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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:209–216.

ATTILA KOVÁCS

Ungarn und die Europäische Union

Teil II: Die soziale Dimension

 

Im ersten Teil der Reihe „Ungarn und die Europäische Union” wurde kurz über das von der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung (Gütersloh) initiierte Kooperationsprojekt berichtet. Das Europa Institut Budapest beteiligte sich auch im Jahre 1999 aktiv an dieser Zusammenarbeit, in Verbindung mit Projektpartnern aus München, Posen, Prag und Preßburg. In den aktuellen Untersuchungen wird weiterhin die Integrationsbereitschaft der EU-Beitrittskandidaten aus vielerlei Aspekten thematisiert, u.a. im Hinblick auf die folgenden Bereiche: Rechtsangleichung, Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Regionale Zusammenarbeit, Verwaltungssystem etc.

Der nachstehende Bericht ist ein Beitrag zur sozialpolitischen Dimension der im Kooperationsprojekt erstellten vergleichenden Analysen.

 

Der Umbruch und seine sozialen Folgen: Ein zweischneidiges Schwert

 

I.

Der erste Teil des vorliegenden Berichtes basiert auf den Beobachtungen der ungarischen Soziologin Zsuzsa Ferge. Ihrer Analyse liegt eine Repräsentativerhebung zugrunde, die im Januar-Februar 1995 im Auftrag des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in fünf einstigen Ostblockstaaten durchgeführt wurde. Im Rahmen des Unterfangens wurden je Land 1000 zufällig ausgewählten Haushaltsvertreter befragt. Leiter des Forschungsprojektes war neben Ferge der Soziologe Endre Sik, die Untersuchungen erfolgten in den neuen deutschen Bundesländern, Polen, Ungarn, der Slowakischen und der Tschechischen Republik.

Ungarn war vermutlich eines der auf die politischen Änderungen bestens vorbereiteten Länder (Polen kann noch hier hervorgehoben werden). Allem Anschein nach sind für heute die anfangs vorhandenen Vorteile verschwunden, was mit mehreren und zusammengesetzten Gründen zu erklären ist und zugleich aussagekräftige Schlüsse zulässt. Anhand der folgenden Untersuchung erfährt man einiges davon, wie das Phänomen des Systemwechsels von den Bürgern wahrgenommen wurde. Obwohl die Angaben dem Vorjahresstand entsprechen, hätte man keinerlei Grund anzunehmen, meint Ferge, dass sich die festgestellten Tendenzen, angesichts des nur mäßigeren Wirtschaftswachstums, der relativ hohen Inflationsrate und der Vermehrung der Restriktionen, positiv geändert haben.

Eine Bewertung des Systemwechsels – also ob die neue politisch-wirtschaftliche Konstellation ihm Vergleich zu ihrem Vorgänger besser oder schlechter sei – erfolgte mittels einer Skala von 1 bis 5 (5 gilt als die beste Note). Aus den beiden Teilnoten wurde dann ein Mittelwert berechnet, welcher im Falle einer gleichartig neutralen Beurteilung bei 3 liegt. Der niedrigste Durchschnittswert ergab sich bei den Ungarn (2,7). Dementsprechend hielten unter den Ungarn die wenigsten Befragten (26 %) das neue System für besser, und die meisten (51 %) fanden es schlechter (zum Vergleich: die adäquaten Werte lagen bei den Repräsentanten der neuen deutschen Bundesländer bei 57 % bzw. 17 % [Tabelle 1]). In jedem der Visegrád-Länder nahm der Anteil derjenigen in den ersten Jahren der 90er zu, die das neue System besser fanden, und der Anteil derjenigen nahm ab, die es schlechter empfanden (bei den Ungarn fiel weiterhin eine zumeist negative Beurteilung aus). Die Analyse kommt zur Folgerung, dass in den letzten vier Jahren überall eine zunehmende Enttäuschung zu beobachten sei.

Die Befragten bewerteten auch die soziale Lage ihrer Familie in den jüngsten zeithistorischen Perioden. Aufgrund der Durchschnittswerte ergab sich so eine Epochenhierarchie, die bei den einzelnen Ländern augenfällige Ähnlichkeiten aufweist. Überall gilt als schlechtester Abschnitt entweder die Zwischenkriegszeit oder die Zeit der 50er Jahre, während die besten Noten in den vier Visegrád-Ländern die 80er Jahre erhielten (die Ostdeutschen gaben zumeist der ersten Hälfte der 90er Jahre den Vorzug).

 

Tabelle 1. IST DAS NEUE SYSTEM BESSER?
(% -Anteil an den von den Haushaltsvorständen gegebenen Antworten)

Meinung

Deutschland*

Tschech. R.

Polen

Slowak. R.

Ungarn

Viel schlechter

5

9

18

23

26

Etwas schlechter

14

14

21

28

25

Genauso

24

19

17

16

23

Etwas besser

41

34

33

27

21

Viel besser

16

23

11

5

5

Insgesamt

100

100

100

100

100

Davon

 schlechter ins.

19

23

39

51

51

 besser ins.

57

57

44

32

26

* Die neuen Bundesländer

 

Tabelle 2. ZUKUNFTSERWARTUNGEN
(%-Anteil an den von den Haushaltsvorständen unter 60 Jahren gegebenen Antworten)

Pessimistisch

Neutral

Optimistisch

Gesamt

Verlierer

56

27

17

64

Neutral

41

42

17

20

Gewinner

16

45

39

16

Gesamt

47

33

20

100

 

Bei dem Vergleich des früheren – vor dem Umbruch eingenommenen – sozialen-wirtschaftlichen Status mit dem gegenwärtigen kann festgestellt werden, wer als Gewinner oder Verlierer des Umbruchs einzustufen ist (Tabelle 2). Das diesbezügliche Verhältnis bei den Ungarn fällt wieder negativer aus als in der Durchschnittswertung: Lediglich 15 % der Befragten betrachtet sich als subjektiver Gewinner, während fast zwei Drittel (65 %) sich für Verlierer hält.

Die Meinungen zum Systemwechsel seien natürlich sehr differenziert, unterstreicht Ferge, wobei auf diese zumeist Faktoren sozialpsychologischen oder politischen Charakters, ferner verschiedene Wertorientierungen Einfluss nehmen. Interessant ist die Beobachtung, dass in Ungarn die mit dem Wandel verbundene Enttäuschung bei Befragten verschiedenster politischer Einstellung zutage tritt, also nicht nur bei den von vornherein markant linksorientierten Personen.

Die Bewertungen hängen auch mit einer Reihe objektiver Faktoren zusammen. Dabei spielen der eigene Bildungsgrad, ein günstigerer Berufsstatus, sogar auch der Bildungsgrad des Vaters eine meinungsmodifizierende Rolle. In Ungarn halten das neue System für schlechter 66 % derjenigen, die nur über eine Grundschulausbildung verfügen, und nur 25 % der Hochschulabsolventen, während es von 18 % bzw. 53 % der beiden Befragtengruppen als besser eingestuft wird.

 

Tabelle 3. WAS HAT SICH IN UNGARN VERÄNDERT?
(%-Anteil an den von den Haushaltsvorständen unter 60 Jahren gegebenen Antworten)

Hilfsarbeiter

Facharbeiter

Büroangestellte

Kleinunternehmer,
selbst. Landwirt

Unternehmer,
Führungskraft,
Intelligenz

Gesamt

Befragte nach Beruf (%)

28

33

16

7

16

100


Ist das neue System schlechter oder besser?

Schlechter

65

62

43

51

29

54

Genauso

18

18

21

24

19

19

Besser

17

20

36

24

53

27

Gesamt

100

100

100

100

100

100


Stuft sich der Befragte selbst als Verlierer oder als Gewinner ein?

Verlierer

69

72

48

60

56

65

Weder-noch

23

16

27

24

17

20

Gewinner

8

12

25

16

27

15

Gesamt

100

100

100

100

100

100


Erwartet der Befragte in den nächsten Jahren eine positive oder negative
Veränderung der eigenen Lage?

Pessimistisch

53

53

47

28

32

46

Neutral

32

28

31

46

35

32

Optimistisch

15

19

22

36

33

22

Gesamt

100

100

100

100

100

100

 

Die äußerst ungünstige Systemwechsels-Beurteilung (siehe dazu auch Tabelle 3) beeinflussen der Meinung der Verfasserin nach auch die enormen Einkommensunterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsschichten, ferner die vehemente Wohnungsprivatisierung und die damit verbundene Angst, dass man eventuell die in Anspruch genommenen Kredite nicht zurückzahlen könnte (Tabelle 4).

 

Tabelle 4. ÄNDERUNGEN DER LEBENSBEDINGUNGEN IN UNGARN
(%-Anteil von Haushaltsoberhäuptern gegebenen Antworten)

Bereich

Antwort

Ausgaben für die Gesundheit

Nie genug Geld gehabt

9

Jetzt mehr Schwierigkeit

16

Keine Schwierigkeit

75

Ernährung

Schlechter

36

Genauso

58

Besser

6

Kleidung

Schlechter

44

Genauso

49

Besser

7

Rückzahlung von Krediten

Nicht möglich

0

Ungewiß

37

Sicher machbar

63

Wohnungsunterhaltungskosten

Mehr

86

Unverändert

9

Weniger

5

 

Unter den Ungarn ist eine Distanzierung von der Politik zu beobachten; die Menschen verhalten sich gleichgültig der Möglichkeit der freien Parteibildung gegenüber, und die meisten halten die Politik für unberechenbar. Die Verhältnisse der Marktwirtschaft versprechen für viele nur geringe Ausbruchschancen. In der nahezu Hälfte der ungarischen Familien ist der Haushaltsvorstand Rentner oder Arbeitsloser. Wenn man auch die Behinderten und bedingt Arbeitsfähigen hinzunimmt, lässt sich feststellen, dass die staatliche Sozialpolitik hinsichtlich der zukünftigen Existenz von mehr als 50 % der ungarischen Familien einen äußerst hohen Stellenwert hat. Die Erwartungen dem Staat gegenüber (Tabelle 5) sind in Ungarn die größten, obwohl er die meisten bisher von ihm überwachten Sektoren möglichst schnell zu verlassen sucht. So herrscht Ungewissheit beispielsweise bei der Beurteilung der künftigen Einkommensverhältnisse oder der Zukunft der eigenen Kinder (Tabelle 6).

 

Tabelle 5. VERANTWORTUNG DES STAATES IN UNGARN
(Beste Bewertung: 5)

Bereich

Bewertung

Akzeptable Renten

4,6

Lebensbedingungen der Behinderten

4,3

Grundschulunterricht

4,3

Ärztliche Versorgung

4,4

Arbeitsmöglichkeit

4,5

Mittelschulunterricht

4,2

Erstwohnung von Jugendlichen

4,2

Hochschulunterricht

4,0

Pflege von Kindern unter 6 Jahren

3,6

Kindererziehungskosten

3,7

Durchschnitt

4,2

Tabelle 6

RELEVANZ DER SICHERHEITEN IN UNGARN
(Beste Bewertung: 7)

      Sicherheiten

Priorität

Bewertung

      Zukunft der Kinder

1

6,9

      Wohnmöglichkeit

2

6,9

      Familienleben

3

6,9

      Ärztliche Versorgung

4

6,8

      Einkommen

5

6,8

      Allgemeine Sicherheit

6

6,8

      Arbeitssicherheit

7

6,8

      Berechenbarkeit der Politik

8

5,8

      Landesdurchschnitt

6,7

 

Zum Schluss macht die Autorin darauf aufmerksam, dass nach Ansicht vieler Ökonomen die existentielle Unsicherheit auch die wirtschaftlichen Entscheidungen beeinträchtigen könne: Es könne mit zu großen Risiken gerechnet werden. Fraglich sei, ob eine Politik, die Gegenwart sowie das in die Zukunft gesetzte Vertrauen der Bürger puren Wirtschaftsinteressen unterordne, ihr Ziel erreichen könne.

 

II.

„Als Illusion erwies sich, 1989–90 an so etwas zu glauben, dass der Entwicklungsweg und -Kurs der europäischen oder auch nur der ostmitteleuropäischen Länder vorprogrammiert seien und in den nächsten Jahren in raschem Tempo großen Fortschritt in Richtung der modernen Markwirtschaft, Demokratie und Wohlfahrtsgesellschaft machen werden. Nicht nur eine erfolgreiche Modernisierung gilt als reale Alternative sondern auch der Zusammenbruch einer Modernisierung. Nicht nur eine Entwicklung ist für sie möglich sondern auch Stagnation, ja sogar Regression. Vor diesen Staaten stehen alternierende Entwicklungswege, es gibt keinerlei historische Vorbestimmtheit, die sie zwangsläufiger Weise zur Modernisierung oder zur Stagnation, zum wirtschaftlichen Rückgang und zurück zu einem autoritären politischen System führen würde.” – zitiert László Szamuely die Feststellung des Forschungsteams von Rudolf Andorka, in seiner Studie über die Sozialkosten des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa. Die Arbeit von Szamuely enthält einen internationalen soziologischen Vergleich, insbesondere zwischen Ungarn und der GUS. Im Folgenden werden lediglich einige interessante Angaben zum aktuellen Stand der Sozialentwicklungen in Ungarn herausgegriffen.

Das Pro-Kopf-Existenzminimum in Ungarn betrug 1994 – nach Angaben des Statistischen Zentralamtes (KSH), auf eine vierköpfige (2 Erwachsene + 2 Kinder) städtische Familie berechnet – 120 USD. Dieser Wert liegt auch der Behauptung der Experten zugrunde, dass nämlich im März 1994 lebte beinahe ein Drittel der Bevölkerung (3–3,5 Mil. Personen) unter der Armutsschwelle, wobei dieser Anteil in den 80er Jahren bloß ein Zehntel ausmachte.

Das Ungarische Haushaltspanel bedient sich in seiner Erhebung – die 1992– 1994 bereits dreimal (in drei Etappen) durchgeführt wurde – einer etwas vereinfachten Definition der Armut. Diese geht von dem KSH-Existenzminimum, also der sog. absoluten Armutsschwelle aus. In dem System, in dem die Bevölkerung nach ihren Einkommensverhältnissen in Fünftel eingeteilt wurde, stimmte diese Schwelle in den letzten drei Jahren meistens mit der Obergrenze des untersten Fünftels überein. Dementsprechend stufte das Ungarische Haushaltspanel alle Haushaltungen und Personen des niedrigsten Einkommensfünftels als arme ein, indem man auch den Termin einer relativen Armutsschwelle verwendete. Die Untersuchung führte zu aufschlussreichen Beobachtungen:

– Merkwürdigerweise kommt die Armut unter den höheren Altersklassen (über 60 Jahren) weniger häufig vor – sie sind im niedrigsten Einkommensfünftel mit einem Anteil von nur 8–10 % präsent – als unter Minderjährigen. Die Altersgruppe der 19järigen und noch jüngeren Personen wird in diesem Fünftel mit ca.30 % oder höheren Werten repräsentiert. Besonders auffällig ist, dass beinahe 40 % (!) der 2järigen und jüngeren Kinder in Armut lebt.

– Die Armut trifft in Ungarn die Dörfer am härtesten: Ein Viertel deren Bevölkerung gilt als arm. 71,4 % der Dorfbewohner gehören zu den unteren drei Einkommensfünfteln. Als Gegenpol sollte erwähnt werden, dass sich 40 % der Hauptstadtbewohner in dem obersten Bereich befinden.

– Auch bei der Verteilung der Einkommen – ähnlich wie bei der Beschäftigung – zeichnet sich die äußerst schwierige, desolate Lage der Roma aus: Nahezu drei Viertel (73 %) dieser Gruppe ist unter der Armutsschwelle, im untersten Fünftel platziert.

– Das oben Geschilderte bestätigt auch die Angabe, dass 38 % der Arbeitslosen und ein Viertel der nur über Grundschulabschluss verfügenden Personen in Armut leben.

– Zusammenfassend könnte bemerkt werden: In Ungarn können diejenigen die Armut mit großer Wahrscheinlichkeit vermeiden, die über einen höheren Bildungsgrad als den achtklassigen Grundschulabschluss der verfügen, keine Roma und keine Dorfbewohner sind, keine Kinder haben und natürlich keine Arbeitslosen sind.

Es lässt sich auch feststellen – was die Erfahrungen der letzten 4 Jahre angeht –, dass ein Drittel der Bevölkerung (33,4 %) schon irgendwann in Armut lebte, doch nur ein Viertel-Fünftel davon (7,1 %) kann als „dauerhaft arm” betrachtet werden, also die Mehrheit der Armen ist noch gesellschaftlich mobil, es bestehen noch für sie Aufstiegschancen.

Die Kennzahl der Einkommensungleichheit (die sog. Gini-Zahl) hat in Ungarn bereits 1992 das westeuropäische Niveau (0,27, ähnlich wie in Deutschland, Holland oder Belgien) erreicht.

Zum Schluss stellt Szamuely unter anderem fest, dass die „Schocktherapie” der Regierung 1990–1994 eindeutig negative Auswirkungen gehabt habe. Rund 1,4 Millionen Arbeitsplätze seien abgeschafft worden, und selbst wenn man das Problem außer Acht lasse, inwieweit die Verzögerung der Steuer- und Sozialversicherungseinzahlungen einerseits und die Auszahlung von Arbeitslosengeldern und Renten verschiedener Art andererseits für das Haushaltsdefizit mitverantwortlich seien, sei eindeutig, dass diese Tatsache an der Vertiefung des Verarmungsprozesses und an der Verschlechterung des psychischen Zustandes der Bevölkerung einen beträchtlichen Anteil gehabt habe.