Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:243–258.
SUSAN ZIMMERMANN
Die ungarische Frauenbewegung und die „sexuelle Frage” zu Beginn des 20. Jahrhunderts1
Die ungarische Frauenbewegung der Jahrhundertwende beschäftigte sich mit einem weiten Feld von gesellschaftlichen und politischen Problemen. Frauen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen und genossen im bürgerlichen Recht einen gegenüber den Männern wesentlich nachteiligeren Status. Sie hatten im Erwerbsleben mit zahlreichen Diskriminierungen zu kämpfen und waren von der Ausübung verschiedener Berufszweige de facto oder auch de jure ausgeschlossen. Sie hatten nur zu einigen wenigen Zweigen der universitären Bildung Zugang, und das Mädchenschulwesen vermittelte Bildungsinhalte, die nicht dazu geeignet waren, Frauen darauf vorzubereiten, dass sie selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen hatten.
Dass sich die unterschiedlichsten Flügel der Frauenbewegung auch mit der „sexuellen Frage”, mit Prostitution, „Mädchenhandel” und mit „Sexualreform” sowie den sexuellen Beziehungen der Geschlechter überhaupt befassten, ist weniger bekannt. Die Kritik der Frauen an den bestehenden Verhältnissen und ihr Streben nach Veränderung speiste sich dabei aus ihren Erfahrungen mit der ungarischen Gesellschaft ebenso wie aus den Diskussion und Visionen der internationalen Frauenbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhundert ihre Blütezeit durchlebte.
In der ungarischen Frauenbewegung standen sich das Lager der hierarchischen Integrationistinnen und jenes der individualistischen Modernistinnen gegenüber. Zu letzterem zählten die sog. radikalen Feministinnen und die Sozialdemokratinnen, zu ersterem der sog. gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung und die Katholikinnen. Während die hierarchischen Integrationistinnen die „sexuelle Frage” in erster Linie als Sittlichkeitsproblem behandelten, spielten für die Modernistinnen sozioökonomische Verhältnisse, die die Beziehungen der Geschlechter beeinflussten und formten, eine wichtigere Rolle. Im Vergleich zu anderen Ländern nahm die öffentliche und explizite Auseinandersetzung mit der „sexuellen Frage” in der ungarischen Frauenbewegung einen bescheidenen Platz ein.
Sexuelle Verhältnisse und das Streben nach deren Veränderung
Integrationistinnen wie Modernistinnen in der Frauenbewegung setzten sich gleichermaßen, aber auf grundverschiedene Weise mit den sexuellen Verhältnissen in der ungarischen Gesellschaft auseinander. In den Augen des Feministák Egyesülete [Verein der Feministen] (FE), des Vertreters des bürgerlichen Flügels der Modernistinnen, gehörte die „sexuelle Frage” zwar prinzipiell zu den wichtigsten Themen der Frauenbewegung. Doch sah sich auch dieser Verein gezwungen, in seiner diesbezüglichen Politik zumindest nach außen hin äußerst vorsichtig vorzugehen. Der Grund dafür lag in spezifischen Erfahrungen und strategisch-taktischen Erwägungen. Die Führungspersönlichkeiten des Vereins betrachteten die sexuellen Verhältnisse, die Kultur bzw. Unkultur der Geschlechterbeziehungen in ihrem Lande als katastrophal frauenfeindlich und den Machoismus in diesem Bereich als bis auf weiteres undurchdringlich dominant. Immer wieder brachte der FE in seiner Monatszeitschrift zumeist kommentarlose Kurzmeldungen, die diese Verhältnisse illustrieren sollten. Die Rede war dann etwa von einem Grundbesitzer aus der „Provinz”, dessen Erbschaft unter 58 von ihm gezeugten Kindern aufgeteilt werden musste oder von einer Sondergenehmigung des zuständigen Ministers, durch die es einem berühmten Grafen möglich wurde, ein 13-jähriges Mädchen zur Frau zu nehmen.2 Róza Schwimmer persönlich ließ sich von einer Broschüre aus der Fassung bringen, die eine staatlich subventionierte ungarische Touristikagentur herausgegeben hatte. Das Heftchen lag unter anderem in den Coupés der Eisenbahnwagons aus und enthielt ein Kapitel mit der Überschrift „Budapest bei Nacht”. Laut R. Schwimmer erging sich die Broschüre in offenen Anpreisungen jener ungarischen Frauen, die männlichen Besuchern in den Nachtlokalen und auf den Straßen der Hauptstadt unabhängig von der Jahreszeit zur Befriedigung all ihrer Wünsche zur Verfügung stünden. So sei es denn auch kein Wunder, kommentierte Schwimmer, wenn die ungarischen Frauen im Ausland ein niedriges Ansehen genössen. „Denn solange die ungarische Frau hier im Lande keine Achtung genießt, kann dies auch anderswo nicht anders sein. Und hier im Lande wird sie nicht geachtet.” Mit Zufriedenheit nähmen die ungarischen Männer den Export ungarischer Prostituierter, der sog. „Hungaras” sogar als besondere Errungenschaft des Landes zur Kenntnis, und dasselbe gelte für das gleichfalls berühmt-berüchtigte Budapester Nachtleben: „Stolz ist der Gastgeber: seine Frau hat dem Gast gefallen.” Umgekehrt fänden all diese Verhältnisse ihren Widerschein darin, dass das weibliche Element im nach außen hin zur Schau getragenen öffentlichen Leben zur Gänze fehle. Das Ausland könne unter diesen Bedingungen gar nichts anderes schließen, als „dass Kultur und Zivilisation in Ungarn reine Männersache ist, während die Frauen den Männern nur in den Stunden der Ausschweifung Partner sind.”3
Eine Bestätigung fanden diese Wahrnehmungen in jenen Erfahrungen, die der FE machen musste, wenn er sich doch einmal öffentlich mit Aktivitäten zur „sexuellen Frage” versuchte. „[P]öbelhafte Beschimpfung der Frauenrechtler [sic!]” und einen Sturm der Entrüstung riefen zum Beispiel „das öffentliche Behandeln der sexuellen Aufklärung hervor” oder eine öffentliche Aufklärungsreihe über Fragen der weiblichen Gesundheit und Hygiene hervor.4
Aufgrund dieser Verhältnisse übte sich der FE hinsichtlich der Auseinandersetzung um die „sexuelle Frage” bald in einer öffentlichen Zurückhaltung, wie sie ähnlich keinen der übrigen Bereiche der Vereinspolitik kennzeichnete. Man wich damit auch von der eigenen, in vieler Hinsicht in geradezu erstaunlichem Maße durchgehaltenen Strategie ab, dergemäss (zumindest) alle Themen und Politikmuster, die die „Radikalen” in der internationalen Frauenbewegung aufgriffen, in Ungarn unter dem Schirm des FE Platz finden sollten. Ungeachtet dieser innenpolitischen Vorsicht hinsichtlich der „sexuellen Frage” waren die diesbezüglichen politischen Absichten zumindest der dominierenden Kräfte im FE von jenen Grundmotiven angeleitet, die Theorien und Strategien des „radikaleren” Flügels der internationalen Sexualreformbewegung kennzeichneten. Ausgangspunkt dieser Herangehensweise war die Überzeugung, dass die „Loslösung der sexuellen Verhältnisse von ökonomischen Rücksichten” den „Kern der Frauenbewegung” überhaupt ausmache.5 Solange die Frau in der Ehe ökonomisch vom Manne abhängig sei, weil sie wegen der Sorge für Kinder oder aus anderen Gründen keiner eigenen Erwerbsarbeit nachging, sei eine gleichberechtigte und ehrliche Beziehung der beiden Partner nicht möglich. Unter diesen Verhältnissen sei es nicht erstaunlich, dass auch die Frauen selbst in ihrem Partner den Hausherrn, das Familienoberhaupt sähen, „aber über ihre Ehemänner, den Menschen, [nichts] wissen”.6 Erst nach einer Trennung der ökonomischen und der emotionalen Sphäre und der geschlechtlichen Liebe von der Fortpflanzung könnten sich die Geschlechterbeziehungen überhaupt zu menschlichen Beziehungen im eigentlichen Sinne entwickeln. Die so entstehende, „auf edleren, reineren Idealen aufbauende Ehe” und Liebe würde dann nur noch „die intimste und eigenste Angelegenheit zweier Menschen” sein und „nur ihnen allein [gehören]”.7 Solche auf innerer Anziehung und gegenseitiger Achtung zweier Menschen beruhende Liebesbeziehungen bedurften, so weiter die Grundposition des FE, im Grunde des rechtlichen Rahmens der formalen Eheschließung nicht. Die sog. „freie Ehe” sollte daher, solange sie auf diesen Prinzipien beruhte, der offiziell geschlossenen Ehe gleichgestellt werden. Die herrschende Sexualmoral setze dagegen für Frauen und Männer unterschiedliche Standards. Während jeder „Fehltritt” der Frau zu deren gesellschaftlicher Ächtung führe, würde der Bordellbesuch der Männer ebenso toleriert wie ihre außerehelichen Verhältnisse.8
Mit alledem wurde insgesamt ein spezifisch modernistisch-individualistisches Ideal der privaten bzw. persönlichen Geschlechterverhältnisse gezeichnet. In letzter Konsequenz lag diesem eine positive Bewertung der Herauslösung des „Ökonomischen” aus allen anderen sozialen Beziehungen zugrunde. Der Kern der Problematik, die die Lage der Frauen in den zeitgenössischen Geschlechterbeziehungen bestimmte, wurde einesteils im Fortbestehen individueller Unfreiheit und Ungleichheit von Frauen in dieser Ökonomie und in jenen Bereichen der Gesellschaft ausgemacht, in denen traditionelle Verhältnisse überlebt hatten. Andernteils spielte die Ungleichheit der Geschlechter im (Privat-)Recht eine bedeutende Rolle. Das Ideal, das die Sexualreform anstrebte, waren Geschlechterbeziehungen, die sich als materieloses und sozioökonomisch nicht gebundenes Verhältnis darstellten, während die „Nachwuchsproduktion” an gesellschaftliche Wunschvorstellungen angepasst, geplant und gesteuert werden konnte und sollte.
Die Arbeiterinnenbewegung hing zwar im Prinzip ähnlichen Idealvorstellungen zur Lösung der „sexuellen Frage”, setzte sich für diese in der Öffentlichkeit allerdings nur in ihrer allerersten, radikalen Phase ein. Zu diesem Zeitpunkt bekannten sich die Sozialdemokratinnen offensiv zum Ideal der „freien Liebe” und der Gleichberechtigung für die Ehe ohne Trauschein.9 Mariska Gárdos kündete auf dem Kongress der SPU von 1905 und in Zeitungsartikeln „[o]ffen und unerschrocken” von der „Existenzberechtigung der freien Liebe, ja sogar ihre[r] Überlegenheit gegenüber den Unsittlichkeiten, die sich unter dem Deckmantel der Ehe vor unseren Augen abspielen”.10 Neben anderen Erfahrungen dürfte es insbesondere der Eindruck der auch sexuellen Auslieferung weiblicher Erwerbstätiger gewesen sein, der als Triebkraft hinter der Beschäftigung mit den sexuellen Verhältnissen in der zeitgenössischen Gesellschaft stand. Dabei achteten die Sozialdemokratinnen zumeist peinlich darauf, die wirklich schlimmen Formen sexueller Übergriffe unter Berufung auf ökonomische Abhängigkeiten den männlichen Vertretern der besitzenden Klasse bzw. den Arbeitgebern, keinesfalls aber den eigenen Genossen anzulasten.11 In ihren nach 1945 verfassten Erinnerungen dagegen berichtet eine der Aktivistinnen der frühen Stunde eindringlich davon, dass ähnliche Verhaltensformen auch bei Kollegen weit verbreitet gewesen seien. Selbst bei den organisierten Arbeitern habe „im Zentrum [des] Interesses das Pferderennen, die Karten und das Trinken und bei den unverheirateten noch die Straßenmädchen [gestanden]. Und um die in ihrer Nähe arbeitenden jungen Mädchen in Verlegenheit zu bringen, erzählten sie laut die Spritztouren vom Samstagabend und vom Sonntag, mit Worten, die die jungen Mädchenohren beleidigten, und sie lachten laut, wenn diese rot wurden.” In der zeitgenössischen sozialdemokratischen Frauenpresse dagegen wurden – wenn überhaupt – die „groben Scherze” männlicher Kollegen, die die Arbeiterinnen in den Fabriken ertragen mussten, als die sehr viel weniger fatale Hälfte sexueller Männermacht dargestellt. Wo nämlich solche Scherze der Klassengenossen die Arbeiterinnen erschreckten, dort sei es kein Wunder, dass die Arbeiterinnen den süßen Worten und Versprechungen der Fabrikanten erlägen und auf diese Weise zu gefallenen Frauen würden.12
Der integrationistische Flügel der Frauenbewegung, repräsentiert in erster Linie durch deren Dachorganisation, den Magyarországi Nõegyesületek Szövetsége [Bund der Frauenvereine Ungarns] (MNSz) und die Katholikinnen, hütete sich davor, die „sexuelle Frage” in einer ähnlich expliziten Form wie die Anhängerinnen der Sexualreform zum Thema frauenbewegten Diskurses zu machen. Die Vorstellungen über Sittlichkeit im Lager der Integrationistinnen waren dergestalt, dass explizite Ausführungen zu sexuellen Angelegenheiten im engeren Wortsinn schlichtweg unvorstellbar waren. Bei Vertreterinnen dieser Linie war jene Hemmung gewiss stark verbreitet, die davon abhielt, das Thema Sexualität in der Öffentlichkeit explizit zur Sprache zu bringen. An der Institution der Ehe in ihrer hergebrachten Form und den damit verbundenen offiziell hochgehaltenen Moralvorstellungen wollten sie keinesfalls rütteln. Die Integrationistinnen beschränkten sich daher in theoretisch-ideologischer Hinsicht auf hochgradig verschlüsselte Stellungnahmen und allgemein Moralisches’. Im Rahmen ihrer praktisch-politischen Bestrebungen allerdings spielte die „sexuelle Frage” im weitesten Sinne eine sehr wichtige, ja, sogar eine wichtigere Rolle als bei den Modernistinnen. Dies hing eng damit zusammen, dass die Integrationistinnen auch jene Probleme als Fragen der Moral behandelten, die nach Meinung der Modernistinnen durch ökonomische, soziale und rechtliche Reformen gelöst werden mussten.
Deutlich wurde dieser Unterschied vor allem im Rahmen der Patronagetätigkeit – d.h. Schutz- und Betreuungstätigkeit für Arbeiterinnen, Dienstbotinnen und weibliche Minderjährige, der sich die Integrationistinnen intensiv widmeten. Diese soziale Arbeit zielte unter anderem eindeutig darauf ab, Frauen und Mädchen der unteren Sozialschichten dazu zu veranlassen, sich in ihren Beziehungen zum anderen Geschlecht an bestimmte, in den Augen der Integrationistinnen sittlich akzeptable Normen und Formen zu halten. Dabei war von Sexualität zumeist nur in verschlüsselter Form die Rede. So sollten zum Beispiel Wohnheime, die in der integrationistisch ausgerichteten Betreuungstätigkeit eine wichtige Rolle spielten, dazu dienen, „Fabrik- und Ladenmädchen”, die nicht bei ihren Eltern wohnen konnten, „von den moralischen Gefahren fernzuhalten, die mit dem Wohnen in Untermiete einhergehen” bzw. sie aus den „Krallen der quartiergebenden Frauen” zu retten, die die jungen Frauen „auch moralisch verd[erben]”. Das Leben in den Heimen sollte so familiär gestaltet sein, „dass es für den Tanz, die Orpheen etc. Entschädigung bietet”.13 Erst in den letzten Kriegsjahren traten die Katholikinnen dann mit Vorstellungen zur Ausdehnung ihrer Patronagetätigkeit hervor, bei denen die Bezugnahme auf die „sexuelle Frage” eine sehr viel direktere war als bis dato. So wurde seitens der SzMT nunmehr zum Beispiel erwogen, ein eigenes Heim für schwangere „gefallene Mädchen” zu gründen, wo diese neben körperlicher Ruhe und Pflege auch Zeit finden sollten, sich „mit den Wunden ihrer Seele und mit ihrer ehrbaren Zukunft” zu beschäftigen.14
Wollte die Sexualreform Frauen durch eine grundlegende Veränderung sexueller Normen für beide Geschlechter vom Joch der geschlechtlichen Degradierung oder Einhegung befreien, so ging es der Patronage also darum, möglichst viele Frauen gleichsam in die – auf hergebrachte Weise definierte – weibliche Ehrbarkeit hinüberzuretten’. Frauen und Mädchen sollten auf diesem Wege vor sexueller Ausbeutung und Degradierung geschützt werden. Allerdings war diese Tätigkeit der Integrationistinnen von einer eindeutigen Hierarchie zwischen den betreuenden Patronessen und ihren Klientinnen gekennzeichnet. Die ersteren wurden als sittlich-religiös überlegen und zur Erziehung der Zweiteren zweifelsohne befugt betrachtet. Die Betreuten „müssen vom schönen und nützlichen Charakter des ehrenhaften Lebens überzeugt werden. Böse dürfen wir niemals sein. Damit zerstören wir unser Ansehen. Wenn sie sehen, dass auch die Patronesse Gefangene der Leidenschaften ist, dann ist es mit jener Überlegenheit vorbei, die bislang die ruhige Selbstbeherrschung, die Überlegenheit der disziplinierten Seele ausübte.”15
Der integrationistische Flügel der Frauenbewegung – und unter den Integrationistinnen wohl am betontesten die katholische Frauenbewegung – befasste sich also in seinen praktischen Aktivitäten insgesamt sehr intensiv mit der „sexuellen Frage”, während jede Thematisierung dieses Problemkreises nach dem Muster der Sexualreform abgelehnt wurde. Bei der Auseinandersetzung der Modernistinnen vom FE mit der „sexuellen Frage” stellte sich dieses Verhältnis gleichsam umgekehrt dar. Während der Verein seine grundsätzlichen sexualreformerischen Überzeugungen der Form nach zwar zurückhaltend, inhaltlich aber eindeutig und explizit präsentierte, erreichten praktische Aktivitäten, die auf die „sexuelle Frage” Bezug nahmen, nur einen sehr bescheidenen Umfang. Ein Großteil dieser wenigen Ansätze fiel zudem in die Periode unmittelbar nach der Vereinsgründung, in die Zeit also, bevor man gerade aufgrund der Erfahrungen, die man damit hatte machen müssen, in Sachen Sexualreform den taktischen Rückzug antrat. Die Serie von Vorträgen über Gesundheit und Hygiene des weiblichen Körpers, die im Winter 1905/1906 abgehalten und in der Öffentlichkeit sofort zum Stein des Anstoßes wurde, fand über lange Jahre keine Wiederholung.16 Auf nicht ganz so eindeutige Weise und nicht ganz so rasch verschwand das Thema Sexualaufklärung von der Bildfläche.17 Als der FE 1907 bei der Gemeinde Budapest mit einer Vorlage einkam, in der er um die Einführung der Sexualaufklärung in allen hauptstädtischen Volksschulen bat, stieß er schon beim Schulinspektorat auf massive Ablehnung. In dieser Frage seien die Ansichten der Öffentlichkeit noch zu geteilt, und dass der FE mit dieser Aufgabe Ärzte betrauen wolle, sei vollkommen verfehlt. Nach dieser Abfuhr seitens der Behörden schrieb der FE noch im selben Jahr in der vereinseigenen Zeitschrift einen Preis für die Verfassung eines pädagogischen Leitfadens zur Sexualaufklärung aus. Doch es gingen nur zwei Schriften ein, die beide für ungeeignet befunden wurden.18 Nach diesen Erfahrungen beschäftigte sich der FE in der Öffentlichkeit nur noch peripher mit allgemeineren Aspekten der „sexuellen Frage” und verlegte sich ganz auf die Auseinandersetzung mit dem sehr viel konkreter faßbaren Problem der Prostitution.
Prostitution und Mädchenhandel
Das zuletzt genannte Thema nahm für alle Strömungen der Frauenbewegung innerhalb des großen Themenkomplexes der „sexuellen Frage” – und zwar sowohl auf theoretisch-ideologischer bzw. diskursiver Ebene, wie auch mit Blick auf eher praktisch ausgerichtete Aktivitäten – eine besonders herausgehobene Stellung ein. Für die Integrationistinnen spielte außerdem die Bekämpfung des eng mit der Prostitution selbst verbundenen „Mädchenhandels” eine entscheidende Rolle.
Kern- und Angelpunkt der Diskurse und Bestrebungen, die sich mit der Prostitution auseinandersetzten, war das zeitgenössische polizeilich-administrative System, das dieser gesellschaftlichen Erscheinung ihren organisatorischen Rahmen verlieh: die sog. „Reglementierung”. In diesem System war Prostitution nicht verboten, sondern wurde geduldet. Frauen, die sich dem „Gewerbe” verschrieben hatten, mussten sich bei der Behörde – in Budapest konkret bei der Polizei – registrieren und regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen. Zugleich machte es sich die Polizei – und zwar in Budapest im Laufe der Jahrzehnte in zunehmendem Maße – zur Aufgabe, die sog. „geheime”, also nicht registrierte Prostitution zu verhindern, indem sie auf Straßen und an zwielichtigen’ Orten regelmäßig nach „verdächtigen Frauenspersonen” Umschau hielt und diese systematisch kontrollierte bzw. erst einmal aufgriff und auf ein Polizeirevier verbrachte. In der Folge wurden die Betroffenen dann unter Druck gesetzt, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen. Auf diese Weise sollte festgestellt werden, ob sie sexuell unberührt waren. Wenn das Gegenteil der Fall war, so galt dies als hinreichender Beweis dafür, dass es sich bei den Betroffenen um Prostituierte handle, die sich registrieren lassen sollten. Auch Frauen, die sich der gynäkologischen Untersuchung verweigerten, wurden de facto als Prostituierte betrachtet und entsprechend behandelt.19
Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung war die Beschäftigung mit der Prostitution, obwohl natürlich auch dies eine „heikle Frage” war, nicht so provokativ wie jene etwa mit der Sexualaufklärung für alle Volksschüler/innen, und aus bestimmten Gründen erschien die Lösung dieses Problems auch dringlicher. Als Prostituierte klassifizierte man – ungeachtet aller polizeilichen Übergriffe auf andere Frauen – doch eine einigermaßen klar umreißbare Personengruppe, die sich von der Frauenbewegung und ihrem Publikum deutlich abgrenzen ließ. Als zum Beispiel die deutsche Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher im Jahre 1906 in Budapest auf Einladung des MNSz einen Vortrag zum Thema hielt, ließ es sich eine der Damen aus dem Publikum nicht nehmen, dieser Distanz in selten deutlicher Weise Ausdruck zu geben. „Gnädige Frau, Sie schilderten uns in beredten und ausführlichen Worten das Elend dieser Mädchen und Frauen. Sie können sich leicht vorstellen, dass wir, alle anwesenden Frauen, dieses Elend nur aus Büchern und Theaterstücken kennen. ...”20 Auch die Skandalisierung von Übergriffen der Sittenpolizei auf ebenso ehrbare wie unschuldig-naive Mädchen und Frauen, die von Sozialdemokratinnen und „bürgerlicher” Frauenbewegung gleichermaßen21 als unvermeidliche Folge der Reglementierung gebrandmarkt wurden, beruhte ja stets auf der unhinterfragten Unterscheidung zwischen dem eigenen Status und dem der ‘wirklichen’ Prostituierten. Skandalös fand man etwa am Fall einer von der Polizei aufgegriffenen jungen Schneiderinnenschülerin nicht nur, dass die Kleine nach erniedrigenden Prozeduren vom Polizeiarzt vaginal untersucht worden war, sondern auch, dass auf der Polizeistation zwangsweise mit Vertreterinnen bestimmter sozialer Schichten in Kontakt geriet. „Man führt sie in ein Zimmer und schließt die Tür hinter ihr zu. Sie ist in die Gesellschaft von zwanzig Frauen geraten; geschminkte, schäbige, aufgetakelte, traurige Gestalten. Ihre Mutter zuhause hätte sie, wenn sie bisher mit einer von ihnen ein Wort gewechselt hätte gewiss blutig geschlagen. Jetzt wenden sie sich vertraulich, oft in einer unverständlichen Diebessprache an sie, und sie kauert sich in ihrer Angst, ihrem Grauen in eine Ecke und weint bitterlich. Da bricht aus den zwanzig Mädchen die Leidenschaft, der Hohn, und sie verspotten, belehren und beschimpfen sie durcheinander; – wieso ist dieses wehleidige Rührmichnichtan auch hierhergekommen, wenn sie sich gegenüber ihnen so als etwas Besonderes fühlt?”22
Zudem definierte man als Prostituierte Frauen, die – wie hier bereits angeklungen – Lebensformen repräsentierten, die weder mit den hergebrachten strengen Sittlichkeitsnormen noch mit den Vorstellungen von Sexualreformerinnen über eine zukünftige „neue Ethik” in Einklang zu bringen waren. Und diese Frauen symbolisierten bzw. verkörperten auch die andere, jenseits der bürgerlichen Ehrbarkeit angesiedelte, bedrohliche Seite der Sexualität der eigenen Männer bzw. Söhne. „Minutenlange[n] Beifall” löste etwa jene Passage des Vortrags von Käthe Schirmacher aus, in der sie zu bedenken gab, „wie ekelhaft die Lage der ehrbaren (Ehe-)Frau gegenüber dem Manne ist, der dem Sumpf entsteigt, und welch peinvolle Wirkung auf die Mutter das Bewusstsein ausübt, dass ihr Sohn sich dorthin auf den Weg macht.”23
Beides, die in dieser Hinsicht klare Unterscheidung zwischen „Uns” und „Jenen” und das bedrohlich Andere, das die Prostituierten verkörperten, waren gewiss starke Triebkräfte der frauenbewegten Reformbestrebungen im Bereich der Prostitutionspolitik. Als Motiv der wie auch immer gestalteten sozialen oder moralischen Hilfsangebote für Prostituierte (und „Gefährdete”) und der Bemühungen um Reform oder Abschaffung der Reglementierung wurde aber auch immer wieder eine gemeinsame „Frauenwürde”24 ins Feld geführt, die es zu verteidigen bzw. eigentlich erst zu erstreiten gelte. Diese Entwürdigung betraf in den Augen von Vertreterinnen der Frauenbewegung letztlich alle Frauen – jene, deren Männer und Söhne in den Sumpf hinabstiegen, geradeso wie jene grell bemalten Gestalten, die diese im Sumpf empfingen. Diese Betrachtungsweise stand mit der Abgrenzung (der Frauenbewegung) von den Anderen keineswegs in Widerspruch. Dementsprechend fanden in den Bestrebungen der Frauenbewegung zur Frage der Prostitution gewisse Formen der Solidarität mit Prostituierten und die moralische Aburteilung dieser gesellschaftlichen Gruppe durchaus nebeneinander Platz.25
Einig war und blieb man sich auf alle Fälle hinsichtlich eines Ziels: Lebensformen und Existenz der Anderen’ sollten von der gesellschaftlichen Bildfläche gebannt werden. Die Integrationistinnen kämpften zugleich darum, dass die bis dato nur für die Frauen gültigen, strengen moralischen Normen in Zukunft auch für die Männer verpflichtend werden sollten. Den Modernistinnen gingen es demgegenüber um die Durchsetzung einer „neuen Ethik”, die an die Stelle der alten „doppelten Moral” treten sollte. Auch die „neue Ethik” sollte für beide Geschlechter gleichermaßen gültig sein, jedoch an die Stelle der traditionellen Wertvorstellungen neue ethische Normen setzen, die zwar nicht eindeutig lockerer’, auf alle Fälle aber individualistischer und pluralistischer gestaltet sein sollten.
In Ungarn begann sich die Frauenbewegung dieser Arbeit in ausdrücklicher Form seit 1906 zu widmen, wobei sich allerdings die Katholikinnen weder vor noch nach diesem Zeitpunkt in expliziter Weise mit der Reglementierung der Prostitution, mit legistischen Möglichkeiten zur Zurückdrängung des „Mädchenhandels” oder ähnlichem auseinandersetzten. Sie blieben bei der bereits dargestellten Patronagetätigkeit.
Zwei Faktoren wurden im Jahre 1906 zum Ausgangspunkt dafür, dass die Frauenbewegung zu einer auf politischer Ebene offensiveren Auseinandersetzung mit Phänomenen der käuflichen Sexualität überging. Pläne der Behörden zur Reform des in Budapest geltenden Prostitutionsstatuts erreichten zu diesem Zeitpunkt ein Stadium, in dem die diesbezüglichen Vorbereitungen zum Gegenstand (auch) öffentlicher Auseinandersetzung wurden. Der FE sah sich nun, und dabei wiederum spielten die Beziehungen von Vertreterinnen des Vereins zur internationalen Frauenbewegung eine wichtige Rolle, veranlasst, sehr konkret über Voraussetzungen und Möglichkeiten einer abolitionistisch begründeten Anti-Prostitutionspolitik nachzudenken.26 Als nun Käthe Schirmacher – auf der Durchreise von und nach Belgrad – in Budapest zu Gast war, entschloss sich der MNSz nach einigem Hin und Her, die deutsche Vertreterin einer abolitionistischen, d.h. auf Abschaffung der Reglementierung der Prostitution gerichteten Politik, zum öffentlichen Vortrag zu laden.27 Zeitgleich wurde bekannt, dass unter der Schirmherrschaft der Budapester Gemeindeverwaltung zum Zwecke der öffentlichen fachlichen Diskussion des geplanten neuen Prostitutionsstatuts für Budapest eine Enquete abgehalten werden sollte. Auf dieser Veranstaltung waren, und dies hatte auf jeden Fall historischen Neuigkeitswert, außer den offiziellen Repräsentanten der Hauptstadt und der Polizei Vertreterinnen aller Strömungen der Frauenbewegung vertreten.28 Ungeachtet dezidierter Gegenstimmen auch von Männerseite dominierte insgesamt die Phalanx der Verteidiger der Reglementierung. Die Vertreterinnen des integrationistischen Flügels der Frauenbewegung vermieden es peinlichst, hinsichtlich der Gretchenfrage: „Pro oder contra Reglementierung?” explizit Stellung zu beziehen und beschränkten sich auf konkrete Reformvorschläge in Einzelpunkten, die den Kern des Systems der behördlich geduldeten und überwachten Prostitution weitestgehend unberührt ließen. Offen gegen die Reglementierung nahmen unter den anwesenden Frauen allein die beiden Vertreterinnen des FE Stellung. Sie bekannten sich zum Prinzip der Abolition, das heißt zur ersatzlosen Streichung der Reglementierung. Solange die Betroffenen registriert würden, hätten sie keine Möglichkeit, aus ihrem Dasein als Prostituierte wieder herauszufinden und zum ehrlichen Broterwerb zurückzukehren. Dass die regelmäßige gynäkologische Untersuchung der Prostituierten keinerlei Schutz vor Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten biete, sei längst bewiesen.
Jenseits der konkreten Argumente von Seiten der Frauen wurde auf der Enquete immer wieder spürbar, dass die Kritik an der Reglementierung eigentlich und in letzter Linie für das Aufbegehren gegen die Erniedrigung des weiblichen Geschlechts als solchem stand, die mit der Prostitution verbunden war. Nicht thematisiert wurden demgegenüber gesellschaftlichen Folgen einer Aufhebung dieses Kontrollsystems, die unter den zeitgenössischen Bedingungen realiter zu erwarten waren. So wäre etwa im Budapest der Jahrhundertwende die Abolition für sich genommen kaum geeignet gewesen, den Weg zur Überwindung sexueller Ausbeutung und Erniedrigung zu weisen. Denn eine Rücknahme der Reglementierung hätte nichts daran geändert, dass für das sexuelle und gesellschaftliche Verhalten von Männern und Frauen unterschiedliche Normen galten, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern von scharfen Hierarchien geprägt waren und zugleich Markt- und Tauschverhältnisse auch auf dem Gebiet der Sexualität eine wichtige Rolle spielten.29 Dass die Abolition allein keine Lösung der Prostitutionsproblematik bzw. keinesfalls die Abschaffung der Prostitution zum Ergebnis haben würde, wussten im Grunde genommen auch die „Feministinnen”. In ihren Augen mussten, um der Prostitution als gesellschaftlicher Erscheinung den Nährboden zu entziehen, neben die Abolition als weitere notwendige Voraussetzungen die ökonomische Unabhängigkeit der Frau – d.h. realiter eine ausreichende Menge ausreichend bezahlter Arbeitsplätze – und die angestrebte „neue Sexualethik” für beide Geschlechter treten.
Doch derartige Vorstellungen waren von der Realität und auch von den Möglichkeiten der Realpolitik ohnedies weit entfernt, und dementsprechend versuchten auch die „radikalen” Vertreterinnen des modernistischen Flügels der Frauenbewegung ganz konkret auf die Humanisierung des bestehenden Systems hinzuwirken. Einig waren sich alle Vertreterinnen der Frauenbewegung auf der Enquete daher zum Beispiel darin, dass die vorgesehene Streichung der Gebühren für die regelmäßige verpflichtende gynäkologische Untersuchung der Prostituierten zu befürworten sei. Und einig waren sie sich auch darin, dass gerade Frauen in Sachen Prostitution zu präventiver Tätigkeit mit dem Ziel der Zurückdrängung der Prostitution berufen seien. Diese wurde im Wesentlichen als unmittelbare Überzeugungs- und Rettungsarbeit verstanden. So sollten etwa verlassene Mädchen durch Plakate auf mögliche Hilfe aufmerksam gemacht werden und bei um Registrierung einkommenden Minderjährigen in Zusammenarbeit mit dem Polizeihauptkapitän der Versuch gemacht werden, diese von ihrem Wunsche abzubringen. Einzig eine der Repräsentantinnen des FE legte Zeugnis von einem weitergehenden Verständnis von Prävention ab. Grundsätzlich müsse die Erziehung beider Geschlechter ehrlicher und gerechter werden, und die Mädchen sollten dabei mehr Unabhängigkeit und Selbstverantwortung erlangen. Anknüpfend an die von Seiten des FE immer wieder öffentlich vorgetragene These, dass auch für junge Männer die sexuelle Abstinenz nicht schädlich sei, forderte sie dann sogar, diesen müsse verständlich gemacht werden, „dass ihre Triebe ... auch auf eine Weise befriedigt werden können, durch die Andere nicht zugrunde gerichtet werden.” Das Verhandlungsprotokoll verzeichnete an dieser Stelle „Bewegung” im Saal.
Die Prostitutions-Enquete von 1906 und der Vortrag von Käthe Schirmacher im selben Jahr können insgesamt mit gutem Recht als Auftakt einer offensiveren Auseinandersetzung der ungarischen Frauenbewegung mit Prostitution und „Mädchenhandel” bezeichnet werden. Allerdings wurden die beiden Ereignisse nicht zum Ausgangspunkt einer wirklich kontinuierlichen und systematischen Forderungspolitik oder gar offensiver öffentlicher Kampagnen gegen die Reglementierung, wie sie aus anderen Ländern bekannt waren. Als schließlich das neue Budapester Prostitutionsstatut 1909 in Kraft trat, waren aus der Sicht des FE zum Teil sogar Verschlechterungen und auf keinen Fall wesentliche Verbesserungen zu verzeichnen. Das Statut nämlich schütze „das schwache ‘starke Geschlecht’ vor aufdringlicher Anbieterei [seitens der Prostituierten, S. Z.], stellt aber umgekehrt sicher, dass es seine Begierde, wenn sie aufkommt, befriedigen kann.”30 Selbst die Streichung der Gebühren für die verpflichtende gynäkologische Untersuchung der registrierten Prostituierten schlage einstweilen gegen die Betroffenen aus. Die Polizei nämlich habe die Neuerung mit einem Reklamefeldzug verbunden, und dementsprechend hätten Journalisten sämtlicher Blätter und damit „die gesamten Qualen des Prangers” vor dem Eingang des Gebäudes der Sittenpolizei auf die zum Zwecke der Untersuchung vorstellig werdenden Frauen gewartet.31
Seit 1909, also genau seit jenem Zeitpunkt, als das neue Budapester Statut in Kraft trat, ging die Initiative in Sachen Prostitutionspolitik nicht zufällig und mit veränderten inhaltlichen Schwerpunkten stärker an den integrationistischen Flügel der Frauenbewegung über. Denn das neue Statut folgte in einem Punkt Forderungen der Frauenbewegung, der für diese Kräfte zentral war. Es eröffnete nämlich formal die Möglichkeit, dass Frauenvereine und andere gesellschaftliche Kräfte ihre sog. „Rettungsarbeit für Frauen am Rande des Abgrundes” in Zukunft in enger Zusammenarbeit mit der Polizei entfalten konnten.32 Seit Februar 1912 wurde dann auch eine Gruppe von zumeist frauenbewegten Damen auf der sittenpolizeilichen Abteilung des Budapester Polizeipräsidiums in diesem Sinne aktiv. Ihre Aufgabe bestand darin, Mädchen und Frauen, die sich registrieren ließen oder lassen wollten, von ihrem Vorhaben abzubringen. Außer auf gutes Zureden konnten die Damen dabei auf verschiedene materielle Hilfsangebote – so insbesondere die Unterbringung in verschiedenen Heimen für „gefährdete Frauen” oder bei Verwandten und die Möglichkeit der Beschaffung von „ehrlicher Beschäftigung” – zurückgreifen.33 Eine weitere, schon 1911 ins Leben gerufene Aktion war die Besuchstätigkeit bei geschlechtskranken Frauen in den Krankenhäusern, ebenfalls mit dem Ziel, diesen Frauen „auf die Seele” zu reden und zu versuchen, sie ins ordentliche bürgerliche Leben zurückzuführen.34 Schließlich wurden die im Polizeipräsidium ohnedies aktiven Vereinsdamen dann auch von Seiten der Budapester Vormundschaftsbehörde, des sog. „Waisenstuhls” offiziell mit der Einvernahme der Betroffenen sowie mit der Inspizierung ihrer Wohn- und Lebensumstände betraut. In Fällen, wo minderjährige Registrierungswillige nach dem Urteil des „Waisenstuhls” durch Verschulden ihrer Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter zu diesem Schritt gebracht worden waren oder aber gesetzliche Vertreter überhaupt fehlten bzw. nicht auffindbar waren, wurde von nun an, wenn möglich ein behördlicher Vormund bestellt. Außerdem nahm der „Waisenstuhl” auch die Möglichkeiten der Unterbringung der Betroffenen in den erwähnten Heimen in Anspruch.35
Während in den diesen und anderen Bereichen der praktischen „Rettungsarbeit” verschiedene Einzelvereine aktiv waren, konzentrierte sich der MNSz in erster Linie auf Bemühungen zur Zurückdrängung des internationalen „Mädchenhandels” und auf Maßnahmen des Jugendschutzes. So beschloss man zum Beispiel, sich um ein „internationales, interterritoriales Gesetz” zur strengen Bestrafung von „Mädchenhandel” und Kuppelei zu bemühen. Außerdem wollte der Bund sich dafür einsetzen, die Ausstellung von Pässen und Schiffspassagen für weibliche Minderjährige behördlicherseits an den strengen Nachweis eines Arbeitsvertrages bzw. des Zwecks der Reise zu binden. Mit Beschluss der Vollversammlung von Ende 1913 richtete des MNSz schließlich ein Ansuchen an den Innenminister, in dem gefordert wurde – nach dem Muster zahlreicher anderer Länder, wie die Eingabe ausführte – die Führung von Bordellen in Ungarn zu verbieten. Diese nämlich seien der „sicherste Hort” des „Mädchenhandels”, und außerdem komme es hier zu besonders massiver Ausbeutung und einer Art Schuldknechtschaft der Prostituierten, was wiederum Ursache „der künstlichen Mehrung der Prostitution” sei.36
Ohne hergebrachte Moralvorstellungen grundlegend in Frage zu stellen, machten die mit all diesen Formen der „Rettungsarbeit” befassten (und keineswegs ausschließlich der Frauenbewegung zuzurechnenden) Kräfte mit der Abkehr vom unbedingten moralischen Verdikt der „Gefallenen” ernst. Anstelle solch moralischer Aburteilung trat der Versuch in den Vordergrund, den Betroffenen materielle Hilfeleistungen anzubieten, sie unter Einsatz von mehr oder weniger drastischen Mitteln auf den rechten Weg zurückzubringen und sie davon zu überzeugen, dass die Einhaltung der für ehrbare Frauen geltenden Verhaltensregeln auch für sie das beste sei.37
Innerhalb der ungarischen Frauenbewegung blieben die abweichenden Auffassungen zur Frage der Prostitution bis zum Ende der Monarchie bestehen. Der FE, der seit 1909 mit eigenen Aktivitäten zu Fragen der Prostitution nicht mehr hervortrat, gab immer wieder seiner Unzufriedenheit mit den in dieser Phase dominierenden Aktivitäten gegen den „Mädchenhandel” Ausdruck. Diese seien, solange die Reglementierung fortbestehe und man die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen nicht errungen habe, nicht mehr als „Symptombehandlung”.38 Ende 1912 kam es auf der Vollversammlung des MNSz erstmals zu einer offenen Diskussion über die Reglementierung. Anlass war eine Vorlage des Leitungsgremiums des Bundes, mit der das Innenministerium dazu aufgefordert werden sollte, das Mindestalter für die Registrierung Prostituierter in allen Komitaten und Städten des Landes einheitlich auf 18 Jahre festzusetzen. Die Vertreterin des FE gab an diesem Punkt die abweichende, abolitionistische Position des Vereins zu Protokoll. Diese „Sonderauffassung” habe, so das Organ des MNSz in der Zusammenfassung der daraufhin entbrannten Diskussion, dazu geführt, „den gegen die Reglementierung gerichteten Standpunkt der Delegierten” – und zwar „eigentlich alle[r] Delegierten ... – offenbar werden zu lassen”. Praktische Konsequenzen in Richtung öffentlicher Ablehnung des Systems der Reglementierung freilich ergaben sich aus der Debatte nicht.39 Erst in den Kriegsjahren zeichnete sich im MNSz bzw. zumindest bei dessen Leitungsgremium tatsächlich die Tendenz ab, sich zu Forderungen nach Abschaffung der Reglementierung zu bekennen.40
In der Zusammenschau bleibt festzuhalten, dass sich an den blinden Flecken, die die Haltungen zu Prostitution und „sexueller Frage” im Lager der „bürgerlichen” Modernistinnen wie in jenem der Integrationistinnen kennzeichneten, bis zum Ende der Monarchie wenig änderte. Dies galt ungeachtet wechselnder Phasen und Schwerpunktsetzungen in der praktischen Tätigkeit und Forderungspolitik beider Gruppen. Die „universelle Solidarität” der Modernistinnen bezog sich in Wirklichkeit nur auf jene Frauen, die im Gefolge ihrer unverschuldet schlechten (materiellen) Lage vom rechten Weg’ abgekommen waren und nicht auf solche, deren Lebensführung alten bürgerlichen Moralvorstellungen und dem modernistischen Ideal einer „neuen Sexualethik” gleichermaßen widersprachen. Die Forderungen nach Abolition und nach Verbesserung der ökonomischen Lage von Frauen gingen letztlich über die Kritik nur an administrativ-polizeilichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten, die die sexuelle Begegnung der Geschlechter in der Prostitution mitformten und mitbedingten, nicht hinaus. „Sämtliche einzelne Symptome der gesetzlichen Prostitution [d.h. des Systems der Reglementierung, S. Z.] sind von A bis Z auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen – von Seiten der Frau.” Die Vorstellung einer neuen „sexuellen Ethik” verharrte in einer abstrakt-moralischen Negation jeder Tauschwertorientierung und jeder materiellen Rückbindung von Sexualleben und Partnerbeziehungen. „Liebe” wurde zur ausschließlich im Seelischen und Geistigen beheimateten, freigewählten Bindung zwischen und Mann und Frau idealisiert. In der Tätigkeit der Integrationistinnen andererseits war und blieb die Doppeldeutigkeit zwischen praktischer „Schwesterlichkeit” und unhinterfragter Überzeugung von der Überlegenheit und Höherwertigkeit des eigenen Tuns gegenüber den so ungleichen „Schwestern” prägend. Dies galt für die soziale und moralische Arbeit mit Prostituierten und Registrierungswilligen ebenso wie für jene nur mit „Gefährdeten”. Auch bei den Integrationistinnen selbst meldete sich ab und zu die – im Allgemeinen in höchst kritischer Absicht von den Modernistinnen aufgeworfene – Frage, ob nicht ihre ganze „Schutzarbeit sozusagen umsonst” sei. Die Ursache allerdings suchte man im integrationistischen Lager ausschließlich im juristisch-administrativen Bereich, so etwa in der Existenz der Bordelle oder (ausnahmsweise auch einmal) im System der Reglementierung selbst.41 Die Integrationistinnen blieben damit noch hinter der Kritik der Modernistinnen zurück, die an dieser Stelle zumindest das ökonomische Gefälle zwischen den Geschlechtern bzw. in der Gesellschaft zusätzlich ins Spiel brachten.
Anmerkungen
1
Dieser Aufsatz erschien zuerst in ungarischer Sprache in Eszmélet (1999) Nr. 42, 49–66. Der Text beruht auf Kapitel 6.c. meines Buches Die bessere Hälfte? Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918, Wien/Budapest 1999
2
Vgl. A nő és a társadalom (= NT) (1912), 161.
3
NT (1907), 41.
4
Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv] (= MOL) P987/III/6/2, fol. 4.; vgl. NT (1907), 56, 67, 153; (1908), 68.
5
Vgl. MOL P987/III/6/2, fol. 3.
6
NT (1912), 59.
7
NT (1908), 186; New York Public Library, MSS. & Archives Section, Schwimmer-Lloyd Collection (= NYPL SLC) M45-Frauenzeitung v. 17.9.1905.
8
Vgl. Tájékoztatás a Feministák Egyesületének czéljairól és munkatervéről [Information über die Ziele und den Arbeitsplan des Vereins der Feministen], Budapest 1905, 7; NT (1911), 94ff.; (1913), 12; MOL P987/II, fol. 512.
9
Vgl. Nõmunkás (= NM) (1905) 4, 1, 5; 9, 1; 16, 1–2.
10
Auf dem Parteikongress verhinderte denn auch, kaum hatte Gárdos mit diesem Teil ihrer Rede begonnen, der behördliche Kommissär alle weiteren Ausführungen zu diesem Thema. Politikatörténeti Intézet Levéltára [Archiv des Instituts für politische Geschichte] (= PIL) 940f.4. ő. e.-Kolozsvári Friss Újság v. 20.7.1905; vgl. A magyarországi szociálisztikus munkásmozgalmak [Die sozialistischen Arbeiterbewegungen Ungarns] 1905, 313.
11
Vgl. PIL 940.f.24.õ.e. – Abschrift eines Leserbriefs in Magyarországi Kereskedelmi Alkalmazottak lapja vom April 1902; Gárdos Mariska, Százarcú élet [Hundertgesichtiges Leben], Budapest 1975, 60–61, 68.
12
PIL 867.f.M-34, 90; NM (1913) 6, 4; NT (1913), 158.
13
Mi a patronage? Kiadja a Patronage elnöksége [Was ist die Patronage? Herausgegeben vom Vorstand der Patronage], Budapest 1907, 14, 62–63; Az országos katholikus nővédő egyesület jelentése 1907/08 évi működéséről [Bericht des Katholischen Landesfrauenschutzvereins zur seiner Tätigkeit in den Jahren 1907/08], 5–6.
14
Vgl. Értesítő (1917) 4, 4–5.
15
A Budapesten 1909 szeptember hó 10. és 11-én tartandó II. Országos Patronáge Kongresszus iratai [Schriften des am 10. und 11. des Monats September 1909 in Budapest abzuhaltenden II. Landes-Patronage-Kongresses], H.1, Budapest 1909, 59–60, 63.
16
Vgl. Feminista Értesítő (1906) 1, 4.
17
Vgl. NT (1907), 56, 67.
18
Vgl. NT (1907), 113, 191.
19
In Pest existierte das System der Reglementierung schon vor der Stadtvereinigung von 1873. Anders als in vielen anderen Großstädten gab es in Budapest formal keine Zwangsregistrierung, doch konnten seit der Jahrhundertwende bzw. definitiv mit einem neuen Statut zur Regelung der Prostitution, das 1909 in Kraft trat, Verdächtige zwangsweise der Vaginaluntersuchung unterzogen werden. In anderen ungarischen Städten und Komitaten wurde ebenfalls in der Periode nach 1848/49 mit der Einführung der Reglementierung begonnen. In vielen Städten wurden dabei die Budapester Regelungen zum Teil wortwörtlich übernommen.
20
So ein Leserbrief der Dame in der honorigen Tageszeitung Pester Lloyd im Anschluss an den Vortrag. MOL P999/XX/40, fol. 69.
21
Vgl. z.B. NT (1912), 142; NM (1906) 22, 5.
22
NT (1907), 136–137; vgl. NM (1907) 6, 1–2, 5–6.
23
MOL P999/XX/40, fol. 67.
24
Z.B. MOL P999/XX/40, fol. 69.
25
Darüber, dass beide Motive die Bestrebungen der Frauenbewegung anleiteten, waren sich deren Vertreterinnen vollkommen bewusst. „[S]ollten wir untereinander nicht solidarisch sein können und sollte die gegenüber unseren Gefährtinnen verübte Brutalität nicht weh tun, dann soll uns [wenigstens, S.Z] die Selbstsucht, die Angst um unsere eigenen Kinder im Kampf gegen die Sittenpolizei vereinen.” NT (1907), 137.
26
Vgl. NYPL SLC A10-Schreiben v. Vilma Glücklich v. 14.9.1906; v. Käthe Schirmacher v. 17.9.1906; MOL P999/XX/40, fol. 67.
27
Vgl. MOL P999/XX/40, fol. 67; NYPL SLC A10-Schreiben v. Vilma Glücklich v. 30.10.1906 u. v. 8.11.1906; NT (1907), 67.
28
Die folgenden Ausführungen zur Enquete beziehen sich auf deren Protokoll, abgedruckt in Fővárosi Közlöny (1907) 3/Beiheft.
29
Dass die „gemäßigten” Kräfte der „bürgerlichen” Frauenbewegung sich nicht zur Forderung nach Abschaffung der Reglementierung durchringen konnten, dürfte wohl nicht allein mit ihren strengen Moralvorstellungen, sondern auch mit diesen Verhältnissen in Zusammenhang gestanden haben.
30
NT (1909), 150.
31
NT (1909), 6.
32
Szabályrendelet a prostitucióról, Budapest 1909, 4.
33
Vgl. ő Császári és Apostoli Királyi Felségének legfőbb védősége alatt álló patronage egyesületek országos szövetségének évkönyve az 1912 évről [Jahrbuch der unter der höchsten Schirmherrschaft Seiner kaiserlichen und Apostolischen königlichen Majestät stehenden Landesbundes der Patronagevereine für das Jahr 1912], 174–177; Budapest székesfőváros árvaszékének gyermekvédelmi tevékenysége 1910–1921 (MS., Fővárosi Szabó Ervin Könyvtár) [Die Kinderschutztätigkeit des hauptstädtischen Waisenstuhls 1910–1921] (MS. Stadtbibliothek Ervin Szabó)], Budapest, o.O., o.J., fol. 91–92.
35
Auch in einigen wenigen Provinzstädten, so z.B. in Kassa, waren zumindest in den letzten Vorkriegsjahren Frauenschutzvereine in vergleichbarer Weise aktiv, wobei der Kassauer Katholische Frauenschutzverein diese Tätigkeit zumindest in seinem offiziellen Bericht nicht wirklich beim Namen zu nennen wagte. Jelentés a „Magyar Egyesület a Leánykereskedés Ellen” negyedévszázados munkáságáról (1909–1934) [Bericht über ein Vierteljahrhundert Tätigkeit des „Ungarischen Vereins gegen den Mädchenhandel” (1909–1934)], Budapest o.J., 58–59; vgl. Jahrbuch des Landesbundes der Patronagevereine für das Jahr 1913, 264.
35
Vgl. Bericht über den „Ungarischen Vereins gegen den Mädchenhandel”, 59; Jahrbuch des Landesbundes der Patronagevereine 1912, pp. 175–176; Kinderschutztätigkeit des hauptstädtischen Waisenstuhls, fol. 35–36, 46–48.
36
Vgl. Egyesült Erővel (= EE) (1914), 40–41; (1909/1910) Sept./Okt. 1909, 5; (1911/1912), 18, 58.
37
Vgl. etwa Magyar Nőegyesületek Lapja (1910) 15.12., 8–9.
38
Vgl. NT (1909), 198; (1911), 50, 83.
39
EE (1911/1912), 130.
40
Vgl. MOL P999/II/6, fol. 775; NT (1916), 190.
41
EE (1914), 40.