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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 6:113–114.

FERENC GLATZ

Aufeinander angewiesen

„Plaschkaismus” in der Geschichtsschreibung

 

Geehrter Herr Professor,

Ihnen wurde die höchste Auszeichnung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, die PRO SCIENTIA zuerkannt. Ihre Verdienste hat man in den Exposés gewürdigt, die dem Präsidium gegenüber begründeten, warum die Wahl auf Sie entfiel. Leistungen sind aufgelistet: Werke aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft, das Wirken als Wissenschaftsorganisator und nicht zuletzt die Tätigkeit als Universitätsprofessor. Diese Auszeichnung vertrat vor dem Präsidium noch mein väterlicher Freund, mein Vorgänger als Präsident der Akademie, Domokos Kosáry. Dabei war es nicht nötig, sein persönliches Ansehen geltend zu machen, denn vom Vorstand wurde Ihre Auszeichnung einstimmig befürwortet, was in diesem aufrührerischen Land Seltenheitswert hat! Mich erfüllt mit Freude und Stolz, dass ich diese Ehrung vornehmen darf.

 

Geehrter Herr Professor,

als ich derzeit den Wortlaut für den Auszeichnungsvorschlag noch als Leiter der Abteilung Philosophie und Geschichtswissenschaften vorbereitete, schrieb ich einen Satz im Entwurf, der später selbstverständlich nicht in der Begründung verbleiben konnte. Jener Satz lautet folgendermaßen: „Diese akademische Auszeichnung müsste nicht von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften verliehen werden, nicht allein von ihr, sondern von einem Verband der Akademien Mittel-Osteuropas, wenn es einen solchen gäbe.”

 

Geehrter Herr Professor, werter Freund!

Nahezu all jene, die hier sitzen, sind mit Deinem Schaffen vertraut. Wir alle sind Deine Verehrer, Vertrauten und Studenten. Es muss also nicht erklärt werden, warum ich jenen Satz schriftlich niederlegte. Und allen ist verständlich, warum ich hier und heute diesen Satz zitiere. Du, Herr Professor, bist ebenso zu Hause im heutigen Tschechien, wo Du geboren bist, wie auch in Österreich, wo aus Dir ein Professor wurde. Und genauso bist Du zu Hause in Ungarn, wo Dein Name mit all dem verknüpft ist, was wir als Mitteleuropäertum bezeichnen könnten. Größtes Defizit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts der hier existierenden Völker ist, dass die Zersplitterung in Kleinstaaten die Annäherung der Völker dieser Region verhinderte und damit gleichzeitig, dass in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt, im globalen kulturellen Wettstreit Arbeitsorganisation, und Sachverständnis hiesiger Völker tatsächlich wirksam hätten sein können. Mehr noch – diese Kleinstaaterei ging damit einher, dass diese Konflikte der Region Auslöser von zwei Weltkriegen wurden. Konflikte, die sich daraus ergaben, dass die Systeme der Kleinstaaten keinen entsprechenden Verwaltungsrahmen für das Miteinander bildeten. Denn die Völker lebten hier über Jahrtausende vermischt und die Grenze des nationalen Siedlungsgebietes stimmte niemals überein mit den Grenzen der Territorialverwaltung. Auf diese Weise haben die Staaten ethnische Konflikte geschürt.

Du, Herr Professor, hast mit Deinem gesamten Schaffen die Aufmerksamkeit auf das verknüpfende Band hier lebender Völker gelenkt und auf Defizite der Konflikte hingewiesen, egal, ob Du über Kultur und Bildung der Region schriebst oder über die Geschichte der Gesellschaft und Diplomatie. Das Wirken Deiner Schüler setzt Deines fort – in dieselbe Richtung weisend. Jene Schaffensperiode Deines Lebens entfiel auf einen Zeitraum, da nach dem 2. Weltkrieg die Völker der Region stärker als je zuvor entzweit waren. Da war die Idee von dem „Aufeinander-Angewiesen-Sein mitteleuropäischer Völker” noch nicht „in”. Im Gegenteil. Es schien, als würde es sich dabei um eine für ewig dahinschwindende Vision handeln.

Heute, lieber Herr Professor, existieren keine administrativen Schranken mehr. Die Studenten von Dir und Professor Kosáry müssen schon nicht mehr Grenzposten und Polizisten gegenüberstehen, wie es bei Dir der Fall war, und wovon wenige Kenntnis haben. Wir haben ganz andere Hindernisse zu überwinden: die egoistischen Gesichtspunkte unserer nationalstaatlichen Intellektuellen, die im Laufe von Jahrhunderten geschürten nationalen Vorurteile. Glaube mir, diese scheinen manchmal ebenso massive Hindernisse zu sein, wie die Stacheldrahtzäune der vergangenen 45 Jahre. Ist aber die moralische Kraft in uns Schülern eine gleich große, wie die unserer Meister? Und haben wir dieselbe Geduld? Das ist das Hauptproblem, die Grundfrage der Gegenwart.

Dabei ist gerade diese moralische Kraft vonnöten. Denn vor allem jetzt, in der Epoche von Informatik und Integration, ist die Betonung des Aufeinander-Angewiesen-Seins von größerer Bedeutung als je zuvor. Vor nationalstaatlichen Konflikten fürchtet sich die ganze Welt–der Unternehmer ebenso wie internationale Organisationen der Wissenschaft und Kultur. Es liegt in unserem materiellen Interesse, uns miteinander zu versöhnen–und unsere Aufgabe ist es, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Unsere geistige Kraftquelle hierbei ist jenes Mitteleuropäertum, das Du mit Deinem Lebenswerk, Deinem Schaffen geprägt hast – mit Deinem „Plaschkaismus”. Und jene Intelligenzlehrmentalität, die Du vertrittst: Toleranz dem vielfältigen Ethnikum und konfessionellen Auffassungen gegenüber, Verständnis und Humanität.

Herr Professor, vielleicht verstehst Du, warum ich stolz darauf bin, dass ich diese Auszeichnung überreichen darf. Irgendwann vielleicht, in ein-zwei Jahrzehnten, kann ich den Vorschlag unterbreiten, Dich auch als Mitglied der Mitteleuropäischen Akademie zu ehren. Gott möge Dir zur Seite stehen, damit Du diese Jahre bis dahin mit Kraft und Gesundheit überbrückst.