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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 3:9–16.

ANDRÁS INOTAI

Kooperation oder Konflikt?

Überlegungen zur Osterweiterung der Europäischen Union

 

1. Die zwischen der Europäischen Union (EU) und den mittel- und osteuropäischen Staaten unterschriebenen bilateralen Assoziierungsabkommen stellen eine reaktive, ex-post-Antwort Westeuropas auf den ost- und mitteleuropäischen Transformationsprozess dar. Sie bieten jedoch, wie es die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, keine umfassende Unterstützung für die erfolgreiche Modernisierung der Region. Anders formuliert: Dieser Ansatz versucht über Jahrhunderte entstandene Entwicklungsasymmetrien durch eine vorübergehende handelspolitische Asymmetrie (Zollabbau, Marktzugangsbedingungen) zu beheben. Man braucht nicht zu betonen, dass dieser Versuch erfolglos bleibt.

Ohne die ausschlaggebende Bedeutung der eigenen Anstrengungen zu vergessen, legen die internationalen Erfahrungen drei äußere Bedingungen nahe, die für den Erfolg einer Modernisierungsstrategie kleiner und offener Volkswirtschaften unumgänglich sind. Es sind die folgenden: berechenbarer und stabiler Modernisierungsanker, unbeschränkter Marktzugang für exportfähige Produkte, mittelfristiger Ressourcentransfer vom Modernisierungsanker in Richtung auf die sich modernisierenden Wirtschaften. Leider kommen die EU, bzw. die mit ihr geschlossenen Abkommen keiner dieser Bedingungen vollständig nach. Im Augenblick bietet die EU keinen festen Anker, da auch sie einen großen Wandlungsprozess durchmacht (oder, in manchen Bereichen, steht ihr eben dieser Prozess bevor). Die in Kraft getretenen Abkommen lassen keinen unbeschränkten Marktzugang zu, da eben die wahrscheinlich am wettbewerbsfähigsten landwirtschaftlichen Produkte starken Begrenzungen unterliegen. Schließlich enthält das Assoziierungsabkommen kein Finanzprotokoll, und der im Rahmen des PHARE-Programms stattfindende Ressourcentransfer bleibt weit hinter den Erfordernissen der Transformationsländer zurück.

 

2. Die kurzfristigen und kurzsichtigen „Erweiterungsstrategien” gruppieren sich um die Fragenbereiche, was, warum, und warum eben nicht jetzt gelöst werden kann. Dabei wird die beispiellose Dynamik der europäischen Veränderungen nach 1989 vor Augen verloren. Es genügt darauf zu verweisen, dass die sogenannte Luxemburger Erklärung erst vor sieben Jahren von der damaligen Europäischen Gemeinschaft und dem inzwischen aufgelösten Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe unterschrieben wurde. Dieser politischen Grundsatzerklärung folgten dann die bilateralen Handels- und Kooperationsabkommen, die nie verwirklicht wurden, weil sie von der Beschleunigung der Veränderungen kurzerhand weggefegt wurden. Über die Gewährung der Allgemeinen Zollpräferenzen und der Einführung des PHARE-Programms, sowie die Assoziierungsabkommen führte der Weg geradlinig zur Einreichung des Beitrittsantrags, zunächst durch Ungarn und Polen (April 1994), später aber auch durch Rumänien, die Slowakei und Lettland. In diesen sieben Jahren erfuhren aber nicht nur die Beziehungen der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU grundlegende Veränderungen. Auch die Haltung der EU zeigt einen ähnlich radikalen Wandel. Im Assoziierungsabkommen hat die EU noch einen jeden Zusammenhang zwischen Assoziierung und eventueller Vollmitgliedschaft strikt abgelehnt. Der Gipfel von Edinburgh, ein Jahr später, schuf die politischen, der von Kopenhagen im Sommer 1993 die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Osterweiterung.

Angesichts dieser Dynamik wäre es grundsätzlich verfehlt darauf zu schließen, dass die nach 1989 beschleunigte und mehrschichtige Dynamik der europäischen Umgestaltung eben im Jahre 1995 gebremst oder gar gestoppt wäre. Im Gegenteil, eine historische Betrachtungsweise legt nahe, dass

a) diese Dynamik weiterhin wirkt, ja sich in einigen Bereichen sogar noch weiter beschleunigt, und sowohl die EU als auch die assoziierten Staaten müssen neue Antworten auf die neuen Herausforderungen finden;

b) die erste Phase der Transformation, die man auch Stabilisierungstransformation nennen kann, wenigstens in den mitteleuropäischen Ländern abgeschlossen wurde, und die zweite, jetzt begonnene zweite Phase, die man als Modernisierungstransformation charakterisieren kann, und von der die Aufrechterhaltbarkeit und die Festigung der politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung wesentlich abhängt, mit einer Reihe von neuen Risiken und unbekannten Entwicklungen aufwartet;

c) die 1989 begonnene gesamteuropäische Umgestaltung Westeuropa erst in den kommenden Jahren voll erreichen wird. Der westliche Teil des Kontinents hat sich in den letzten Jahren an einem Status quo festgehalten, der nur in begrenztem Masse zur Kenntnis nahm, dass der Fall der Berliner Mauer grundlegende Auswirkungen auf die ganze frühere europäische Architektur hat, auch wenn sich die unmittelbarsten und dramatischsten Effekte in den letzten Jahren auf Mittel- und Osteuropa konzentriert haben.

 

3. Im Vergleich zu früheren Erweiterungen der europäischen Integration besitzt die Osterweiterung zahlreiche neue Züge, die die Interessiertheit der EU an der Erweiterung mindert, bzw. die Beitrittswilligkeit und -fähigkeit der Transformationsländer reduziert. Dazu gehören nicht zuletzt die schweren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Transformationskrise, sowie das beachtliche Entwicklungsgefälle zwischen West- und Osteuropa. Komplizierter ist jedoch die Frage des politischen Interesses. Gewiss verfügen die Visegrád-Staaten bei weitem nicht über ein Druckpotential (oder, klarer ausgedrückt, über eine „Erpressungskapazität”), dessen sich die Mittelmeerländer in einer zweipoligen Welt und einem geteilten Europa bedienen konnten. Auch die innere politische Struktur der mitteleuropäischen Staaten scheint fester zu sein als diejenige der südeuropäischen Staaten in den ersten Jahren nach der Entmachtung der faschistisch-rechtsradikalen Diktaturen, wo Verhandlungen über eine künftige Vollmitgliedschaft in der damaligen Europäischen Gemeinschaft aufgenommen wurden.

Daraus folgt jedoch noch keineswegs, dass es keinen dringenden politischen Druck hinsichtlich der Osterweiterung gäbe. Er ist aber diesmal innenpolitischer Natur, und stammt eindeutig aus den Entwicklungen innerhalb der EU. Im Wesentlichen geht es darum, dass das interne Gleichgewicht der EU nach der deutschen Wiedervereinigung und angesichts der veränderten Kräfteverhältnisse in Europa ohne Osterweiterung mittelfristig nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es ist diesmal nicht die Bedrohung von außen, sondern die Aufrechterhaltbarkeit der inneren Struktur der EU, was für die nächste Erweiterung spricht. Die „Einbindung” eines politisch wie wirtschaftlich zunehmend dynamischen Deutschland in die europäische Integration erfordert, dass sich dieses Deutschland nicht am östlichen Rande, sondern im Mittelpunkt (oder in der Nähe der Mitte) der EU befindet. Folglich ist die zügige Osterweiterung ein fundamentales deutsches, und hoffentlich auch ein rechtzeitig anerkanntes französisches Interesse.

 

4. Die inhaltlichen Fragen des EU-Beitritts der Transformationsländer lassen sich nicht aufgrund der momentanen Interessen oder Gegeninteressen der EU (oder einzelner Mitgliedstaaten) in beliebige Bereiche zerlegen. Bereits 1994 scheiterte der vornehmlich französische Versuch, die mittel- und osteuropäischen Staaten mit der politischen Mitgliedschaft zu „bescheren”, sie dagegen aber sie den Vorteilen der wirtschaftlichen Integration vorzuenthalten. Ein solcher Ansatz steht in krassem Widerspruch zu den Interessen Europas und der Transformationsregion, denn die erfolgreiche wirtschaftliche Modernisierung stellt eine unumgängliche Vorbedingung der Sicherheit und der politischen Stabilität des ganzen Kontinents dar. Ohne erfolgreiche wirtschaftliche Modernisierung kann nicht einmal das am gründlichsten formulierte Sicherheitsdokument Stabilität schaffen. Deswegen ist der Erfolg der wirtschaftlichen Umgestaltung auch ein grundlegendes sicherheitspolitisches Kriterium.

Mit einer ähnlichen Begründung ist kein Vorschlag akzeptierbar, der die mittel- und osteuropäischen Länder aus der gemeinsamen Agrarpolitik und aus den gültigen finanziellen Transfermechanismen der EU ausschließen würde. Dieser Gedanke kommt auch im mehrmals widerlegten, trotzdem immer wieder aufgegriffenen Ansatz einer neuen EFTA oder eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum zum Ausdruck. Beide versprechen den industriellen Freihandel, der bereits einen organischen Teil des Assoziierungsabkommens bildet, und eindeutig im Interesse des wirtschaftlich stärkeren Partners, nämlich der EU steht. Dagegen sagt ein solches Freihandelsabkommen kein Wort über den Handel von Agrarprodukten und bleibt auch mit der Regelung des Finanztransfers schuldig.

Es wäre jedoch die Verwirklichung einer Vorbereitungsstrategie auf die spätere Vollmitgliedschaft zu überlegen. Im Rahmen eines mehrjährigen Fahrplans könnte sie eine gegenseitige Anpassung herbeiführen, die stufenweise Beteiligung an der gemeinsamen Agrarpolitik ermöglichen und EU-Ressourcen zur erfolgreichen Modernisierung und Vorbereitung auf die Vollmitgliedschaft gewähren. Das Volumen der gewährten Begünstigungen würde den Zeitbedarf der Vorbereitung wesentlich mitbeeinflussen, aber vielleicht auch den gegenwärtigen „Drang” mancher Reformstaaten auf möglichst schnelle, auch wenn teure Vollmitgliedschaft „zügeln”. Wir gehen davon aus, dass ein entsprechender Modernisierungsbeitrag der EU den „Beitrittsdruck” mildern und den Zeitpunkt des Beitritts etwas hinausschieben könnte. Damit würde das Jahr 2000 seine fast „magische” Bedeutung verlieren. Es bliebe natürlich zu klären, inwieweit die politischen und wirtschaftlichen Interessen in diesem Falle aufeinander abgestimmt werden könnten, denn nüchterne wirtschaftliche Interessen sprächen für eine längere Vorbereitungsperiode, während die politischen Überlegungen weiterhin dem möglichst baldigen Beitritt den Vorrang gäben).

 

5. Die Stellungnahmen zugunsten oder gegen die Osterweiterung waren in der letzten Zeit allzu sehr durch die Finanzierungslast eines solchen Schrittes dominiert. Insbesondere nach der Veröffentlichung der Berechnungen von Baldwin im Frühjahr 1994 verstärkte sich die Diskussion um die wahrscheinlichen Kosten der Osterweiterung und wurde gleichzeitig überpolitisiert. Zwar hat Baldwin seine Berechnungen inzwischen zurückgezogen, doch haben seine Angaben die Denkweise der Brüsseler Bürokraten gleich infiziert und ein eigenständiges Leben begonnen. Sie können nicht mehr ausgemerzt werden, denn diese Argumente dienen dem Interesse einer recht starken politischen Gruppe in der EU, nämlich derjenigen, die eine jede Osterweiterung strikt ablehnt. Man muss hinzufügen, dass eine jede Berechnung der Kosten Gefahr läuft, dass der Autor – gewollt oder ungewollt – die „Ostpolitik” der EU beeinflusst. Ein zu hoher Kostenvoranschlag liefert Argumente gegen die Osterweiterung, während zu niedrige Zahlen für eine rasche Erweiterung plädieren.

Nach verlässlichen Kalkulationen würde die jährliche Unterstützung für die vier Visegrád-Staaten zwischen 12 und 18 Mrd. ECU betragen. Diese Summe fällt selbstverständlich viel niedriger aus, als diejenige, die diese Länder aufgrund ihres Entwicklungsgrades und ihrer Wirtschaftstruktur, sowie angesichts der gegenwärtig gültigen Kriterien der Transfermechanismen der EU genießen würden, wenn sie bereits Vollmitglieder der Integration wären. Dagegen würde die oben angeführte Summe ausreichen, um den Kapitalbedarf der Modernisierungstransformation aufzustocken und die Vorbereitungsstrategie auf Vollmitgliedschaft entsprechend zu finanzieren. Ungarn würde nach diesen Berechnungen einen Jahrestransfer von 2 bis 2.5 Mrd. ECU erhalten. Diese Summe beträgt nicht einmal die Hälfte des Betrags, den die weniger entwickelten und mit Ungarn vergleichbaren EU-Mitgliedstaaten, wie Irland, Griechenland oder Portugal aus Brüssel kassieren.

Die bescheidene Summe der notwendigen Unterstützung fällt noch mehr auf, wenn man sie mit dem deutsch-deutschen Transfer vergleicht. Der kalkulierte Beitrag für Ungarn wäre einem zehntägigen deutsch-deutschen Transfer gleich. Wenn man die heutige gute Konjunkturentwicklung der EU von 3 Prozent jährlichem Wachstum zur Grundlage der Berechnungen macht, kommt man zum Schluss, dass der Modernisierungsbeitrag für die Visegrád-Staaten einem EU-Wachstum von etwa 0.2 bis 0.3 Prozent entspricht (aufgrund eines EU Bruttosozialproduktes von 7000 Mrd. Dollar). Angesichts dieser Angaben ist es klar, dass die fehlende Unterstützung grundsätzlich auf den Mangel an politischem Willen und nicht auf den Mangel an Finanzmitteln zurückgeführt werden kann.

Das eventuelle Ausbleiben oder die folgenschwere Verzögerung der Unterstützung der Modernisierungstransformation hängt nicht nur von den Vorbereitungen und der bereits vorgenommenen Anpassung der Reformländer, sondern auch vom Verhalten der EU ab. Alle bisherige Entwicklungen weisen darauf hin, dass sich die EU immer noch nicht entschlossen hat, was eigentlich in Mitteleuropa zu unterstützen sei: ein minimales Niveau der sozialen Stabilität oder eine umfassende Modernisierung der Region. Die erste Option enthält immer wieder zurückkehrende Notstandsaktionen, die zwar kurzfristige „Ersparnisse” nicht ausschließen, längerfristig jedoch recht teuer sind. Darüber hinaus merzen solche Aktionen die bereits vorhandenen Modernisierungskeime in Mitteleuropa aus, weil sie die Umverteilung und nicht die Vermehrung der Einnahmen bezwecken. Damit wird aber auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit des ganzen Kontinents untergraben. Die zweite, auf eine umfassende Modernisierung hinauslaufende Alternative lässt zwar „gefährliche” Konkurrenten in Mitteleuropa heranwachsen. Doch kostet sie weit weniger und bietet eine unvergleichbar höhere Stabilität. Nicht zuletzt trägt sie aber auch zur Verbesserung der globalen Konkurrenzfähigkeit Europas bei. Die Entscheidung kann von der mittel- und osteuropäischen Region kaum beeinflusst werden, der Schlüssel liegt eindeutig in Brüssel.

 

6. Es ist nicht klar, wie die Integrationsreife der Reformländer gemessen wird, denn es gibt mehrere Bereiche, in denen die Visegrád-Staaten eine höhere EU-Konformität aufweisen als manche EU-Mitgliedstaaten. Man kann dem EU-Ansatz nicht zustimmen, nach dem von den beitrittswilligen Ländern ein Entwicklungsgrad (pro-Kopf-Bruttosozialprodukt) erfordert wird, der dem EU-Durchschnitt entspricht ohne zu einer solchen Entwicklung selbst beizutragen. Es wäre viel realistischer die Integrationsfähigkeit zu beurteilen, die in einem bestimmten Zeitraum zur Integrationsreife führt. Daraus folgt, dass die Anpassungsperiode – im Einklang mit der früheren Erweiterungspraxis – aus zwei Stufen besteht. Die erste erstreckt sich auf die Periode, die die Anpassungsschritte vor dem offiziellen Beitritt enthält, während die zweite die weitere Anpassung umfasst, die jedoch nach dem Beitritt, als Vollmitglied absolviert werden muss. Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen der beiderseitige Anpassungsprozess noch mehrere Jahre nach dem offiziellen Beitritt beanspruchte.

Sowohl die Mitgift als auch die Anpassungslasten der einzelnen Visegrád-Staaten unterscheiden sich. Die Probleme der Landwirtschaft, der Arbeitskräfte, der Bevölkerungszahl, der Industriestruktur oder des Umweltschutzes können hier angeführt werden. Deshalb scheint eine gemeinsame Beitrittsinitiative nicht realistisch. Trotzdem kann man zwei Beitrittskriterien mit allgemeiner Geltung formulieren: einerseits die vollständige Harmonisierung der Rechtssysteme mit denen der Union, andererseits die Verwirklichung des in den Assoziierungsabkommen vereinbarten industriellen Freihandels bis 2001. In beiden Bereichen können ernste Spannungen in den kommenden Jahren entstehen. Insbesondere die zügige Erfüllung des zweiten Erfordernisses könnte Gegenströmungen bestimmter markt- und produktionsschützender Interessengruppen auslösen. Eine solche Entwicklung kann sich aus den Spätwirkungen einer undurchdachten Liberalisierung Anfang der 90er Jahre in allen Reformländern ergeben. Aber auch akute Zahlungsbilanzungleichgewichte können zu Importbeschränkungen führen. Eine mit der EU zu harmonisierende Vorbereitungsstrategie könnte unter anderem eben diesem „Modernisierungsdefizit” vorbeugen, in dem ein Teil dieses Defizits – wie auch in den Mittelmeerländern längst üblich – mittelfristig aus EU-Ressourcen finanziert wird.

 

7. Ungarn und Polen haben ihren offiziellen Beitrittsantrag im April 1994 in Brüssel eingereicht. Rumänien, die Slowakei und Lettland sind diesem Beispiel bereits gefolgt, und auch andere Staaten werden diesem Prozess nicht fernbleiben. Damit soll allen Reformstaaten klarwerden, dass die Vorbereitung auf die Vollmitgliedschaft in der EU nicht nur schöner Worte, sondern der Verwirklichung eines knallharten und zeitlich gestaffelten Programms bedarf. Das polnische Weißbuch oder die ungarische Kommunikationsstrategie stellen die ersten verheißungsvollen Schritte dar. Alle beitrittswilligen Länder sollen die folgenden Punkte ins Auge fassen:

a) die Ausarbeitung einer klaren, mittelfristigen Integrationsstrategie, der weite Bereiche der Wirtschaft und der Politik untergeordnet sind;

b) ein investitionsgetragenes Wachstum, ohne das eine erfolgreiche Vorbereitung auf die Konkurrenz der Mitgliedstaaten nicht möglich ist;

c) die Errichtung eines Integrationsfonds, der einheimische Gelder ebenso umfasst, wie EU-Beiträge, und für eine entsprechende Kofinanzierung wichtiger Projekte sorgt;

d) die Herausbildung des fachlichen und institutionellen Hintergrundes, der die Vorbereitung auf die Vollmitgliedschaft leitet, die Beitrittsverhandlungen erfolgreich führt und die erste Phase der Vollmitgliedschaft, wo weitere wichtige Anpassungen fällig sind, kontrolliert. Da ist die Übertragung entsprechender politischer Kompetenzen auf diese Institution unumgänglich.

 

8. Ein von Brüssel formuliertes Kriterium des Beitritts kann die Verstärkung der subregionalen Wirtschaftskooperation sein. In diesem Zusammenhang muss man auf zwei Elemente hinweisen. Erstens sollten die beitrittswilligen Staaten schon jetzt die Ausgestaltung engerer Beziehungen auf allen Gebieten vor Augen halten. Andererseits muss man auch festhalten, dass die wichtigsten Antriebskräfte dieser Zusammenarbeit der Vollmitgliedschaft selbst entspringen. Ein intensiverer subregionaler Handel setzt nämlich ein rasches Wirtschaftswachstum und einen zügigen Strukturwandel voraus. Diese Faktoren kann nur die EU-Mitgliedschaft als Modernisierungsanker vermitteln.

Es soll hier betont werden, dass die EU bereits heute einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der subregionalen Beziehungen leisten kann. Besondere Beachtung verdient dabei die Finanzierung der gemeinsamen nord-südlichen Infrastruktur, die potentielle Partner miteinander verbindet und die Transaktionskosten senkt.

 

9. Zurzeit wissen wir nicht, wann es zur Osterweiterung kommt, und wie sie aussehen wird. Es ist ebenso unbekannt, wie viele Länder in der ersten Erweiterungsrunde Mitglieder der EU werden, und welche Länder – vorübergehend – noch nicht beitreten können. Diese Entscheidung hängt von außerregionalen Entwicklungen, sowohl in Westeuropa als auch in und um Russland ab. Es kann aber mit bestimmter Wahrscheinlichkeit eine Situation entstehen, in der Ungarn Mitglied der EU wird, während die meisten seiner Nachbarn nicht gleichzeitig aufgenommen werden. Ungarn muss sich auf eine solche Entwicklung mit einer klaren Nachbarschaftspolitik vorbereiten, so dass die neuen EU-Außengrenzen zum Süden, Osten und dem Nordosten keine Trennlinie bilden sondern eine neue Qualität der Zusammenarbeit ermöglichen.

Aus wenigstens zwei Gründen kann Ungarn an einer westlichen „Grenzburgstellung” nicht interessiert sein. Erstens besteht einer der wenigen ungarischen Vorteile, die auch im Laufe der Beitrittsverhandlungen betont werden sollen, in der geographischen Lage des Landes zwischen West und Ost, Nord und Süd. Die Transitrolle Ungarns und die sich daraus ergebenden handfesten politischen und wirtschaftlichen Vorteile könnten nicht wahrgenommen werden, wenn Ungarn von seinen Nachbarn aufgrund seiner EU-Mitgliedschaft getrennt wäre. Zweitens könnte eine „Festung Ungarn” seine Beziehungen zu den ungarischen Nationalitäten in den Nachbarstaaten nicht problemlos gestalten. Eine ähnliche Interessenlage zeichnet sich auch im Falle von Polen ab.

 

10. Abschließend soll unterstrichen werden, dass die Osterweiterung der EU, bzw. der EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten sowohl im Westen als auch im Osten einer bedeutenden gesellschaftlichen Unterstützung bedarf. In diesem Licht erscheint die bisher verfolgte westliche Kommunikationsstrategie wenig geeignet, ja sogar kontraproduktiv. Sie geht nämlich davon aus, dass das Wesen der Osterweiterung, wenn sie überhaupt erforderlich wäre, in der Schadensbegrenzung besteht. Unterschiedliche „Bedrohungen” aus dem Osten, seien es unmittelbare politische Probleme, eine „moderne Völkerwanderung” oder grenzüberschreitende Umweltverschmutzung, könnten nach dieser Argumentation zu einer erzwungenen Osterweiterung führen. Breite Schichten der westeuropäischen Gesellschaft seien nur im Falle einer akuten Gefahr bereit die Osterweiterung zu unterstützen und die damit verbundenen Kosten mitzufinanzieren. Dagegen vertritt der Referent die Meinung, dass nur eine positive Argumentation erfolgreich sein kann. Diese baut auf die handfesten Vorteile, mit denen eine Osterweiterung auch Westeuropa bescheren würde: stabile und langfristig dynamische Märkte, sinkende Arbeitslosigkeit infolge der höheren Wachstumsraten, die Förderung eines zügigen Strukturwandels, die größere Flexibilität der Entscheidungsstrukturen der europäischen Integration, und vor allem die stärkere globale Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber anderen Wachstumszentren der Weltwirtschaft.

Einen Pfeiler dieser positiven Kommunikationsstrategie könnte der Ansatz bilden, dessen sich Brüssel vor einem Jahrzehnt mit großem Erfolg bediente. Damals entstand der Cecchini-Bericht, der die Argumente für die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes zusammenfasste, als Antwort auf die vor allem durch die USA vermittelte „Eurosklerose”. Der Grundgedanke des Cecchini-Berichts war, was die Nicht-Verwirklichung des einheitlichen Binnenmarktes die damalige Gemeinschaft kostete (oder gekostet hätte). Dieselbe Logik ist nicht weniger aktuell im Jahre 1995, hinsichtlich der Osterweiterung. Entgegen den weit auseinandergehenden, emotional diskutierten und überpolitisierten Kostenberechnungen der Osterweiterung wäre es wünschenswert die Kosten der ausbleibenden oder verzögerten Osterweiterung für die EU, für die Reformländer und für den ganzen Kontinent zu bestimmen. Mit anderen Worten: wie hoch wären die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Kosten der Nicht-Integrierung Mittel- (und später Ost-)Europas?

 

Budapest, den 29. 11. 1995