlich-dialogischer Kommunikation, die man als sekundäre Literalität bezeichnen könnte. Es ist nicht die primäre Schriftlichkeit eines Briefs, einer Zeitung, sondern eine Schriftlichkeit, die durch primär-schriftliche und primär-mündliche Kommunikationsformen hindurchgegangen ist.
Eine bereits institutionalisierte Form der Folgekommunikation sind die elektronischen Gästebücher (vgl. Diekmannshenke 1999 und 2000). Ein – wie mir scheint – besonders aufschlussreiches Beispiel findet sich in einer psychologischen Ratgebersendung, der derzeit wohl beliebtesten Sendung dieser Art in der deutschen Fernsehlandschaft: Lämmle live (vgl. Burger 2001a). Die Protagonistin ist eine Psychotherapeutin, die am Fernsehen mit Leuten, die in die Sendung telefonieren, so etwas wie live-Kurztherapien macht (ca. 10 Minuten pro Anrufer). Sie hat eine metaphernreiche und phasenweise sehr saloppe Sprache. Zu dieser Sendung gibt es im Internet ein Gästebuch, in das die Rezipienten hineinschreiben können – unzensiert, soweit ich das beobachten kann. Man sieht dort, wie die Sprechweise der Protagonistin auf die Rezipienten wirkt. Die Schreiberinnen und Schreiber imitieren die Sprache ihrer angebeteten oder auch gehassten Kult-Figur und finden sich darin wieder:
„Also die Sendung von Brigitte finde ich nicht nur gut, die finde ich saugut! Ich darf mich hier einer Rhetorik unserer allseits beliebten, psychotherapeutisch begabten Freundin bedienen. [...] Es ist impertinent vom Intendanten des südwestdeutschen Fernsehens, die Sendung von Brigitte förmlich zu sabotieren, indem er zuvor eine unfähige Person wise Frank Elstner ausstrahlt [...] Frank Elstner ist dermaßen langweilig, dass selbst die Migräne des Bandwurms meiner Hündin ansprechender auf die Flöhe der Nachbarkatze wirkt, als Frank auf seine Zuschauer. Um mich der bildreichen Sprache unseres therapeutischen Vorbilds zu bedienen: Frank Elstner entspricht dem, was die Krankenschwester einem Patienten spritzt, der innerhalb der nächsten Stunden einen Bypass gelegt bekommen soll.” (Ein Eintrag vom 3. 2. 2001)
Interessant sind an dieser Folgekommunikation nicht nur Sprache und Stil im engeren Sinne, interessant ist vor allem auch das neue Muster von Kommunikation, das sich im Anschluss an die Fernsehsendung ergibt: Die Schreiberinnen beziehen sich teils auf Äußerungen der Therapeutin aus der Sendung, teils auf Briefe anderer Schreiberinnen. So entsteht ein dichtes interaktives Netzwerk, das sich um die Fernsehsendung herumlagert.
4. Intertextualität in Medientexten
Mit „Intertextualität” meint man Bezüge zwischen Texten, von einzelnen partiellen Bezugnahmen bis hin zu Bezügen zwischen Text und Textgattung. Ohne hier auf die theoretischen Hintergründe eingehen zu können, möchte ich auf den medienspezifischen Aspekt von Intertextualität hinweisen. Medientexte nahezu jeder Art sind in einer ganz spezifischen Weise hochgradig intertextuell geprägt – in einer anderen Weise als z. B. literarische Texte. Zu dieser intertextuellen Prägung gehören z. B. folgende Aspekte (vgl. genauer dazu Burger 2001b):
1. Der Begriff des „Autors” hat für Medientexte oft keinen empirischen Gehalt, d. h., es ist kein konkreter Autor des Textes festzumachen und entsprechend ist auch die Verantwortlichkeit für den Text nicht einer bestimmten Person zuzuschreiben.
2. Unsere üblichen Vorstellungen von „Textproduktion”, die sich am Verfassen von Aufsätzen, Protokollen usw. orientieren, müssen für Medientexte revidiert werden.
3. Das einzelne Medienprodukt, das Textexemplar, ist zwar formal als singuläres Phänomen abgrenzbar. Von der Produktion her gesehen, ist es aber nur eine „Variante” in einer Kette von Texten, die (in z. T. schwer entwirrbaren Verläufen) aufeinander basieren.
4. Bei einer linguistischen Betrachtung von Medientexten sind demzufolge mehrere Ebenen zu unterscheiden:
– Der aktuelle Text, das publizierte, von Redakteuren („Autoren”) erstellte Medienprodukt, das in der Regel gemeint ist, wenn von „Medientext” gesprochen wird.
– Hinter dem aktuellen Text stehen die verschiedenen redaktionsinternen Verfasser, die an der Textproduktion beteiligt sind, und entsprechend verschiedene Versionen im Verlauf der Textproduktion.
– Diese beiden ersten Ebenen haben eine Vorgeschichte (Textgeschichte), die für die Textkonstitution ausschlaggebend ist. Verschiedene Akteure (z. B. Politiker) liefern zu unterschiedlichen Zeitpunkten mündliche und schriftliche Texte, die in Bezug auf den aktuellen Text als Prätexte fungieren. Diese schließen sich auf z. T. komplexe Weise zu einer Textkette zusammen, die – häufig über die Station der Agenturtexte – im aktuellen Text mündet. Die Textgeschichte ist also nicht dasselbe wie die Textproduktion (z. B. die Produktion einer konkreten Tagesschau-Sendung) der Ebene B, aber sie beeinflusst die Textproduktion maßgeblich.
– Schließlich ist als eigene Text-Ebene abzuheben der Text „im Kopf des Rezipienten”, die individuelle „Lesart” des Medientextes durch den Rezipienten.
Presse, Radio und Fernsehen weisen zwar alle ein hohes Maß an intertextuellen Bezügen auf, aber in unterschiedlichen Ausprägungen, die ich hier nicht differenzieren kann. Generell ist es häufig so, dass die Markierungen der Intertextualität in keiner Weise ausreichen, um für den Rezipienten transparent zu machen, welches der Anteil an übernommenen Prätexten und welches die Eigenleistung der Redaktion ist. Ein namentlich gezeichneter Artikel in der Presse kann nahezu vollständig ein Konglomerat aus Prätexten der Textgeschichte sein. Dies ist der linguistische Aspekt eines allgemeineren Phänomens der öffentlichen Kommunikation: die z. T. unglaubliche Macht der Public Relations. Wirtschaftsunternehmen und Institutionen können Texte oder Teile von Texten, und damit auch die eigenen Wertungen und Perspektivierungen in die Textgeschichte von Medientexten einbringen, ohne dass der Rezipient davon eine Ahnung hat.
In formaler Hinsicht haben die elektronischen Medien ihre eigenen Formen des Zitierens entwickelt, die zu einer Systemverschiebung innerhalb des Systems der Formen der Redewiedergabe führen (vgl. Burger 2001 c). Im Fernsehen sind es vor allem zwei Verfahren: das kumulative mündlich-schriftliche Zitat und das Zitat mit Original-(Bild-)Ton.
Im folgenden, ganz alltäglichen Beispiel aus einer Fernsehnachrichtensendung wird derselbe Text sowohl mündlich als schriftlich zitiert:
Der geschriebene Text ist vollständig identisch mit dem gesprochenen, mit Ausnahme der Auslassungszeichen, die ihn als genuin schriftlichen ausweisen und für die im gesprochenen Text kein Äquivalent (z. B. eine Pause) vorhanden ist. Dass es sich beim gesprochenen Text um ein wörtliches Zitat aus der (schriftlichen) Begründung des Bundesgerichtes handelt, wird erst durch den geschriebenen Text klar.
Der Zweck der kumulativen Zitierweise ist klar: es soll strikte Wörtlichkeit in einem Rechtsfall vermittelt werden, und die Kumulation der Modalitäten schriftlich-mündlich ist ein eindeutiges Signal für Wörtlichkeit. Das wortwörtliche Zitieren erlaubt dann dem Moderator eine umso deutlichere (ironische) Distanzierung von den Überlegungen des Bundesgerichts (... so räsoniert das Bundesgericht).
Das zweite strukturelle Mittel zielt in die gleiche Richtung: Wenn immer möglich, werden Akteure (z. B. Politiker) im Fernsehen nicht mit dem grammatikalisierten Mittel der direkten oder indirekten Rede zitiert, sondern mit einem Original-Ton-Bild-Ausschnitt (Statement). Ein solcher Original-Ausschnitt ist als Zitat völlig transparent. Es ist klar, wer spricht und welcher Text wortwörtlich zitiert wird (obwohl oft nicht klar ist, wann, wo, in welchem Zusammenhang der Sprecher das gesagt hat, was er sagt).
Mit diesen Verfahren, die der stärkeren Transparenz des Zitierens dienen, verlieren die herkömmlichen Mittel der Redewiedergabe, vor allem die direkte Rede, aber in der Folge auch die indirekte Rede, teilweise ihre herkömmlichen, an schriftlichen Texten orientierten Funktionen. Die direkte Rede, die ihre Funktion als das bevorzugte Mittel des wortwörtlichen Zitierens einbüßt, wird funktional „geschwächt” mit der Folge einer Annäherung an die indirekte Rede. In vielen Texten hat man den Eindruck, dass direkte und indirekte Rede nur noch stilistische Varianten sind. Ein beliebiges Beispiel aus einer Nachrichtensendung:
Moderator [on]: Das Sozialversicherungssystem der Schweiz hat sich bewährt, meint Bundesrätin Ruth Dreifuss. Es dränge sich kein grundlegender Umbau auf. Bundesrätin Dreifuss – hat heute – über die erste Klausursitzung orientiert, die der Bundesrat zum Thema – Sozialversicherungen – abgehalten hat.
Sprecher [off]: (Bild: Dreifuss an der Pressekonferenz) Vor den Journalisten sagte Frau Dreifuss, dass über einen Aus- oder Abbau der Sozialwerke noch nicht entschieden sei. Klar sei aber die Finanzierung.
(Tagesschau, Schweizer Fernsehen DRS, 19. 2. 98)
Die Anmoderation beginnt mit direkter Rede (hat sich bewährt) und wechselt dann zur indirekten Rede (dränge sich auf; und weiter zum Redebericht: hat über [...] orientiert), während der Sprecher im Off unmittelbar die indirekte Rede verwendet. Die direkte Rede zu Anfang der Moderation soll wohl die Kernaussage hervorheben, ohne dass aber eine Abstufung der Wörtlichkeit intendiert ist.
5. Die Deutschschweizer Sprachsituation
Abschließend seien noch ein paar Hinweise zur Sprachsituation der Medien in der deutschen Schweiz gegeben, mit der ich mich als Germanist an der Universität Zürich spezifisch befasst habe (vgl. Burger 1998). Um die Mediensituation zu verstehen, muss man die Sprachsituation des Alltags kennen, obwohl die Medien nicht einfach die außermediale Situation abbilden. Innerhalb der viersprachigen Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) hat der deutschsprachige Teil die größte Einwohnerzahl. In diesem deutschsprachigen Teil spielt der Dialekt eine viel wichtigere Rolle als sonst im deutschen Sprachgebiet. Dabei ist dialektologisch kein großer Unterschied zum alemannischen Teil Süddeutschlands festzustellen. Der Unterschied ist vor allem soziolinguistischer und kommunikativer Art: Es herrscht die Situation der sog. medialen Diglossie, was – sehr vereinfacht gesagt – bedeutet: Mündliche Kommunikation vollzieht sich durchwegs in Mundart, schriftliche in Standardsprache. Mündliche Kommunikation in Standardsprache ist auf wenige Domänen beschränkt (und auch dort nicht generell die Regel): die Schule, das Parlament, die Kirche, das Militär und eben die Medien, aber auch hier nur partiell. Dialektsprechen ist – im Gegensatz zu Deutschland – nicht negativ bewertet, sondern durchaus positiv, und es ist auch in keiner Weise schichtgebunden.
Was nun die Medien betrifft, so zeigt sich der mediale Aspekt der Diglossie zunächst in der klaren Regelung, dass Pressetexte mit kleineren Ausnahmen durchwegs hochdeutsch geschrieben sind. Die Verteilung der Sprachformen wird aber in den elektronischen Medien zum Problem. In Radio und Fernsehen wird zwar überwiegend gesprochen und nicht geschrieben – obwohl schriftlich-visuelle Elemente im Fernsehen zunehmend vorkommen (s. o. 3.) –, aber das Gesprochene basiert häufig auf Geschriebenem. Früher war es klar, dass aufgeschriebene und abgelesene Texte – zum Beispiel Radio- und Fernsehnachrichten hochdeutsch zu sein hatten. Das ist heute nur noch partiell der Fall. Der private Sender Tele 24 beispielsweise sendet Nachrichten grundsätzlich in Mundart. Bei den kommerziellen Sendern im Radio wie im Fernsehen ist nicht das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ausschlaggebend für die Sprachwahl, sondern die Bewertung der Mundart als die alltägliche, vertraute Sprachform, gegenüber dem Hochdeutschen, das distanzierter, formeller wirkt. Somit bedeutet Mundartsprechen für die kommerziellen Sender stärkere Zuschauerbindung als Hochdeutschsprechen. Deshalb hört man in den Lokalradios und den privaten Fernsehsendern praktisch nur Mundart, wenigstens was die redaktionellen Texte betrifft. (Fernsehserien, die aus Deutschland eingekauft werden, sind selbstverständlich hochdeutsch. Daneben gibt es aber auch schweizerische Eigenproduktionen von Soap operas – und die sind ebenso selbstverständlich mundartlich gehalten.) Meist kommt auch noch der Faktor der regionalen Bindung hinzu: Im Basler Regionalfernsehen dominiert die Basler Mundart, im Berner Fernsehen die Berner Mundart usw.
Die Zunahme der Mundart in den elektronischen Medien ist aber nicht nur eine Sache der privaten Sender. Im öffentlich-rechtlichen Radio gab es mit der Einführung der Begleitprogramme (s. o. 2.) einen eigentlichen Mundartschub. In diesen Programmen spricht ein und derselbe Moderator kurze Texte zwischen viel Musik, er begleitet die Hörer durch den Tag, spricht sie an wie im Alltag. Hier wird also eine Art face-to-face-Kommunikation simuliert, und für diese ist in der Deutschschweiz eben die Mundart selbstverständlich.
Man hat in diesem Zusammenhang sprachkritisch von „Mundartwelle” geredet. Das ist eine oberflächliche und sogar irreführende Charakterisierung. Tatsächlich handelt es sich um tiefgreifende Umwälzungen im Mediensystem, die zunächst nichts mit Sprache zu tun haben, die sich aber auf die Sprache auswirken. Das resultierende Bild der Verteilung von Standardsprache und Mundart(en) ist äußerst komplex. Im Bereich der Informationssendungen von Schweizer Fernsehen DRS beispielsweise ergeben sich 5 Typen von Verteilungen (Genaueres dazu in Burger 1998):
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I |
II |
III |
IV |
V |
Moderation |
Standard |
Standard |
Mundart |
Mundart |
Mundart |
Beispiele von Sendungen: |
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I Tagesschau |
Wenn man die schweizerische Situation unter den oben behandelten Aspekten 2 bis 4 betrachtet, dann ergibt sich Folgendes: Im Bereich der Presse (2) sind keine deutlichen Abweichungen vom übrigen deutschsprachigen Raum zu registrieren. Die auffälligsten Unterschiede ergeben sich im Bereich Mündlichkeit/Schriftlichkeit (3) und in der Folge davon partiell auch im Bereich der Redewiedergabe (4). Die Formen der Redewiedergabe werden – im Vergleich zu den deutschen und (überwiegend auch) österreichischen Medien – komplexer durch die Tatsache, dass man häufig mit mundartlichen Prätexten rechnen muss, die dann – je nach Sendung – ins Hochdeutsche transformiert werden, oder auch mit hochdeutschen Prätexten, die beispielsweise im mundartlichen Umfeld als mundartliche Zitate erscheinen. Das gilt natürlich nicht für die O-Ton-Zitate, sondern nur für die herkömmlichen Formen der Redewiedergabe.
Die heutige Situation ist insgesamt durch eine gewisse Stabilisierung der Sprachverteilung gekennzeichnet. Auf manchen Sendern hört man (fast) nur noch Mundart, auf anderen haben sich relativ kleinräumige, z. T. sendungsspezifische Verteilungen – wie im obigen Beispiel der Informationssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – eingespielt. Der Trend zur Mundart ist an eine Grenze gelangt, die kaum mehr überschritten werden dürfte. Allerdings ist auch nicht zu erwarten, dass Domänen, die derzeit dem Dialekt gehören, zugunsten des Hochdeutschen aufgegeben werden.
Anmerkungen
1
Nicole Bass: „Muescht Knorr probiere, s’gaht über’s Schtudiere!” Phraseologismen und Modifikationen in der Anzeigenwerbung 1928–1998. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit Zürich 2000.
2
Zu den Textsorten der Massenmedien vgl. Burger 2000.
3
Brodde-Lange/Verhein-Jarren (2001) zeigen, dass bis anhin die Makrostruktur von Nachrichtentexten in den On-line-Medien weitgehend den Konventionen herkömmlicher Agentur- und Presseberichte folgt.
Literatur
Brodde-Lange, Kirsten/Verhein-Jarren, Annette (2001): News im Netz – Sprache in Online-Medien am Beispiel von Nachrichtentexten. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.): Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 339–352.
Bucher, Hans-Jürgen (1996): Textdesign – Zaubermittel der Verständlichkeit? Die Tageszeitung auf dem Weg zum interaktiven Medium. In: Hess-Lüttich, Ernest W. B./ Holly, Werner/Püschel, Ulrich (Hrsg.): Textstrukturen im Medienwandel. Frankfurt a. M. u. a., 31–59.
Burger, Harald (1990): Sprache der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Berlin, New York 1990 (= Sammlung Göschen).
Burger, Harald (1998): Mundart und Hochdeutsch in den Massenmedien. In: Gérard Krebs (Hrsg.), Schweiz 1998 – Beiträge zur Sprache und Literatur der deutschen Schweiz. Helsinki (= Der Ginkgo-Baum 16), 64–85.
Burger, Harald (2000): Textsorten in den Massenmedien. In: Text- und Gesprächsanalyse. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband. Berlin, New York (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), 614–628.
Burger, Harald (2001 a): Psychologische Beratung am Fernsehen. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 305–335.
Burger, Harald (2001 b): Intertextualität in den Massenmedien. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 13–43.
Burger, Harald (2001c): Das Zitat in Fernsehnachrichten. In: Dieter Möhn/Dieter Ross/Marita Tjarks-Sobhani (Hrsg.): Mediensprache und Medienlinguistik. Festschrift für Jörg Hennig. Frankfurt a. M., 45–62.
Diekmannshenke, Hajo (1999): Elektronische Gästebücher – Wiederbelebung und Strukturwandel einer alten Textsorte. ZfAL 31, 49–75.
Diekmannshenke, Hajo (2000): Die Spur des Interflaneurs – Elektronische Gästebücher als eine neue Kommunikationsform. In: Caja Thimm (Hrsg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Wiesbaden, 131–155.
Hemmi, Andrea (1994): „Es muss wirksam werben, wer nicht will verderben” Kontrastive Analyse von Phraseologismen in Anzeigen-, Radio- und Fernsehwerbung. Bern.
Holly, Werner/Biere, Bernd Ulrich (Hrsg., 1998): Medien im Wandel. Opladen.
Römer, Ruth (1968): Die Sprache der Anzeigenwerbung. Düsseldorf.
Strassner, Erich (2001): Von der Korrespondenz zum Hypertext. Zeitungssprache im Wandel. In: Ulrich Breuer/Jarmo Korhonen (Hrsg.), Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt a. M., 87–102.