Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:41–54.
ARNOLD SUPPAN
Die Sudetendeutschen zwischen Prag und Wien
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nahm plötzlich das Interesse der österreichischen Parteien und Medien an den Beneš-Dekreten zu. Auffallend war die Nähe zur „Gemeinsamen Erklärung” der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik vom 21. Jänner 1997, in der die deutsche Seite „das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist”, bedauerte. Parallel dazu bedauerte die tschechische Seite, „dass durch die nach dem Kriege erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung”.
Auf österreichischer Seite war freilich diesen Fragen über 50 Jahre lang nur untergeordnete Bedeutung beigemessen worden. Sie galten einfach als deutsch-tschechische Angelegenheit, obwohl Münchner Abkommen, Protektorat, Lidice, Vertreibung und Beneš-Dekrete natürlich auch die österreichisch-tschechischen Beziehungen betrafen. Spätestens seit dem berühmt-berüchtigten Profil-Interview des tschechischen Ministerpräsidenten Miloš Zeman Mitte Jänner 2002 scheint aber die Vergangenheit wieder Macht über die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Zeman bezeichnete die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers”, „um die Tschechoslowakei als einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa zu zerstören”, und behauptete, dass „viele von ihnen Landesverrat begangen” hätten, was nach damaligem Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Der frühere deutschlandpolitische Berater des Präsidenten Václav Havel, Pavel Tigrid, bezeichnete Zemans Ausfälle als „diplomatischen Lapsus von der Größe der Schneekoppe” und schrieb in der „Mlada fronta dnes”: Es sei an den Tschechen, endlich zu bekennen, dass sich die tschechoslowakische Beneš-Regierung vor rund 60 Jahren zu „einer der größten ethnischen Säuberungen der neueren europäischen Geschichte” entschieden hatte. Auf der Grundlage einer „unannehmbaren Kollektivschuld” seien drei Millionen Menschen gewaltsam in Viehwaggons aus dem Land transportiert worden. Man habe ihr Eigentum ersatzlos konfisziert und ihre Staatsbürgerschaft annulliert. In der ersten Phase des sogenannten „Abschubs” sei es seitens der Tschechen zu „Grausamkeiten, Gewalttätigkeiten und Morden nazistischen Typs” gekommen.
Österreichische und deutsche Politiker protestierten gegen die Äußerungen Zemans und verlangten die Aufhebung der Beneš-Dekrete als Voraussetzung für die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik (und der Slowakei) in der EU. Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán schloss sich in der „New York Times” dieser Forderung an: „This is a European issue and I am convinced that once Central Europeans join the union these legal leftovers from a bad historic period will wither and fall to dust, as did the systems that created them.”
Zwischen Umsturz und Anschluss
Die am 28. Oktober 1918 auf dem Prager Wenzelsplatz ausgerufene Tschechoslowakische Republik und die am 12. November 1918 im Wiener Parlament proklamierte Republik „Deutschösterreich” standen sich von Beginn an misstrauisch und ablehnend, nur zeitweise freundlich gegenüber. Der künftige tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk warnte schon am 31. Oktober 1918 seinen wichtigsten Mitstreiter in der Emigration, den späteren Außenminister Edvard Beneš: „Große Vorsicht – keine Schwäche, sondern unnachgiebig die vollkommene Selbständigkeit von den Habsburgern fordern... Unsere Deutschen werden die Ohren hängen lassen, wenn sich Deutschland ergibt; auf dem historischen Recht bestehen... Es ist gerechter, 3 Millionen unterzuordnen, als daß 10 Millionen untergeordnet werden würden.”
Am Tag zuvor, am 30. Oktober 1918, hatte die Provisorische Nationalversammlung in Wien an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson appelliert: „Wir sind überzeugt, Herr Präsident, daß Sie nach sorgfältiger Prüfung dieser Fragen den von Ihnen verkündeten Grundsätzen entsprechend es ablehnen werden, 3 Millionen Deutsche gegen ihren Willen dem tschechischen Staate zu unterwerfen und sie zu einem Verzweiflungskampfe gegen die ihnen drohende Fremdherrschaft zu zwingen. Das Zeitalter der Demokratie in Mitteleuropa kann nicht damit beginnen, daß ein Volk von 3 Millionen Menschen unterworfen wird. Der dauernde Friede in Europa kann nicht dadurch begründet werden, daß in dem neuen tschecho-slowakischen Staate eine deutsche Irredenta geschaffen wird, deren ständige Hilferufe nach Berlin und Wien dringen und den Frieden in Europa gefährden würden...”
Schon Anfang November 1918 wurde freilich klar, dass die Prager Regierung allein bei der Zucker- und Kohlebewirtschaftung am längeren Hebel saß – sowohl gegenüber den neu gebildeten Provinzen Deutschböhmen, Sudetenland, Böhmerwaldgau und Südmähren, als auch gegenüber der Wiener Regierung. Staatskanzler Karl Renner, ein gebürtiger Südmährer, wollte sich noch gegen „die Preisgabe so wichtiger Teile des deutschen Gebietes unter czechische Fremdherrschaft und die Aufopferung des Selbstbestimmungsrechtes unserer Nation” aussprechen. Und Staatssekretär Otto Bauer glaubte Prag vor einer Politik der Gehässigkeit und Feindseligkeit warnen zu müssen, denn die deutsche Nation mit ihren 70 Millionen Menschen werde immer das tschechische Gebiet von Norden, Westen und Süden umgeben (sic!). Allein der tschechoslowakische Ministerpräsident Karel Kramář bezeichnete bereits Anfang Jänner 1919 die Frage der Zukunft Deutschböhmens für ihn und für die Entente als erledigt, da Deutschböhmen „unbedingt ein Teil des historischen Königreiches Böhmen, das Sudetenland ein Teil der historischen Markgrafschaft Mähren” seien. Im Übrigen müsse sich die Wiener Regierung in die Rolle des Besiegten hineinfinden, müsse sich Wien abgewöhnen, „als Rentier von der Arbeit anderer zu leben”.
Tatsächlich akzeptierten die nun zu „Sudetendeutschen” zusammengefügten Deutschen in der Tschechoslowakei die Abstempelung der österreichisch-ungarischen Kronen durch den Prager Finanzminister, wodurch sie der bald beginnenden Hyperinflation in Österreich entgingen. Als freilich auf Initiative der sudetendeutschen Sozialdemokraten am 4. März 1919, dem Tag des Zusammentritts der neuen österreichischen Konstituante, in einer Reihe von böhmischen und mährischen Städten für das Selbstbestimmungsrecht demonstriert wurde, erschoss tschechisches Militär und Polizei in sieben Städten 54 Personen und verletzte 84. Weder Protestnoten noch Memoranden halfen. Der Oberste Rat in Paris bestätigte der tschechoslowakischen Friedensdelegation die historischen Grenzen Böhmens, Mährens, sowie der schlesischen Herzogtümer Jägerndorf (Krnov) und Troppau (Opava) – nur Teschen (Český Tĕšín, Cieszyn) wurde entlang der Olsa mit Polen geteilt –, und trennte bei Feldsberg (Valtice) und Gmünd aus eisenbahnstrategischen Gründen sogar niederösterreichisches Gebiet von Österreich ab. Immerhin wurde das Eigentum der Deutschösterreicher in der Tschechoslowakei nicht liquidiert, das ehemals österreichische Staatsgut auf dem Reparationskonto gutgeschrieben.
Die Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain vom 10. September 1919 stellten natürlich weder die nun etwa 3,3 Millionen Sudeten- und Karpatendeutschen noch die etwa 80.000 Wiener Tschechen zufrieden, auch wenn Österreich und die Tschechoslowakei wesentliche Minderheitenschutzbestimmungen zu akzeptieren hatten, die etwa öffentliche und private Minderheiten-Volksschulen vorsahen. Dennoch einigten sich Beneš und Renner im Jänner 1920 in Prag sehr rasch auf die Sprachregelung, dass die in den Verträgen von Saint-Germain übernommene administrative Verpflichtung zum Schutz der nationalen Minderheiten „eine rein innerstaatliche Angelegenheit” darstelle und eine Beschwerde eines fremden Staates nur über den Völkerbund eingebracht werden könne. Der Brünner Vertrag und das Karlsbader Additionalabkommen 1920 stellten immerhin eine wertvolle bilaterale Ergänzung dar, welche die personal- und nationalpolitisch heikle Lehrerfrage pragmatischen Lösungen zuführte.
Da die Prager „Burg” um Masaryk und Beneš ihre Republik als tschechoslowakischen Nationalstaat betrachtete, kam den Deutschen nur eine zweitrangige „Gastrolle” zu, da sie angeblich „als Immigranten und Kolonisten” ins Land gekommen seien. Seit dem Locarno-Pakt 1925 änderte sich freilich die internationale Lage, da nun Deutschland zwar seine westlichen Grenzen zu Frankreich und Belgien, nicht aber seine östlichen Grenzen zu Polen und der ČSR garantierte. Außerdem konnte nun die Weimarer Republik als Mitglied des Völkerbundrates als Protektor der Sudetendeutschen auftreten, die nach der Volkszählung von 1930 allein in den böhmischen Ländern 3,070.938 Personen (= 29,5 %) ausmachten und noch in 50 politischen Bezirken bzw. 120 Gerichtsbezirken die Mehrheit stellten. Weder die Massenentlassungen von insgesamt 33.000 deutschen Beamten noch die Prager Bodenreform mit der Enteignung von etwa 40 Prozent des deutschen Großgrundbesitzes stärkten die Einbindung der Sudetendeutschen in die Tschechoslowakische Republik. Die Wiener Regierung versuchte zwar in Einzelfällen zu vermitteln, dennoch betrachtete Bundeskanzler Ignaz Seipel die Herstellung eines befriedigenden Verhältnisses für beide Staaten selbst als „von größter Wichtigkeit” und als höchst wertvollen Faktor für die Gesamtlage in Mitteleuropa.
Trotz des Eintrittes je eines sudetendeutschen „Aktivisten” aus dem Bund der Landwirte und der Christlichsozialen Volkspartei in die Prager Regierung ab Oktober 1926, ab Dezember 1929 auch eines Sozialdemokraten, blieb unter den tschechischen Parteien sowohl eine „Anschluss-Phobie” als auch ein „Habsburger Komplex” bestehen. Nicht zuletzt Masaryk, Beneš und Kramář vertraten daher eine konsequente Politik der „Entösterreicherung”, die zumindest indirekt eine Hinwendung der Sudetendeutschen zur Weimarer Republik förderte. Immerhin konnten die Prager Deutschen – in ihren Reihen viele deutschsprachige Juden – mit dem deutschen Teil der Prager Universität und Technischen Hochschule, dem Deutschen Theater, dem Deutschen Haus, der Urania, dem „Prager Tagblatt” und der „Bohemia” ihre kulturelle Sonderstellung behaupten.
Die Weltwirtschaftskrise beschleunigte allerdings die „Desintegration zweier Völker im selben Lande” und die Entstehung einer „Konfliktgemeinschaft”. Vor allem der katastrophale Einbruch der Exporte ließ die Zahl der Arbeitslosen im Winter 1932/33 auf über eine Million in der Tschechoslowakei (= 15 % der Erwerbsfähigen) hochschnellen. Auf Grund der Konzentration der exportabhängigen Leichtindustrie in den deutschen Siedlungsgebieten und des konjunkturabhängigen Fremdenverkehrs im nordwestböhmischen Bäderdreieck Karlsbad (Karlovy Vary), Marienbad (Mariánské Láznĕ) und Franzensbad (Františkovy Láznĕ) stieg die Arbeitslosigkeit allein bei den Sudetendeutschen auf bis zu 600.000 an, d.h. sie betraf nahezu 40 % aller Arbeitnehmer. Da die tschechische Arbeitslosigkeit infolge der größeren Stabilität in der Grundstoffindustrie kaum mehr als 10 % ausmachte, ergab sich daraus auch eine schwerwiegende nationalpolitische Differenz, die zu einer wachsenden innenpolitischen Belastung wurde.
Sechs Wochen vor den tschechoslowakischen Parlamentswahlen 1935 urteilte daher der österreichische Gesandte Ferdinand Marek in beinahe prophetischer Weise über die Erfolgschancen der im Oktober 1933 gebildeten „Sudetendeutschen Heimatfront” des Ascher Turnlehrers Konrad Henlein: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass die junge und mittlere Generation in Deutschböhmen heute mehr denn je nationalsozialistisch eingestellt ist, und diese Kreise werden, da sie sich nazistisch nicht betätigen dürfen, unbedingt für Henlein stimmen. Falls also in letzter Stunde nicht noch irgendein unerwarteter Umschwung eintritt, dürfte Herr Henlein aus den Wahlen mit einer Mandatszahl hervorgehen, die er sich vielleicht selbst kaum hat träumen lassen.” Nach einem bereits von der NSDAP unterstützten Wahlkampf wurde die Sudetendeutsche Partei am 19. Mai 1935 mit 15,2 % stimmenstärkste Partei in der gesamten Tschechoslowakei und erhielt mit 44 Mandaten nur um eines weniger als die tschechoslowakische Agrarpartei.
Während die sudetendeutsche Frage ab dem Jahre 1933 die Beziehungen zwischen Prag und Berlin zunehmend belastete, verhielten sich die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg gegenüber der Henlein-Bewegung aus ideologischen Gründen sehr distanziert. Anlässlich eines Besuches von Ministerpräsident Milan Hoda im März 1937 in Wien unterstrich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg immerhin die „Notwendigkeit, den deutschen aktivistischen Parteien der Tschechoslowakei etwas Konkretes zu bieten und auch wirklich zu geben.” Ministerpräsident Hoda zeigte sich bereit, dem „staatstreuen deutschen Element” sehr weitgehende Konzessionen zu machen, sprach sich freilich kategorisch dagegen aus, Henlein, „dessen Staatstreue mit allem Grunde angezweifelt werde müsse”, in die von ihm geplanten Aktionen einzubeziehen.
Tatsächlich sandte Henlein am 19. November 1937 einen Bericht an Hitler, um ihn für den Plan einer Annexion des deutschen Siedlungsgebietes zu gewinnen. Hitler selbst hatte zwei Wochen zuvor den politischen und militärischen Spitzen des Reiches erklärt: „Das Ziel der deutschen Politik sei die Sicherung und die Erhaltung der Volksmasse [über 85 Millionen Menschen] und deren Vermehrung... Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben... Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage müsse in jedem Fall einer kriegerischen Verwicklung unser 1. Ziel sein, die Tschechei und gleichzeitig Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten... die Einverleibung der Tschechei und Österreichs [könne] den Gewinn von Nahrungsmitteln für 5–6 Millionen Menschen bedeuten unter Zugrundelegung, dass eine zwangsweise Emigration aus der Tschechei von zwei, aus Österreich von einer Million Menschen zur Durchführung gelange...”
Von München nach Potsdam
Der „Anschluss” Österreichs unter tatkräftiger Mithilfe der österreichischen Nationalsozialisten gewann ungeahnte Vorbildwirkung für die Sudetendeutschen. Henlein versprach Hitler noch im März 1938, „immer so viel [zu] fordern, dass wir nicht zufrieden gestellt werden können”, ließ im April 1938 das „Karlsbader Programm” mit der Forderung nach voller Autonomie verabschieden und gewann bei den Gemeinderatswahlen im Mai 87 % aller sudetendeutschen Stimmen. Zur selben Zeit ließ Hitler seinen Generalstab einen Aufmarschplan gegen die Tschechoslowakei ausarbeiten, so dass es Ende Mai 1938 erstmals Kriegsgefahr gab. Nun begann die britische Diplomatie einen Ausweg aus der „Sudetenkrise” zu suchen, der den Sudetendeutschen doch das Selbstbestimmungsrecht zugestehen sollte. Die tschechoslowakische Regierung versuchte noch mit neuen Autonomieplänen entgegenzukommen, aber Henlein lehnte Anfang September 1938 ab. Nach Besuchen des britischen Premiers Chamberlain bei Hitler, gaben die Westmächte den ultimativen Druck an Prag weiter, die mehrheitlich sudetendeutschen Gebiete abzutreten. Präsident Beneš und die Prager Regierung akzeptierten vorerst, ließen jedoch wenige Tage später mobilisieren. Nun schaltete sich Benito Mussolini als Vermittler ein, so dass in den Morgenstunden des 30. September 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet werden konnte, ein Diktat der Großmächte, ähnlich dem Vertrag von Saint-Germain.
Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in die an Deutschland abgetretenen Gebiete wurde vom überwiegenden Teil der sudetendeutschen Bevölkerung mit großer Begeisterung begrüßt. Zwischen Eger und Troppau wurde der „Reichsgau Sudetenland” geschaffen, Südmähren wurde an den „Reichsgau Niederdonau” angeschlossen, Südböhmen an den „Reichsgau Oberdonau”. Insgesamt waren bis zu 400.000 Tschechen, Juden und Deutsche von Flucht, Abwanderung und Umsiedlung in den tschechoslowakischen Rumpfstaat betroffen, während etwa 300.000 Tschechen im Deutschen Reich blieben. Andererseits verblieben mit den Prager, Iglauer, Brünner und Karpatendeutschen gegen 400.000 Deutsche in der Zweiten Tschechoslowakischen Republik. Trotz Garantieerklärung aber gab Hitler bereits am 21. Oktober 1918 die Weisung an die Wehrmacht, „die Rest-Tschechei jederzeit zerschlagen zu können”, was er am 15. März 1939 auch durchführen ließ. Das von Hitler selbst diktierte Protektoratsstatut für Böhmen und Mähren wird mit Recht als erster Zivilisationsbruch zwischen Deutschen und Tschechen bezeichnet.
Mit den österreichischen, sudetendeutschen und tschechischen Wirtschafts- und Rüstungspotentialen war das „Großdeutsche Reich” innerhalb eines Jahres die stärkste Macht in Europa geworden. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die nationalsozialistische Okkupationspolitik im Protektorat. Nach Demonstrationen und der Hinrichtung von zehn Studentenfunktionären erfolgte auch die Schließung aller tschechischen Universitäten und Hochschulen am 17. November 1939 und die Deportation von rund 1200 Studenten ins KZ Oranienburg. Die „Deutsche Karls-Universität” und die Technischen Hochschulen in Prag und Brünn aber sahen unter den Professoren, Dozenten und Studenten viele „Reichsdeutsche”, Sudetendeutsche und Österreicher (z.B. den berühmten Gynäkologen Hermann Knaus). Im Verlauf des Krieges nahm auch die Zahl der Deutschen, Sudetendeutschen und Österreicher in der Kriegswirtschaft und Verwaltung des Protektorates zu, die im Übrigen das doppelte Salär der tschechischen Kollegen erhielten.
Als im Sommer 1941 die Streiks und Sabotagefälle des tschechischen Widerstandes zunahmen, berief Hitler Reichsprotektor Neurath ab und setzte den SS-General Reinhard Heydrich als neuen Stellvertretenden Reichsprotektor ein. Wenige Stunden nach seiner Ankunft verhängte er den Ausnahmezustand und ließ eine Verhaftungswelle anrollen. Der Chef der Protektoratsregierung, General Alois Eliáš, wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Binnen zweier Monate ließ Heydrich über 400 Männer und Frauen erschießen, etwa 4000 bis 5000 Verhaftungen vornehmen. Konträr zu den Terrormaßnahmen gegen die tschechische Intelligenz ließ er jedoch an tschechische Arbeiter kostenlose Eintrittskarten für Kinos, Theater und Fußballspiele verteilen, und 7.000 Rüstungsarbeiter bekamen einen kostenlosen Erholungsurlaub. Am 4. Februar 1942 skizzierte jedoch Heydrich in einer geheimen Rede in Prag die ihm vorschwebende „Endlösung” für Juden und Tschechen: „Die noch nicht Eindeutschbaren wird man vielleicht bei der weiteren Erschließung des Eismeer-Raumes – wo die Konzentrationslager zukünftig ideales Heimatland der 11 Millionen Juden aus Europa sein werden – [einsetzen], vielleicht könnten wir dort nun die Tschechen, die nicht eindeutschbar sind, unter einem positiven Vorzeichen einer produktiven Aufgabe als Aufseher, Vorarbeiter usw. einsetzen mit der Chance, auch ihre Familien nachzuziehen.” – Diese „Endlösung” blieb zwar den Tschechen erspart, der Holocaust aber wurde tatsächlich durchgeführt: 77.297 Namen von in Auschwitz und Theresienstadt ermordeten Juden aus Böhmen und Mähren stehen heute an den Wänden der Prager Pinkas-Synagoge.
Nach dem von tschechischen Fallschirmspringern am 27. Mai 1942 verübten Attentat auf Heydrich wurden bis 1. September 1.357 Tschechen von den Standgerichten in Prag und Brünn zum Tode verurteilt und erschossen, darunter hohe Beamte, Offiziere, Professoren, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Geistliche, Journalisten und Studenten. Schon am 10. Juni waren alle 192 Männer der Ortschaft Lidice erschossen worden, dazu sieben Frauen zweier Legionärsfamilien; und in der Ortschaft Ležáky, wo die SS den Geheimsender der Attentäter gefunden hatte, wurden alle 32 Erwachsenen erschossen; die Kinder von Lidice und Ležáky wurden zu „rassischen Untersuchungen” missbraucht.
Auch nach Lidice versuchte Karl Hermann Frank, ein Sudetendeutscher, als neuer „Deutscher Staatsminister für Böhmen und Mähren” mit Zugeständnissen an tschechische Beamte, Ärzte, Ingenieure und Techniker sowohl die Protektoratsverwaltung als auch die Kriegsindustrie in Gang zu halten. Immer mehr Tschechen wurden auch als Rüstungsarbeiter ins Reich geholt – im Mai 1943 waren es bereits 250.000. Bis Sommer 1944 sahen die deutschen Rüstungskommanden die Arbeitsdisziplin der Tschechen noch als durchaus „zufriedenstellend” an, dann begannen Eisenbahn-Attentate, ab Anfang 1945 auch häufigere Sabotageakte. Weitere schwere Verfolgungsmaßnahmen und ein Partisanenkrieg blieben bis Kriegsende aber aus. Daher konnten die Tschechen die NS-Okkupation und den Zweiten Weltkrieg mit relativ geringen Totenverlusten überstehen: etwa 30.000 direkte Opfer deutscher Unterdrückungsmaßnahmen sowie etwa 7.000 Gefallene (auf alliierter Seite).
Der tschechoslowakischen Exilregierung in London waren bereits das Münchner Abkommen und die Schaffung des Protektorats Motive genug, Grenzveränderungen und Aussiedlungspläne vorzubereiten. Am 6. Juli 1942 stimmte das britische Kriegskabinett der Annullierung des Münchner Abkommens und dem „allgemeinen Grundsatz des Transfers von deutschen Minderheiten in Mittel- und Südosteuropa nach Deutschland” zu. Am 15. Juli 1942 resümierte Exilpräsident Beneš in einem Brief an den sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch kryptisch über die Folgen der NS-Gewalttaten: „Und am schrecklichsten ist, dass dies bei uns ein Erbe hinterlässt, von dem niemand von uns heute wissen kann, wie wir es wieder loswerden sollen.” Die tschechische Widerstandsbewegung verlangte auch schon die Konfiszierung des Eigentums aller Deutschen, und bei einer Aussprache mit Stalin am 16. Dezember 1943 in Moskau stellte Beneš schließlich fest, dass er das deutsche Problem ein für alle Mal gelöst haben und einen slawischen Tschechoslowakischen Staat – frei von Deutschen und Magyaren – schaffen wolle.
Die Protektoratsherrschaft hatte das über 800jährige Zusammen- und Nebeneinanderleben von Tschechen, Deutschen und Juden in den böhmischen Ländern weitgehend zerrüttet. Der „totale Krieg” hatte zu totaler Ausgrenzung und gegenüber den Juden zu Völkermord geführt. Furcht, Angst, Hass und Revanchegefühle wurden über sechs Jahre hindurch aufgestaut. Schon im Juli 1944 hatte Beneš den Widerstandsgruppen geraten, den politischen Umsturz mit allen Volksmassen durchzuführen, nach Möglichkeit als „Volksaufruhr” – ohne sensationelle Gerichte und Hinrichtungen. Da man sich auf eine internationale Lösung eines „Transfers unserer deutschen Bevölkerung” nicht verlassen könne, sei es notwendig, „dass wir vieles allein gleich in den ersten Tagen der Befreiung erledigen, dass so viel wie möglich an schuldigen Nazisten von uns aus Angst vor der Bürgerrevolte gegen sie in den ersten Tagen der Revolution flieht, und dass so viel wie möglich von denen, die sich als Nazisten wehren und Widerstand leisten würden, in der Revolution niedergemetzelt werden sollen”.
Tatsächlich wurden während des Prager Aufstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht ab dem 5. Mai 1945 etwa 15.000 Deutsche Opfer pogromartiger Ausschreitungen, jeweils Tausende Deutsche starben Ende Mai während des „Todesmarsches” von etwa 25.000 Brünner Deutschen in Richtung österreichischer Grenze und während des „Aussiger Massakers” am 31. Juli 1945. Sogar sowjetische Panzerkommandanten und politische Offiziere waren von verschiedenen sadistischen Gewalttaten des tschechischen Mobs geschockt. Von den ca. 350.000 in Lagern und Gefängnissen festgehaltenen Deutschen dürften mindestens 40.000 ums Leben gekommen sein. Es besteht kein Zweifel, dass führende tschechische Politiker von den wilden antideutschen Exzessen untergeordneter Organe – besonders der kommunistisch geprägten „revolutionären” Nationalausschüsse, verschiedener Revolutionsgarden, der Wachen der Nationalen Sicherheit, der „Svoboda-Armee” und früherer NS-Kollaborateure – wussten, sie duldeten und in ihre innen- wie außenpolitische Strategie einkalkuliert hatten. Strafbare Handlungen gegen „Okkupanten” und ihre „Helfer” wurden im Übrigen per Gesetz vom 8. Mai 1946 nachträglich straffrei gestellt. Mit den wilden Vertreibungen wurden jedenfalls bis Ende Juli 1945 bereits an die 750.000 Sudetendeutsche außer Landes gejagt. Stalin war zwar nicht bereit, die Rote Armee bei den Deportationen der Deutschen und Magyaren helfen zu lassen, versicherte aber dem neuen Ministerpräsidenten Zdenĕk Fierlinger: „Wir werden Euch nicht stören. Werft sie hinaus. Nun werden sie lernen, was es heißt, über jemand anderen zu herrschen.”
Nachdem die Prager Regierung am 3. Juli 1945 den drei alliierten Siegermächten den Plan eines Transfers der „großen Mehrheit” der Deutschen und Magyaren vorgelegt hatte, wurde im Artikel XIII des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 festgestellt, die deutsche Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn „in ordnungsgemäßer und humaner Weise” nach Deutschland zu überführen. Ein Beschluss der tschechoslowakischen Regierung vom 3. August 1945 ordnete nun die restlose Abschiebung aller Deutschen an, so dass bis Ende Oktober 1946 nach Angaben des tschechoslowakischen Innenministers Václav Nosek 2,165.135 Deutsche aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt wurden, davon über 1,2 Millionen in die amerikanische, über 800.000 in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Nahezu 200.000 Deutsche blieben in der Tschechoslowakei zurück: 60.000 Bergleute, Chemiker, Techniker und andere Industriespezialisten sowie deren Familienangehörige blieben im Grenzgebiet, ebenso 40.000 Deutsche in Mischehen und 5.000 aus „Gnade” vom „Abschub” (odsun) Befreite; etwa 60.000 zur erzwungenen Aussiedlung vorgesehene Personen wurden jedoch ab Sommer 1947 bis in das Jahr 1949 ins Landesinnere zerstreut.
Die Beneš-Dekrete
Die tschechoslowakischen Rechtsnormen, die das Schicksal der Sudeten- und Karpatendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten, waren schon im Londoner und Moskauer Exil vorbereitet worden. Bereits im Londoner Exil hatte Präsident Beneš auf Vorschlag der Regierung – in Ermangelung einer gesetzgebenden Körperschaft – 45 Dekrete erlassen. KPČ-Chef Klement Gottwald hatte im Kaschauer Programm vom 5. April 1945 noch eine unterschiedliche Behandlung zwischen loyalen Bürgern deutscher und magyarischer Nationalität, sowie Mitgliedern nationalsozialistischer und faschistischer Organisationen und Kriegsverbrechern angekündigt, allerdings auch schon die Enteignung deutschen und magyarischen Adelsbesitzes und die Schließung aller deutschen und magyarischen Schulen. Nach der Rückkehr nach Prag bis zur Konstituierung des neuen Parlaments am 28. Oktober 1945 unterzeichnete Präsident Beneš weitere 98 Verfassungsdekrete und Dekrete als Rechtsnormen mit provisorischer Gesetzeskraft, die ihre Geltung verlieren sollten, wenn sie nicht nachträglich vom Parlament bestätigt würden.
Diese Präsidentendekrete gingen aber vielfach über die im Kaschauer Programm angekündigten Maßnahmen gegen Deutsche und Magyaren hinaus:
1) Alle Vermögenswerte der Deutschen, Magyaren, Verräter und Kollaboranten wurden unter nationale Verwaltung gestellt (Nr. 5 vom 19. Mai 1945);
2) Landwirtschaftliches Vermögen der Deutschen, Magyaren, Verräter und Feinde des tschechischen und slowakischen Volkes wurde entschädigungslos enteignet und aufgeteilt (Nr. 12 vom 21. Juni 1945);
3) Tschechoslowakischen Staatsbürgern deutscher oder magyarischer Volkszugehörigkeit wurde (mit wenigen Ausnahmen) die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt, und zwar den Sudetendeutschen mit Wirkung vom 10. Oktober 1938, den Protektoratsdeutschen mit Wirkung vom 16. März 1939 (Nr. 33 vom 2. August 1945);
4) Personen deutscher und magyarischer Nationalität, welche die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren hatten, unterlagen nun der Arbeitspflicht: Männer vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr und Frauen vom vollendeten 15. bis zum vollendeten 50. Lebensjahr (Nr. 71 vom 19. September 1945);
5) Dekrete des Präsidenten über die Nationalisierung der Bergwerke, von Industriebetrieben, der Aktienbanken und privater Versicherungsanstalten (Nr. 100, 101, 102 und 103 vom 24. Oktober 1945);
6) Unbewegliches und bewegliches Feindvermögen, das bis zum Tag der tatsächlichen Beendigung der deutschen und magyarischen Okkupation im Eigentum physischer und juristischer Personen deutscher oder magyarischer Nationalität stand, wurde (mit wenigen Ausnahmen) ohne Entschädigung konfisziert (Nr. 108 vom 25. Oktober 1945).
Zwar war auch für die Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen ein Präsidentendekret vorbereitet worden, nach dem Potsdamer Abkommen erübrigte sich aber seine Erlassung. Entscheidend war vielmehr, dass der Alliierte Kontrollrat am 20. November 1945 den Transfer der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn genehmigte.
So wurden nicht nur nahezu drei Millionen Sudeten- und Karpatendeutsche vertrieben und ausgesiedelt, sondern allein in den böhmischen Ländern 2,400.449 ha entschädigungslos enteignet, wobei die „Nationalität” und nicht die Staatsangehörigkeit entscheidend war. Das bedeutete, dass auch deutsche Österreicher, Italiener (Südtiroler), Schweizer, Liechtensteiner, Luxemburger, Belgier und Dänen enteignet werden konnten – und auch wurden. Von den Deutschen wurden aber auch die Banken, Versicherungen, Glas- und Stahlhütten, Bergwerke, Chemie- und Textilgroßfabriken, sowie der Industrie- und Gewerbebesitz mittlerer und kleiner Größenklasse konfisziert – insgesamt rund 3.900 Industriebetriebe und 34.000 Gewerbebetriebe, die etwa ein Drittel des Industriepotentials der Republik ausmachten. Schätzte der Fonds der Nationalen Erneuerung im Jahre 1947 den voraussichtlichen Gesamtwert aller konfiszierten Gegenstände auf etwa 300 Milliarden tschechoslowakische Vorkriegskronen, so ging die Pariser Friedenskonferenz von tschechoslowakischen Kriegsschäden in Höhe von KČ 347,5 Mrd. (zum Kurs von 1938) aus. Die vertriebenen und ausgesiedelten Sudetendeutschen berechneten im Jahre 1948 den Wert aller enteigneten Güter zum 30. September 1938 mit 33,516 Mrd. Reichsmark.
Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen nach Österreich
Die Vertreibung und Aussiedlung von über 200.000 Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach Österreich stellte sowohl für die Wiener Regierung als auch für die österreichische Bevölkerung ein unerwartetes und großes Problem dar. Bereits im Mai 1945 waren Tausende, teilweise arg misshandelte Menschen ins Prager Gesandtschaftsgebäude geflüchtet und dort versorgt worden. Zur selben Zeit nahm die bäuerliche Bevölkerung des Wein-, Wald- und Mühlviertels Zehntausende Flüchtlinge hilfsbereit auf. Allerdings wiesen die dem kommunistischen Innenminister Franz Honner unterstehenden österreichischen Grenzwachen Tausende Flüchtlinge zurück. Staatskanzler Renner beschrieb am 12. Juni 1945 in einer Kabinettssitzung die schwierige Lage: „Unser Land ist im Augenblick (...) bedroht – man kann es nicht anders sagen –: von Südmähren und Südböhmen werden die dortigen Deutschen ausgewiesen. Erst jetzt soll wieder Beneš erklärt haben, er werde sich nicht hindern lassen, alle Deutschen und Magyaren aus der Tschechoslowakei auszuweisen. Es fliehen unzählige tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Zunge über unsere Grenze. Wir können nur die Österreicher aufnehmen, aber auch das ist unendlich schwierig. In Prag und in Brünn finden ständig – man kann nicht anders sagen – revolutionäre Unruhen statt. Es ist dort so, dass jeder Deutschsprachige beinahe seines Lebens nicht sicher ist, dass tatsächlich Morde u. dgl. vorkommen.”
Die Wiener Politik bemühte sich, den Flüchtlingsstrom vor allem aus Versorgungsgründen einzudämmen, und Renner verlangte vom tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Zdenĕk Fierlinger, dass die widerrechtlich zu Lasten Österreichs über die Grenzen getriebenen Massen deutschsprechender tschechoslowakischer Staatsangehöriger ehestens wieder aus Österreich entfernt werden könnten und drohte mit Schadenersatzansprüchen. Die Prager Regierung verwies aber auf die Potsdamer Beschlüsse. Die sowjetische Besatzungsmacht begann danach, einen Teil der Sudetendeutschen über das Sammellager Melk in die Besatzungszonen Deutschlands abzuschieben, sofern sie nicht als „wertvolle” Arbeitskräfte galten.
Die vertriebenen Sudetendeutschen wurden in Österreich von kommunistischen, sozialdemokratischen und christlichsozialen Funktionären als politische Angehörige der „Henleinpartei”, also als Nationalsozialisten, betrachtet. Die Art und Weise, wie die Vertreibungen vor sich gingen, wurde zwar heftig kritisiert; andererseits wurde aber in der Öffentlichkeit auch Verständnis für die Haltung der Tschechen gezeigt, nicht mehr mit einer deutschen „Minderheit” in einem Land leben zu wollen. Die Katastrophe, die über die Sudetendeutschen hereingebrochen war, wurde als das „nahezu unabwendbare Ergebnis des deutschen Verrates und der deutschen Zwingherrschaft gesehen.” Nach seinem Prag-Besuch im Dezember 1945 meinte auch Außenminister Karl Gruber, dass die Haltung der Tschechen nicht verwundern dürfe, wo doch dieses Volk so lange Jahre unter dem Joch der „nazistischen Herrenmenschen” gestanden sei. Lediglich die Bischofskonferenz unter Theodor Kardinal Innitzer appellierte an den Alliierten Rat, die Hunderttausenden Sudetendeutschen nicht einem schweren physischen und moralischen Elend preiszugeben.
Unabhängig von der langsamen, letzten Endes aber sehr erfolgreichen Integration von über 150.000 Sudetendeutschen in die österreichische Gesellschaft wurde von österreichischer Seite bald darauf gedrängt, eine generelle Regelung der rechtlichen Stellung der österreichischen Staatsangehörigen und ihres Vermögens in der Tschechoslowakei zu finden. Aber Präsident Klement Gottwald, im November 1948 auf die noch immer ungelöste Frage des österreichischen Eigentums angesprochen, wies darauf hin, dass in der Zeit der deutschen Okkupation in der Tschechoslowakei viele Österreicher im Dienste der NSDAP, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes gestanden und oft radikaler als die Deutschen gewesen seien. Daher sei es den Tschechen schwer verständlich zu machen, warum das österreichische Eigentum bevorzugt behandelt werden sollte.
Erst am Tag des Beitritts der Tschechoslowakei zum österreichischen Staatsvertrag kündigte das Prager Außenministerium seine Bereitschaft an, die Vermögensansprüche derjenigen zu regeln, die am 13. März 1938 die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hatten. Als der österreichische Gesandte Rudolf Ender im Juni 1958 dem Ministerpräsidenten Viliam Široky die Frage stellte, worin denn „moralisch” der Unterschied zwischen einem „Alt- und einem Neuösterreicher” bestehe, erhielt er die brüske Antwort: „Vergessen Sie doch nicht, dass die Sudetendeutschen sich voll und ganz in den Dienst eines anderen Staates gestellt haben.” Die Prager Regierung zeigte sich lediglich bereit, „kleine Vermögen” (= Grundbesitz bis 13 ha bzw. Vermögenswerte bis 100.000 KČ) von ehemaligen österreichischen Staatsbürgern zu entschädigen. Auch der sowjetische Gesandte in Wien erklärte im November 1960, dass „das Vermögen der Sudetendeutschen unter keinen Umständen den Gegenstand von Verhandlungen zwischen Österreich und der ČSSR bilden [könne]”.
Außenminister Bruno Kreisky stellte am 13. Juni 1960 im Ministerrat klar, „dass für Österreich die Lösung der Vermögensfrage – und zwar ohne vorherige Einschränkung des Personenkreises – das Kernproblem in den beiderseitigen Beziehungen darstellt”. Dennoch unternahm er im Einvernehmen mit Bundeskanzler Julius Raab die Initiative, die tschechoslowakische Regierung zur Nennung einer Pauschalsumme aufzufordern. Als auch dies nichts fruchtete, nannte der österreichische Gesandte – nach Ministerratsbeschluss – die Pauschalforderung von 12 Mrd. Schilling, und Kreisky erklärte bei einem Privatbesuch in Prag im Juli 1962 den österreichischen Interventionsverzicht für die Sudetendeutschen. Doch Minister David reagierte ausweichend, die Initiative schlug fehl. Gesandter Rudolf Kirchschläger musste sich noch fünf Jahre später vom Präsidenten Antonín Novotný sagen lassen, dass zuerst das Münchner Abkommen „ex tunc null und nichtig” erklärt werden müsse. Tatsächlich wurde erst am 19. Dezember 1974 – nach der grundsätzlichen Einigung zwischen Bonn und Prag über die Nichtigkeit des Münchner Abkommens – in Wien ein Entschädigungsvertrag über 1,2 Mrd. Schilling unterzeichnet.
Erst nach der politisch-ideologischen Wende von 1989 begann wieder eine Diskussion um die Beneš-Dekrete. Von den ursprünglich 143 Präsidenten-Dekreten waren ein Teil durch Zeitablauf erloschen, während ein weiterer Teil ausdrücklich aufgehoben wurde. Ein 1992 vom tschechischen Justizministerium veröffentlichtes Verzeichnis der geltenden Rechtsbestimmungen zählte noch 26 Dekrete als wenigstens teilweise in Kraft stehend auf, darunter die Dekrete über die Ausbürgerung und die beiden Konfiskationsdekrete. Die seit 1990 erlassenen Restitutionsvorschriften gewährte lediglich Eigentümern, die seit dem 25. Februar 1948 enteignet worden waren, Rückübertragungsanspruch. Der Enteignungen aus vorkommunistischer Zeit „einschließlich der Unrechtshandlungen gegenüber Bürgern deutscher und magyarischer Nationalität” wurde in der Präambel zum Restitutionsgesetz vom 21. Februar 1991 „im Bewusstsein, dass diese Unrechtshandlungen... nie wieder völlig gut gemacht werden können”, gedacht und die Absicht ausgedrückt, dass es „zu ähnlichen Unrechtshandlungen nie wieder kommen möge”. Das Verfassungsgesetz der Tschechischen und Slowakischen Republik vom 9. Jänner 1991 zu den Grundrechten und –freiheiten hatte bereits bestimmt, dass die nationale Zugehörigkeit niemandem zum Nachteil gereichen, dass kein Staatsbürger zum Verlassen seiner Heimat gezwungen und niemand gegen seinen Willen ausgebürgert werden dürfe. Alle entgegenstehenden Bestimmungen wurden für erloschen erklärt, und zwar mit Ablauf des 31. Dezember 1991. Demnach sollten die Beneš-Dekrete seit dem 1. Jänner 1992 nicht mehr angewendet werden können.
Die Frage der vertriebenen Sudetendeutschen blieb aber zwischen Prag und Wien ungelöst. Da sie sich 1938 überwiegend von den Tschechen abgewendet und dem Großdeutschen Reich angeschlossen hatten, wurden sie 1945 kollektiv bestraft: mit Verlust der Bürgerrechte, zwangsweiser Entfernung aus bisherigen Lebenszusammenhängen, wilder Vertreibung, Konzentrierung in Lagern, kollektiver Enteignung, Abschub in Güterwaggons und Verlust der Heimat. Dies bedeutete einen zweiten Zivilisationsbruch zwischen Tschechen und Deutschen. Das Fazit für die Tschechen blieb allerdings langfristig kaum weniger unerfreulich: In der tschechischen Gesellschaft war eine rechtlose Gruppe eingeführt worden, der gegenüber geradezu alles erlaubt war – ein Präzedenzfall für weitere Rechtlosstellungen unter kommunistischer Herrschaft. Die Annahme des Grundsatzes einer Kollektivschuld stellte einen Bruch mit der auf Menschenrechten gegründeten Moral dar, die Annahme eines unmoralischen Grundsatzes. Schließlich hat der wirtschaftliche Gewinn aus der Enteignung der Sudetendeutschen die Verluste der tschechischen Wirtschaft, die aus der Vertreibung resultierten, keinesfalls wettgemacht. Immerhin begann die Republik Österreich, deren politische Führung 1945 die sudetendeutschen Vertriebenen nur ungern aufgenommen hatte, ab 1947 doch eine intensive Integrationspolitik. Sie gliederte die Sudetendeutschen in den erfolgreichen Wiederaufbau ein und gewann mit ihnen eine gut ausgebildete sowie industriell und gewerblich erfahrene Bevölkerungsgruppe. Daher sollten sie heute eher ein Verbindungsglied als einen Zankapfel zwischen Prag und Wien darstellen.