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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 3:113–126.

ZOLTÁN TIBOR PÁLLINGER

Sicherheitspolitische Problemfelder aus der Sicht Ungarns

 

1. Einleitung

In den letzten Jahren hat sich die politische Landkarte Europas grundlegend verändert. Die „Revolution von 1989”1 zerstörte den kommunistischen Block und ließ die Hoffnung auf das Zusammenwachsen des Kontinents zu einer „Wertegemeinschaft” aufkommen. Beredtes Zeugnis dafür ist die „Charta von Paris für ein neues Europa”, in welcher die gemeinsamen Werte bekräftigt werden. Nach Francis Fukuyama war selbst das Ende der Geschichte gekommen: Der Kapitalismus habe den Kommunismus besiegt, der Streit der großen Theorien sei vorbei, und wir könnten uns fortan der Optimierung unseres Wohlstandes widmen.2

Neben dem Licht gab es natürlich auch Schatten. Die desolate Wirtschaftslage im ehemaligen Osten ließ das Gespenst einer neuen Teilung des Kontinents – nach reich und arm – aufleben. Außerdem war die Emanzipation der ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion sehr oft mit nationalistischen Untertönen verbunden. Der Umbau der totalitären Staaten in demokratische und die Transformation der Plan- zu Marktwirtschaften verursacht soziale Konflikte und Spannungen, die sich destabilisierend auf die gesamte Region – und auch auf Westeuropa – auswirken. Die Berechenbarkeit des Kalten Krieges ist der Ungewissheit des Postkommunismus gewichen. Neben den Chancen, den dieser Umbruch mit sich führt, gilt es auch die Risiken zu beachten.

Ich möchte in dieser Arbeit die Sicherheitspolitik der Republik Ungarn untersuchen, eines Landes, das unmittelbar von diesen Prozessen betroffen ist. Dabei stütze ich mich auf eine weit gefasste Definition von Sicherheitspolitik, denn der klassische – nur machtpolitische – Begriff vernachlässigt viele Risiko-potentiale, mit denen heutzutage ein Staat zu Rande kommen muss. Dieser Politikbereich existiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist integrierender Bestandteil der gesamten Politik. Aber die Inhalte von Sicherheitspolitik sind nicht jederzeit die gleichen; sie hängen von den Bedrohungen ab, mit denen ein Gemeinwesen zu einem bestimmten Zeitpunkt konfrontiert wird, wobei die interne Formation eines Staates sehr wichtig ist für die Perzeption von Bedrohungen. Das bedeutet aber, dass die sicherheitspolitische Diskussion nur zum Teil „objektiv” ist.3

Nach Darstellung einiger wichtigerer Elemente soll Sicherheitspolitik, wie folgt, definiert werden:

– Sicherheitspolitik ist jener Politikbereich, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Abwendung von solchen Bedrohungen beschäftigt, welche einen Staat gefährden, d.h. die Souveränität, die innere Ordnung oder die ökologischen und ökonomischen Existenzgrundlagen desselben beeinträchtigen oder bedrohen könnten.

Im nachfolgenden werde ich die wichtigsten internen und externen Faktoren schildern, die für die Sicherheitspolitik Ungarns von Belang sind. Danach werde ich zwei mögliche Entwicklungsszenarien schildern und einige Handlungsalternativen für die ungarische Politik aufzeigen. Zum Schluss werde ich die Politik der gegenwärtigen Regierung im Hinblick auf diese Handlungsalternativen untersuchen und einer Kritik unterziehen.

Die Hauptthesen dieser Arbeit lauten:

– Die ungarische Regierung versucht sich außenpolitisch zu binden, um die innenpolitischen Reformen abzusichern.

– Die ungarische Regierung verfolgt eine Politik, die so viel Integration wie möglich und so viel Neutralität wie nötig umfasst.

– Die ungarische Regierung vernachlässigt die militärische Komponente der Sicherheitspolitik in einem zu hohen Masse.

 

2. Ausgangslage

Dieses Kapitel versucht, die Problemfelder der ungarischen Sicherheitspolitik nach internen und externen Faktoren zu ordnen.4 Diese Unterscheidung ist nicht unproblematisch und z.T. gar nicht durchführbar, dennoch erscheint sie mir als Analyseinstrument für eine erste Annäherung geeignet.

Interne Faktoren

Die Systemtransformation im Inneren erfordert die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Einrichtungen und soziale Stabilität. Dies bedingt, dass ein breiter Konsens bezüglich der beiden Problembereiche Demokratisierung und marktwirtschaftlicher Reform gefunden werden kann.

Unter Demokratisierung soll hier nicht nur die Errichtung eines Mehrparteiensystems verstanden werden, sondern auch die Respektierung der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit sollen unter diesen Begriff fallen. Kurz gesagt: Eine der Hauptaufgaben der Systemtransformation ist die Errichtung einer „civil society”.

In Ungarn wurde die autoritäre Herrschaft der MSZMP5 schon während der 80er Jahre ausgehöhlt. Es entstand eine freie Untergrundpresse, westliche Radio- und Fernsehsender wurden nicht mehr gestört. Seit 1987 war sogar der Straßenverkauf von westlichen Zeitungen erlaubt. Zu dieser Zeit begann sich auch die Opposition zu organisieren. Es entstanden zwei Hauptströmungen, aus denen die beiden größten Parteien nach 1989 hervorgegangen sind: MDF6 und SzDSz.7 1989 wurden am Nationalen Runden Tisch die Modalitäten der Demokratisierung und ihre rechtliche Ausgestaltung zwischen Regierung und Opposition ausgehandelt. Damit hat die MSzMP ihre Ablösung auf demokratischem Weg ermöglicht. Als Ergebnis dieser Verhandlungen wurde die ungarische Verfassung, wie folgt, geändert:

– Umbenennung des Staates in Republik Ungarn

– Streichung der Institutionen des Einparteiensystems

– Einführung des Mehrparteiensystems

– Ausbau des Menschenrechtskataloges in der Verfassung

– Schaffung neuer Institutionen (Staatspräsident, Verfassungsgericht, etc.)

 pluralistisches Wahlgesetz

– Änderung der Wirtschaftsverfassung (Zulassung von Privateigentum an

 Produktionsmitteln).

Diese Version der ungarischen Verfassung gilt im grossen und ganzen auch noch heute, d.h., die demokratischen Institutionen wurden schon vor den ersten freien Wahlen geschaffen.8 Somit zeichneten sich in Ungarn die Konturen des neuen Parteiensystem schon vor den Wahlen ab, und es entstand zudem keine Rechtsunsicherheit bezüglich des Regierungswechsels. Die beiden größten Parteien (MDF und SZDSZ) schlossen nach den Wahlen 1990 einen Pakt, um die Regierbarkeit des Landes zu ermöglichen.9 Dadurch wurden die Regierungsbildung und die Besetzung des Präsidentenamtes erleichtert.

Ebenfalls noch unter der letzten kommunistischen Regierung wurde Ungarn in den Europarat aufgenommen (1989). Der dazu erforderliche Beitritt zur EMRK ist ein zentraler Schritt für die Garantierung der Menschenrechte und fördert zudem die Irreversibilität der Demokratisierung.

Die Minderheiten, die in Ungarn keine 10% der Bevölkerung ausmachen, sind – vielleicht mit Ausnahme der Roma – gut integriert und genießen weitgehende Rechte. Die verschiedenen ungarischen Regierungen betreiben seit längerer Zeit eine liberale Minderheitenpolitik, weil dies eine erfolgsversprechende Möglichkeit darstellt, um eine ebensolche Behandlung der Ungarn in den umliegenden Staaten zu erreichen (Vorbild- und Signaleffekt).

Es lässt sich festhalten, dass die Demokratisierung zum großen Teil geglückt ist. In Ungarn bestehen rechtsstaatliche Institutionen, welche als stabil erscheinen. Probleme, welche zur Destabilisierung führen könnten, sind v.a. im wirtschaftlichen Bereich auszumachen.

Eine weitere Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung könnte nationalistischen Tendenzen Auftrieb verleihen und zu einer Abkehr von den demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen führen. Die Wirtschaftspolitik ist somit für Ungarns Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung. Vom Gelingen der Systemtransformation von der Plan- zur Marktwirtschaft hängt der – innenpolitische – Erfolg der Demokratisierung ab.

Seit 1989 ist das Bruttoinlandprodukt bis Ende 1992 um 17,5% gesunken und die Arbeitslosenquote von ungefähr 2–3% auf 11,4% gestiegen.10 Im Vergleich der postkommunistischen Staaten steht Ungarn am besten da, doch gilt es zu berücksichtigen, dass die Einführung der Marktwirtschaft die Ungleichheit der Lohneinkommensverteilung gesteigert hat. Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, wird in Ungarn auf etwa 20–30% geschätzt. Trotzdem ist die Wirtschaftspolitik der Regierung Antall als relativ erfolgreich zu bewerten. Der Verlust des COMECON-Marktes konnte durch eine Westorientierung der Exporte aufgefangen werden (70% der ungarischen Exporte gingen 1992 in den OECD-Raum).11 Auch die Privatisierung verläuft in Ungarn einigermaßen erfolgreich. Große Schwierigkeiten bestehen aber bei der Veräußerung der großen Industriebetriebe, wohingegen der Dienstleistungssektor schon fast vollständig privatisiert ist. Die ausländischen Investoren zeigen Vertrauen in die Reformen, so flossen allein im Jahre 1992 1,4 Milliarden Dollar an ausländischen Kapitalien12 nach Ungarn.

Ungarn ist seit 1982 in den Bretton-Woods-Institutionen und im GATT vertreten. Die Regierung Antall versucht, die Kontakte mit den westeuropäischen Staaten, welche schon ihre Vorgängerinnen geknüpft hatten, auszubauen. Die Mobilisierung von Hilfsgeldern und die Öffnung der Märkte stehen im Vordergrund dieser Bemühungen. So ist es Ungarn gelungen, mit der EG und der EFTA Assoziierungsabkommen zu schliessen.13

Das Hauptproblem der Regierung besteht zurzeit darin, die sozialen Härtefälle, welche der wirtschaftliche Systemwechsel mit sich bringt, abzufedern. Angesichts der Wirtschaftslage fällt dies aber sehr schwer. Die anfänglichen Hoffnungen auf eine schnelle und schmerzlose Transformation der Wirtschaft sind heute der Ernüchterung gewichen. Einige Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass 1993/94 die wirtschaftliche Talsohle durchschritten sein wird.14

Trotz der harten Wirtschaftslage lässt sich festhalten, dass Ungarn sich in der Systemtransformation auf dem „richtigen” Weg befindet. Doch eine wichtige Frage bleibt bestehen: Ob sich nämlich die Mentalität der Menschen genügend schnell an die Institutionen der Marktwirtschaft und Demokratie gewöhnen kann. 40 Jahre Kommunismus sind nicht von heute auf morgen aus dem Bewusstsein zu tilgen. Die Taxi-Blockade im Oktober 1990, bei dem die Taxifahrer die Angleichung der Treibstoffpreise an das Weltmarktniveau verhinderten, oder das „Referendum der sozial Benachteiligten”, welches 1992 die Absetzung der Regierung forderte, sollen zur Illustration dieser Problematik dienen. Demagogen könnten versucht sein, die wirtschaftliche Misere bei den nächsten Wahlen (1994) auszunutzen, um den Reformprozess zu stoppen oder – was wahrscheinlicher ist – zu bremsen.

Externe Faktoren

Ungarn gehörte seit dem Zweiten Weltkrieg zu den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Seine relative Liberalität im Inneren verdankte das Land der Revolution von 1956 und einer absoluten Linientreue zu Moskau in Fragen der Außenpolitik. Zwei parallele Entwicklungen, die sich im Verlaufe der 80er Jahre gegenseitig verstärkten, führten zu einer außenpolitischen Umorientierung. Zum Ersten verschlechterte sich die Wirtschaftslage dermaßen, dass Ungarn sich den Bretton-Woods-Institutionen mit der Bitte um Zahlungsbilanzbeihilfen anschließen musste. Ferner wurde das Land GATT-Mitglied, um die Chancen für seine Agrarexporte zu erhöhen. Die Mitgliedschaft in solchen „erzkapitalistischen” Organisationen war natürlich in der Sowjetunion nicht gern gesehen, doch fand sich keine gangbare Alternative.15 In der Folge orientierte sich die ungarische Wirtschaft immer mehr nach Westen.16 Zum Zweiten konnte die ungarische Führung die immer deutlicher zu Tage tretende Schwäche Moskaus ausnutzen, um den eigenen Spielraum zu erhöhen. So war Ungarn das erste Land des östlichen Bündnissystems, das offizielle Beziehungen mit der EG aufnahm. Im Jahre 1989 waren die Freiräume der ungarischen Außenpolitik so weit gediehen, dass die Regierung Németh ausreisewillige ostdeutsche Staatsbürger nicht daran hinderte, nach Österreich zu reisen. Dieser Schritt bedeutete praktisch den Abschied Ungarns aus dem Ostblock.

Von 1945 bis 1968 waren die ungarischen Streitkräfte der Roten Armee völlig untergeordnet. Die Integration im Warschauer Pakt diente der Legitimierung der sowjetischen Dominanz. Doch seit den 70er Jahren setzte so etwas wie eine „Nationalisierung” der ungarischen Streitkräfte ein, und die ungarische Militärführung zeigte in einigen Fällen keine Bereitschaft, an sowjetischen Aktionen teilzunehmen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Ungarn keine eigene, unabhängige Verteidigungsdoktrin besass.17

Die verschiedenen nationalen Streitkräfte im Warschauer Pakt gehorchten einer „funktionellen Differenzierung”, d.h. einzelne Länder mussten die Strukturen und die Bewaffnung ihrer Armeen an die strategische Planung und an die Bedürfnisse der Roten Armee anpassen.

Die ungarische Armee war die kleinste des ganzen Warschauer Pakts. Sie galt aus der Sicht Moskaus als unzuverlässig (1956), und wurde deshalb nie mit modernsten Waffen ausgerüstet. Ihre Mission im Warschauer Pakt beschränkte sich auf einige logistische Aufgaben an der Süd-Südwest-Flanke. Die Bewaffnung stand im Einklang mit diesen Aufgaben. So verfügt die ungarische Armee beispielsweise über keine – nennenswerte – eigene Luftabwehr.

1989 kündigte die Regierung Németh – Ungarn war noch Mitglied im Warschauer Pakt – eine unilaterale Reduzierung der Streitkräfte um 20 bis 25% an. Hauptbeweggrund war die schlechte Wirtschaftslage, das Land konnte sich seine Armee nicht mehr leisten. Die Regierung Antall führt diese Politik fort. Zwischen 1986 und 1993 wurde der Bestand der ungarischen Streitkräfte von 105’000 Mann auf 63’000 Mann verkleinert.18

Die Revolution von 1989 veränderte das Verhältnis Ungarns zum Warschauer Pakt grundlegend, wobei die immer stärkere Westorientierung des Landes den Nutzen der Mitgliedschaft in dieser Organisation in Frage stellte. Parallel zur zunehmenden sowjetischen Führungsschwäche steigerten sich die Forderungen Ungarns: Von Umwandlung des Warschauer Pakts in eine politische Organisation bis hin zu dessen Auflösung. Dieses Ziel wurde 1991 erreicht.

Die Auflösung der Bündnisstrukturen – und der damit verbundene Abzug der sowjetischen Truppen – bedeutet die vollständige Wiederherstellung der ungarischen Souveränität, aber zugleich ist Ungarn sicherheitspolitisch auf sich allein gestellt (wie die anderen postkommunistischen Staaten Mitteleuropas). Die Auflösung der starren, konfliktuellen Strukturen des Kalten Krieges hat zwar die Wahrscheinlichkeit einer Auseinandersetzung zwischen den Großmächten deutlich verringert, zugleich aber wirkt sich der Rückzug der sowjetischen Ordnungsmacht destabilisierend auf Mittel- und Osteuropa aus. Konflikte auf der Ebene der Subsysteme, die von der Supermachtkonkurrenz überlagert oder unterdrückt worden sind, können nun eher ausbrechen, wobei der Zerfall der Sowjetunion diese Tendenzen noch zusätzlich akzentuiert hat.

Die größten Sicherheitsrisiken im machtpolitischen Bereich ergeben sich für Ungarn durch ethnische Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Es leben ungefähr 3 Millionen ethnische Ungarn in diesen Ländern, die meisten in Siebenbürgen, das zu Rumänien gehört. Auch diese Staaten müssen das Erbe der kommunistischen Herrschaft bewältigen, sie befinden sich in denselben Transformationsprozessen wie Ungarn, die meisten von ihnen stehen jedoch wirtschaftlich um einiges schlechter da. Die Gefahr von Massenmigration und politische Einflussnahme nationalistischer Eiferer vermehrt die zwischenstaatlichen Spannungen in der Region. Die schlechte Behandlung der ungarischen Minderheiten belastet das Verhältnis Ungarns zu Rumänien und der Slowakei. Im ehemaligen Jugoslawien tobt ein Bürgerkrieg und Ungarn muss einige Zehntausend Flüchtlinge aus diesem Gebiet versorgen. Zunehmend bereitet Sorge auch die Vertreibung von ethnischen Ungarn aus der Vojvodina.

Die ungarische Regierung räumt den Beziehungen zu den Nachbarstaaten eine hohe Priorität ein. Sie will mit allen einen Grundlagenvertrag schließen, um gutnachbarliche Beziehungen zu fördern und den Minderheitenschutz sicherzustellen. Deshalb hat sie auch erklärt, in den internationalen Beziehungen auf jegliche Gewaltanwendung zu verzichten und Streitfälle friedlich beizulegen.19 Dementsprechend wurde die Verteidigungsdoktrin der Armee geändert: Sie kennt kein explizites Feindbild mehr, die Verteidigung soll „tous azimuts” gewährleistet werden, wobei aber nur rein defensive Einsätze gestattet sind.20

Die Demokratisierung und der Zusammenbruch des Ostblocks hinterlassen ein sicherheitspolitisches Vakuum in Ost- und Mitteleuropa. Die neuen Strukturen sind nur ansatzweise erkennbar. Die anfänglich gehegten Hoffnungen,21 dass eine umgewandelte KSZE sich zu einer funktionierenden Sicherheitsordnung entwickeln könnte, erscheinen zur Zeit als eher unrealistisch. Die KSZE ist im Jugoslawienkonflikt nicht handlungsfähig und die rasante Vergrößerung der Zahl der Mitgliedstaaten scheint nicht dazu angetan, die Effektivität dieser Organisation zu erhöhen. Die NATO ist zurzeit die einzig funktionierende Sicherheitsorganisation in Europa, deshalb bemüht sich Ungarn um eine Annäherung. Doch momentan ist die NATO nicht bereit, neue Mitglieder aufzunehmen. Sie hat zwar im Dezember 1991 den NATO-Kooperationsrat (NACC) ins Leben gerufen, um mit den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Kommunikation zu fördern. Schwerpunkte dieser Zusammenarbeit bilden: Verteidigungsplanung, Rüstungskontrolle, Demokratiekonzepte, Koordinierung von Luftverkehrsregelungen und Konversionsmassnahmen.22 Die NACC ist jedoch keine Organisation der kollektiven Sicherheit. Sie bietet den Mittel- und Osteuropäischen Staaten keinen – militärischen – Schutz.

 

– Mit dem NATO-Kooperationsrat wird dem Wunsch der mittel- und osteuropäischen Staaten Rechnung getragen, engere Beziehungen zu Westeuropa zu institutionalisieren. Zugleich wurde dem Beitrittsbegehren östlicher Staaten begegnet.23

– Ungarn muss sich damit abfinden, dass es kurz- und mittelfristig selbst für seine militärische Sicherheit sorgen muss,24 denn auch ein Betritt zur WEU ist unmöglich.

Ein weiteres Problem für die Sicherheit des Landes sind die ökologischen Altlasten aus der Zeit des Kommunismus.25 Umweltprobleme, wie Luft- und Gewässerverschmutzung sowie verseuchte Böden, zeugen vom sorglosen Umgang mit der Natur. Der Machbarkeitsglaube der Moderne, wie er sich im Kommunismus ausdrückt, hat der ganzen Region ihren Stempel aufgedrückt. So wurden die mittel- und osteuropäischen Länder nach sowjetischem Muster industrialisiert, d.h. unabhängig von den lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen wurde der Ausbau der Schwerindustrie um jeden Preis forciert. Weil diese Industrien nicht dem Druck des Marktes und der Umweltschutzgruppen ausgesetzt waren, produzierten sie mit veralteten Technologien veraltete Produkte. Wegen der Mittelknappheit wird die Sanierung dieser Betriebe und die Ersetzung der umweltschädigenden Güter (vgl. z.B. die gebräuchlichsten Autotypen in Mittel- und Osteuropa) noch geraume Zeit in Anspruch nehmen.

Speziell für Ungarn stellt sich das Problem der Verschmutzung und der Verknappung des Wassers. Das Land bezieht einen großen Teil seines Trinkwassers aus grenzüberschreitenden Gewässern wie Donau, Körös und Maros, welche stark belastet sind. Daneben bedroht das slowakische Kraftwerk von Gabčikovo die Grundwasserströme, welche für die Versorgung der ungarischen Tiefebene wichtig sind.

Die ungarische Regierung schenkt den ökologischen Problemen große Aufmerksamkeit. So wurden die Vorschriften in diesem Bereich verschärft und die Informationsarbeit verstärkt. Doch beschränkt auch hier die schlechte Wirtschaftslage die Aktionsmöglichkeiten. Die Regierung versucht deshalb ausländische Hilfsgelder und -projekte zu mobilisieren. Daneben bemüht sie sich aktiv um eine internationale Kooperation im Umweltbereich.26

 

3. Die Entwicklung des sicherheitspolitischen Umfeldes Zwei Szenarien

Es gibt viele mögliche Verläufe für die Entwicklung des sicherheitspolitischen Umfeldes der Republik Ungarn. Ich möchte zwei mögliche, einander aber widersprechende Szenarien schildern. Mehrere Forscher haben die wissenschaftliche Diskussion mit Beiträgen über verschiedenartige Szenarien der zukünftigen Sicherheitspolitik in Europa bereichert.27 Ich lehne mich hier an Mantovani an, wobei ich jedoch seine vier Szenarien zu zweien zusammenfasse.28 Das entscheidende Kriterium ist dabei, ob die mittel- und osteuropäischen Staaten ihre Sicherheit alleine oder mit Partnern gewährleisten werden. Diese zwei Szenarien sind Idealtypen, welche in der Realität selten oder nie in der reinen Form vorkommen. Sie sind dennoch notwendig um das ganze Spektrum der Entwicklungen abdecken zu können. Es darf der Hinweis nicht fehlen, dass diese Szenarien die internen Faktoren vernachlässigen oder zumindest von der Annahme ausgehen, dass die Probleme im Inneren gelöst werden.

Einzelstaatliche Sicherheitsstruktur

Dieses Szenario entspricht weitergehend dem Szenario II (Ein Europa der Vaterländer) von Mantovani. Es wurde jedoch dahingehend modifiziert, dass es stärker auf die Probleme der postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas ausgerichtet ist.

Dieses Szenario geht davon aus, dass die Organisationen kollektiver Sicherheit über kurz oder lang scheitern werden, oder zumindest die mittel- und osteuropäischen Staaten nicht aufnehmen werden.

Bei der einen Variante dieses Szenarios bleiben die Organisationen der westeuropäischen Integration und Sicherheit (NATO, WEU und EG) bestehen. Die postkommunistischen Staaten hingegen müssten alleine für ihre Sicherheit (Selbsthilfe-Prinzip) sorgen. Der Westen bildet einen stabilen Kern (Festung Europa!), an dessen Grenzen ein anarchistisches Sicherheitssystem entsteht. Ost- und Mitteleuropa würde zum „Niemandsland” zwischen Westeuropa und Russland, wobei sich auf beiden Seiten Hegemonie-Bestrebungen entwickeln könnten. Nicht auszuschließen ist aber auch die Möglichkeit, dass in Mittel- und Osteuropa ein Gleichgewichtssystem entsteht. Die Staaten sind mit einem Sicherheitsdilemma konfrontiert, was die Wahrscheinlichkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen erhöht.

Die zweite Variante unterscheidet sich insofern von der ersten, dass auch Westeuropa in ein anarchisches System zurückfällt. Die Grundaussagen bleiben die gleichen wie oben, wobei aber der ganze Kontinent destabilisiert wird.

Kollektive Sicherheitsstrukturen

Dieses Szenario geht davon aus, dass in Europa das Sicherheitsproblem in kooperativer Form gelöst wird. Ich will hier nicht darüber spekulieren, welche der konkurrierenden Organisationen NATO, WEU und KSZE – oder eine Kombination – sich durchsetzen wird. Entscheidend ist jedoch, dass in diesem Szenario die Unteilbarkeit von Sicherheit in Europa anerkannt wird. Ost- und Westeuropa werden in irgendeiner Form zusammenwachsen. Dies führt zur Herausbildung eines Systems der kollektiven Sicherheit.

Der Aufbau dieser kollektiven Sicherheitsstrukturen ist ein langwieriger Prozess, der schrittweise erfolgen wird. Zu Beginn steht Kooperation, welche die Interdependenz zwischen den Staaten erhöhen wird. Sie werden erkennen, dass die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen grösser sind als die Differenzen. Als Abschluss dieser Entwicklung wird ein System der kollektiven Sicherheit mit unbedingten Beistandsverpflichtungen für alle Parteien geschaffen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung des Krieges würde sich verschlechtern, weil ein Angriff auf einen Mitgliedstaat als Bedrohung aller teilnehmenden Staaten gewertet würde.

In diesem Szenario würde nicht das Selbsthilfe-Prinzip regieren, sondern die zwischenstaatlichen Beziehungen würden „verrechtlicht”, d.h. die friedliche Streitbeilegung würde obligatorisch. Der Unterschied zwischen Innen- und Außenpolitik würde im Umgang der europäischen Staaten untereinander immer mehr verwischt werden.

 

4. Die Optionen Ungarns

In diesem Kapitel wird untersucht, welche Optionen einem Kleinstaat offenstehen, wenn wir die beiden obigen Szenarien unterstellen. Da diese beiden Szenarien die Eckpunkte der Entwicklungsmöglichkeiten darstellen, mit denen sich Ungarn auseinandersetzen muss, werden die Optionen, die hier aufgezeigt werden, ebenfalls Extrempositionen darstellen. Im Schlusskapitel werde ich zeigen, dass sie dennoch praktische Relevanz besitzen.

Anbindungsstrategie

Eine der üblichen Strategien von Kleinstaaten ist die Anbindung an Großmächte. Sie geben einen Teil ihrer außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten auf, indem sie einen Seniorpartner unterstützen, um sich dessen Schutz oder andere Vorteile zu erwerben. Die Formen der Anbindung nehmen ein weites Spektrum ein, das von völliger Dominanz bis zu relativ loser Anbindung reicht.

Diese Strategie erfordert ein geschicktes Lavieren des Kleinstaates, denn es besteht eine dauernde Gefährdung seiner Souveränität. Er könnte satellisiert werden.

Die EG – und die sicherheitspolitischen Institutionen des Westens – erscheint als nahezu idealer Anbindungspartner für die mittel- und osteuropäischen Staaten. Ihre wirtschaftliche Prosperität bildet einen starken Anziehungspunkt für diese, mit ökonomischen Problemen kämpfenden Länder. Darüber hinaus übt die demokratische Grundverfassung der EG und ihrer Mitgliedstaaten eine Vorbildfunktion für die postkommunistischen Staaten aus. Ein Beitritt würde die Demokratisierung wohl irreversibel machen (vgl. Spanien). Nicht zuletzt haben in der EG die Kleinstaaten ein großes – überproportionales – Gewicht, was dazu beiträgt, Marginalisierungsängsten vorzubeugen.

Wohl hat die Beitrittsoption höchste Priorität bei den mitteleuropäischen Staaten, doch die internen Probleme der EG lassen – trotz „Europa-Verträgen” – wohl keine kurzfristige Realisierung dieses Begehrens erwarten.

Neutralität

Die Neutralität mag für die mitteleuropäischen Staaten eine wichtige Option gewesen sein, als sie begannen, sich von Moskau zu emanzipieren.29 Sie hätten diesen Status akzeptiert, um dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung zu tragen.

Der Status dieser Neutralität hätte wahrscheinlich eher der „Neutralisierung” entsprochen als der „Neutralität im strengen Sinne”.30 Die mittel- und osteuropäischen Länder haben keine Erfahrung mit dieser Institution. Die Sowjetunion hätte die Errichtung eines „neutralen Gürtels” in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten als Versuch gewertet, sie zu isolieren.

Obwohl die Neutralität für Mittel- und Osteuropa keinen großen Reiz entfaltet, ist sie in dieser Region faktisch eingetreten, weil den Ländern die Möglichkeit fehlt, sich Bündnissen anzuschliessen,31 und sie kein regionales Sicherheitssystem geschaffen haben. Es ist anzunehmen, dass bei einem zwischenstaatlichen Konflikt sich die nicht betroffenen Staaten als neutral erklären würden.

 

5. Würdigung der ungarischen Sicherheitspolitik

Nach der Untersuchung der Ausgangslage der ungarischen Sicherheitspolitik, der Schilderung von zwei möglichen Entwicklungsszenarien und dem Aufzeigen von Handlungsoptionen wollen wir in diesem Kapitel untersuchen, welche Strategie die ungarische Regierung tatsächlich eingeschlagen hat.

Die Regierung Antall hat 1990 ein schweres Erbe angetreten, aber zugleich steht sie für einen Neubeginn. In seiner Regierungserklärung führte der Ministerpräsident folgendes aus: „Wir wollen eine Regierung der Freiheit, [...], eine Regierung des Volkes [...], eine Regierung des wirtschaftlichen Umbaus [und] der Annäherung an Europa werden.”32

Im internen Bereich hat die Regierung die Demokratisierung und die wirtschaftliche Transformation vorangetrieben. Institutionell ist dieser Umbau weit vorangeschritten. Die Regierung ist sich der Schwierigkeit dieses Prozesses bewusst, sie hat seit ihrem Amtsantritt viele unpopuläre Maßnahmen ergreifen müssen, um das sozialistische Erbe abzubauen.33 Die Regierung Antall verfolgt eine Strategie, bei welcher sie sich außenpolitisch, d.h. völkerrechtlich, bindet, um die internen Reformen abzustützen und den Prozess irreversibel zu machen. Der Rückfall in totalitäre Strukturen könnte nur unter Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen erfolgen und würde zu der internationalen Ächtung des Landes führen. Nur schon die enge wirtschaftliche Verflechtung und die Abhängigkeit von westlichem Kapital lassen diese Möglichkeit als sehr unwahrscheinlich erscheinen. Des Weiteren kommt hinzu, dass sich die politische Landschaft in Ungarn gewandelt hat. Pluralismus und Pressefreiheit bestehen und werden von der Bevölkerung hochgeschätzt.

Die wirtschaftliche Transformation könnte nur unter hohen Kosten rückgängig gemacht werden, denn ein großer Teil des Bruttoinlandprodukts wird von Privatunternehmen erwirtschaftet. Auch die Abhängigkeit im wirtschaftlichen Bereich (siehe oben) und die völkerrechtliche Einschränkung des diskretionären Spielraumes der Regierung34 verkleinern das Risiko einer Abkehr von dem wirtschaftlichen Umbau.

Was also die internen Faktoren betrifft, agiert die Regierung Antall ziemlich erfolgreich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Transformationsprozess irreversibel. Große Erschütterungen und eine Gefährdung der Sicherheit durch interne Faktoren zeichnen sich zurzeit nicht ab. Der wahrscheinlichste Rückschlag läge „nur” in der Verlangsamung der Reformen.

Die Ungarn haben die Zugehörigkeit zum östlichen Bündnissystem immer als unnatürlich empfunden. Ihrem Selbstverständnis nach gehören sie zu (West-)Europa. Die Loslösung von der Sowjetunion und die Demokratisierung wurden als eine „Rückkehr nach Europa” verstanden. Deshalb hat sich die Regierung Antall den EG-Beitritt zum Ziel gesetzt.

In der ersten Begeisterung über die Revolution von 1989 und Ungarns Vorreiterrolle bei diesem Prozess glaubte man im Lande, dass ein baldiger EG-Betritt möglich sei. Die Regierung Antall hat von Anfang an postuliert, dass ein Alleingang für Ungarn nicht in Frage käme, deshalb hat sie auf eine Anbindungsstrategie gesetzt. Die Vermutung schleicht sich ein, dass die Strategie die Perzeption des sicherheitspolitischen Umfeldes bestimmt hat. Von ungarischer Seite wurde die Kooperationsbereitschaft des Westens überschätzt. Die Regierung räumt auch ein, dass sie mit den Assoziierungs-Abkommen mit der EG eigentlich viel weniger erreichte, als ihr vorgeschwebt hat.35 Ungarn hat so bedingungslos auf die Anbindungsstrategie gesetzt, dass es z.B. im Jugoslawien- Konflikt Vorleistungen an die NATO (Überflugrechte der AWACS) erbracht hat, ohne irgendeine Gegenleistung (Sicherheitsgarantie?) zu erhalten. Durch diese Strategie hat das Land einiges an Handlungsfreiheit eingebüsst.36

Ich will nicht behaupten, dass diese Strategie falsch sei, im wirtschaftlichen Bereich ist sie sogar sehr erfolgreich, doch möchte ich ihr Ausmaß kritisieren. Ungarn muss mit der Tatsache zu Rande kommen, dass es sicherheitspolitisch quasi „draußen vor der Tür” steht. Westeuropa ist nicht gewillt oder nicht in der Lage, dem Land den Beitritt zu den Organisationen der kollektiven Sicherheit (NATO, WEU) zu gewähren. Die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind in derselben Lage, so wäre die Bildung einer regionalen Organisation der kollektiven Sicherheit denkbar. Aber die knappen Mittel und die Antagonismen zwischen diesen Staaten sprechen gegen diese Option.

Die ungarische Regierung tut gut daran, dass sie neben dem Westen auch vermehrt mit den anderen postkommunistischen Staaten kooperieren will.37 Das Visegrád-Dreieck und die Pentagonale sind Ausdruck dieses Begehrens. Tendenziell ist die Annahme richtig, dass Kooperation Interdependenzen schafft und so die Option des Krieges verteuert und unwahrscheinlicher macht. Dennoch soll man diese Tendenz nicht überbewerten: Die Pentagonale konnte den Jugoslawienkonflikt nicht einmal verzögern, geschweige denn verhindern. Ungarn muss weiterhin darauf gefasst sein, dass in seiner nächsten Umgebung Kriege möglich sind. In Anbetracht seiner militärischen Verwundbarkeit sollte das Land alles unternehmen, um nicht in einen solchen Konflikt hereingezogen zu werden. Dieses ist ihm im Jugoslawienkonflikt bisher gelungen.

Das Verhalten der Regierung Antall impliziert, dass Ungarn eine kombinierte Strategie von Anbindung und Neutralität verfolgt. Ungarns strategische Lage wird durch eine Mittelposition gekennzeichnet. Das Land liegt zwischen West- und Osteuropa, zwischen den Sphären der Integration und der Desintegration. Diese Zerrissenheit charakterisiert auch die Sicherheitspolitik des Landes. Die Regierung versucht, so wie weit möglich an der europäischen Integration teilzunehmen, sie würde aber vermutlich bei einem bewaffneten Konflikt in ihrer Nachbarschaft neutral bleiben.

Größter Schwachpunkt der gegenwärtigen Politik Ungarns ist die Vernachlässigung der militärischen Komponente der Sicherheitspolitik. Als der Jugoslawien-Konflikt ausbrach, war das Land nicht in der Lage, seinen Luftraum zu schützen. Die Armee wurde aber seither nicht wesentlich verstärkt. Laut Völgyes und Barany ist die Aufgabe der ungarischen Streitkräfte, einen potentiellen Aggressor abzuschrecken; falls dies nicht gelingen sollte, ihn wenigstens 24 Stunden aufzuhalten, bis politische Hilfe (?) eintritt; sollte diese nicht eintreffen, dann wäre das militärische Schicksal des Landes besiegelt.38 Zur Zeit ist fraglich, ob die ungarische Armee diesen Auftrag erfüllen könnte.

Diese Arbeit hat die Sicherheitspolitik der Republik Ungarn kurz untersucht. Sie hat gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten die ungarische Regierung zu kämpfen hat und mit welchen Mitteln sie diese angeht. Trotz der vorgebrachten Kritikpunkte erscheint ihre Strategie zur Lösung dieser Probleme geeignet, doch sie müsste teilweise modifiziert werden. Erstens müsste Ungarn gegenüber dem Westen – in casu der NATO – härter auftreten, bzw. Konzessionen nur auf Basis einer Gegenleistung gewähren. Zweitens müsste die ungarische Regierung mehr Mittel für die militärische Verteidigung des Landes ausgeben. Diese Postulate sind nicht leicht zu erfüllen für ein Land, das aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln muss und zudem nur sehr beschränkt wirtschaftliche Ressourcen in die Rüstung umlenken kann, doch graduell wären diese Forderungen sicher realisierbar.

 

Anmerkungen

 

1

Der Charakter der Ereignisse von 1989 ist umstritten. Timothy Garton Ash etwa bezeichnet sie als „Refolution”, weil sie sowohl Elemente von Revolution als auch von Reform umfassen (Timothy Garton Ash: The Uses of Adversity. Random House, New York 1989.) Andere Autoren bezeichnen die Ereignisse als „Gegenrevolution” (vgl. Anatolij Butenko: „Von ‘samtenen’ und anderen Revolutionen in Osteuropa.” In: Osteuropa, Jg. 42, Nr. 12, Dezember 1992, 1068–1077). Ich folge Ralph Dahrendorf (Betrachtungen über die Revolution in Europa. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1989), der diese Ereignisse als Revolution klassifiziert, weil sie die alten Strukturen völlig veränderten und zudem sehr schnell abliefen (S. 9).

2

Francis Fukuyama: „Das Ende der Geschichte?” In: Europäische Rundschau, Jg. 17, Nr. 4, 1898, S. 3–26.

3

Ich möchte hier aber nicht die Weltbilder, die hinter den jeweiligen Positionen stehen, untersuchen, sondern als „Normalfall” einen demokratischen Rechtsstaat annehmen.

4

In der neueren Literatur wird die Unterscheidung von internen und externen Faktoren öfters kritisiert, vgl. stellvertretend für viele Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Aufbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Verlag C.H. Beck, München 1991. S. 130ff.

5

Magyar Szocialista Munkás Párt (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei): Heute Oppositionspartei mit neuem Namen (Ungarische Sozialistische Partei).

6

Magyar Demokrata Fórum (Ungarisches Demokratisches Forum): hervorgegangen aus der gemäßigten Opposition.

7

Szabad Demokraták Szövetsége (Bund Freier Demokraten): hervorgegangen aus der radikalen Opposition.

8

Die Regierung hat außerdem die Arbeitermiliz, eine kommunistische Kampforganisation, entwaffnet und so den bewaffneten Widerstand gegen die Demokratisierung verhindert.

9

Endre Marinovich (Hrsg.): Félúton – 1992. A Nemzeti Megújhodás Programjának első két éve. Miniszterelnöki Sajtóiroda, Budapest 1992, S. 12.

10

Raimund Dietz: „Transformation in Mittel- und Osteuropa.” In: Europäische Rundschau, Jg. 21, Nr. 2, 1993, S. 61–75, hier: S. 71.

11

Marinovich (1992), S. 28.

12

Dies ist mehr als im ganzen Zeitraum von 1972–1988. (Dietz (1993), S. 69)

13

vgl. z.B. Christian Meier: „Die ‘Europa-Verträge’ der EG mit der CSFR, mit Polen und Ungarn.” In: Gegenwartskunde, Jg. 41, Nr. 1, 1992, S. 17–30.

14

Dietz (1993), S. 675.

15

Eine denkbare Alternative wäre die Erhöhung der sowjetischen Subventionen an Ungarn gewesen, doch das konnte oder wollte sich Moskau nicht mehr leisten.

16

Seit 1986 war die BRD der größte Handelspartner Ungarns.

17

Ivan Volgyes und Zoltan Barany: „Hungarian Defenders of the Homeland.” In: Jeffry Simon (Hrsg.): European Security Policy after the Revolutions of 1989. The National Defense University Press, Washington D.C. 1991, S. 351–374, hier 359.

18

ibid., S. 360.

19

Marinovich (1992), S. 19.

20

Volgyes und Barany (1991), S. 363

21

Vgl. etwa den sog. „Havelplan”, den der tschechoslowakische Präsident in seiner Rede vor dem Europaparlament vortrug (zitiert in Mauro Mantovani: „Szenarien für die europäische Sicherheitsarchitektur.” Arbeitspapier präsentiert an der Arbeitstagung der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft: Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel, 3. Mai 1993, FN 4).

22

Wichard Woyke: „Die NATO vor neuen Herausforderungen.” In: Außenpolitik, Jg. 44, Nr. 2, 1993, S. 120–126, hier: S. 124.

23

ibid., S. 124

24

Die NATO hat eine – informelle – ungarische Bitte betreffend Schutz vor serbischen Vergeltungsschlägen wegen der Teilnahme Ungarns an den verschärften Sanktionen gegen Rest-Jugoslawien am 14. Mai 1993 abgelehnt (NZZ, Nr. 111, Samstag/Sonntag, 15./16. Mai 1993, S. 3.).

25

Die ökologische Problematik ist sowohl ein interner als auch ein externer Faktor, weil sich aber viele ihrer Aspekte sich grenzüberschreitend manifestieren, wird sie an dieser Stelle aufgeführt.

26

Vgl. z.B. konkrete Projekte im Rahmen der Pentagonale (Ernst Sucharipa: „Die Pentagonale. Eine neue Form der regionalen Zusammenarbeit in Mitteleuropa.” In: Europäische Rundschau, Jg. 18, Nr. 3, 1990, S. 25–34, hier: S. 29).

27

Anstatt vieler sei hier auf die Szenarien von Curt Gasteyger hingewiesen, der für Osteuropa folgende Entwicklungsmöglichkeiten sieht: Regionales Sicherheitssystem, schrittweise Assoziierung mit den westeuropäischen Institutionen oder Neutralität (Curt Gasteyger: „Osteuropas Suche nach neuer Sicherheit.” In: Europäische Rundschau, Jg. 19, Nr. 1, 1991, S. 71–81, hier: S. 75).

28

Mantovani nennt folgende Szenarien: 1. Eine paneuropäisch kollektive Sicherheitsarchitektur (» KSZE), 2. Ein Europa der Vaterländer, 3. Die Verwirklichung einer atlantischen Sicherheitsarchitektur (» NATO) und 4. Eine Europäische Union mit eigener „Sicherheitsidentität” (» WEU). (Mantovani (1993), S. 1ff.)

29

Bei der ungarischen Revolution 1956 erklärte Imre Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und proklamierte die Neutralität des Landes.

30

Gasteyger (1991), S. 80

31

Die Möglichkeit, mit der Sowjetunion Sicherheitsbündnisse zu schließen, wurde von diesen Ländern unisono verworfen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion wäre die Möglichkeit eines Bündnisses mit Russland gegeben, doch tiefsitzende Ängste vor der russischen Dominanz und die Zweifel an der russischen Handlungsfähigkeit lassen diese Alternative als hypothetisch erscheinen.

32

Marinovich (1992), S. 12f. (Hervorhebung durch den Verfasser)

33

Vgl. vollständige Liberalisierung der Preise, Abbau von Subventionen, Einführung eines Konkursgesetzes, Zulassung von Arbeitslosigkeit etc.

34

GATT, Bretton-Woods-Institutionen, Investitionsschutzabkommen, Assoziierungsabkommen etc.

35

Marinovich (1992), S. 15

36

Vgl. TA, Nr. 108, Mittwoch, 12. Mai 1993, der die Stimmung der Betroffenen in einem Artikel mit dem Titel „Die anderen entscheiden, wir zahlen. Wie Bulgarien und Ungarn mit den Sanktionen zurechtkommen.” beschreibt.

37

Gesamteuropäisch spricht man von einem „Ineinandergreifen” der Institutionen, d.h. verschiedene Organisation sind parallel für die Lösung eines Problembereiches (Sicherheitsarchitektur) zuständig. Die Effektivität dieser Organisationsform ist umstritten.

38

Volgyes und Barany (1991), S. 371

 

Der Autor war 1995 Stipendiat des Europa Institutes Budapest.