Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 6:39–45.
PETER BROUCEK
Die Armee im Biedermeier
Im Frühjahr 1814 ging in Europa eine Epoche des militärischen Kampfes zu Lande und zu Wasser gegen die Heere der Französischen Revolution, des Konsuls Bonaparte und des Kaisers der Franzosen Napoleon I. zu Ende. Die vierzehnjährige Kriegsepoche hatte die kaiserliche Armee, die unentwegt auch nach schweren Rückschlägen immer wieder angetreten war und endlich an der Spitze einer Koalition auch gesiegt hatte, zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Sie war zuversichtlich, stolz auf die österreichische Großmacht und ihrem Geiste nach fortschrittlich gesinnt. Der Staat und auch die Gesellschaft selbst waren zunächst als Folge der Kriegsjahre finanziell, materiell, ja auch geistig erschöpft und ruhebedürftig. Die Tendenzen zur Restauration schienen sich zur Reaktion zu wandeln, jedenfalls aber einer Stagnation entgegenzukommen. Sie standen einem bald aufflammenden Bedürfnis zur Emanzipation einzelner Nationen und Bevölkerungsschichten entgegen. Diesen Bedürfnissen wurde ab den dreißiger Jahren immer mehr Ausdruck gegeben, die Bewegung kulminierte 1848 und ging nach der Zeit des Neoabsolutismus in das Ringen um die richtige Verfassung über.
Es war lange ungewiss, ob das Kaisertum Österreich, das nach dem Niedergang des Heiligen Römischen Reiches eine eigene Staatsidentität aufzubauen beabsichtigte, diese innenpolitischen und nationalen Probleme bewältigen würde. Was die ihm am Wiener Kongress zugewiesene europäische Aufgabe betraf, so hatte ein früherer österreichischer Spitzendiplomat, Hans Reichmann, in einem Referat in Rom vor einiger Zeit seine Ansicht zu begründen versucht, dass es bei deren Übernahme seine Kräfte wesentlich überschätzt habe. Dieses Urteil müsste letzten Endes auch für das Heer gelten, das jene Großmachtstellung erkämpft hatte.
Das dynastische Staatswesen Kaisertum Österreich – im Aufbau einer eigenen Staatsidentität begriffen, war noch im Frühjahr 1814 ein Bündnis zur Erhaltung des europäischen Gleichgewichts eingegangen: Mit England wurden im Vertrag von Chaumont derartige Vereinbarungen getroffen, die noch vor der allgemeinen Neuordnung der Verhältnisse am Wiener Kongress Österreich als den kontinentalen Partner Englands installierte, als konsolidierte südosteuropäische Großmacht, als Vormacht in Italien, als größtes Mitglied des neu geschaffenen Deutschen Bundes. Dieses Bündnis sollte zur Macht Frankreichs als auch Russlands und seines Schützlings Preußen als Gegengewicht dienen. In diese Vereinbarung wurden Russland wie auch Preußen aufgenommen: das bourbonische Frankreich wurde im Zuge der nach dem Wiener Kongress einsetzenden Kongressdiplomatie zu dieser Vereinigung zugelassen, die Vereinigung so zur Quintupel-Allianz ausgebaut. Zur Erhaltung von Ruhe und Ordnung, zur gegenseitigen Hilfe bei der Auslöschung von Revolten und Revolutionen hatte der Zar im Frühjahr 1815 in Wien ein Bündnis der drei östlichen Großmächte vorgeschlagen, eine antirevolutionäre Liga, die er „Heilige Allianz” nannte. Als dritte Großmacht inmitten Europas musste Österreich nun versuchen, das Gleichgewichtsprinzip und das Ligaprinzip miteinander zu verschmelzen.
Die Abmachungen der „Heiligen Allianz”, praktisch ein Drei-Herrscher-Bündnis, wurden, als der Gegensatz in der orientalischen Frage abgeklungen war, erst 1833 in der Konferenz von Münchengrätz (Mnichovo Hradištë) in der Form von gegenseitigen bindenden Hilfsversprechen konkretisiert. 1840 lebte dann die 1814 geschlossene Quadrupelallianz in den Londoner Verträgen nochmals auf. Mit Preußen ergab sich eine durch ständige Rivalität gekennzeichnete, durch militärische Vereinbarungen festgelegte Zusammenarbeit in Form einer dualistischen Hegemonie im Deutschen Bund. Mit den italienischen Staaten bestanden Familienbande der Herrscherfamilien, sowie Hilfsversprechen Österreichs, basierend auf Schlagkraft der Truppen in Lombardo Venetien. die Vorstellungen Metternichs von einer Liga Italica nahmen ebenso wenig Gestalt nach 1815 und nach 1848 an wie durchaus erwogene konservative Föderalisierungspläne im Kaisertum Österreich, was insbesondere Ungarn betraf.
Und so intervenierte die Armee 1815 bis 1850 in Italien, in Polen, an der Schweizer Grenze und schließlich in Süd- und Norddeutschland. Sie führte Militärexpeditionen weit nach Bosnien hinein durch. Sie schlug die Revolutionen 1848 in Prag und Wien nieder, akzeptierte aber 1849 russische Hilfe bei der Überwältigung der ungarischen Armee. 1828/29 blieb sie jedoch passiv, als Russland im Krieg gegen das Osmanenreich Pruth und Donau überschritt und sie sollte 1830 bei einer eventuell vorgesehenen russisch-preußischen Intervention zumindest zunächst nicht mitwirken.
Die österreichische Außenpolitik konnte in den Jahren nach 1840 und nach 1848 das französische Streben zur Revision der Pariser Friedensverträge nicht hindern und wirkte an der Zerstörung der Heiligen Allianz durch den Einsatz der Armee in den Donaufürstentümern 1854/55 und den Aufmarsch in Galizien 1855 mit. Die politischen Erfolge der Einigung Italiens und Deutschlands waren erst nach militärischen Niederlagen der k. k. Armee möglich.
Es ist in den folgenden paar Minuten nur skizzenhaft möglich, auf das Innenleben dieser Armee einzugehen. Ich möchte auf das im Vorjahr erschienene Buch von Bertrand Buchmannn hinweisen sowie auf die verschiedenen Werke des Amerikaners Gunther Rothenberg und des Briten Alan Sked. Die Essays, Aufsätze und Editionen zur österreichischen Militärgeschichte von Johann Christoph Allmayer-Beck und Manfried Rauchensteiner sind ebenso heranzuziehen wie die Sammelwerke über Krieg und Gesellschaft im östlichen Mitteleuropa, herausgegeben von Béla Király.
Was es noch nicht gibt und wahrscheinlich infolge der ungünstigen Quellenanlage nie geben wird ist eine Erweiterung der bedeutenden Monographie István Deáks über das k. u. k. Offizierskorps, und zwar nach vorne chronologisch gesehen etwa bis zum Zeitraum ab 1780.
Bei einer Bevölkerungszahl des Kaisertums Österreich von etwa 33 Millionen Einwohnern hatte die k. k. Armee eine Truppenstärke von 400 000 Mann, von der aber meist nur etwa 270 000 Mann effektiv dienten, während alle anderen Soldaten aus den verschiedensten Gründen und für verschiedene Zeiten freigestellt wurden. Von diesen Mannschaften dienten zirka drei Viertel in den Linien-Infanterieregimentern, Grenadierbataillonen, National-Grenzinfanterie-Regimentern der Militärgrenze, dem Tiroler Jägerregiment, den 12 Jägerbataillonen, 6 Garnisonsbataillonen sowie in den 37 Kavallerieregimentern. Unter letzteren waren 12, also etwa ein Drittel, Husarenregimenter. Den bedeutenden Rest stellten Artillerie, Technische Truppen, Extrakorps, zum Beispiel Gendarmerie, Garden, Schulen und Versorgungsanstalten. Auf die 1814 entstandene Kriegsmarine weise ich nur hin. Die Rekrutierung erfolgte durch die 1776 bis 1781 eingeführte Konskription, die ursprünglich nicht für alle Länder galt, nämlich nicht für Ungarn, Galizien, Tirol und Lombardo-Venetien. Die Konskription war eine selektive Gestellung mit vielen Ausnahmen und oftmalige Rekrutenstellung von Amts wegen auch in allen jenen genannten Ländern, die das Privileg der freiwilligen Werbung eines Bestimmten Kontingents weiterhin hatten. 1802 wurde die lebenslängliche Dienstzeit abgeschafft und ein einheitliches Dienstreglement eingeführt. 1808 wurde das Institut der Landwehr in allen Ländern außerhalb Ungarns und Galiziens geschaffen. Im Kriegsjahr 1809 kamen die Landwehr und viele zusätzlich aufgestellte Freiwilligenverbände erfolgreich zum Einsatz, mit geringerem Erfolg auch die ungarische Insurrektion. In der Neuregelung wurden dann, da man in jeder Form ein Volksaufgebot ablehnte, beziehungsweise „nie” mehr für notwendig hielt, vier verschiedene Rekrutierungssysteme eingeführt: in den sogenannten „altkonskribierten Provinzen” (alle Länder mit Ausnahme von Ungarn, Tirol und dem lombardo-venezianischen Königreich) vierzehn Jahre „Capitulationsdauer”; in Tirol acht Jahre Dienstzeit und in Ungarn lebenslängliche Dienstzeit für jeden „Conskribierten”, das heißt freiwillig oder unfreiwillig geworbenen.
Adelige, Beamte, Geistliche und selbständige Wirtschaftsbesitzer waren vom Militärdienst befreit, die Stellvertretung war gegen Gelderlag gestattet. 1840 erst wurde durch den ungarischen Reichstag die lebenslange Dienstverpflichtung auf zehn Jahre und 1845 durch kaiserliches Patent in allen Königreichen und Ländern auf acht Jahre herabgesetzt. 1848 wurde der Adel grundsätzlich wehrpflichtig. Alles das gilt nicht für die Militärgrenze, wo der Soldat auch Kolonist und Landmann war und unbefristete Dienstzeit hatte.
Die Landwehrbataillone fristeten auf dem Papier und in einem Kader bei den Linienregimentern ihr Dasein, bis sie 1852 abgeschafft wurden. Vorkehrungen für einen Landsturm hatten sich nur in Tirol erhalten.
Gerade die Infanterieregimenter wurden aus innenpolitischen Gründen zu einem oftmaligen Garnisonswechsel veranlasst, wobei ein Marsch aus Galizien nach Italien etwa zwei bis drei Monate, ein solcher aus Transsilvanien nach Vorarlberg fast ebenso lange dauerte. Dieser Garnisonswechsel förderte sicher Land- und Leutekenntnis.
Andererseits aber wurde die Zusammenziehung der Regimenter zu Divisionen und Brigaden, das Zusammenwirken einzelner Waffengattungen, ja die Truppenkonzentration überhaupt in Manövern – aus Geldmangel und Trägheit – bis in die fünfziger Jahre kaum geübt. Für alle Soldaten galt die deutsche Kommandosprache.
Der ungarische Reichstag hatte mehrmals ein eigenes Heer – bei Anerkennung der gemeinsamen Landesverteidigung – verlangt. Über die Regelung von 1848 werden wir von berufener Seite hören. In jenem Jahr kam es unter den Soldaten italienischer Abstammung zu Massendesertionen von etwa 13 000 Mann, während von den Truppen der Militärgrenze die beiden Székler-Bataillone auf der Seite Ungarns kämpften, alle anderen bei den Kaiserlichen zum Einsatz kamen. Im Krieg 1859 wurden Desertationen eher befürchtet. Sie traten fast ebenso wenig ein wie die Formierung anti-habsburgischer Freikorps im Rücken der kämpfenden Truppe. Die Sorgen in jener Hinsicht beeinflussten aber die politischen Entscheidungen. Gegen Ende des Krieges 1866 stellte Preußen, vornehmlich aus Kriegsgefangenen, die Legion Klapka auf, aber weder sie noch in Bildung begriffene sozusagen patriotische Freischaren hinter den preußischen Linien kamen ins Feuer.
Der Kitt dieser Armee waren das Unteroffizierskorps, vor allem aber das etwa 9–10 000 Mann starke Offizierskorps. Die Aufnahme in dieses Korps, das erst unter Maria Theresia hoffähig geworden war, erfolgte in erster Linie aufgrund der Ernennung durch den Regimentsinhaber, der bis 1868 das Regiment in mancherlei Hinsicht als eine ihm zur lebenslänglichen Nutzung zustehende Domäne betrachtete. Sie erfolgte weiters durch Eintritt als Kadett auf eigene Kosten. Auch der von Erzherzog Carl 1805 verbotene Kauf von Offiziersstellen bestand unter der Hand weiter. Ebenfalls erst Erzherzog Carl legte fest, dass ein gewisser Prozentsatz der offenen Stellen vom Hofkriegsrat mit den aus der Militärakademie ausgemusterten Zöglingen zu besetzen sei. Bei den technischen Truppen und der Artillerie herrschten diesbezüglich andere Verhältnisse und, von der Technischen Militärakademie sowie anderen Spezialschulen ausgehend, ein weitaus höherer Bildungsstand: wenn sich die Offiziere der Hauptwaffengattungen dem Selbststudium – und nicht dem Pferdesport, dem Gesellschaftsleben und dem Glücksspiel in ihrer Freizeit hingaben.
Die Beförderungsverhältnisse waren ebenso denkbar schlecht wie die Bezahlung – durchaus im Unterschied zur einigermaßen ausreichenden Besoldung der Soldaten. Es gab unter den Offizieren keine Bevorzugung aus Gründen der Religion, der Nationalität oder des Standes, von der Aristokratie hie und da abgesehen.
Was die Herkunft der Offiziere innerhalb der Monarchie betrifft. So standen die Deutschösterreicher und Deutschböhmen an der Spitze, gefolgt von Ungarn, Tschechen, Südslawen und Italienern. Doch gab es einen nicht unbeträchtlichen Anteil an Offizieren ausländischer Herkunft. Nämlich solchen aus den deutschen Bundesstaaten, den italienischen Staaten, den Schweizer Kantonen, dann Franzosen, Wallonen, Engländer, Iren und Schotten. Sie alle erhielten gemäß dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 die Staatsbürgerschaft bei Diensteintritt. Das Offizierskorps war und blieb unpolitisch, wenn man die absolute Treue und Hingabe zum Herrscher nicht als eine solche bezeichnen will.
Immer schlechter stand es ohne Zweifel mit der Kriegserfahrenheit und dann der Felddiensttauglichkeit von Offizieren und Mannschaften. Denn die rigorosen Sparmaßnahmen, die das Militärbudget von mehr als einem Drittel der Staatsausgaben im Jahre 1819 auf weniger als ein Vierteil 1847 sinken ließen, erlaubten – ausgenommen die Armee in Oberitalien – nur weniger Manöver oder auch nur Übungen im scharfen Schuss. Diese Misere wurde erst in den fünfziger Jahren einigermaßen abgestellt.
Die Verwaltung, weniger die Führung der Truppenkörper, wurde von 12 Generalkommanden und darüber vom Hofkriegsrat in Wien vorgenommen. Erzherzog Carl hatte vorgesehen, dass Exponenten eines speziell zu schulenden Generalquartiermeisterstabskorps in operativen und militärpolitischen Belangen einen designierten Armeeoberkommandanten beraten sollten. Doch einen solchen wollten Staatskanzler Fürst Metternich und seine Nachfolger keinesfalls um sich dulden – aus einem latenten Misstrauen heraus, dieser könnte in die Außen- oder gar in die Innenpolitik eingreifen. Der kaiserliche Generaladjutant, seit General Graf Clam-Martinitz zugleich Chef der Militärsektion des Staatsrates, war der nächste Berater von Kaiser und Außenminister. Nach 1848 waren es in gleicher Funktion die Chefs der kaiserlichen Militärkanzlei. Gewiss, 1848 nahmen drei herausragende kommandierende Generäle das Heft weitergehend in die Hand, die von Prag, Verona und Agram, um den Staat mit militärischen Mitteln zu konsolidieren. Aber in der Krise von 1859, als der erste Feldzug gegen eine Großmacht vor der Tür stand, hatte man dem vorgesehenen Oberkommandierenden genauso wenig Gelegenheit zum Einspruch oder zur Einarbeitung eines ihm zusagenden Stabes gegeben, wie dies dann 1855 bei der Nordarmee gegen Preußen der Fall sein würde. Der Generalquartiermeisterstab wurde in Friedenszeiten mehr für die Landesaufnahme und für militärgeographische Beschreibungen eingesetzt als zur Erstellung von operativen Konzepten oder Lagebeurteilungen.
Auf einem ganz anderen Gebiet waren der Hofkriegsrat beziehungsweise die Generalgeniedirektion durchaus aktiv, nämlich bei der Planung und beim Bau von Sperren im Gebirge, dem Festungsviereck in Oberitalien, den Küstenbefestigungen in Istrien, und beim Ausbau von Brückenköpfen an der Donau. Wie die Einführung des Perkussionsgewehres und des Raketengeschützes zeigte, waren die zuständigen Dienststellen waffentechnischen Neuerungen nicht so abgeneigt, wie man gemeinhin wegen des Zögerns bei der Einführung des Hinterladers annimmt.
Ab 1841 wurde die Bedeutung der Eisenbahn für militärische Transporte erkannt und beachtete, und dieses Mittel wurde 1850 beim Aufmarsch erstmals auch in größerem Maße herangezogen. Es erlangte 1866 dann bereits ausschlaggebende Bedeutung beim Vormarsch, beim Rückzug und beim Aufbau einer Donauverteidigung.
Gestatten Sie noch – nach der Feststellung jenes problematischen Mankos an Führungsgehilfen für einen Kriegsfall, eines Misstrauens, das der schottische Forscher Gordon Craig geradezu als den Ausfluss eines „Wallensteinkomplexes” der Dynastie hinstellt–, einige Hinweise auf die trotzdem vorhandene Gedankenarbeit innerhalb der Armee, auf diese zielen auf deren wohl bedeutendsten Exponenten in jenem Zeitraum, auf Generalissimus Erzherzog Carl Feldmarschall Graf Radetzky und Feldzeugmeister Freiherrn von Heß. Erzherzog Carl. stellte nach dem Ende des Kampfes gegen den Franzosenkaiser seine Kriegserfahrungen und Schlussfolgerungen in verschiedenen Werken heraus, in welchen er die Bedeutung rechtzeitiger Festlegung von Operationslinien, schneller Konzentration aller verfügbaren Truppen und den unbedingt zu erlangenden Zeitvorteil bei Operationsbeginn betonte. Ihm folgten Radetzky und Heß in manchen Teilen ihrer Schriften und Instruktionen. Während Heß als kühler Analytiker das österreichische Kaisertum, wie eine seiner wichtigsten Arbeiten lautete, gemäß „seiner Angriffs- und Vertheidigungskraft nach der Gestaltung des Terrains” beschrieb, hatte Radetzky die Möglichkeit sowohl als Feldherr wie vorher und nachher auch als pragmatisch denkender Verfasser von Memoranden beziehungsweise als Autor von Vorschriften für den Dienst im Felde zu wirken. Als er sich in Ödenburg/Sopron und in Olmütz/Olomouc über die Verteidigung und die Erhaltung der Großmachtstellung Österreichs äußerte, sah er den Staat vor allem von Russland bedroht. Er plädierte für die Erteilung einer Konstitution und noch 1828 für die Wiedererrichtung einer Landwehr, deren Angehörige als Besatzungen von Festungen zu verwenden wären, um eine angemessene Streitmacht an Linientruppen dahinter rechtzeitig konzentrieren zu können. Nach 1830 jedoch machte er sich über eine Intervention gegen die Revolution in Frankreich Gedanken, er erhielt die Gelegenheit, die Österreichische Armee in Oberitalien nach seinen Vorstellungen zu schulen und intensiv üben zu lassen sowie die Grundsätze für den Dienst im Felde niederzuschreiben; diese sollten 1845 für die ganze Armee zur verbindlichen Instruktion werden.
Tatsächlich sprang dann der revolutionäre Funke aus Frankreich im Frühjahr 1848 auf Österreich und Ungarn über, und Radetzky erhielt mit General Heß als seinem erbetenen Stabschef Gelegenheit, seine Grundsätze in zwei Feldzügen einer Bewährung zu unterziehen. Auch nach dieser Existenzkrise des Kaiserstaates setzte sich Radetzky in den fünfziger Jahren zugunsten der Kontrolle des Donautales vom wirtschaftlichen und militärischen Blickwinkel aus ein, wie dies in ähnlichen Gedankengängen auch István Széchenyi und Frantisek Palacký getan hatten. Er wies auf die Bedeutung der Gewinnung des Hinterlandes von Dalmatien hin. Dazu empfahl er noch an der Schwelle des Krimkrieges ein unbedingt anzustrebendes Einvernehmen mit Russland, auch um jeder Form des Panslawismus die Grundlage zu nehmen. Demgegenüber dem Erhalt der Stellung Österreichs in Italien wurde er zunehmend skeptisch, während er die Eskalierung der Rivalität gegenüber Preußen zum Krieg weder wünschte noch als bevorstehend annahm. Er sah sich an der Spitze einer Armee stehen, die einem patriarchalischen Kaisertum wie einer europäischen Ordnungsmacht diente.
Man kann gerade im Hinblick auf sein Zeitalter, das sich fast über siebzig Jahre erstreckte, die Worte Albert Sorels, des französischen Historikers der Revolution, wiederholen: „On a dit, que l’Autriche était toujours en retard, d’une idée et d’une armée, mais elle avait toujours une idée et toujours une armée: c’etait encore une de ses traditions est, c’est celle-là même qui lui a permis de soutenir les autres.” (d. h.: Man hat gesagt, dass Österreich immer im Rückstand mit einer Idee und mit einer Armee sei, aber es hatte immer eine Idee und immer eine Armee: auch das war eine seiner Traditionen und eben diese ist es, die es ihr gestattete, andere Traditionen zu erhalten.)