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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 27:159–164.

ANDREI PLESU

Die Problematik der Werte im vereinten Europa

 

Die Erweiterung und die Vereinigung Europas sind weit davon entfernt, eine vollendete Tatsache zu sein. Die Dinge befinden sich voll in Bewegung. Wir könnten zwar die eine oder andere Prognose riskieren, doch ist es unmöglich, Perspektiven, Rhythmus und Details der künftigen Entwicklung vorauszusehen. Wir wissen nicht, ab wann wir über einen abgeschlossenen Prozess sprechen können und wie letztendlich das Vereinte Europa aussehen wird.

Dessen ungeachtet, schlage ich Ihnen ein Denkexperiment vor. Stellen wir uns vor, wir sind am Ende dieses Projekts angelangt. Stellen wir uns weiter vor, unsere kühnsten Hoffnungen seien erfüllt worden: In allen Mitgliedsstaaten wurde ein hohes und homogenes Niveau des Wohlstands erreicht, überall sind Menschenrechte die Regel des Alltags, die Marktwirtschaft hat einen funktionellen Stand auf dem gesamten Kontinent erreicht, und Gesetzgebung, Administration und Finanzen unterliegen einer perfekten Koordinierung. Mit anderen Worten, stellen wir uns vor, wir sind bereits die Bewohner unserer eigenen Utopie.

Nun gut, wenn wir uns von der süßen Benommenheit und Entspannung des erreichten Zieles nicht überwältigen lassen, wenn wir uns nicht damit begnügen, selbstgefällig und überheblich die Nutzen und Annehmlichkeiten eines gemütlichen Lebens zu genießen, müssen wir uns neue Fragen stellen: „Was folgt nun?”, „Was werden wir von jetzt an tun?”, „Wir haben uns um die Erreichung dieses Ziels bemüht – wofür aber?”. Denn schließlich sind all die eingangs aufgezählten Annehmlichkeiten nichts Anderes als optimale Bedingungen für die Subsistenz, Voraussetzungen für ein zivilisiertes Leben. Sie können aber nicht Substanz und Inhalt unseres Lebens sein. Denn auch das gute Leben, auch das Respektieren des Anderen, auch die Akzeptanz der Differenz, auch die Effizienz der Institutionen bilden zusammen letztendlich nur das Ambiente der Normalität, den legitimen und notwendigen Dekor eines jeden existentiellen Projekts. Anders formuliert, sie sind die „Rohstoffe”, die Elemente des Kontextes.

Die Frage aber, die sich nun stellt, ist, mit welchem Text füllen wir diesen Kontext? Wie verarbeiten wir auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene die Vorteile einer günstigen Organisation? Und damit kommen wir zur Problematik der Werte. Die Frage der Werte wird meistens dann akut, wenn man zwar alles Nötige hat, dennoch aber empfindet, als fehle etwas – oder im Gegenteil dann, wenn man nichts mehr hat, aber spürt, das Wesentliche noch nicht verloren zu haben: eine Orientierung, die Anhaltspunkte, einen Sinn.

Denkt die Europäische Union über ihre Werte von heute, vor allem aber über ihre Werte von morgen nach? Was mich betrifft, neige ich eher dazu, dies zu bezweifeln. Höchste Dringlichkeit war – und ist – die Schaffung einer je schnelleren und effizienteren institutionellen Vereinigung. Dringend waren die Erweiterung und deren Verwaltung, die Festlegung von Regeln, die Schaffung des Kontextes. Der „Text” selber, die vitale Substanz, die Hinterfragung und der Diskurs über die Werte sind in einer rhetorisch-ornamentaler Phase geblieben, oder aber wurden vorerst ausgeklammert.

Dies geschah nicht zuletzt weil – abgesehen von den europäischen Tribulationen – die Werte selber auf globaler Ebene eine Periode der Umstellung durchmachen. Herr Adolf Muschg erinnerte in seinem Referat an die drei „Potenzen”, die Jakob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen aufzählte: Religion, Staat und Kultur. Jede menschliche Gesellschaft ist durch eine bestimmte Mischung dieser drei öffentlichen „Kräfte” geformt, die jede ein bestimmtes Wertenetz voraussetzt. Die Autorität der drei Kräfte aber – die im 19. Jahrhundert noch sehr deutlich war – ist zur Zeit stark angeschlagen.

Sagt man „Religion”, wird das in der Regel mit „Fundamentalismus”, „Integrismus” und „Terrorismus” assoziiert, mit Intoleranz, veraltertem Pietismus, obskurantistischem und unwissenschaftlichem Geist, mit einer Verweigerung der Modernität. Eine enorme historische Ignoranz und das ideologische Prestige der Säkularisierung haben letztendlich eine Erosion jenes Wertesystems bewirkt, in dem in Europa mehr als anderthalb Jahrtausende gelebt wurde. Fakt ist, dass die Zahl jener, die Religionen nicht mehr als einen Wegweiser sehen, größer ist, denn je. Auch die Kultur verfügt nicht mehr über eine unantastbare Würde. „Der Terminus”, sagte Stephen Greenblatt Anfang der neunziger Jahre, „bedeutet nicht mehr viel”. „Culture is a deeply compromised idea” (Kultur ist eine zutiefst kompromittierte Idee), hat bereits James Clifford 1988 geschrieben. Das Buch, die Schule, die Bibliothek, der Lehrer – alles einst monumentale Institutionen – verändern konstant ihre Konturen und Statuten. Sollen wir noch die dritte „Potenz”, den Staat, beschwören? Doch was hat der Nationalstaat unserer Urgroßväter samt seinem Gefolge an Prinzipien und Loyalitäten mit unserer Welt überhaupt noch gemeinsam – einer Welt der multinationalen Konzerne, der Föderationen unterschiedlichster Art und der grenzübergreifenden Visionen? Klar ist, die traditionellen Quellen der Werte sind – für den Augenblick zumindest – unproduktiv, zweifelhaft, unzureichend. Wir müssen neue Ressourcen, neue Horizonte finden. Oder aber den alten neues Leben einhauchen.

In den vergangenen Jahren wurde ich immer wieder gefragt, mit welchem Beitrag denn der europäische Osten in die große kontinentale Familie kommen könnte. Meine Antwort lautet folgendermaßen: Wir kommen mit einer luziden Müdigkeit und einigen nützlichen Schwächen und Mängeln. Unsere Müdigkeit ist nicht zur Gänze harmlos, und auch nicht alle unsere Schwächen können positiv verwertet werden. Doch es gibt Müdigkeiten und Schwächen, die das Hinterfragen begünstigen und helfen, Antworten zu erkennen. Lassen Sie mich das erklären.

Die östliche Müdigkeit ist ein Ergebnis von 45 Jahren Diktatur, gefolgt von 18 „Transitions”-Jahren, beziehungsweise einem Hürdenrennen in Richtung Westen. Sie macht uns weniger empfindlich gegenüber ideologischen Moden und Utopien. Wir sind weniger anfällig für triumphalistische Projekte, für hölzerne Gewissheiten und für Propaganda. Ich würde sagen, wir lieben Europa ohne Illusionen, ohne Eurozentrismus, ohne paradehafte Euphorien. Wir lieben es mit der Melancholie der Marginalität und wir verlangen auch nicht, dass es dem Paradies ähnelt. Sicherlich hoffen wir – einmal im Klub aufgenommen – auf ein besseres Schicksal . Doch gleichzeitig wissen wir, dass sich unsere Probleme innerhalb der neuen Bürokratie nicht wie durch ein Wunder in Luft auflösen werden. Diese Einstellung bringt drei Werte ins Gespräch, die heute seltener sind, als wir uns das vorstellen: Diskretion, Realismus und Geduld. Für uns sind ihre Quellen, genau genommen, nicht europäisch. Fünf Jahrhunderte lang waren wir in unmittelbarem Kontakt mit dem Islam, wir sind noch im Wirkungskreis des Byzanz und wir haben lange mit der Weisheit des östlichen Judentums zusammen gelebt – eine bis vor kurzem noch massive Präsenz in unseren Städten und Gemeinden.

Das westliche Europa kann nur gewinnen durch das Wiedererlangen seiner östlichen und südöstlichen Horizonte, voller pontischer, kaspischer und mediterraner Gewürze. Was bringen wir in die Europäische Union ein? Die Himmelsrichtung, die ihr fehlte – den Osten. Und mit dem Mittelmeer könnten sich die Räume noch tiefer in Richtung Maghreb öffnen, der Heimat des Heiligen Augustinus und durch ihn des westlichen Christentums.

Die Müdigkeit und die langsamen Rhythmen des Orients sind ein gutes Gegengewicht für die abendländische Unermüdlichkeit. Wir schlagen Ihnen mehr Muße vor, mehr Beschaulichkeit und mehr Uneigennützlichkeit. Die zeitgenössische Zivilisation steht schlecht bei diesen Kapiteln. Die sich beschleunigende Zeit, die zielstrebige Arbeit, der unbarmherzige Karriere-Stress, die Konkurrenz, der Konsum – all das mag das Thema Werte unzeitgemäß erscheinen. Es bleibt kein Platz mehr übrig für Reflexion, für den überlegenden, einschätzenden Schritt zurück, für die Wiedererlangung des Gleichgewichts, der Besonnenheit. Wir sind viel zu beschäftigt, viel zu dynamisch. Ich möchte keineswegs dem „protestantischen” Aktivismus die „orthodoxe”, ost-kirchliche Immobilität gegenüberstellen. Sündigen kann man sowohl durch Faulheit wie auch durch Fleiß. Ich möchte nur auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung der Rhythmen hinweisen. Bei der Behandlung der Hektik ist ein wenig Gelassenheit durchaus willkommen. Auch bei der Behandlung des Arbeitsrausches kann die wohltemperierte Erfahrung der Faulheit manchmal begrüßenswert sein. Unsere Kompetenz auf diesem Gebiet hat uralte Wurzeln. Ihr solltet sie nutzen, bevor unsere „Normalisierung” einsetzt. Denn zwangsläufig werden auch wir vom Fieber, von der Hektik der zivilisierten Welt angesteckt und werden ihr unsere traditionellen Ressourcen an Otium, an Beschaulichkeit und Muße, opfern müssen, ohne dabei auch nur im Entferntesten an Euere Effizienz heranzukommen...

Und damit sind wir bereits beim Kapitel „Schwächen” angelangt. Der europäische Südosten weist – zum Beispiel – eine zumindest fragliche konservative Tendenz auf. Die Vergangenheit hat für seine Bewohner feierliche, grundlegende Konnotationen. Wir rechtfertigen uns in weit höherem Maße, indem wir auf die Erinnerung zurückgreifen, als durch eine zukunftsorientierte Projektion. Ein gewisser Widerstand gegenüber Veränderungen und die eher naive Neigung, verblichene historische Perioden zu idealisieren, gehören zu unseren alltäglichen Fertigkeiten.

Im Gegenteil, das westliche Europa neigt dazu, äußerst drastisch oder zumindest misstrauisch mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Dafür gibt es einleuchtende Gründe. Sich aber auf seine Vergangenheit vorwiegend durch die leicht masochistische Ausübung einer strengen Vergangenheitsbewältigung zu beziehen, führt zu verarmenden Exzessen. Wegen einiger düsterer Episoden der europäischen Vergangenheit hat man im Westen die Tendenz, alles mit einem überaus scharfen, kritischen Geist zu betrachten, was zur Vergangenheit gehört – Gewohnheitsrecht, Kanons, Traditionen. Unser osteuropäischer passeistischer Missbrauch findet seine symmetrische Entsprechung in der „futurologischen” Euphorie des Westens. Und da wir uns nun begegnet sind, könnte der Osten lernen, dass nicht alles Vergangene auch gültig und lobenswert sein muss, der Westen hingegen, dass nicht alles Vergangene rein museal, überholt oder peinlich ist.

Wir verfügen auch über andere „konvertible” Schwächen. Wir sind in demselben Maße old fashioned, wie der Westen fashionable ist. Doch es gibt auch einen nur allzu menschlichen Zauber dieser Unzeitgemäßheit, eine Pittoreske des Konventionellen, einen Dekorativismus der veralterten Manieren – die allesamt der up to date-Juvenilität der entwickelten Länder und ihrem funktionellen, entspannten und matter of fact-Verhalten als farbenfroher Kontrapunkt dienen könnten.

Zu erwähnen wäre auch die Tatsache, dass wir Sprachen äußerst geringer Verbreitung sprechen, was uns zu einer Mehrsprachigkeit zwingt, die nicht aus doktrinären Gründen sondern aus der Praxis des täglichen Überlebens heraus erwächst. Der Multilinguismus – wie auch der Multikulturalismus – gehörten bei uns bereits zur Erfahrungspraxis, lange bevor sie kommunitäre Auflagen oder großzügige Ideen waren (In Klammern sei erwähnt, dass wir es amüsant finden, oftmals feststellen zu müssen, dass die meisten Plädoyers für die Mehrsprachigkeit monolinguistisch und zwar auf Englisch stattfinden).

Und eine letzte Bemerkung: im Osten steht es schlecht um die Forschung im Bereich Naturwissenschaften. Dafür haben wir eine weite Öffnung in Richtung Geisteswissenschaften beibehalten, deren Entwicklung weniger von materiellen Mitteln abhängig ist. Humanistische Kultur ist billig und kann ohne hochkomplizierten technologischen Beistand praktiziert werden. In Grenzsituationen kann sie auch im Verborgenen, in der eigenen Bibliothek praktiziert werden, so wie wir es manchmal in den Jahren der Diktatur gezwungen waren zu tun. Umso glücklicher sind wir, die zusätzlichen Akzente festzustellen, die die EU-Ratspräsidentschaft jüngst durch eine in Berlin, am 25. Januar gehaltene Rede von Frau Bundesminister für Forschung und Bildung, Dr. Annette Schavan, bezüglich der Notwendigkeit einer Neubewertung der humanistischen Studien setzt.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich stelle Westeuropa keineswegs das künstliche „Paradies” eines Ostens „mit menschlichem Antlitz” gegenüber. Ich wollte nur den Triumphalismus abschwächen, von dem die Rhetorik der Europäischen Erweiterung und Vereinigung sich manchmal verformen lässt. Die nahe Zukunft ist weder rosarot, noch charmant. Wir werden Ihnen sicherlich Probleme schaffen. Mit unseren Qualitäten müssen Sie auch unsere Schwächen und Mängel übernehmen, und nur einige davon können zu Gunsten der Gemeinschaft „umgemodelt” werden. Wir werden eine gewisse Unordnung schaffen und zwangsläufig den Marsch der konsolidierten Demokratien in Richtung Horizonte verzögern. Ich hege jedoch die Illusion, dass in Zeiten der historischen Überhastung und in einer von Hektik und Standardisierung bedrohten Welt, eine Episode reflexiver Mußezeit sich durchaus als rettend erweisen könnte.

Die Länder Südosteuropas könnten in die Homogenität des Vereinten Europas eine fruchtbare Bresche an Ungenauigkeit und Neubestimmung schaffen. Wir könnten gemeinsam die Chancen der Rehabilitierung einiger schwächenden Richt- und Anhaltspunkte besprechen, die bei weitem noch nicht aufgebraucht oder erschöpft sind (Religion und Kultur zum Beispiel). Wir könnten die notwendigen und willkommenen „Verzögerer” sein, die zeitweiligen Bremser der Geschwindigkeitsexzesse und die „Saboteure” der Lawineneffekte. Es gibt, manchmal, legitime Kräfte, die die Geschichte aufhalten, wenn diese dazu neigt, zu schnell talabwärts zu rutschen.

Zu den Nutzen einer fruchtbaren Unordnung möchte ich die Worte von Michael Portillo zitieren, dem britischen Verteidigungsminister zwischen 1995 und 1997: „...I am very much in favour of an untidy Europe. I’m hoping that apart from being good for the new democraties, enlargement will create an untidier Europe”. (Ich selber bin sehr für ein unordentliches Europa. Ich hoffe, die Erweiterung wird – außer dass sie gut für die neuen Demokratien ist – ein unordentlicheres Europa schaffen).

Für die Erreichung solch eines Zieles – da können Sie vorbehaltlos auf uns zählen.

(Ins Deutsche übertragen von Malte Kessler)