Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:173–185.
ZOLTÁN SZÁSZ
Die nationale Frage im Kontext der Wende in Ostmitteleuropa
Als es 1989–90 zum Sturz des ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Staatensystems kam, wurde nicht bloß der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus sondern auch ein Teil der westlichen Politologie, namentlich die prognostisierende Kremnologie begraben. Die Historiker konstatierten den Konkurs der Politologie mit einer gehörigen Portion Schadenfreude, und dachten dabei erst gar nicht daran, dass es später ihre Aufgabe sein wird, zu analysieren warum die Politologie nicht den Sturz des Sozialismus sowjetischen Typs vorauszusagen vermochte, wo sie doch unzählige Symposien, Monographien und Studienbänder den alten und neuen gesellschaftlichen und politischen Prozessen des östlichen Lagers widmete sowie sämtliche neuen Erscheinungen rechtzeitig registrierte und analysierte.1
Dieser Sturz scheint die Fachpolitologen, – wenn auch zu keiner Bescheidenheit, – jedoch zu gewisser Vorsichtigkeit bewogen zu haben, was allenfalls erst durch die für die Analyse der osteuropäischen Systemwandel befugte Transitologie tatsächlich nachprüfbar sein wird.2 Bei der osteuropäischen, zum Politisieren neigenden Intelligenz verstärkte sich aber vielmehr ein entgegen gerichteter Prozess: die Bereitschaft zur Aufgabe der früheren strikt kritischen Betrachtungsweise. Dies erfolgte, weil ein Teil der intellektuellen Elite in die Politik einzog, und der andere Teil, ohne ein Amt zu bekleiden, durch sein Sendungsbewusstsein zur politischen Richtungsweisung eigentlich zum informellen Beamten avancierte. Der Integrationsprozess der politischen Organisierungen erzwang zugleich die Überprüfung ihrer früheren Selbstbewertung.
Im Wetteifer um die Schaffung der neuen und demokratischen Systeme sowie die Machtpositionen fing unter den verschiedenen Kräften ein besonderer Wettlauf an: die Frage lautete, wer galt etwa als Vorkämpfer des Systemwechsels, der Reformen oder der Revolution? Die historische Analyse der unmittelbaren Vergangenheit und ihre erneute Ideologisierung nach aktuellen Gesichtspunkten wurden wieder untrennbar voneinander. Die nationale Frage nahm sowohl in den Geschehnissen der Vergangenheit wie in der erneuten Ideologisierung einen wichtigen, wenn auch strittigen Platz ein.
1.
Möchten wir nach den Anfängen der Umwandlungen forschen – vorausgesetzt, dass wir nicht die ferne ideologische Vorgeschichte suchen oder gar den jugoslawischen Sonderweg analysieren wollen – müssen wir einige Jahrzehnte zurückgehen.
Einerseits finden wir die Reformpolitiker der ehemaligen kommunistischen Parteien – wo es natürlich solche überhaupt gab. Es gab seit Anfang der 50er Jahre überall Korrekturbestrebungen, dass erklärt die Entstehung der sogenannten „Zick-Zack-Kurse”. Erst die Geschichtsschreibung der Zukunft wird in der Lage sein, eine verantwortungsvolle Antwort auf die Frage zu geben, wann diese Bestrebungen als Reformversuche, wann als sogenannte Modellwechselversuche anzusehen sind. Heute können wir nur die Absichten und Programme „Reformversuche” nennen, die die Umgestaltung des Systems initiiert hatten. Versuche, wie die der ungarischen „Revisionisten” im Jahre 1956 und dann 1967, die der tschechischen Ökonomen in der Mitte der 60er Jahre, die Versuche des von Dubček geleiteten Prager Frühlings. Die verschiedenen Reformkräfte unternahmen ununterbrochen Versuche, um das stalinistische System in die Richtung einer Modernisierung zu bewegen. Dabei beriefen sie sich zum einen auf Marx, zum anderen auf Lenins Autorität. Mit der Zeit wurde diese Argumentation immer pragmatischer, und auf ihren ideologischen Inhalt ließ gerade die Minderung der ideologischen Formulierung schließen. Es ist bemerkenswert, dass die kommunistisch veranlassten Reformkreise entweder die Masseninteressen ausnutzten oder aber gerade sie diejenige waren, die über einen Einfluss auf die Massen verfügten, wie es zum Beispiel in den immer wiederkehrenden Debatten der Agrarfrage sichtbar wurde. So war es in Ungarn im Sommer 1956 und in Polen im selben Jahr. Die frühen „entstalinisierenden“ politischen Techniken hatten ihren Ursprung noch in der obersten Parteileitung. Die ungarische Revolution löste bei den anderen Parteien nicht einfach Angst aus, es drängte auch in der Machtausübung auf die Modernisierung der Technik. Eine seltsame Metakommunikation bildete sich da zwischen Führern und Angeführten heraus, die in Ungarn durch das Kádársche „Zusammenblinzeln”, durch die Aczélsche Kulturpolitik verkörpert wurde, deren schwächeren Varianten aber auch in mehreren Block-Ländern zu beobachten waren. Sie waren Mittel zur Akzeptierung und zum Aufdrängen der Macht.
Selbst in der DDR, während ihrer Agonie gab es Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den späten Reformkommunisten und der Gesellschaft. Die Demonstranten skandierten 1989 vor dem Gebäude des Zentralen Parteiausschusses unter anderem: „Hier und heute beginnt unser Kampf um unsere Partei für einen erneuerten Sozialismus.” Die radikale Version: „Es geht in diesen Tagen nicht um mehr oder besseren Sozialismus. Es geht darum, ihn vor dieser Welt zu legitimieren, ihm überhaupt eine Überlebenschance, eine Daseinsberechtigung zu geben!” Die Gesellschaft hatte nämlich – auch wenn sie die Reformer unterstützte – nicht mehr das alte Vertrauen an den Reformen, und später gewannen andere Momente an Gewicht.
Es wäre viel zu einfach zu betonen, dass der kommunistische Staat nicht zu reformieren war – dieses Paneldenken herrscht im Westen wie im Osten – nur weil die „Partei” die Macht nicht aus ihren Händen geben oder sie nicht teilen wollte. Die Einparteimacht existierte im ursprünglichen bolschewistischen Sinn in den 70er Jahren von Belgrad durch Berlin bis Moskau nirgendwo mehr. Überall arbeitete eine Reihe informelle Machtgruppe, die als politische Faktoren verschiedene Interessen repräsentierten. Besonders charakteristisch war es in der Wirtschaft: in der Industrie, in der Landwirtschaft, in der staatlichen Bank – die Kremnologen interessierten sich in erster Linie für die militärischen Kreise. Dadurch wurde die Partei praktisch gefangen gehalten, sie wurde in Wirklichkeit in ein interessenabstimmendes, Kompromisse vermittelndes Amt umgewandelt, während dessen die Größen der Gruppen gerade von der Parteiführung abhängig waren, und die formellen Entscheidungen wurden noch auf der obersten Ebene getroffen. Dieser politische Mechanismus trug auch die Zeichen des asiatischen Despotismus sowie der Bürokratie des aufgeklärten Absolutismus in sich. Dies steht für alle Länder trotz der wesentlichen Unterschiede. In den 80er Jahren blieben die Ergebnisse der liberalisierenden oder rein technisierenden „Reformversuche” aus, generell durch den Rückstand in der Technologie und den plötzlichen Sturz des internationalen Prestiges wurden die Staatsparteien entscheidend geschwächt und die Übereile um einen Sonderweg zu finden gestärkt. In Rumänien, das den dynastischen Sozialismus baute, verordnete die Partei ihre Terrormaßnahmen ebenso auf der Flucht vor dem Spiral der Wirtschaftskatastrophe, wie früher auch die ungarischen liberalen Gulaschkommunisten die Wahl zwischen dem Aufrechterhalten des bereits erreichten Lebensstandards und der Schaffung einer intensiven, effektiven Wirtschaft. Es ist auf den schnellen Schrumpf der realen Omnipotenz der Partei charakteristisch, dass – wie es sich später herausstellte – die rumänische Führung nur im Großen und Ganzen die wahren Produktionsangaben kannte, und dass die Mitglieder des ungarischen Politbüros bis heute nicht imstande sind zu erklären, wie die Staatsschulden des Landes 20 Milliarden Dollar erreichen konnten. Auch die Deutschen könnten ein Lied davon singen, was für einen Prestigeverlust für die DDR die von F. J. Strauß vermittelte 1 Milliarden DM Soforthilfe verursachte, die man vorübergehend natürlich auch als Sieg interpretieren konnte.
Diese lange Versuchsreihe zum Krisenmanagement brachte zwar nirgendwo qualitative Wirtschaftsergebnisse, erleichterte aber wesentlich die Veränderung der politischen Sphäre. Mit der Umformung der informellen Struktur der Machtaufteilung machte das totalitäre System wenn auch in einem unterschiedlich großen Maß und in einer anderen äußeren Erscheinungsform einen Schritt auf dem Weg zur Umwandlung zu dem Autoritärregime.
Wie es von den bisherigen Behauptungen abzuleiten ist, teile ich die verbreitete Ansicht, dass die entscheidendsten Veränderungen der Ostblock-Staaten eigentlich in Gorbatschows Reformversuchen wurzeln würden, nicht. Ein weltgeschichtlicher Prozess ist für einen Historiker aus einem einzigen Aspekt, mag dieser Aspekt auch ersten Ranges sein, nicht abzuleiten. Man dürfte vielleicht behaupten, dass Gorbatschow die Krise der Übergangsphase eher vertieft, als ausgelöst habe. Die Lage der Sowjetunion war gewissermaßen der rumänischen ähnlich: im Hintergrund der Gorbatschow-Erscheinung dürfte in erster Linie die Erkenntnis liegen, dass auf die herkömmliche Weise der Staat in manchen Jahren nicht einmal die Grundversorgungen für die Bevölkerung sichern könnte.
Die Länder des Sowjetlagers verloren während ihren verschiedensten Veränderungsversuchen nicht nur den Wirtschaftskampf (den westlichen Staaten gegenüber), es wurde auch die innere Funktionsfähigkeit ihrer Wirtschaft zerstört. Das militärische Übergewicht des „Imperiums” geriet auch in kurzer Perspektive in Gefahr, so dass ihre Legitimationsbasis im Verschwinden begriffen war.
Da stellt sich eine Grundfrage unseres Themas: die Frage der Legitimationsproblematik dieser Epoche.3 An dieser Stelle können wir davon absehen, wie groß nach 1945 in den einzelnen Ländern die demokratische Legitimation (Tschechoslowakei) war, inwiefern es eine starke revolutionäre Legitimation gab (Sowjetunion, Jugoslawien) und was für eine Wirkung die alten emanzipatorischen Axiomen der sozialistischen Ideologie ausübten. Die kommunistischen Bewegungen sahen als die wichtigste selbstrechtfertigende Theorie bekanntlich die Modernisierungsfunktion an, die das Reich der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Wohlstandes herbeiführen könnten. Das bringt uns schon ein Stück näher zu der Frage der Verbindung des Sozialismus und der nationalen Idee.
Die Idee des Modernisierungssystems wurde in einigen Ländern des Ostblockes abhängig von den historischen Vorbedingungen in unterschiedlichem Maß zu einer tatsächlichen Legitimationsbasis. Die Idee der Industrialisierung hatte verständlicherweise wenig Anziehungskraft in der industriell entwickelten Tschechoslowakei, in der DDR, etwas mehr in Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. In diesen Ländern waren die ideologischen Voraussetzungen der Industrialisierung bereits vor 1945 zu beobachten. Bedeutende Kreise der Intelligenz strebten die Industrialisierung an, die der Befreiung aus dem „halbkolonialen Status” diente. Diese ursprünglich nationalen Entwicklungstheorien mischten sich mit der Idee der Stalinistischen Industrialisierung. Ungarn nahm in dieser Hinsicht eine Position in der Mitte ein. Viele akzeptierten zwar die Idee der Industrialisierung, das Programm der großen Schwerindustrie jedoch nicht mehr. Die Intelligenz wollte eine mit der Industrialisierung zumindest gleichrangige Agrarmodernisierung, ein sogenanntes „Garten-Ungarn“, als dessen Modell die Landwirtschaft der Niederlanden, Schweiz oder Dänemark diente. Die mechanische Kopierung des sowjetischen Musters konnte in den entwickelten Ländern der Region nicht zum Nationalprogramm werden, die „letzte, zusätzliche Industrierevolution der Eisenzeit“ (Ferenc Glatz) war eher grotesk als von mobilisierender Kraft.
Man könnte somit sagen, dass sich in den entwickelten Ländern nicht nur im Hinblick auf die Art des Herrschaftssystems, sondern auch hinsichtlich dessen Modernisierungsprogramms kein Konsens zwischen den Machthabern und der Gesellschaft entwickelte. Ein gewisser Konsens bildete sich in den am wenigsten entwickelten Ländern aus. In diesen können nämlich die neuen Regime leichter ein patriotisches Gesicht aufnehmen, als in den entwickelten. Betonenswert ist allerdings, dass die nationale Legitimation auch in jenen Ländern unsicher blieb, in denen es gelang, die Modernisierung durchzubringen, oder sie zum Teil an einige frühere Nationalbestrebungen anzuknüpfen.
2.
Die größeren Veränderungen fingen 1956 an, aber man konnte sie erst nach 1959–61 registrieren. Nach den Krisenphasen und der Niedergeschlagenheit von 1956 war der Start des ersten Sputniks von stabilisierender Kraft. Andererseits öffnete das vollkommene militärische Sicherheitsgefühl des Ostblocks Freiraum für die latenten divergierenden Tendenzen, – die nach der Fachliteratur auf anderthalb Jahrzehnte zurückgingen –, was durch die bewusste Sonderweg-Politik der chinesischen Partei noch mehr beschleunigt wurde.
Was für eine große Wirkung dabei das Beispiel des ursprünglich auf Sonderstellung gezwungenen Jugoslawiens ausübte, lässt sich heute noch nicht feststellen. Tatsache ist allerdings, dass es am Anfang der 60er Jahre die „Auseinanderentwicklung“ des sozialistischen Blocks begann. Dies wurde zum einen dadurch verdeutlicht, dass die Leitung in einigen Ländern die Grundsteinlegung des Sozialismus feierlich als beendet erklärte, andere (wie etwa Polen und Ungarn) verschlossen sich wiederum schroff derartiger Heuchelei gegenüber. Die einzelnen Parteien übernahmen das neue Motto der Chruschtschowschen Politik: das Versprechen über die schnelle Verwirklichung des Wohlstands. Diesen Wohlstand beabsichtigten sie aber in erster Linie in nationalem Rahmen, auf eigenem Wege zu erreichen. Die erste Hälfte der 60er Jahre galt zwar noch als Blütezeit des RGW, jedoch wurden auch schon die Zeitgenossen auf die häufigen inneren Auseinandersetzungen aufmerksam, welche – unabhängig von dem Inhalt der einzelnen Standpunkte – den Prozess der „Gleichberechtigung“ signalisierten.
Die Tatsache der Auseinanderentwicklung wurde nur von Bukarest offen deklariert, (denn Albanien verfügte über kein Gewicht), und mit seiner Außenpolitik spielte es eine bahnbrechende Rolle. Die eigentliche historische Rolle Rumäniens lag doch eher darin, dass es durch sein als exzentrisch geltendes Verhalten die Aufmerksamkeit der politisierenden Außenwelt auf sich zog, und damit verschonte es zugleich die verwandten, nicht spektakulären, verborgenen Prozesse in den anderen Ländern. Wie es auch das 1976-er Berliner Treffen der Parteien gut vermerkte, wurden alle Parteien im Vergleich zu ihrem früheren Selbst nationalistisch, unabhängig davon, was der Vorstand unter „sozialistischem Patriotismus“ verstand, oder wie fest ihre Überzeugung beim Kampf gegen den Nationalismus war.
Es lässt sich hier nur in Stichworten mit einigen wichtigeren Momenten beschäftigen. Zum Teil, weil diese bereits bekannt sind, zum Teil weil die neuen, auf eine größere Quellenbasis bauenden Forschungen möglicherweise andere Aspekte als wichtig erklären werden.
Jugoslawien galt als das einzige Land, wo es von den 60-er Jahren an tatsächliche Versuche unternommen worden, um die nationalen und ethnischen Fragen zu lösen. Die Verfassungsmodifikationen verliehen den einzelnen Ländern Jugoslawiens immer mehr Souveränität, wobei es allerdings auch klar wurde, dass die Nationalfrage auf antinationalistischer Basis (wie etwa durch die partikuläre Neuverteilung des GDP) unlösbar ist. Belgrad erteilte noch einen Rückschlag, die „Nationale Richtung“ wurde abgelöst und die Demonstrationen wurden verboten. Der Prozess war jedoch nicht anzuhalten. Er überwand den kritischen Punkt: die Reform wurde nationalisiert.4
Die Verknüpfung zwischen National- und Reformmomenten ist auch in der rumänischen Entwicklung vorhanden. Das frühe Ceauşescu-Regime machte sich an den Entstalinisierungsprozess nach dem seit Jahren fertigen nationalistischen ideologischen Grund heran, und die von oben gesteuerte Reformpolitik selbst wurde erst später zur Karikatur der Reform. Basierte das „Überleben“ im Fall des jugoslawischen Regimes in den 50er Jahren auf einer tatsächlichen Sowjethegemonie-Herausforderung, so baute das rumänische Regime seine Selbsterhaltung vom Ende der 60er Jahre an auf die Sowjethegemonie-Herausforderung, um die Gefahr der Beschäftigung mit den eigentlichen Reformen zu vermeiden. Hätte die Verknüpfung des Nationalgedankens und Kommunismus der gleichen systemstabilisierenden Funktion in den beiden erwähnten Ländern dienen sollen, so wirkte sie in Jugoslawien jedoch aus der Staatsstruktur folgend in die Richtung der Föderationsstrukturminderung. Da der Staatsstruktur nach Jugoslawien zu der Sowjetunion Ähnlichkeiten aufwies, zeigte die jugoslawische Krise etwa die die Sowjetunion bedrohenden Gefahren voraus.
Wird die Lupe des Historikers von den Ereignissen der Jahre 1991–1993 nicht getrübt, so wird es klar, wie sich die nationalen Bestrebungen in den einzelnen Sowjetstaaten verstärkten, nicht selten auch auf den islamischen Gebieten durch die aktive Mitwirkung der dort Wurzel gelassenen, in der Sprache noch russischen Führungsschicht. Die Beispiele von Jugoslawien und der Sowjetunion unterziehen erneut die historische Erfahrung, welche aus dem Schicksal der multinationalen Imperien schon lange bekannt ist: zum Überleben braucht das Reich Reformen, diese gefährden aber das Wesen des Reiches...
3.
Das nationale Moment, als erstrangiges Integrationsmoment hat in unserem Raum eine bekanntlich lange Vorgeschichte.
Betrachtet man die Geschichte von Westeuropa als Modell, – was aber aus mehreren Gesichtspunkten diskutabel ist, – so ist die Entwicklung in Osteuropa sowohl hinsichtlich der Verbürgerlichung als auch der nationalen Entwicklung verspätet und deformiert. Die Rahmen des Nationalstaates entfalteten sich erst spät. Von den 1860er Jahren an verfügen über einen Nationalstaat im politischen Sinne die Ungarn, Rumänen und Serben, als halber Nationalstaat gilt Kroatien, aber ein beträchtlicher Teil der Rumänen und Serben lebt nicht in seinem eigenen Staat. Die Aufgabe der politischen Elite ist entweder die mit einer Modernisierung verbundene Festigung des jungen Staates, oder (bei den Tschechen und Polen) die Schaffung der nationalen administrativen Rahmen in irgendeiner Form. Es gab immer und überall eine Intelligenzschicht, – oft verkörperten diese die „schweigende Mehrheit“ der Gesellschaft, – die die noch durch den Absolutismus eingeleiteten Modernisierungsbestrebungen der fremden Macht annahm, sie akzeptierte die privilegierte Rolle dieser Staatsbürokratie und betrachtete die Nation als die Konstituierung der vom Staat abgesonderten kulturellen und geistigen Gemeinschaft.
Dass die nationalen-ethnischen und Staatsgrenzen einander nicht entsprachen – was allerdings eines der wichtigsten Merkmale dieses Territoriums war – und die Tatsache, dass die einzelnen Nationen und Ethnien nicht bloß nebeneinander, sondern in einem hierarchischen Beziehungssystem zueinander lebten, führten dazu, dass immer der National-Emanzipierungsaspekt der Modernisierung an erster Stelle stand. Die Modernisierung sollte nicht dem Individuum, der Gemeinde, der Stadt dienen, sondern in erster Linie dem Aufstieg der Nation oder – denken wir nur an die ungarische Wirkung von Herders Orakel – geradezu der „Rettung“, der „Auferstehung“ der Nation. Das tragische Nationalbild (“die Schutzmauer des Christentums“, „das Marterland Polen“, und letztendlich die „blutende Tschechoslowakei“) gilt noch bis auf heute als Realität. Diese Eigenartigkeiten erklären, dass die Reformbestrebungen entweder in Nationalbestrebungen mündeten, sich an sie anknüpften oder scheiterten. Das ist am Beispiel von 1848 – und noch früher, bei der Reformzeit oder später – abzulesen, und das stellt auch 1918, mit all den Widersprüchlichkeiten der Vorgänge, dar.
4.
Aus dem Gesichtspunkt dieses Befassens ist die ungarische 56 vom Modellwert. Von 1953 an entfaltete sich in der Ungarischen Partei der Werktätigen eine kommunistisch veranlasste Opposition. Ihr revisionistisches Programm fand auf eine große Resonanz bei der Intelligenz. Zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wurde es erst, als es am 22. und 23. Oktober 1956 von nationalen Zielsetzungen durchdrungen wurde. Als zu den Forderungen auch die Feier der 1848-er Revolution, eine nationale Sympathiebekundung den Polen gegenüber, die Veröffentlichung der Wirtschaftsabkommen mit der Sowjetunion (welche auch formell für ungleichmäßig gehalten wurden), die Einschränkung des Russischunterrichts, die Abschaffung der russischen Uniform beim Militär, die „Rettung“ des ungarischen Bauxits, Urans sowie die Einführung des Ungarischen Nationalwappens aufgenommen wurden. Die alles bewegende Forderung der Revolution war am nächsten Tage bereits die Unabhängigkeit unter dem Motto „Russen nach Hause“, in dessen Namen ein Freiheitskampf geführt wurde.
Die 1968-er Tschechoslowakei stellt schon ein anders Bild dar: Die Fragestellung „Demokratie oder Föderation“ in der gleichen Zeit signalisierte die national-territorialen Tendenzunterschiede. In Prag taucht der nationale Aspekt nur indirekt auf. Die Erwähnung von Jan Huss sollte den Nationalcharakter und die Selbstprüfung verstärken, die Untersuchung der Todesumstände von Jan Masaryk sollte lieber der Enthüllung der stalinistischen politischen Methoden dienen. In der Tat gaben die demokratischen Traditionen der „ersten Republik“ – als „demokratischer und gutfungierender Staat“ – den Maß an.5 Demgegenüber dominierte in der Slowakei ein national-emanzipatorischer Aspekt, davon zeugt unter anderem der (erneute) Zorn eines Teiles der slowakischen Intelligenz im Sommer 1968 der ungarischen Minderheit gegenüber...
Wie bekannt, spielte in den polnischen emanzipatorischen Bewegungen eine bedeutende Rolle der Nationalgedanke. Nur jene Bestrebungen unterstützte die Gesellschaft, die auch von der Kirche gutgeheißen wurden. Und es gilt als Allgemeinplatz, dass die polnische Kirche und die polnische Nation praktisch übereinstimmen. Gerade auf nationaler Basis erfolgten wiederholt Versuche zur Herausbildung eines „gesellschaftlichen Vertrags“. Die Intensität der Auswirkung zeigt, dass unter den eigentlichen Gründen Jaruzelskis Machtübernahme am 13. Dezember 1981 die Rettung der nationalen (Halb)Selbständigkeit und die Vorbeugung des ausländischen Eingriffes standen.
Weniger Aufmerksamkeit wurde der später als „Kroatischen Frühling“ genannten Krise zwischen 1967–71 gewidmet. Der kroatische Nationalismus kam auf einem Sonderweg, zu Folge der Streitigkeiten über eine gerechtere Einkunftsneuverteilung unter den einzelnen Mitgliedsstaaten, ans Tageslicht. Die Frontlinie erstreckte sich innerhalb der Grenzen der Konföderation. Die kroatischen Funktionäre der neuen Generation begrüßten die Massen 1971 mit eindeutigen Unabhängigkeitsparolen und Nationalflaggen. Es begann der Zusammenschluss der Intelligenz der Matica Hrvatska, der Studenten und Parteifunktionäre. Neben der Bestreitung der Sprachkonflikte und demographischen Probleme tauchte auch die Idee einer selbständigen kroatischen UNO-Vertretung (nach ukrainischem Muster) auf, als ein wichtiges Symbol des Nationalstaates. Im Dezember musste Tito selbst sowohl die Matica als auch die Studentendemonstrationen verurteilen, die ZK-Sitzung beschuldigte die Kroaten des Niederschlagsversuches des „selbstregierenden Sozialismus“. Obwohl die Arbeiterschaft und Bauernschaft auch hier außerhalb des Kreises der Triebkräfte blieb, eskalierte die Bewegung und das nationale Bewusstsein wurde zum Hauptträger der gesellschaftlichen Identifizierung. Das Andenken des „Kroatischen Frühlings“ lebte weiter, die Idee der Selbständigkeit führte 1989–91 durch das Programm der „Dezentralisierung“ zur vollkommenen Trennung. Ähnlicher Weise entwickelte sich die Situation Sloweniens, des Westeuropa – nicht nur in geographischer Hinsicht – am nahesten stehenden Mitgliedsstaates.
Man konnte das nationale Moment am längsten im ostdeutschen Systemwechselprozess bedecken und ersticken, obwohl dieser Faktor gerade im Falle der DDR unlängst von bestimmendem Charakter war.6 Die Analyse der inneren Motivatoren wird von der herausragenden weltpolitischen Bedeutung der deutschen Frage sowie die vollständige Überschattung der inneren Opposition der DDR durch die Staatspolizei beinahe unmöglich gemacht. Als im Herbst 1989 die Opposition (Neues Forum, Demokratischer Aufbruch usw.) sichtbar wird, entfaltet sich zugleich die größte spontane Volksbewegung der deutschen Geschichte seit 1849. Mit Recht betont man, dass die Berliner Mauer nicht nur ein Symbol der Spaltung der Deutschen sondern auch deren Einheit war, auf der anderen Seite fanden sich die Deutschen auf beider Seite mit der von außen aufgedrängten Zerteilung ab, das der Schriftsteller Günther Grass so formulierte, dass die Deutschen wegen Auschwitz für Ewig ihr Recht auf die Wiedervereinigung verspielt hätten. Die in die BRD geflüchteten oppositionellen (R. Bahro) versuchten in einem verhältnismäßig breiten Raum die Frage der demokratischen Umgestaltung und des nationalen Problems zu beantworten.
1978 erwähnt auf jeden Fall die Parteiopposition der DDR (Bund der Demokratischen Kommunisten Deutschlands) in einem Manifest, dass die inneren Kämpfe der Partei durch die nationale Frage beeinflusst werden, und als Ziel geben sie die „Wiedervereinigung“ an. Jetzt, 1989 im Zuge der Volksbewegung sagten die „Fußabstimmung“, die massenhaft eingereichten Aussiedlungsgesuche, die Flucht (“der Letzte macht das Licht aus“) „nein” auf das System der DDR, und sogar die Parole „Wir bleiben hier“ (die die bisherige „Wir wollen raus“ abgelöst hatte) wurde zu einem Antipartei-Slogan. Man hätte die Deutsche Einheit nicht ohne die Zustimmung der Großmächte geschafft, aber die Großmächte gaben ihr Segen zu der Liquidierung einer von der Volksbewegung politisch und moralisch gebrochenen DDR. Hoffentlich endgültig wurde aus dem historisch überladenen deutschen Denken zugleich die Identifizierung der deutschen Nation mit dem Faschismus ausgelöscht7.
Die sich selbstorganisierenden ungarischen bürgerlich-demokratischen Kräfte, die den politischen Pluralismus forderten, entfernten sich ab den 70-er Jahren – trotz des marxistischen Anfangs – auch formell gesehen vom Marxismus-Leninismus. Die Budapester Parteizentrale rechnete 1975 20 Personen zu den aktiven Oppositionellen, die nach ihrer Einschätzung 20.000 Menschen beeinflussen konnten. Diese Opposition wurde aber von der Macht mit der Einsetzung von gemäßigten, jedoch unangenehmen Polizeimitteln und unter der (verhältnismäßig) Gleichgültigkeit der Gesellschaft lange isoliert. Die sog. Demokratische Opposition–die spätere SZDSZ–hatte eine große Schwäche, die zugleich ihre Tugend war: ihre Geschlossenheit, und gleichzeitig ihre entschlossene Ablehnung des monolithischen Sozialismus.
Die „nationale Opposition” bekam eine breitere Öffentlichkeit und eine größere gesellschaftliche Unterstützung. Während die vorher erwähnte Gruppe der Opposition die nationale Frage eher der Demokratie und einer zukünftigen Systemumgestaltung unterordnete, konzentrierte die spätere Gruppe in erster Linie auf die nationale Frage, auf die sog. Schicksalsfragen: auf die traditionell hohe Selbstmordrate, auf die ausgesprochen niedrige Geburtsrate, auf die Krankheiten, auf die Umweltvernichtung, auf das ebenso wichtige Donauwasserkraftwerk und allen voran auf die katastrophale Lage der außerhalb der Grenzen lebenden 3 Millionen starken ungarischen Minderheit. Dieses sich 1987 unter dem Namen MDF organisierende Lager war von Volksfrontcharakter, nahm von den „Ur-Reaktionären” bis zu den kommunistischen Funktionäre alle auf und lehnte aus taktischen Gründen lange das ideologische Politisieren ab. Wir wollen weder regierungstreu noch oppositionell sein, noch zwischen diesen beiden wählen–ungefähr so formulierten sie anfangs ihre national-demokratische Oppositionsposition. (Die nationale Frage bekam dann später in der Tagespraxis bei der FIDESZ und sogar bei anderen Parteien eine wichtige Rolle.)
Die Herausbildung dieses Lagers brachte die entscheidende Wende. Die Gesellschaft wurde durch das Zusammenwirken von drei Kräften aus dem Konformismus des Gulasch-Kommunismus herausgehoben: die Reform-Regierung von Miklós Németh, die sich von der Partei loslöste und immer mehr pluralisierte, die frühere Opposition und die neuere, sich um die nationale Frage gruppierende Opposition. Letztere wurde zu jener Sammelpartei, die an den Wahlen von 1990 die Wählerschaft der Reformsozialisten mit dem Versprechen der nationalen Politik, des „ruhigen Übergangs” und der Demokratie rein westlichen Typs auflösen konnte8.
Wenn wir nun die hier erwähnten Fragen zu Ende denken, dann kommen wir zu dem ganz und gar nicht überraschenden Ergebnis, dass das nationale Moment eine widersprüchliche Rolle auch in der Entwicklung des Ostblocks nach 1945 spielte. Das Regime verlor zuerst in Jugoslawien und dann in der Sowjetunion seine revolutionäre Legitimation–anderswo gab so was ja erst nicht–dann verlor es seine Modernisierungslegitimation in allen Ländern, abhängig von dem Entwicklungsstand der einzelnen Staaten, von deren täglichen Lebensbedingungen und abhängig von der Aktivität der Opposition zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten, historisch gesehen jedoch synchron. Der Versuch, die nationalen Traditionen für das Regime bewusst einzuschalten, damit eine breitere Basis geschaffen wird, konnte zwar provisorische Ergebnisse für die Machthabenden bringen, die größere Bedeutung hatte jedoch die Tatsache, dass neben der bis dahin allein anerkannten sozialistischen Idee im Laufe der Jahre die nationale Idee legitim wurde. Diese Grundlage war es, die sich dann für den Zusammenschluss oder zumindest Konsens der „demokratischen“ und „nationalistischen“ Kräfte öffnete, und die auch für diejenigen Parteifunktionäre das Tor öffnete, die die Rahmen der Partei sprengen wollten. So konnte sich die Opposition – symbolisch gesagt – aus dem Ghetto ausbrechen, das nicht nur von der Polizei bewacht wurde. In den Ländern, wo sich die organische Entwicklung polnisch-ungarisch-tschechischen Typs nicht herausentwickeln konnte, dort kam der aus der Geschichte der nationalen Bewegungen bekannte „Einholzwang“ zur Geltung, der 1989 in Rumänien durch den mobilisierenden Pessimismus „Maisbrei detoniert nicht“ ausgedrückt wurde, oder in der DDR dadurch, dass man auf die Züge nach dem vorläufig noch stillen Pomeranien geschrieben wurde: „Schlaft ruhig weiter!“
5.
Und die Sowjetunion? Es ist üblich über Russland zu behaupten, dort geschehe alles etwas anders. Dieses Klischee stimmt aber diesmal nur mit Einschränkungen. Das national-emanzipatorische Moment war auch dort eine Triebkraft des Systemwechsels: sowohl die entwickelten wie auch die weniger entwickelten Nationen waren mit dem Reich unzufrieden, bestimmend war jedoch auch hier eher „der Aufstand der Entwickelten” gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung.
Die anspruchsvollen Analysen (G. Simon) betonen, dass die Nation- und Nationalitätsfrage bereits in den 80-er Jahren zum Archimedes-Punkt der Demokratisierung wurde. Seit Ende der 70-er Jahre verstärkte sich der Ethno-Nationalismus, der sich als Reaktion auf das Zurückweichen der wirtschaftlichen Entwicklung und dann auf den Rückfall des Lebensstandards meldete. Es gab freilich wesentliche Unterschiede zwischen Russland und den nicht russischen Sowjet-Ländern. Die Republiken zeigten seit 1988 betont ihr eigenes Gesicht, und drücken ihre Sonderstellung durch Sprachgesetze, Fahnen und bis zu verschiedenen Symbole aus.9 Die „Mittelschichten” konnten einen großen Teil der Nationen politisch motivieren. Als Folge des Dekolonisationsprozesses waren die einzelnen Nationen in den 80er Jahren sowohl strukturell gesehen wie auch in ihrem Bewusstsein stärker als jemals zuvor. Die nationale Demokratie wurde zur Alternative, ja zur Antithese des Internationalismus und des Sowjetreiches. (Am 23. August 1989, am Jahrestag des Molotov-Ribbentrop-Paktes veranstalteten die Lettischen, Litauischen und Estländischen Volksfronte im Rahmen der „Baltischer-Weg-Aktion” eine große Versammlung.) Die Ostexperten meinten, dass es in Russland bereits vor der Wende eine Art Lethargiegefühl herrschte.
Es war möglich, sich auch aufgrund des russischen Nationalgefühls von der Reichsidentifikation zu lösen, denn nach der allgemeinen Auffassung waren es gerade die russischen Massen, um die sich die Regierung nicht kümmerte („wie es zu Zeiten des Zaren war”), so fühlten sich viele als „diskriminierte Mehrheitsangehörige”, die gezwungen waren den Hauptlast der sowjetischen Weltpolitik zu tragen, als Folge dessen ihre Aversion gegen der vermeintlich favorisierten Nicht-Russen wuchs. Alexander Solschenizyn fasste in einem literarisch schönen politischen Manifest die (hauptsächlich) russischen Beschwerden zusammen, indem er halbwegs auch eine wichtige Konsequenz der „Rückkehr” zu der Nation: die Auflösung des Reiches übernahm – die allerdings auch zur Folge hatte, das Massen von Russen in Minderheit gerieten. Der Schriftsteller drückte seine Besorgnis aus, dass das langsam erwachende russische Bewusstsein sich erneut in einem Reich manifestieren wird, dies obwohl „das Reich uns kaputt macht”. Dieser prophetischer Gegner des Kommunismus warnte aber gleichzeitig auch vor dem westlichen Einfluss, und empfiehl sogar „vorläufig” die Aufrechterhaltung der bereits existierenden Staatsordnung und -struktur.
Am Anfang der Krise der russischen Wende versammelten sich die Demokraten (die „nur Demokraten”), die mit ihrem Unwissen über die nationale Frage die Zusammenkunft der „Kommunisten” und der „Nationalen” erzwangen, oder wie dies von Analytiker gerne formuliert wird: die den Übergang vom kommunistischen Messianismus ins russische Messianismus, die Herausbildung der nationalistischen antiliberalen Blöcke mit der westfeindlichen Motivationen herbeiführten. Die Völker des Reiches, die die Soziologen meistens als eine aus Strukturen bestehende, verhältnismäßig nicht bewegliche Masse beschrieben wird, entwickelten sich historisch gesehen innerhalb einer kurzen Zeit zu historisch-politischen Nationen; die Möglichkeiten der schnellen, linearen, westliche Modelle kopierenden Demokratisierung waren bescheiden. Auf jeden Fall waren sie kleiner, als sie von den einstigen nationalen Liberalen erhofft waren. Der Kampf ging demnach auch in Russland nicht einfach darum, ein „schlechtes Ostsystem” durch ein „gutes Westsystem” durch das Ringen des Bösen und des Engels abzulösen. Darum konnte wohl die aus der Bibel bekannte Landstraße von Damaskus auch dort einen Hochbetrieb abwickeln.
Hans Lemberg gebrauchte in einem seiner Vorträge den Vergleich, dass mit der Öffnung der Kühltruhe des Sowjetischen Imperiums der Nationalismus freigelassen wurde, der dann Ost-Europa überschwamm.10 Es trifft zu, hört sich gut an und lässt sich nachweisen. Es ist aber fraglich, ob sich der große osteuropäische Kühlschrank ohne die Bestrebung der mittel- und osteuropäischen Völker auf die nationale Emanzipation und ohne ihre Gestaltung zu Nationen geöffnet hätte?
Anmerkungen
1
Seymour Martin Lipset–György Bence: Der wohlfundierte Irrtum: Die Sowjetologie und das Ende des Kommunismus. In: Transit, Nr. 9. 1995, S. 90–114.; Lipset–Bence: Anticipations of the Failure of Communism. In: Theory and Society. Vol. 23. 1994, pp. 169–204.
2
Valerie Bunce: Should Transistologists Be Grounded? Slavic Review. Vol. 54. Nr. 1. 1995, 111–127.
3
Zur Analyse der Zusammenhänge zwischen Legitimation und Modernisierungsbestrebungen siehe Miklós Szabó: A legitimáció történeti alakváltozásai. In Politikai kultúra Magyarországon 1896–1986. Budapest, 1989, 275–306.; N. Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Neuwid-Berlin, 1978.; Peter Graf Kielmansegg: Volkssouveränität 1977; W. Michel: Handlexikon zur Politikwissenschaft. München. 1973.
4
Paul Lendvai: Der rote Balkan. Zwischen Nationalismus und Kommunismus. 1969; ders. Die Grenzen des Wandels. Wien, 1977.; Peter F. Sugar (Ed.): Ethnic Diversity and Conflict in Eastern Europe. Santa Barbara, 1980.; Hans Hartl: Nationalismus in Rot. Die patriotischen Wandlungen des Kommunismus in Südosteuropa. Stuttgart, 1968.; F. Schönfeld (Hrsg.): Reform und Wandel in Südosteuropa. München 1985. (Hervorragend darunter ist Lendvais Publizistik mit ihren gleichzeitigen sensiblen Analysen und guten Prognosen. Seinen Gedanken folgten wir an mehreren Stellen.)
Auf die engeren Minderheitsfragen, als besonderen Dinamisierungsaspekt, wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Eine mitteleuropäische Übersicht dazu leifert Ferenc Glatz: Minderheiten in Ost-Mitteleuropa. Historische Analyse und ein politischer Verhaltenskodex. Budapest, 1993 (1992). – Zu den Details siehe aus der Literatur Arnold Suppan–Valeria Heuberger: Perspektiven des Nationalismus in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. In Walter Lukan und Petra Moissi (Red.): Im Spannungsfeld von Nation und Staat. Wien; 1991, 7–21. – sowie Gerhard Seewann (Hrsg.): Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa. München, 1995.
5
Zdenek Mlynář (Hrsg.): Der „Prager Frühling”. Köln, 1983.; László Szarka: A cseh-szlovák kettéválás történeti háttere. (Der historische Hintergrund der tschechisch-slowakischen Spaltung) Új forrás 1996. 1–14.
6
Peter Brandt-Herbert Ammon (Hrsg.): Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945. Hamburg, 1981.; Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln–Frankfurt, 1977.; Günther Wagenlehner (Hrsg.): Die Deutsche Frage und die internationale Sicherheit. Koblenz, 1988.; Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.): Deutsche Frage als internationales Problem. Stuttgart, 1990.
7
Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS. Januar-November 1989. Hrsg. Armin Mitter und Stefan Wolle. Berlin, 1990, sowie Armin Mitter–Stefan Wolle: Untergang auf Raten. München, 1993.
8
Zu der Entwicklung nach 1989–90 in Osteuropa siehe zusammenfassend Günter Lottes (Hrsg.): Region, Nation, Europa. Heidelberg, 1992 und Werner Weidenfeld (Hrsg.): Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa. Gütersloh, 1995, die neben den Länderanalysen auch eine Bibliographie bringt.
9
Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Baden-Baden, 1986.; Gerhard und Nadja Simon: Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums. München, 1993.; Richard Pipes: Reflections on the Nationality Problems in the Soviet Union. In Ethnicity. Theory and Experience. (Ed. Nathan Glazer, Daniel P. Moynihan.) Cambridge-London. 1975, 453–465: Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerstaat. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München, 1992.
10
Der Umbruch in Osteuropa. (Hrsg. J. Elvert und Michael Salevski.) Stuttgart, 1993. 7.