1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:68–72.

ISTVÁN SZABÓ

Berührung

Festvortrag

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich für die ehrende Auszeichnung. Gestatten Sie mir jedoch, den durch meine Person wahren Ausgezeichneten beim Namen zu nennen: die ungarische Filmkunst, genauer gesagt jene mitteleuropäische Mentalität, welche Inspirator, geistige Basis und Nährmutter der ungarischen Filmkunst ist. Wir alle sind die Glieder einer besonders starken Kette, wobei auch ohne den räumlichen oder zeitlichen Kontakt sämtliche Glieder der Kette mit den anderen in Verbindung stehen – gebend, nehmend und erbend, wenn auch oftmals nur verborgene Energien, nicht unbedingt bewusst weitervererbend, auch dann, wenn dies abgestritten wird.

Was stellt diese Mentalität dar? Die Erfahrung des mitteleuropäischen Daseins: Varianten der Strategie des Überlebens, eine ganze Reihe – sämtliche Generationen der Geschichte betreffender – furchtbarer Herausforderungen, die Antworten des menschlichen Charakters während der verzweifelten Suche nach Möglichkeiten des Überlebens. Wenn dieser Kampf über Jahrhunderte hinweg geführt wird, seine Wenden sich von Zeit zu Zeit praktisch identisch wiederholen – dann werden die Antworten der Menschheit, die einander weiterergebenen Erfahrungen der Generationen zum Erbgut. Auf diese Weise gestaltete sich die sich ständig wandelnde Geschichte zu unserem determinierenden Grunderlebnis, ebenso die jener zu verdankende Unsicherheit, der Mangel an Sicherheitsgefühl, welcher oftmals in die Suche eines hysterisch auftauchenden Feindbildes flieht, um sich selbst Mut zu machen, um nicht den eigenen Schwächen ins Auge schauen zu müssen, und deshalb eher einer magischen Irrationalität verfallend. Unser eigen wurde aber auch auf diese Weise die Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Problemen. Die Macht, die wir zu überleben hatten, hat sich selbst immer mit seiner jeweiligen Klientur aufrechterhalten können. Und das wurde zur ewigen Quelle gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Das Schicksal des den hereinbrechenden Stürmen der Geschichte, der oftmals nur die Bekleidung wechselnden Klientur neuer und neuer Mächte ausgelieferten Volkes wurde vollkommen selbstverständlich zum Hauptthema des ungarischen Films: von den ersten Filmen eines Mihály Kertész zu Beginn des Jahrhunderts, über die Lustspielfilme des Gyula Kabos und Jancsó’s „Strolche”, Kovács’s „Kalte Tage” oder den Film „Liebe” von Károly Makk bis hin zu Fábris „Professor Hannibal” und Herskó oder später Gothár, Grünwalszky oder dem in der Regie von Sándor Simó im vergangenen Monat beendeten „Die Sonntage der Franciska” – die Filme eines ganzen Jahrhunderts handeln von diesem Ausgeliefertsein.

Einmal fragte mich jemand, warum ich keinen Film einfach nur so über die Liebe drehen würde. Ich stand verlegen da und konstatierte, dass wenn in irgendeinem Film an dem ich beteiligt war ein Liebespärchen umschlungen auf einer Bank saß, im Café oder im Kino, in jener Szene gewiss irgendwann Soldaten erschienen, höchstens jeweils anderen Nationen zugehörig oder in immer wieder anderen Uniformen. Diese zahlreichen, oftmals kaum verfolgbaren Veränderungen konnte man auf zweierlei Weise miterleben: zum einen auf tragische Weise, weshalb der Großteil mitteleuropäischer Filme die Geschichte von zumeist bedrückenden, verlorenen Angelegenheiten, von gefallenen Menschen, von Verlierern erzählt; zum anderen selbstironisch, über das erschreckte Stolpern des in seinem Ausgeliefertsein lächerlichen einfachen Menschen, in dem der Zuschauer sich selbst erkennt, seinen Schicksalsgenossen, und mit dem Gelächter schöpft er Kraft für ein paar folgende Stunden. Das mitteleuropäische Schicksal heißt: der Kampf ums Überleben inmitten stürmischer Wellen und Reflexionen – und das ist nicht allein das Schicksal Ungarns. Ähnlich gestaltet sich die Geschichte jeder polnischen, tschechischen, slowakischen, österreichischen, slowenischen oder kroatischen Familie, ebenso treffen wir dort auf Verfolgte und Verfolger, Ausgelieferte und Klienten, Täter und Opfer; und genauso wie bei uns ist in dieser Region die Herausforderung praktisch auf den Tag genau dieselbe. Nicht die Antwort sondern allein das Gewicht der Antwort wird schattiert von aus kulturellem Erbe und Mentalität hervorgehender Differenz. Es ist praktisch egal, wo eine mitteleuropäische Botschaft in einen Film umgesetzt wird – in Budapest mit Kabos in den 30er Jahren, mit Menzel in Prag in den 60er Jahren oder mit Lubitsch, Billy Wilder und Mihály Kertész in Hollywood – die Berührung, der Geist Mitteleuropas ist derselbe.

Welcher Art ist dieses Empfinden, abgesehen davon, dass es immer mehr erfasst, tiefer dringt als die Privatsphäre? Dieser mitteleuropäische Geist birgt ein Geheimnis, und das ist die andere Art und Weise der Erfahrungen, der Vermittlung von Wissen, und des Erzählens. Es handelt sich hierbei um eine spezifische, auf ursprünglichen und reinen Gefühlen aufbauende humane Sprache, die ihren Weg findet zu den Zuschauern unterschiedlichster Mentalität und Sprachkenntnis, die etwas Gemeinsames anrührt. Diese Sprache ist so etwas, wie jene irgendeines Dorfmarktes in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Wer einen Käufer finden wollte, um seine Äpfel, Tomaten oder Kartoffeln abzusetzen, der musste sich auch mit den Ungarn, Deutschen, Slowenen oder gar Bosniaken verständigen können. Und weil auf dem Dorfplatz neben katholischer und reformierter Kirche auch die Synagoge und orthodoxes Bethaus standen, musste jeder wissen, wer wann und weshalb sensibel war. Noch mehr traf dies auf die Lehrer der Dorfschulen, die Notare oder Ärzte zu. Welch ein Wissen, welch eine Offenheit, welch eine natürliche Toleranz hat ihr Leben erfolgreich gestaltet! Somit ist es kein Wunder, dass selbst die Gründer des amerikanischen Films – wenn man es so will: Hollywoods – diesen Dörfern und Kleinstädten der Monarchie entstammen. Adolf Cukor schuf Paramount, Vilmos Fuks 20th-Century Fox, doch auch eine ganze Reihe großer Regisseure des amerikanischen Films wie Kertész, Korda, Cukor, Wilder, W. Wyler, Zinnemann, Preminger, Lubitsch sind in die Schulen der Monarchie von Triest bis Krakow, von Temeschburg bis Bratislava, von Prag oder Budapest bis Wien gegangen. Und als die Welt aufgewühlt wurde und eine erneue Welle von Angst, irgendeine auftretende Hysterie eines erneuten Minderwertigkeitskomplexes sie vertrieb, haben sie nichts weiter mit sich genommen, als jenes Wissen: wie sind die Menschen anzusprechen, die anderen Geistes sind, anders denken, einer anderen Vergangenheit und anderen Wurzeln entstammen, andere Sprachen sprechen und an etwas anderes glauben. Sie haben nichts anderes getan, als ihre Geschichten so zu erzählen, wie es ihr Vater tat, der Dorfschullehrer der Monarchie in den Schulen mit ihrer nationalen Vielfalt, ihr Vater, der Dorfarzt oder Apotheker unter den Patienten der verschiedensten Muttersprachen; oder wie es ihr Großvater tat, der Kleinbauer, der seine Äpfel auf dem multinationalen Markt verkaufte. Dieser mitteleuropäische Geist, diese menschliche Berührung – oder wie die Amerikaner heute sagen: human touch – das ist das Geheimnis. Sie gingen dorthin und stellten fest, dass ihre Zuschauer sich nach den Empfindungen der Gemeinschaft und der Gleichheit sehnten, welches sie in den Gefühlen zu finden vermochten. Das Publikum erwartet Ermutigung von ihnen, und die kann ihnen mit dem moralischen Sieg des Helden geboten werden. Doch durchwoben waren ihre Geschichten immer von der Toleranz der mitteleuropäischen Kultur. Wahrscheinlich ist es das, dessen wir inzwischen verlustig gingen inmitten der zahlreichen historischen Hiebe und politischen Wandlungen, im Überlebenskampf nach Luft ringend, tief verzweifelt und enttäuscht den Triumph von Charakterlosigkeit, Egoismus und Hochmut in unserem Mitteleuropa erlebend.

Sich berufend auf die schönsten Gefühle unserer Zukunftsvision hat man hier gemordet, dann entweder an Heimatliebe und Patriotismus oder an die Solidarität gegenüber den Hinfälligen und in trostloser Lage Lebenden appellierend, mal unsere Sehnsucht nach der Gemeinschaft ausnutzend, mal sich auf die Freiheit auf ehrliche Anschaffung für unsere Familie berufend, unsere Illusionen zerstört, Millionen ermordet. Und aus diesem Grunde häuften sich in unseren Filmen die Geschichten der Verlierer, die Verbitterung der Verlierer, ihr Hass, all das, was noch weiter in den Abgrund reißt, der Geist des Untergangs, vor dem der Zuschauer flieht und sich fürchtet wie vor dem Abbild des Teufels und dann schon nichts mehr sehen will. Er möchte die leisesten Anzeichen eines Sieges sehen, die Hoffnung aufs Überleben, den Hauch von Sicherheitsgefühl spüren. Diesen Anspruch aus dem Innersten erwartet er von uns, ebenso, dass wir mit wahren menschlichen Gefühlen sein Interesse erwecken, ihn fühlen lassen, dass diese Geschichte von ihm handelt.

Solange ihm das von uns nicht geboten wird, solange wird er sich den amerikanischen Film anschauen – die Geschichten von Gewinnern. Doch ist das bereits ein anderer amerikanischer Film. Vom großen mitteleuropäischen Geist hat man allein die Sprache der einfachen Gefühle beibehalten – Kultur und Reichtum nicht. Die Simplifizierung entspricht dem Niveau des Teenager-Publikums, denn so wird es vom Weltmarkt diktiert. Der europäische Film findet nur dann Zuschauer, wenn er erneut die Menschen berührt, was ja typisch für ihn ist, wenn er sein Publikum mit offenen und ehrlichen Gefühlen anspricht, aber auch sein ursprüngliches spezifisches Gesicht zeigt, die eigenen Werte und heimatliches Flair. Weil jedes Obst den Geschmack jenes Bodens aufweist, auf dem es gedieh.

Neben der menschlichen Berührung erwartet das global werdende Zuschauerrund noch etwas anderes – und das ist der lokale Geist, die Mentalität jenes Ortes, von dem die Botschaft ausgeht. Dieser Unterschied zwischen Bouillabaisse und Fischsuppe, zwischen Minestrone und Gemüsesuppe ist eine spürbare Erfahrung hinsichtlich des Miteinanders des Reichtums lokaler Kulturen im Rahmen einer Europa-Kultur – so wie in einem Dorfe der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Für die Beibehaltung dieser Kultur sind Gelegenheiten erforderlich. Von den Herstellungskosten eines ungarischen, eines portugiesischen, dänischen oder österreichischen Filmes können innerhalb eines Landes selbst im Falle eines durchschlagenden Erfolges höchstens 20–25% eingespielt werden. Ohne gemeinschaftliche Subventionen existiert keine Kultur der kleinen Länder. Leider denken die gegenwärtigen Politiker Europas nicht auf diese Art und Weise. Pragmatische Anschauungen erleichtern den aufsteigenden Ballon um alles, was im Interesse eines raschen Aufstiegs zu schwer oder überflüssig zu sein scheint. Das Fehlen dieser Kultur aber wirkt später, wenn sich der Mangel bemerkbar macht, bereits als politische Kraft und stellt sich dem gemeinsamen Geist Europas entgegen. Immer hat irgendein Mangel die Welt vorangetrieben. Nach der Integration handelt es sich beim Schicksal der Kultur kleiner Nationen um eine Kardinalfrage.

Die Tragödie des ungarischen Films ist eine traurige Sache. Während der vorangegangenen Jahrzehnte hat man den ungarischen Film den liberalisierenden Bestrebungen entsprechend als wichtig erachtet und die Kulturpolitik bedachte ihn mit Vorrechten. Und diese Vorrechte wünschte die die Repräsentation des ungarischen Films als ihre Aufgabe betrachtende Schicht um jeden Preis in jener neuen Epoche beizubehalten, da der Film in Gesellschaft und Politik bereits seiner vorrangigen Rolle verlustig ging. Im Interesse der Beibehaltung der Flughöhe stieß man also die Expertengarde der Filmbranche aus dem Ballon, Planierraupen ebneten das Terrain eines Filmstudios für den Bau einer Tankstelle ein, das ungarische Vertriebssystem und die Filmfabrik gingen zugrunde.

Das gleiche Schicksal ereilte vor 20 Jahren das Wiener Filmstudio Rosenhügel. Jetzt, da sein Fehlen unerträglich war, hat man es zurückerworben und für Milliarden neu aufgebaut. In Prag war man klüger. Man hat in Barrandov investiert, welches sich innerhalb von zwei Jahren zu einem der modernsten Studios Europas entwickelte und seither ständig ausgebucht ist. In Babelsberg wird zur Zeit eines der modernsten Computersysteme der Welt installiert. Bei uns wird daran gearbeitet, wie der bisher vom Institut des Kultusministeriums mit den Millionen der Steuerzahler erhaltene und erneuerte, einen nationalen Wert verkörpernde Filmbestand, eine Dokumentation des Jahrhunderts, durch Privatisierung erworben und dann umgehend geschickt zu Geld gemacht werden könnte. Ja, so leben wir: auf der Basis kurzfristiger Überlebensstrategien von der Türkenherrschaft an bis in die Gegenwart. Schon möglich, dass auch dies ein Bestandteil des mitteleuropäischen Geistes ist, denn wie es Menyhért Lengyel schrieb und wir es in „Ninotschka” sahen, haben im Paris der 30er Jahre drei Parteifunktionäre den russischen Kronschmuck verkauft.

Wenn ich aber konsequent bleiben will, kann ich hier nicht den Schlussstrich ziehen. Ich muss den leisesten Funken der Möglichkeit eines Sieges aufzeigen, die Hoffnung auf das Überleben.

Der Film, der erstmals in der Geschichte der Menschheit in einem lebendigen Antlitz all das festhielt, was in diesem Jahrhundert geschah, ist unwiderruflich Kunst geworden, weil er etwas zu tun vermag, wozu keine andere Kunst fähig ist: die vor unseren Augen geborenen und sich wandelnden Gefühlsregungen und Gedanken auf dem Antlitz des lebendigen Menschen zu zeigen, im veränderlichen Licht des Anblicks. Dazu ist einzig und allein der Film in der Lage. Darüber hinaus enthüllt er Leere, Routine, Lüge, weil das Publikum in Tonfall und im nicht offenen Blick den Betrug bemerkt. Wie oft haben wir während des Fernsehens das Gefühl: der Sprecher verschweigt etwas, verdreht die Angelegenheit.

Da können neue Techniken kommen, interaktive Geschichten, zur Selbstbedienung vorbereitete Wenden in der Geschichte – menschliche Eifersucht, Neid, Liebe und Hass bleiben so, wie sie sind. Den Menschen interessiert allein, wie man in seiner Zeit damit leben kann. Mit anderen Worten, wie wir leben sollten. Darüber kann nur in einfachen und klaren Geschichten berichtet werden. Stellen Sie sich vor, dass der Zuschauer in einer interaktiven Welt zu entscheiden hat, wie die biblische Geschichte heute fortzusetzen sei: wer soll heute der Mörder sein – Kain oder Abel? Soll Abraham Isaac opfern oder aufgrund der Abstimmung der Zuschauer Isaac den Abraham?...

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:63–67.

PÉTER HANÁK

Die Gegenwärtigkeit der Geschichte

Das Mitteleuropäertum des István Szabó

Ein jeder Film István Szabós erzählt von uns, den Mitteleuropäern. Von uns – in der Mehrzahl, d.h. von verschiedensten Menschen und Gruppen und Völkern. Existiert aber überhaupt ein solcher Mensch, einer mitteleuropäischen Geistes und Charakters? Einige, vielleicht nicht einmal wenige, werden dem zustimmen: ja es gibt ihn, oder zumindest hätte man es gern, würde er existieren. Vermutlich werden umso mehr die Existenz dieser Spezies abstreiten und sie verpönen, sollte es die geben.

Worin zeigt sich dieser mitteleuropäische Geist und Charakter? Laut Definition von Milosz Czeslav ist „der auffälligste Zug der mitteleuropäischen Literatur – bzw. Mentalität – das historische Bewusstsein sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch die Gegenwart. In der Literatur des Westens ist die Zeit neutral, farb- und schwerelos”. In unserer Region aber ist sie „zäh, verkrampft, voller Überraschungen” – und Tragödien. „Vielleicht deshalb, weil die Zeit mit der die nationale Gemeinschaft bedrohenden Gefahr assoziiert wird”. „Die alltägliche Gegenwart der Geschichte ist nirgendwo auf der Welt dermaßen evident, eine derart fassbare Realität, wie in Mitteleuropa”.

Szabós Antwort auf dieselbe Frage lautet: „Die Geschichte hat sich wahrscheinlich niemals, nirgendwo anders dermaßen drastisch und unausweichbar in das alltägliche Leben des Menschen, sein Schicksal, seinen Charakter eingemischt, wie in diesem Winkel der Welt.”

Die Aufzeichnung von Milosz stammt aus dem Jahre 1986, er hat sie an der Westküste Amerikas niedergeschrieben, Szabós Notiz datiert aus dem Jahre 1987 und aus Budapest. Wenn gleichzeitig zwei herausragende schöpferische Intellektuelle an zwei weit voneinander entfernt liegenden Punkten der Welt nahezu Wort für Wort übereinstimmend die Rolle der Geschichte in Mitteleuropa auslegen, dann fällt das sicherlich mit entsprechendem Gewicht in die Waagschale einer Charakterisierung der Region. Auf jeden Fall wird unterstrichen, dass es sich in Mitteleuropa bei der Geschichte nicht um eine Erzählung, eine Parabel, eine „Story” handelt, sondern um die alltägliche Evidenz, die Gegenwärtigkeit, welche überschattet ist vom Tragikum – egal ob wir Vergangenheit oder auch Zukunft heraufbeschwören. Hinsichtlich der „Bezwingung” der Vergangenheit, bzw. wie man so schön sagt: ihrer „Aufarbeitung” kam dem Film eine bedeutende und spezifische Aufgabe zu. Aus dem Stegreif sollte an dieser Stelle nur an die unvergesslichen Filme von Fábry, Jancsó, Makk, Sára, Kósa, Bacsó und selbstverständlich Szabó erinnert werden. Bei meiner Generation erwecken sie die Stimmung einer lebendigen Gegenwärtigkeit, bei der jüngeren jene der Vertrautheit.

Worin besteht nun dieses Mitteleuropäertum? Es soll an dieser Stelle nicht auf die kulinarischen Reziprozitäten eingegangen werden, wie Wiener Schnitzel, Gulasch, Knödel, auch nicht auf die übrigens bedeutsamen Identitäten wie Kaffeehaus, Schauspielhaus, Krankenhaus, Walzer, Tschardas und Operette. István Szabó hebt an einer Stelle die Kultur, das nationale Schicksal, die gewisse Gemeinschaft der Tradition hervor. „Die Anschauung der in dieser Region lebenden Menschen, ihrer Völker ... ist durch das gemeinsame historische Erlebnis und eine ebensolche Erfahrung miteinander verknüpft” – und in der Verwandtschaftsforschung können wir noch tiefer schürfen.

Als einst Bernard Malamud in Budapest weilte, fragte man den hervorragenden amerikanischen Schriftsteller, was seiner Meinung nach der Unterschied zwischen den Budapestern und New Yorkern sei. „Wenn sich in New York in einer Gesellschaft zwei Intellektuelle miteinander bekanntmachen, dann fragt man sich gegenseitig: wie viele Jahre hast Du in der Analyse /beim Psychiater/ verbracht? In Budapest hingegen lautet die Frage: wie viele Jahre hast Du im Gefängnis verbracht? /Ich ergänze noch: im Lager, in der Aussiedlung, in der Verbannung./ Auf einem Kontinent geht es also um den von der Analyse erhofften Schicksalswandel, auf dem anderen um die vom Schicksalswandel erhoffte Freiheit. Dies ist kein geringfügiger Unterschied! István Szabó erachtet in unserem Jahrhundert die Ungewissheit, den Mangel an Sicherheitsgefühl als den charakteristischen gemeinsamen Zug. „Rückblickend ist offensichtlich, dass jeder meiner Filme dasselbe Thema hat: den Kampf des Menschen zwecks Erlangung eines Sicherheitsgefühls.” Dieser Kampf verkümmert nicht selten zum Opportunismus, geht in einen Positionskampf über und klammert sich dann, aussichtslos werdend, zumeist an die subhistorische Vegetation. Das Ziel ist derzeit schon allein das nackte Überleben.

Es scheint logisch, hier zu überlegen, inwiefern wohl der Charakter des Menschen mit jenem der Region in einem Zusammenhang stünde.

Ein charakteristischer Zug Mitteleuropas ist die Relativität des Seins. Unsere Übergangsregion war schon immer eine in Abhängigkeit von den beiden stabilen Nachbarn West und Ost bzw. deren Verhältnis zueinander, und daraus folgte dann die Unbeständigkeit unserer Grenzen, der internen Gliederung sowie der Zugehörigkeit. Die oftmals gestellte Frage, wo denn wohl die Grenzen eines Mitteleuropa zu ziehen seien, falls es tatsächlich existiere, zeugt also nicht gerade von Scharfsinn. Denn jene sind dort, wo die Ostgrenzen des Westens und die Westgrenzen des Ostens verlaufen – die ebenso veränderlich und vage sind, wie jene der Zwischenregionen. Nicht allein Grenzen und Strukturen Mitteleuropas sind relativ, sondern sein ganzes Sein ist es. Und es gibt keinen besseren Beweis dafür, als die zur Stereotypie erstarrte Definition von der historischen Rückständigkeit der Region. Es stimmt zwar, dass diese Region im Vergleich zum Westen zurückgeblieben war – vor allem, wenn man an die Gebiete östlich von Elbe und Donau denkt, doch war sie im Vergleich zum Osten doch hoch entwickelt und galt als Vermittler von Glauben, Ideen, Stilrichtungen. Diese über Jahrhunderte hinweg bestehende historische Situation hat tiefe und bleibende Reflexe sowie Seinsevidenzen in die geistige und künstlerische Mentalität eingefleischt.

Zwillingsschwester der Relativität ist die Marginalität der mittleren Region, wofür schon die geographische Lage eine Basis darstellt. Diese Region erfasst drei Klimazonen: die mediterrane, die der Alpen und jene der Karpaten. Diese wiederum stimmen praktisch mit drei Kulturbereichen überein: dem lateinischen (italienischen), jenem der Germanen bzw. der Slawen. Einst war die Region Grenzgebiet des Römischen Reiches und dann des westlichen Christentums und des Deutschen Kaiserreiches, ab der Neuzeit aber ist sie Randgebiet der westlichen (atlantischen) Zivilisation. Bis hierher, bis zur Weichsel und den Bergketten der Karpaten drangen Gotik und Renaissance, Protestantismus, Liberalismus, und Parlamentarismus vor, die Kodifizierung der Menschen- und Bürgerrechte – auch wenn Mitteleuropa nicht gerade ein Musterbeispiel für die Geltendmachung dieser Rechte war.

Wenn wir nun zu Relativität und Marginalität als Dritten im Bunde den Bruder Pluralismus hinzuziehen, entfaltet sich die außerordentliche Komplexität der Region vollkommen: sämtliche Staaten sind multinationale und ihre Völker multikonfessionelle. Ein Dutzend Nationen, noch mehr kleinere Ethniken und neun Glaubensgemeinschaften lebten zumeist nicht eben friedlich nebeneinander und miteinander vermischt, sämtliche in der Marginalität, und zwar nicht nur am Rande von Kontinenten und Regionen, sondern ebenso an jenem von Sein und Nichtsein. Relativität, Marginalität sowie vielfache Pluralität sind jene im Sein und Bewusstsein verankerten Spezifika, welche die mitteleuropäische Intelligenz jeder Neuerung gegenüber so empfänglich machten, egal ob von Sezession oder Avantgarde, Existenzialismus oder Relativitätstheorie und ihrer Rezeption oder auch Entdeckung die Rede war. Sozusagen nur als Illustration sollen an dieser Stelle kurz Namen wie Ernst Mach, Freud, Klimt, Kafka, Wyspianski oder die Ungarn Ady, Krúdy, Gulácsy, Bartók, Karinthy, Kosztolányi, Géza Csáth erwähnt werden.

Was ich hier in der Fachsprache einer mit Sozialpsychologie gekreuzten Kulturgeschichte erörterte, das drückt auch István Szabó in seinen Werken mittels der Sprache des Films aus, d.h. mit der Methode der Visualität und gefühlsmäßigen Berührung, und zwar selbst dann, wenn er keinen historischen Film dreht. Werte- und Ichverlust, Ungewissheit und Relativität, Marginalität und Überlebenszwang – dies sind die Schlüsselworte der gedanklichen und historischen Verwandtschaft. Doch über diese gedanklichen Elemente hinaus greift Szabó mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen zwei äußerst moderne, problematische Fragen der Geschichte auf. Seit Jahren beschäftigt mich das den tatsächlichen Lauf der Geschichte stark beeinflussende Verhältnis, welches zwischen Individuum und historischer Situation besteht. Bekannt ist, dass es unzählige Typen gibt, vom Revolutionär über den Reformer, hin zum Passiven oder Konservativen. Darüber hinaus ist das Individuum an sich kein invarianter charakterformender Faktor, sondern selbst komplex und veränderlich. Ebenso vielfältig sind die Situationen, von den seltenen, revolutionären über die des Reformzeitalters hin zu jenen der als stehendes Gewässer erscheinenden Restaurationsepochen. Über die Methodik hinausgehend lautet die historische Frage nun schon: inwiefern entsprechen sich historisches Individuum und gegebene Situation wohl gegenseitig? In dieser Hinsicht sind zwei extreme Varianten möglich: die perfekte Anpassung, wie z.B. im Falle der Staatsmänner des Reformzeitalters und ihrer Epoche oder auch der restaurativen Konservativen in der Zwischenkriegszeit. Auf der anderen Seite ist da die vollkommene Nichtentsprechung, die unvermeidbare Konfliktsituation, aus welcher entweder die Vernichtung des entgegengesetzten Individuums oder das Verlorengehen der Situation folgt – oder auch beides. Vielleicht würde es sich lohnen, an dieser Stelle historische Beispiele von István Széchenyi bis Pál Teleki zu erwähnen, doch ist die Erörterung fachlicher Theorien an dieser Stelle nicht meine Aufgabe.

Nun, Szabó zeigt anhand von Einzelfällen wissentlich das mit der Situation harmonisierende oder disharmonisierende Schicksal seines Helden gemäß den klassischen dramatischen Konflikten. Er sagte, dass es eine große Überfahrung sei, wie Verlauf der Geschichte, Bewegung der Gesellschaft sowie einzelne Charaktere aufeinanderstoßen würden. Auf die Herausforderungen der Gesellschaften reagiert der menschliche Charakter auf verschiedene Art und Weise. „Eine bewegte Geschichte ergibt sich immer dann, wenn eine besonders interessante Persönlichkeit und die historisch-gesellschaftliche Herausforderung aufeinanderprallen. Daraus wiederum ergeben sich Aufstieg oder Untergang, immer in Abhängigkeit vom Charakter.” In diesem Zusammenhang erwähnt Szabó als Beispiel den Helden im „Mephisto”, einen opportunistischen Charakter, der sich solange mit dem Strom treiben ließ, bis ihn der keinen Opportunismus duldende Faschismus vor ein moralisches Dilemma stellte. Ein ähnlicher Konflikt zeichnet sich im „Oberst Redl” ab. Bei ihm handelt es sich um den untertänigen Charakter, der im Verlaufe seiner Anpassung die Identität zu wechseln wünscht und schließlich zu Ichverlust und Selbstaufgabe gelangt. „Hanussen”, dieser phantastisch begabte Mensch geht daran zugrunde, dass er sich um ein Vierteljahrhundert verspätete. Nicht zur Zeit des Geniekultes der Jahrhundertwende, sondern während des Krieges bzw. danach entdeckte er seine spezifischen Fähigkeiten als Hellseher. (Groß ist die Versuchung, in unserer gegenwärtigen, nach Kompromissen verlangenden Reformepoche den Geist eines Ferenc Deák oder Kálmán Tisza heraufzubeschwören...)

Ein weiterer Problemkreis erstreckt sich ausschließlich auf die Bereiche von Humanität und Moralität. Wo liegt unsere Verantwortung, die der Führungskräfte, Politiker und Gelehrten hinsichtlich der geschichtlichen Tragödie unseres Jahrhunderts? Gibt es überhaupt einen Verantwortlichen, ist denn die Suche nach einem Schuldigen, die Übernahme der Verantwortung, die „Selbstzerfleischung” vonnöten? Das Problem ist von größter Aktualität, denn sowohl bei uns als auch bei den Nachbarn hat eine Art „subhistorischer” und „subethischer” Unschuldskomplex die Oberhand gewonnen. Wir sind unschuldig! Die Deutschen, die Russen, Hitler, Szálasi oder Stalin sowie Rákosi sind die Verantwortlichen – ja, auch die Fatalität. Szabó hält sich in dieser Hinsicht an einen Oszkár Jászi und István Bibó: „Ich erachte es als das Gefährlichste für eine Gesellschaft, wenn man nicht offen mit sich selbst umgeht, wenn man nicht dafür geradesteht, was man getan hat.” In diesem Satz ist sozusagen die oftmals zitierte, jedoch als moralischer Imperativus kaum anerkannte Zeile Attila Józsefs verborgen – es ist ein ausreichend großer Kampf, dass die Vergangenheit eingestanden werden muss. Szabó nahm und nimmt diesen Kampf auf sich. Ihn schreckt selbst jene Tatsache nicht, dass es dabei nicht um einen populären oder Wahlslogan, nicht um eine europäische Norm geht. Dabei sind nicht die in Kriegssituationen begangenen kleineren/größeren Sünden die Hauptsünden – Hauptsünde ist das Verschweigen. „Das dient nämlich der Beruhigung der Gesellschaft, da sie nicht verantwortlich sei. Denn wenn eine Gesellschaft sich nicht dieser Verantwortung bewusst ist, dann bringt sie auch nicht die Energie auf, sich selbst zu bezwingen und voranzuschreiten. Ich glaube, es ist der größte Frevel hier in Mitteleuropa – nicht nur in Ungarn, weil für Österreich dasselbe zutrifft: es ist immer wieder gelungen, die Konfrontation mit dem geistigen Zustand der Gesellschaft hinauszuschieben”.

Es gibt aber auch ein gutes, zu befolgendes ethisches Beispiel: die deutsche Autognosie nach dem zweiten Weltkrieg. Ich glaube, meinte Szabó im Jahre 1992, dass es eine der größten Taten der deutschen Gesellschaft im Verlaufe der Geschichte seit ihrem Bestehen war, dass sie von der gesamten deutschen Gesellschaft für das Dritte Reich Rechenschaft forderte. Deshalb habe man die Krankheit des Faschismus selbst besiegen können. Auch wenn im heutigen Deutschland rassistische und militaristische Ausschreitungen vorkommen, so kann doch Szabó zugestimmt werden, weil der Großteil der deutschen Gesellschaft immun ist gegenüber einer Ansteckung von Rassismus oder aggressivem Militarismus. Zu verdanken ist dies in nicht geringem Maße den Schriftkundigen, Schriftstellern und Historikern. Sie hatten einen großen Anteil daran, was uns nur teilweise oder gelegentlich in geringem Umfange gelang: an der geistig-gefühlsmäßigen Aufarbeitung, der „Bezwingung” der Geschichte. Die Deutschen bezeichnen dies als „Bewältigung der Vergangenheit”. Verständnis und Übernahme dieser äußerst schwierigen Aufgabe – das sind die engsten Familienbande, die das Ethos der europäischen und unserer nationalen Geschichtsschreibung mit dem künstlerischen Ethos von István Szabó verknüpfen.

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:61–62.

ERHARD BUSEK

Laudatio

Zunächst einmal möchte ich den Regisseur István Szabó mit der Freude eines persönlichen Bekannten beglückwünschen und ich erachte es als eine Ehre, diese Grußworte als persönlicher Freund zu übermitteln.

Zum Zweiten spreche ich meine Anerkennung als Bürger Wiens und im Namen des kunstliebhabenden Publikums von Wien aus. István Szabó hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Wiener sein Schaffen auch als das ihre empfinden. Es genügt, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass er für seine berühmtesten drei Filme – den mit dem Oscar gekrönten Mephisto, Oberst Redl und Hanussen – seinen Hauptdarsteller und schöpferischen Partner in der Person des Wiener Burgtheater-Schauspielers Klaus-Maria Brandauer fand. Doch auch ansonsten ist uns die filmische Welt Szabós von den Motiven, menschlichen Charakteren und Schauplätzen her sehr vertraut. Sollte in der Kunst, in der Sphäre von Stil, Geist und Mentalität eine virtuelle „Österreichisch–Ungarische Monarchie” existieren, dann ist sie in den Werken von Szabó ganz sicher auffindbar.

Drittens: ich begrüße den souveränen Schöpfer der globalen Filmkunst – weltweit bekannt und anerkannt. Diese jetzt 100jährige Kunstgattung (deren Geschichte übrigens von István Szabó im Rahmen einer einzigartigen, interessanten Serie des Ungarischen Fernsehen über ein Jahr hinweg in mehr als 100 Sendungen einer Rekordzahl von Zuschauern vorgestellt wurde) – nun, dieser Film hat während jener 100 Jahre zahlreiche Richtungen hervorgebracht, so u.a. abenteuerliche, kitschige, tragische, romantische, Liebes- oder Lustspielfilme. Die Filme von István Szabó können mit einer spezifischen Kategorie charakterisiert werden: der Kategorie der Verantwortung. Der Schöpfer fühlt die Verantwortung und nimmt sie auf sich und er ruft mit seinen Werken Verantwortung für den Menschen hervor. Und der Schutz allgemeiner menschlicher Werte erfolgt bei ihm immer in Gestalt räumlich und zeitlich exakt definierter Personen. Die Menschen bei Szabó leben hier in Mitteleuropa, in den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Hier und in jener Zeit hatte die Geschichte die menschliche Würde, die Sicherheit und Chancengleichheit des Menschen gefährdet oder tut es noch immer. Ein jeder Film von István Szabó ist ein Memento, eine Mahnung, dass so etwas mit den ein besseres Schicksal verdienenden Bürgern Mitteleuropas nie mehr geschehen sollte.

Einem meiner auch in ungarischer Sprache publizierten Bücher gaben wir den Titel: „Das imaginäre Mitteleuropa”. In diesem imaginären Mitteleuropa wünschen wir der Filmkunst eine solche Verantwortung sowie ein solches künstlerisches Niveau, für welches István Szabó mit seinem bisherigen Lebenswerk ein großartiges Beispiel zeigte. Meine herzlichsten Glückwünsche anlässlich der Zuerkennung des Preises aussprechend wünsche ich weiterhin viel Erfolg bei der weiteren Vollendung des Lebenswerkes.

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:60.

HERBERT BATLINER

Im Interesse des Geistes

Mit Freude komme ich meiner Aufgabe nach, als Stifter des Corvinus-Preises jenen Herrn István Szabó zu überreichen. Ich persönlich werde alles in meiner Kraft Stehende für die Funktionstüchtigkeit jener Institutionen tun, welche der Aufrechterhaltung der Kulturen kleiner Nationen Europas dienen. Mein Wunsch ist es, dass sich meinen Kindern, Enkeln und Freunden die Gelegenheit bietet, in einer vielfältigen europäischen Kultur zu leben. Für uns, die Bürger Europas, bedeutet die europäische Einheit die gegenseitige Toleranz einer nationalen, konfessionellen sowie menschlichen Vielfalt. Seit Jahrzehnten achte ich die ungarische Nationalkultur und es freut mich, mit meinen bescheidenen Kräften auch zuvor schon bei der Tätigkeit solcher Institute mitgewirkt haben zu können, die der europäischen Einpassung der ungarischen Kultur dienen und welche zur Beibehaltung von Spezifika der Kultur der ungarischen Nation beitragen. Besonders stolz bin ich darauf, dass mich der ungarische Staatspräsident noch im Jahre 1995 eben für diesen meinen Dienst an der ungarischen Kultur ausgezeichnet hat. Und vor allem liegt mir das Budapester Europa Institut am Herzen, dessen Stifter ich nicht nur war, sondern an dessen Arbeit ich mich seit 1990 auch aktiv beteilige.

Der Corvinus-Preis wird vom Stiftungsrat des Institutes einem solchen Künstler, Wissenschaftler oder einer solchen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zugesprochen, der Herausragendes im Interesse einer Gewährung der Symbiose ungarischer und europäischer Kultur leistete. 40 Jahre Sowjetsystem haben mit ihrer Politik der Isolation die Bindung der ungarischen Kultur zu Europa geschwächt. Dank der ungarischen Intelligenz und vor allem der Künstler und Wissenschaftler, konnte diese Isolationspolitik ausschließlich in Bezug auf die Institutionen erfolgreich sein. Die hier wirkenden Künstler und Gelehrten wiesen hinsichtlich Denkweise und Schaffen europäisches Niveau auf. Ein Beweis hierfür sind die zahlreichen internationalen Auszeichnungen und Anerkennungen, die Ihren Gelehrten und Künstlern im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zuteil wurden – und dies kann die Grundlage für den erhofften neuen Aufschwung zur Jahrtausendwende darstellen. Ich beglückwünsche Herrn István Szabó, den weltbekannten ungarischen Regisseur und bedanke mich bei Herrn Staatspräsident Göncz, dass er unsere Feier mit seiner Anwesenheit beehrte.

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:59.

ÁRPÁD GÖNCZ

Begrüßungsworte

Gern komme ich der Aufforderung nach, anlässlich der Übergabe des Corvinus-Preises Begrüßungsworte zu sprechen.

Ich begrüße den Ausgezeichneten, meinen Freund István Szabó, dessen Schaffen in allen Teilen der Welt Anerkennung findet und der auf dem Gebiete der Kunst einer der besten Interpreten der mitteleuropäischen Kultur ist. Er ist wahrlich dessen würdig, den vom Europa Institut erstmals zuerkannten Corvinus-Preis überreicht zu bekommen. Ich begrüße den Stifter des Preises, Herrn Dr.Dr. Batliner, dem ich einige Jahre zuvor eine der höchsten Auszeichnungen der Republik Ungarns verleihen konnte. Diese Ehrung wurde ihm zuteil, weil er sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte persönlich für die Einpassung der ungarischen Kultur in die europäische und die europaweite Bekanntmachung der ungarischen Kultur einsetzte–unter anderem damit, dass er einer der Gründer des Europa Institutes Budapest war. Ich richte meine Grußworte an das Europa Institut, dessen Gast ich mehrmals im Laufe der vergangenen sieben Jahre sein konnte und in dem ich auch einen Vortrag hielt. Dieses Institut vereint die Besten des ungarischen geistigen Lebens, bietet ihnen auf Veranstaltungen und Konferenzen sowie in seinen Publikationen ein breites Forum. Es ist ein Institut, das mit seinen bescheidenen Mitteln bedeutend dazu beigetragen hat, dass Ungarn sich nun bereits an der Schwelle der Europäischen Union befindet und den Verhandlungen zur europäischen Integration vorbereitet gegenübersteht. Als Staatspräsident der Republik Ungarn und als ungarischer Intellektueller nehme ich mit großer Freude zur Kenntnis, dass europäische Intelligenz und Unternehmergesellschaft auch den Osten Europas beachten und die kulturelle Integration unserer kleinen Nation in die Globalkultur nicht allein mit Worten sondern ebenso mit Taten unterstützen. Ich wünsche sowohl dem Ausgezeichneten als auch dem Europa Institut weiterhin eine von Erfolg gekrönte Tätigkeit.