Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:85–92.
ANDRÁS INOTAI
Kosten, Nutzen und globale Wettbewerbsfähigkeit
Überlegungen zur Osterweiterung der Europäischen Union
Die Osterweiterung ist die historische Aufgabe Europas und die wichtigste sowie ertragreichste Investition Europas in seine Zukunft. Sie erscheint auf der Tagesordnung der Europäischen Union (EU), der EU-Mitgliedstaaten und der Kandidatenstaaten zu einem Zeitpunkt, an dem der ganze Kontinent mit globalen Herausforderungen konfrontiert ist. Nicht nur die Transformationsländer, sondern alle Staaten Europas und die im letzten halben Jahrhundert aufgebauten europäischen Institutionen stehen unter einem beispiellosen Modernisierungszwang. Die daraus entstehenden Modernisierungskosten sind nicht der Osterweiterung zuzuschreiben. Sie würden sich auch ohne diesen Schritt stellen, ja sogar – aller Wahrscheinlichkeit nach – in einer noch mehr ausgeprägten Form.
Aus dieser Problematik folgt, dass die Osterweiterung nicht zu einer kleinkarierten europäischen „Nabelscheu” entarten darf. Sie ist von Anfang an im Rahmen globaler Prozesse zu sehen und durchzuführen. Der höchstmögliche Gewinn kann nur dann realisiert werden, wenn die EU ihre Integrationsstrategie aufgrund der bereits bestehenden und noch bevorstehenden globalen Herausforderungen (neu)formuliert. die Erweiterung wird die europäische Wirtschaftskraft erheblich steigern und einen offenen europäischen Regionalismus mit all seinen Vorteilen ermöglichen. Die zehn mittel- und osteuropäischen Kandidaten (MOE-Staaten)1 würden die Gesamtfläche der EU um 1,178 Millionen Quadratkilometer oder um ein Drittel vergrößern, die Bevölkerung um 106 Millionen Menschen (oder um fast 30 Prozent) erhöhen und die Wirtschaftsleistung um 637 Mrd. US-$ (etwa um neun Prozent, ausgedrückt in Kaufkraftparitäten) steigern. Auf den ersten Blick scheint dieses zusätzliche Wirtschaftspotential im internationalen Vergleich nicht besonders groß zu sein. Man sollte es aber in seiner qualitativen Dimension sehen: als Beitrag zur Stabilität des Kontinents; zum beschleunigten Wirtschaftswachstum eines Kontinents, der im internationalen Maßstab unterdurchschnittlich wächst; zum Strukturwandel, der für die erfolgreiche Behauptung Europas im globalen Wettbewerb unerlässlich ist; sowie zur Erhöhung des Reformzwanges in Westeuropa, um die überholte und immer kostspieligere Status-quo-Mentalität durch ein neues, innovatives Verhalten zu ersetzen.
Die wirtschaftliche Modernisierung der mittel- und osteuropäischen Staaten wird in Zukunft der entscheidende Faktor für die Sicherheit und Stabilität Europas sein. Sicherheit und wirtschaftliche Modernisierung lassen sich voneinander nicht einmal vorübergehend trennen. Eine erfolgreiche Modernisierung ist der wichtigste Stabilitätsgewinn für Europa, die Integration in die EU bildet ihren äußeren Anker.
Die erfolgreiche Modernisierung wird durch mehrere Faktoren behindert oder in Frage gestellt. Drei Faktoren sind im Zusammenhang mit der EU zu erwähnen: Erstens besitzt die EU keine umfassende und klare Strategie über die Erweiterung der Union und schafft damit Unsicherheiten. Zweitens machen die ausufernden Handelsbilanzdefizite der weiter fortgeschrittenen Transformationsländer auf einen der grundlegenden Konstruktionsfehler der Assoziierungsabkommen aufmerksam. Im Falle der früheren und weniger entwickelten südeuropäischen Beitrittskandidaten liberalisierte die Union den Außenhandel mit diesen Ländern in dem Maße, wie sie ihnen Zugang zu ihren Transferleistungen eröffnete. Dadurch konnten die im Verlauf der Marktöffnung normalerweise zunehmenden Handelsdefizite durch erheblichen Ressourcenzufluss kompensiert werden. Einen solchen Mechanismus gibt es für die assoziierten MOE-Staaten nicht. Drittens sollen die Beitrittskandidaten als Vorbedingung des Beitritts einen erheblich komplizierteren acquis communautaire übernehmen. Diese Aufgabe ist außerordentlich kostspielig, und der Löwenanteil der Kosten soll von kapitalarmen Transformationsländern getragen werden, bevor sie (potentiellen) Zugang zu den (potentiellen) Transfers erhalten. Die zeitliche Spaltung der entstehenden Kosten und der zu erwartenden Gewinne stellt einen immer noch nicht erkannten erheblichen Risikofaktor für Modernisierung und Stabilität in Europa dar.
Wirtschaftliche Modernisierung ist nicht nur eine Vorbedingung des Beitritts zur EU, sondern vor allem eine historisch mehrmals bewiesene Konsequenz der Mitgliedschaft. In dieser Hinsicht muss darauf hingewiesen werden, dass die früheren Erweiterungen um weniger entwickelte Länder zunächst eine makroökonomische Verflechtung (Integration) erreicht haben, auf deren Grundlage sich die mikroökonomische Verflechtung verstärkt und ausgedehnt hat. Im Falle der weiter fortgeschrittenen MOE-Staaten2 spielt sich dieser Prozess umgekehrt ab. Die mikroökonomische Verflechtung hat bereits die Integrationsreife erreicht, während die makroökonomische und institutionelle Verflechtung in Form der Vollmitgliedschaft noch auf sich warten lässt.
Die Erfahrungen der weniger entwickelten südeuropäischen Mitgliedstaaten haben bewiesen, dass die durch den Beitritt erzielte Dynamisierung des Integrationsprozesses Gewinne für alle Teilnehmer produziert hat. Darüber hinaus wurde ein Großteil der Transferleistungen an die Nettozahler zurückgeleitet. Die Importfinanzierung hat in den Nettozahler-Ländern Arbeitsplätze geschaffen, den Export und die Produktion erhöht, die Steuereinnahmen des Staates vergrößert und dadurch zur Erhöhung des Wohlstandes beigetragen. Hieraus folgt, dass einige der MOE-Staaten angesichts der Dynamik der Transformation und der Flexibilität der Gesellschaft ihren relativen Rückstand in einer relativ kurzen Periode beseitigen könnten. Die auf Wachstumsdifferenzen basierenden Kalkulationen über den Nachholbedarf (in Jahren) verfehlen einen grundlegenden Punkt: Ähnlich wie in den weniger entwickelten Ländern der EU (und anderswo in der Welt) lässt sich eine erfolgreiche nachholende Entwicklung vor allem der Realaufwertung der nationalen Währung und nur zu einem bescheidenen Maße der Wachstumsdifferenz zuschreiben (75 bis 90 Prozent gegenüber zehn bis 25 Prozent).3
Es besteht die Gefahr, dass die Kosten der Osterweiterung auch diejenigen Kostenelemente beinhalten, die durch den Umwandlungsprozess der EU sowieso entstehen und auch ohne Osterweiterung nicht zu vermeiden wären (sogar noch größer ausfallen würden). Ebenso wie die Transformationsländer zahlreiche Aufgaben auch ohne Vorbereitung auf die EU zu lösen haben, sollte die EU mit ihren (längst) fälligen Reformschritten nicht die Rechnung der Osterweiterung belasten. Weiterhin muss klar gesehen werden, dass durch die Kompensierung bestimmter Mitgliedstaaten im Falle einer Osterweiterung indirekte Kosten entstehen könnten. Diese Kosten könnten die direkten Kosten sogar übersteigen und ergäben dadurch eine völlig falsche Kostenrechnung.
Kosten und Nutzen der Osterweiterung sind nicht unabhängig von der Politik zu sehen. Sowohl in den Kandidatenstaaten, wie auch in Brüssel und in den gegenwärtigen Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Kosten zu senken und die Gewinne zu erhöhen. Die Beitrittskandidaten müssen zwar den Großteil der Anpassungskosten auf sich nehmen, doch ist dieser Anpassungsprozess keine Einbahnstraße. In ihrer Rolle als policy maker sollte auch die EU bestimmte (teilweise grundlegende) Reformen durchführen, um den Gewinn der Erweiterung zu vergrößern.
Die Befürchtungen der EU-Staaten und -Gesellschaften können in vier Gruppen gegliedert werden: Sicherheitsrisiken (einschließlich Migration), zunehmender Wettbewerb, Erhöhung und/oder Umverteilung des EU-Haushalts, Veränderung des Gleichgewichts innerhalb der EU. Die 15 Mitgliedstaaten sind von diesen Faktoren unterschiedlich betroffen. Dementsprechend gestalten sich ihre unterschiedlichen Interessenlagen und die Argumente für und gegen die Osterweiterung. Alle EU-Staaten sind am sicherheitspolitischen Faktor – wenn auch in unterschiedlichem Maße – interessiert. Alle sorgen sich um die künftige EU-Finanzierung, sowohl die bisherigen Nettozahler als auch die Nettoempfänger. Die größten Unterschiede zeigen sich bei der Beurteilung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit sowie hinsichtlich der Verschiebungen im Kräftegleichgewicht der Union. Verschiebungen werden in zwei Bereichen erwartet. In geographischer Hinsicht wird die Osterweiterung durch die Aufnahme weiterer Ostseestaaten die Rolle der nördlichen Regionen aufwerten. Darüber hinaus führt sie auch zu einer West-Ost-Verlagerung, von der Atlantikküste in Richtung auf das mitteleuropäische Festland des Kontinents. Die institutionellen Kräfteverhältnisse können durch die Aufnahme neuer, meist kleiner Staaten (Ausnahme Polen und Rumänien) beeinflusst werden.
In der graduellen Erweiterung der EU sehen einige Experten eine Gefahr für die Stabilität des Kontinents, denn sie befürchten in diesem Falle die Entstehung einer weiteren Bruchlinie an den neuen Außengrenzen der Union. Es muss jedoch betont werden, dass es in Europa als Folge der unterschiedlichen historischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung gegenwärtig schon mehrere Bruchlinien gibt. Sie waren nie ganz verschwunden, doch hat die strategische Zweiteilung und die im östlichen Europa über Jahrzehnte existierende Zwangsgemeinschaft mehrere ältere Bruchlinien überlagert und gleichzeitig die Ost-West-Bruchlinie als die einzige in das Bewusstsein der europäischen Völker eingeprägt. Nach der Wende reproduzierten sich die früheren Bruchlinien mit einer beispiellosen Geschwindigkeit. Sie zeigen sich heute unter anderem im Verlauf des wirtschaftlichen Transformationsprozesses, in der geographischen und strukturellen Neuorientierung des Außenhandels, in der Verteilung des ausländischen Kapitals und in der Tätigkeit der transnationalen Unternehmen.4
Alle Politikansätze, die die Bruchlinien innerhalb von Mittel- und Osteuropa durch eine Verzögerung der EU-Erweiterung um die weiter entwickelten MOE-Staaten beseitigen möchten, sind mit fatalen Folgen verbunden. Einerseits vertiefen sie nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die psychologische und politische Bruchlinie zwischen den angrenzenden EU-Staaten und den mitteleuropäischen Staaten. Dies würde die Instabilität des Kontinents nicht nur im Allgemeinen erhöhen, sondern sie direkt an die EU-Außengrenze verschieben. Die Folge wäre ein Ost-West-Transfer von Instabilität, der dem deklarierten Interesse, die Instabilitätsgrenze von der Mitte des Kontinents mehr und mehr in Richtung Osten zu verlagern, zuwiderliefe. Die bestehenden Bruchlinien können nur langfristig und nur im Rahmen einer klaren, von Anfang an einsetzenden Heranführungsstrategie der EU entschärft und beseitigt werden. Diese Erkenntnis liegt der Erweiterungsstrategie der Kommission, die im Juli 1997 veröffentlicht wurde, zugrunde. In die Bewältigung dieser historischen Aufgabe sollten auch die Beitrittskandidaten der ersten Gruppe vom Anfang an eingebunden werden.5
Das oben erwähnte gemeinsame europäische Ziel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter diesem gemeinsamen Ziel sowohl im Westen wie auch im Osten des Kontinents unterschiedliche Interessen, Nutzen- und Kostenkalküle stehen. Erstens beeinflusst die geographische Lage der einzelnen Länder die Interessenlagen. Zweitens haben die wichtigsten inhaltlichen Fragen, wie Sicherheit, Wirtschaft und Kultur in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Stellenwert. Drittens ändern sich die jeweiligen Interessenlagen mit der Zeit. Trotz dieser Veränderungen und Unterschiede darf das gemeinsame Ziel von keinem europäischen Land nicht einmal vorübergehend aus den Augen verloren werden.
Soweit die grundlegende Stabilität des Kontinents auch in der Zukunft gesichert werden kann, wird die Osterweiterung der EU schrittweise erfolgen. Dadurch werden sich die Kosten zeitlich auf eine längere Periode verteilen. Darüber hinaus können sie auch durch die bessere Anpassung auf beiden Seiten reduziert werden. Dieser Ansatz wird den Wettbewerbsdruck beiderseitig mildern, wobei man anmerken muss, dass ein großer Teil dieses Druckes dank der erfolgten Liberalisierung bereits wirksam geworden ist. Zu einem weiteren Teil leitet sich der Wettbewerbsdruck nicht aus der Osterweiterung ab, sondern aus dem globalen Wettbewerb, was bedeutet, dass man ihm unabhängig von der Osterweiterung entgegensehen muss.
Schließlich muss auf die Kosten einer Nicht-Erweiterung hingewiesen werden. Solche Kosten würden sich sowohl im entgangenen Nutzen als auch im zunehmenden Stabilitätsrisiko manifestieren. Diese Kosten sind nicht unabhängig vom zeitlichen Verlauf. Je mehr die Osterweiterung hinausgeschoben wird, umso mehr steigen die Kosten und sinkt der heute noch realisierbare Nutzen. Darüber hinaus kann auch die Entwicklung in den MOE-Staaten die Kosten-Nutzen-Rechnung maßgeblich beeinflussen. Trotz teilweise spektakulärer Transformationsergebnisse sind die Errungenschaften noch keineswegs soweit gesichert, dass negative Entwicklungen völlig ausgeschlossen werden können. Eine Verzögerung der Osterweiterung könnte deshalb auch den Anpassungsprozess in Mittel- und Osteuropa beeinträchtigen und auf die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa zurückwirken.
Die Osterweiterung verhilft der Europäischen Union und Gesamteuropa zu einer höheren globalen Wettbewerbsfähigkeit. Im letzten Jahrzehnt konnte die EU mit ihren wichtigsten ökonomischen Rivalen, den USA und Japan, in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen nicht Schritt halten. Zwar kann man einen generellen Marktverlust der EU durch statistische Angaben nicht belegen, da kräftige Marktgewinne gerade in Ost- und Mitteleuropa Verluste in anderen Regionen vorübergehend noch wettgemacht haben. Die strukturelle Analyse des Handels weist jedoch unzweideutig auf die Verdrängung der EU aus den dynamischsten Bereichen und zukunftsträchtigen Sektoren der Weltwirtschaft hin. Für diesen Verlust ist nicht zuletzt die mangelnde intraindustrielle Arbeitsteilung zwischen der EU und mittelmäßig entwickelten, aufstrebenden Volkswirtschaften verantwortlich. Im Zeichen einer europäischen „Nabelschau” wurde die Arbeitsteilung der EU immer mehr auf Hochkostenländer konzentriert, die – trotz der Gewinne früherer Erweiterungen – die Wettbewerbsposition der Union nicht nachhaltig verbessern konnten. Auf der anderen Seite konnten die assoziierten ehemaligen afrikanischen, karibischen und pazifischen Kolonien nicht den wirtschaftlichen (und kulturellen) Entwicklungsstand bieten, den die moderne intraindustrielle Arbeitsteilung erfordert.6
Die Osterweiterung stellt eine einmalige, wenn auch zum Teil schon verspätete Möglichkeit dar, den intraindustriellen Handel mit den MOE-Staaten zu intensivieren und durch eine länderumspannende Spezialisierung Kostenvorteile im globalen Wettbewerb zu erzielen. Es geht aber nicht nur um die verspätete Nachahmung der amerikanischen und japanischen Wirtschaftsentwicklung, die schon in den achtziger Jahren auf einem regionalen Netz in den benachbarten aufstrebenden Regionen (wie Mexiko, bzw. Ost- und Südostasien) basierte. Denn die MOE-Staaten bieten nicht nur billige, ungelernte Arbeitskräfte, sondern spezialisierte, teilweise auch im internationalen Maßstab hochqualifizierte Arbeitskräfte. Unter diesen Ausgangsbedingungen fand bisher keine nennenswerte internationale Zusammenarbeit zwischen unterschiedlich entwickelten Volkswirtschaften statt. Es ist völlig offen, inwieweit die EU diese potentiellen Vorteile ergreifen kann oder will, und wie lange die MOE-Staaten noch über diese Vorteile verfügen. Erste Ansätze für intraindustrielle Kooperation finden bereits im Rahmen der strategischen Planung multinationaler Konzerne statt (Verlagerung wissensintensiver Produktion in ausgewählte mitteleuropäische Kandidatenstaaten, die Errichtung regionaler oder europäischer Forschungs- und Entwicklungszentren, usw.), jedoch noch nicht in Form einer kohärenten EU-Erweiterungsstrategie.7 Die Osterweiterung wurde bisher nicht unter diesem strategischen Gesichtspunkt gesehen. Tagespolitische Ereignisse, EU-interne Reformaufgaben sowie zunehmende nationale Probleme (Arbeitslosigkeit) überlagerten bislang diese Anforderung.
Die verspätete Beachtung dieses großen Potentials ist besonders bedauerlich zu einer Zeit, in der die Weltwirtschaft und Weltgesellschaft in die Ära der Informationstechnologie einsteigen. Die globalen Rahmenbedingungen der Osterweiterung werden bereits von diesem Übergang bestimmt. Während frühere Erweiterungen noch überwiegend zu europäischen Spielregeln stattfinden konnten, steht die kommende Osterweiterung im Zeichen der Globalisierung, des beschleunigten technologischen Fortschritts und der Errichtung der Informationsgesellschaft. Wenigstens in zwei Bereichen können die MOE-Staaten zur Verbesserung der europäischen Startposition für das Informationszeitalter beitragen:
Erstens verfügen sie über eine starke Innovationsfähigkeit. Zweitens haben sie in den letzten Jahren ein überraschend großes Maß an sozialer und institutioneller Flexibilität bewiesen – Eigenschaften, die die Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert erheblich beeinflussen werden. Natürlich bleibt es fraglich, inwieweit die bisher bewiesene hohe (lauferzwungene) Flexibilität in Zukunft beibehalten wird. Da es sich dabei gleichzeitig um einen europäischen Wert im internationalen Wettbewerb und um ein europäisches Stabilitätsrisiko handelt, wäre es zweckmäßig, entsprechende europäische Politiken schon heute zu entwickeln, um den potentiellen positiven Beitrag zu sichern und den Risiken soweit wie möglich vorzubeugen.
Im globalen Wettbewerb braucht die EU neue und dynamische Märkte in ihrer Nachbarschaft. In den letzten Jahren wies die EU jährlich ein durchschnittliches Wachstum von weniger als zwei Prozent auf. Dagegen erzielten manche Transformationsländer ein jährliches Wachstum von vier bis sieben Prozent. Noch größer fielen die Unterschiede des Produktivitätszuwachses in der verarbeitenden Industrie aus. Ein höheres europäisches Durchschnittswachstum, das vorwiegend von den Beitrittskandidaten produziert werden kann, wäre notwendig um das relative Gewicht der europäischen Region im Vergleich zu den rasch wachsenden fernöstlichen und zum Teil lateinamerikanischen Märkten aufrechtzuerhalten.
Darüber hinaus sollen die qualitativen Aspekte des Wachstums unterstrichen werden, die sich vor allem im technologischen Fortschritt, in der Flexibilisierung des Arbeits- und Bildungsmarktes, in der zunehmenden Umweltverträglichkeit und in der Individualisierung der Nachfrage manifestieren. Es ist nicht zuletzt der dauerhafte Aufschwung der Beitrittskandidaten, der – unter Annahme einer konsistenten Strategie – die Bedingungen für dieses qualitative Wachstum in Europa schaffen kann.
In absehbarer Zeit scheint die gegenwärtige EU mit 15 Mitgliedern nicht in der Lage zu sein, die eigene Wirtschaftsentwicklung zu dynamisieren. Die immensen Anstrengungen zur Einführung des Euro werden auch weiterhin das Wirtschaftswachstum gering halten (in der Hoffnung auf die Schaffung eines mittelfristig höheren Wirtschaftspotentials). Gerade in diesen Schlüsseljahren um und gleich nach der Jahrtausendwende braucht die EU dynamische Nachbarregionen. Die MOE-Staaten haben dafür die besten Ausgangspositionen, falls sie stabil bleiben und die Osterweiterung zügig und nach einer kohärenten Strategie umgesetzt wird.
Ein höheres Wachstum ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Modellwechsel in (West-)Europa. Einerseits ist dieser recht schmerzhafte und konfliktreiche Wandel – wie die Erfahrungen der MOE-Staaten bereits zeigen – mit höherem Wachstum besser zu bewältigen. Andererseits kann sich das sogenannte „europäische Modell” im globalen „ideologischen” und wirtschaftlichen Wettbewerb nur dann halten, wenn der Beitrag der MOE-Staaten konstruktiv genutzt wird. Hier liegt jedoch eines der schwierigsten Dilemmata der jetzigen EU. Sie braucht (und nutzt bereits) die MOE-Region, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Andererseits betrachtet sie diese Region als eine Gefährdung der „sozialen Errungenschaften” des westeuropäischen Wohlfahrtsmodells.
Hinzuzufügen ist, dass bestimmte soziale Kosten nicht vermeidbar sind; die graduelle Erweiterung der EU kann diese Anpassung jedoch tragbarer machen, als wenn die EU ohne Osterweiterung mit der globalen Herausforderung konfrontiert wäre. In dieser Hinsicht kann die konsequente Osterweiterung als eine „Abschirmung” (aber nicht als Abriegelung!) gegen unerwünschte globale Einflüsse verstanden und auch genutzt werden.
Die Nicht-Erweiterung der EU würde dagegen einerseits die potentiellen Nutzeneffekte der global wettbewerbsfähigen Arbeitsteilung in Europa in Frage stellen. Überdies würden Instabilitäten entstehen, die eine Schadensbegrenzung unumgänglich machten. Diese würde wiederum Gelder beanspruchen, die sonst für wettbewerbsverstärkende Investitionen ausgegeben werden könnten. Hinzu kommt, dass die zunehmende gesamteuropäische Instabilität auch nichteuropäisches Kapital abschrecken würde, was die globale Stellung Europas weiter beeinträchtigen könnte.
Anmerkungen
1
Der Begriff MOE-Staaten umfasst die zehn Staaten, die Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen haben (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn.
2
Es ist nicht immer problemlos, diese Gruppe einwandfrei zu bestimmen, da der Transformationsprozess in keinem Land abgeschlossen ist und weder positive noch negative „Überraschungen” ausgeschlossen sind. Aufgrund der makroökonomischen Entwicklung und, noch wichtiger, auf der Grundlage der mikrowirtschaftlichen und politischen Entwicklungen kann man die mitteleuropäischen Transformationsländer (Polen, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn, teilweise auch die Slowakei) sowie Estland dieser Gruppe zuordnen.
3
Artner, A./ Inotai, András: Felzárkózási esélyek a statisztikai adatok alapján (Aufholchancen auf der Grundlage statistischer Daten), in: Statisztikai Szemle 1997 H. 4–5, S. 292–302.
4
Über 80 Prozent des Außenhandels der EU mit den zehn assoziierten Staaten entfällt auf die fünf ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften. Noch ausgeprägter ist diese Konzentration im bilateralen Außenhandel von technologieintensiven Gütern. Über 90 Prozent der Auslandsinvestitionen in Mittel- und Osteuropa flossen nach Ungarn, Polen und Tschechien (eigene Berechnungen auf Basis von Eurostat: External and intra-European Union Trade. Monthly Statistics 10/1997).
5
Die angekündigten Programme der Kommission, wie ein aufgestocktes PHARE-Programm, die Verstärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie ein politischer Rahmen für alle Kandidatenstaaten sind hilfreiche Instrumente, die jedoch immer wieder den neuen Erfordernissen angepasst werden müssen. Dabei sollte dem Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastruktur besondere Bedeutung beigemessen werden, da sie für die noch nicht beitretenden Länder den demonstrativen psychologischen Effekt hat, dass sie nicht von der Einigung Europas ausgeschlossen werden.
6
Vgl. z. B. United Nations: The State of the World Economy at the Beginning of 1997, New York: UN; Aspen Institute: The Future of the World Economy, Washington 1995; Peter Nunnenkamp: Winners and Losers in the Global Economy Kiel 1996; Werner Weidenfeld (Hg.): Reform der Europäischen Union, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1996.
7
In dieser Hinsicht verfügen die multinationalen Unternehmen über eine längerfristige Strategie als die maßgeblichen Politiker in Europa.