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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:121–131.

KÁROLY MANHERZ

Das ungarndeutsche Lied in Tradition und Pflege

 

Die einzelnen Gruppen der Ungarndeutschen sind im Laufe der Geschichte in verschiedenen Wellen und Etappen in ihre neue Heimat gelangt. Als historischer Einschnitt gilt die Türkenzeit beziehungsweise die Befreiung Ungarns von der Türkenherrschaft im ausgehenden 17. Jahrhundert. Die meisten deutschen Siedlungen im heutigen Ungarn sind erst nach den Türkenkriegen entstanden. Vortürkisch sind nur die Siedlungen in Westungarn entlang der österreichischen Grenze und die deutschen Bewohner der ehemaligen Bergstadt (heute Großgemeinde) Deutsch-Pilsen/Nagybörzsöny im Pilsner Gebirge an der slowakischen Grenze. Deutsch-Pilsen ist der südlichste Punkt des mittelslowakischen Haulands.1

Der Großteil der Deutschen fand erst nach der Vertreibung der Türken eine neue Heimat in Ungarn. Während der über 150 Jahre umfassenden Türkenherrschaft war ein bedeutender Teil der Siedlungen Ungarns verwüstet oder entvölkert worden. Die wichtigste Voraussetzung für den Wiederaufbau des Landes war die Rückeroberung der verödeten Gebiete nicht nur von den Türken, sondern auch von der Natur. Die Grundherren taten alles, um möglichst viele Arbeitskräfte zu beschaffen. Da im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seit dem Dreißigjährigen Krieg das Auswanderungsfieber wieder anstieg, konnte die von Agenten ungarischer Grundherrschaften eingeleitete Werbung von Kolonisten im ganzen Reich, besonders aber in Süd- und Mitteldeutschland, mit Erfolg betrieben werden. Die Werbung wurde nicht nur von Privatherren, sondern auch von der katholischen Kirche und sogar von der königlichen Kammer selbst in Angriff genommen.

Nach der Befreiung Ofens, 1686, erschien die königliche Siedlungsverordnung, die Art und Weise der Kolonisation festlegte. Die königliche Neusiedlungskommission (Neoacquistica Commissio) wurde gebildet. Die Kolonisation erfolgte in drei großen Etappen im 18. Jahrhundert. In der ersten Etappe (1686–1740, Karolingische Kolonisation unter Karl VI.) kamen Kolonisten in die Komitate Transdanubiens, ins ungarische Unterland und ins nördliche Mittelgebirge. Die zweite Etappe (Theresianische Kolonisation) ist vor allem durch den Einsatz der königlichen Kammer charakterisiert. Unter Maria Theresia wurde die Ansiedlung durch ein neues Patent beschleunigt. Nach dem Siebenjährigen Krieg kamen neuerlich mit ihrer Lage unzufriedene Bauern ins Land, vor allem aus Elsass-Lothringen, Baden, Luxemburg und der Pfalz. Das Siedlungspatent Josephs II. leitete 1782 die dritte Kolonisation ein. Diesmal kamen die Siedler vor allem aus der Pfalz, dem Saargebiet, der Frankfurter und Mainzer Gegend, aus Hessen und aus Württemberg.

Siedlungsgeographisch ist das Deutschtum in Ungarn ziemlich stark gegliedert. Es gibt größere zusammenhängende Siedlungsgebiete, die ihre Geschlossenheit bis zur Vertreibung nach 1945 größtenteils behalten konnten. Durch verschiedene innere Bevölkerungsbewegungen in Ungarn kann man heute nur mehr von kleineren geschlossenen Einheiten innerhalb der früheren großen Siedlungsräume sprechen; die meisten Dörfer mit früher absoluter deutscher Mehrheit zeigen heute eine Symbiose verschiedener Minderheiten, sind aber vorwiegend zu ungarischen Mehrheitsdörfern geworden.

Die Ungarndeutschen leben heute in Transdanubien, zum Teil in Gruppen verschiedener Größe entlang der Westgrenze, im Ungarischen Mittelgebirge zwischen Donauknie und Plattensee und im Raum Fünfkirchen/Pécs sowie in kleineren Streusiedlungen. Im Westen bilden die deutschen Siedlungen auf dem Heideboden und im Seewinkel (Mosoni síkság) um den Neusiedler See eine relative Einheit. Der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt ist hier Wieselburg mit Ungarisch-Altenburg/Mosonmagyaróvár. Südlich vom Neusiedler See liegt Ödenburg/Sopron mit einer heute noch starken deutschen Minderheit, dem sich einige Kleindörfer der Umgebung anschließen. Eine selbständige Sprachinsel bildet Güns/Kőszeg mit Schwabendorf/Kőszegfalva und einigen Kleindörfern in der Umgebung. Im Südwesten, im Raab-Lafnitztal/Rába-Lapincs köze, liegen die deutschen Dörfer in der Umgebung von St. Gotthard/Szentgotthárd. Östlich von Westungarn stößt man bis zum Ungarischen Mittelgebirge nur auf Streusiedlungen, die sprachlich fast alle entdeutscht sind: Tschanak/ Ménfőcsanak, St. Martin/Pannonhalma, Jahrmarkt/Gyarmat u.a. Der deutsche Siedlungsraum im Ungarischen Mittelgebirge folgt der Landschaftsgliederung: Donauwinkel, Pilischgebirge, Ofner Bergland, Gereschgebirge, Schildgebirge, Welenzer Gebirge, Buchenwald, Wesprimer Hochfläche und Plattensee-Oberland. Dieser Gruppe schließen sich im Norden einige deutsche Dörfer im Börzsönygebirge und im Cserhátgebirge, im Osten die deutschen Siedlungen der Tschepeler Insel/Csepel-sziget und des Pester Vorlandes an. Einige Streusiedlungen an der Grenze des Ungarischen Mittelgebirges sind Berzel/ Ceglédberzel, Hartingen/Újhartyán, Iklad, Martinsmarkt/Martonvásár, Herzogendorf/Mezőfalva und Loischkomorn/Lajoskomárom westlich der Donau. Wichtige Zentren sind noch Schambek/Zsámbék, Werischwar/Pilisvörösvár, Dorog, Zirtz/Zirc, Waitzen/Vác, Komorn/Komárom, Totis/Tata, Pápa, Wesprim/Veszprém und Stuhlweißenburg/Székesfehérvár.

Im südöstlichen Transdanubien bildet seit alters her Fünfkirchen/ Pécs mit dem Mecsekgebirge den Mittelpunkt, dem sich zahlreiche landschaftliche Einheiten anschließen: das Wielandgebirge/Villányi hegység, das Branauer Hügelland/Baranyai dombvidék, das Schellitz/Zselic und die Schomodei/ Somogy, das Tolnauer Hügelland/Hegyhát und der Talboden/Völgység, der Scharbruch/Sárköz und der südliche Wiesengrund/Mezőföld. In der ungarischen Volkssprache wird dieses Gebiet die „Schwäbische Türkei” genannt. Die Fortsetzung dieses Gebietes ist die Batschka, wo es in der Umgebung von Frankenstadt/Baja, im Norden zwischen Donau und Theiß, mehrere deutsche Siedlungen gibt. An der Staatsgrenze im Süden liegen ein paar deutsche Dörfer als nördliche Ausläufer des Banats, im Komitat Bekesch/Békés (in der Umgebung von Jula/Gyula) und südlich von Szeged sowie im Osten im Komitat Sathmar/ Szatmár die Reste des Sathmarschwäbischen (Wallei/Vállaj, Saiten/Zajta).

Nur siedlungsgeschichtlich interessant sind die längst entdeutschten Streusiedlungen im Tokajer Bergland (Karlsdorf/Károlyfalva, Rátka usw.). Im 18. Jahrhundert ließen sich deutsche Handwerker, Kaufleute und Beamte in den Städten Ungarns nieder. Dieses städtische Deutschtum ist aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner ungarischen Umgebung völlig aufgegangen, so dass es nur historisch von Belang ist.

Deutsche Siedler sind vor allem aus dem mittel- und süddeutschen Raum nach Ungarn eingewandert. In alten Matrikeln sind zwar auch niederdeutsche Siedler bezeugt, diese sind aber in der mittel- bzw. süddeutschen Mehrheit untergegangen.

Die Sprache und die Volkskultur der Deutschen in Ungarn sind durch die Ansiedlung bzw. durch den Ausgleich verschiedener Volksgruppen geprägt. Bis zur Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, besonders aber bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war der gesellschaftliche Rahmen zur Ausübung und Pflege ungarndeutscher Kultur gegeben. Vor allem was die Folklore betrifft, können wir über ein reiches Material sprechen. Die Forschung hat sich für das deutsche Lied in Ungarn intensiv interessiert. So wurden besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende Sammlungen – oft mit erzieherischem Charakter – veröffentlicht.

1867 veröffentlichte Remigius Sztachovics die „Brautsprüche und Brautlieder auf dem Heideboden” und schrieb einführend: „Bald werdet Ihr auch Eure alten vollständigen geistlichen Gespiele in den Händen haben, als: das ganze Weihnachtspiel sammt allen Euren Weihnachtliedern, und den Sterngesang mit Frag und Antworten, das letzte Gericht, den reichen Prasser, die vier letzten Dinge und wann möglich auch das schöne Passions-Spiel.2

Mit der Gründung der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts wird das Interesse der Forschung auch auf das Liedgut der Deutschen in Ungarn ausgeweitet. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind besonders durch die Tätigkeit von Gideon Petz, Jakob Bleyer und Elmar Schwartz gekennzeichnet.

In den von ihnen in ungarischer Sprache herausgegebenen wissenschaftlichen Arbeiten zur deutschen Philologie, Volkskunde und Sprache wurden aus dem Liedgut der Ungarndeutschen bedeutende Sammlungen veröffentlicht. Besonders die Arbeit von Ägidius Hermann über das deutsche Volkslied in Baderseck/Bátaszék in der Schwäbischen Türkei war wegweisend für die Forschung der folgenden Jahrzehnte.

Die sogenannte Sprachinselvolkskunde zeigte auch großes Interesse für das Sammeln und Bearbeiten des deutschen Volksliedgutes. Man meinte, in den Liedern des Siedlungsdeutschtums archaisches deutsches Liedgut entdecken zu können. Spätere Forschungen haben aber gezeigt, dass das Liedgut dieser Volksgruppe sehr stark vom deutschen Lied des 18. und 19. Jahrhunderts aus den zusammenhängenden deutschen Sprachgebieten beeinflusst wurde, dass man wenig über das mitgebrachte Lied sagen kann und dass ebenso wie in der Gestaltung der Dialekte Mischung, Ausgleich und Überdachung die prägenden Tendenzen in der Folklore waren. Ingeborg Weber-Kellermann hat das Liedgut der ungarndeutschen Gemeinde Mösch/Mözs in der Schwäbischen Türkei untersucht und diese Prozesse festgestellt.3

Sicherlich prägte die Neuansiedlung bedeutend die Folklore der Ungarndeutschen, aber das älteste mitgebrachte Lied ist wahrscheinlich jenes aus der Ansiedlungszeit, welches das Schicksal der Siedler charakterisiert:4

 

Die Donau fließt und wieder fließt

wohl Tag und Nacht zum Meer.

Ein’Well die andere weiterzieht

und keine siehst du mehr.

All’ Frühjahr kehren d’Schwälblein zurück,

der Storch kommt wieder her,

doch die gen Ungarn zogen sind,

die kommen nimmermehr.

 

Das Ungarland ist’s reichste Land,

dort wächst viel Wein und Treid,

so hat’s in Günzburg man verkünd’t,

die Schiff stehn schon bereit,

dort geits viel Vieh und Fleisch und G’flüg,

und taglang ist die Weid,

wer jetzo zieht ins Ungarland,

dem blüht die goldne Zeit.

 

Mein Schatz hat auch sein Glück probiert,

doch nicht zum Zeitvertreib,

und eh’ der Holler ‘s drittmal blüht

so hol ich dich als Weib

und sieben, sieben lange Jahr,

die sind jetzt nun hinab,

ich wollt, ich wär bei meinem Schatz,

doch niemand weiß – sein Grab.

 

Das ungarndeutsche Dorf war Schauplatz für das Singen und Musizieren. Elisabeth Hajdú, eine Mitarbeiterin unseres Germanistischen Institutes, charakterisiert in ihrer Arbeit das Leben in den ungarndeutschen Dörfern folgendermaßen:5Das Dorfleben in den ungarndeutschen Gemeinden war durch die Einheit von Arbeit, Kirche und Freizeit geprägt, deren Rahmen die Dorfmundart sowie die gemeinsame Kultur (Wirtschaft, Religion, Brauchtum, Familienleben, Unterhaltung) bildeten. Das Singen, Musizieren und Tanzen waren bei allen sozialen Schichten organische Bestandteile des Alltags. Die im Kalenderjahr mit festen Bräuchen verbundenen Feiertage (Weihnachten, Heilige Drei Könige, Erntedankfest usw.) wären ohne Sprüche, Lieder, instrumentale Musikbegleitung unvorstellbar gewesen. Bei Familienereignissen (Hochzeit, Beerdigung), gemeinsam verrichteten Arbeiten (Maisausschälen, Schweineschlachten, „Federnschleißen”), kirchlichen Anlässen (Fronleichnam, Kirchweih, Ostern, Pfingsten, König-Stephans-Tag) bzw. Unterhaltungen (Fasching, Bälle) wurde die entsprechende Atmosphäre, der erwünschte Seelenzustand, die allgemeine Stimmung der Anwesenden durch Lieder, Musik, eventuell durch Tanz geschaffen.

Von den Ungarndeutschen wird spaßhaft behauptet, dass sie schon singend, tanzend, musizierend zur Welt kommen. Es ist eindeutig festzustellen, dass die ehemaligen Kolonisten eine entwickelte Musiktradition mit sich gebracht haben. Im Ungarn des l8. Jahrhunderts gab es auf dem Lande kaum musikalische Ereignisse. In den Städten existierten Schulkapellen, bei festlichen Anlässen gab es vereinzelt Turmmusik. Erst in den achtziger Jahren fingen die Großgrundbesitzer an, Zigeunerkapellen zu engagieren, während jede deutsche Gemeinschaft bereits eine kleine „Vorkapelle” oder ein „Vororchester” hatte. Blasmusik war in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren schon damals verbreitet. In Ungarn haben erst die Kolonisten diese Art von Musizieren eingeführt. (Östlich von Ungarn sind dörfliche Blaskapellen ebenfalls unbekannt.)

Bei den deutschen Bauern war es Tradition, die Texte (und eventuell die Melodie) der Lieder in sogenannten Liederhandschriften in der Familie von einer Generation an die andere weiterzugeben. In den „Liedertafeln” sang man regelmäßig gemeinsam und zweistimmig. Auch die Kirchenlieder wurden oft mehrstimmig vorgetragen.

Die Zunftvereine in den größeren Ortschaften (z.B. Ödenburg/Sopron) hatten alle ihre eigenen Zunftliedersammlungen, während auf ungarischsprachigen Gebieten kaum Berufslieder zu finden sind.

Die Entfaltung der musikalischen Bildung war bei den Ungarndeutschen traditionsmäßig gesichert. Die Kinder und Jugendlichen konnten sich diese Kultur in allen Lebensbereichen aneignen. In der Familie wuchsen sie mit Wiegenliedern, Reimen, Kinderliedern, Volksliedern, Erzählliedern auf. Auch in der Schule wurde bis 1900 deutsch gesungen. In der Kirche, bei Prozessionen, bei Beerdigungen sang und musizierte man ebenfalls. Burschen und Mädchen zogen sonntags singend durch die Straßen.

Ob Hochzeiten oder Bälle – überall lernten sie neue Lieder, neue Melodien kennen. In den Gesangvereinen beschäftigten sich die Lehrer, die Kapläne, manchmal sogar die Ärzte oder Tierärzte mit der musikalischen Erziehung der Heranwachsenden.

Im 19. Jahrhundert entstand in Ungarn das „deutsche Handwerk” (Maurer, Steinmetz, Dachdecker, Glasbläser, Metallgießer, Erzgießer, Dreher, Klempner u.a.). Die ungarndeutschen Handwerkergesellen gingen in der Monarchie und in Deutschland auf die Wanderung. Durch die deutsche Sprache lernten sie dort eine hohe technische Kultur kennen und wandten diese ebenso wie die handwerklichen Kenntnisse in Ungarn an. Sie brachten aber auch neue Lieder mit, die sie der Dorfjugend weitergaben. Aus den kinderreichen Familien verpflichteten sich viele Mädchen in die Städte als Dienstmädchen. Auch sie erweiterten den Liederschatz der Dorfgemeinschaft mit vielen dort erlernten Liedern.

Instrumentale Musik wurde durch unmittelbare Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben und gepflegt.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Ortschaften mehrere größere oder kleinere Blaskapellen, die bei den kirchlichen festlichen Ereignissen, bei Beerdigungen oder bei Bällen musizierten. Zu den Hochzeiten wurden oft kleine Musikkapellen, die eine sogenannte Schrammelmusik spielten, von den Nachbargemeinden geholt.

Jede soziale Schicht und jede Gasse im Dorf hatten ihre eigenen Wirtshäuser, in denen sich die Gleichgesinnten unterhielten. Das Gemeindewirtshaus mit dem größten Tanzsaal der Ortschaft konnte für zwei bis drei Jahre gepachtet werden. In diesem Saal wurde seit Anfang dieses Jahrhunderts das Lesefest nach ungarischem Muster in madjarisierender Tracht mit Zigeunermusikbegleitung veranstaltet.

In den Wirtshäusern, die von den Handwerkern besucht wurden, spielte oft schon eine Zigeunerkapelle, und hier wurden auch ungarische Lieder (nóta) gesungen.

Da auch der Schulunterricht für die Kinder nach 1900 ausschließlich in ungarischer Sprache ablief (die Ungarndeutschen durften ihre Muttersprache in bloß wöchentlich 2 Stunden erlernen), lernten die Schulkinder ungarische Lieder. Im Ersten Weltkrieg waren die Soldaten gezwungen, die Lieder der jeweils anderen zu erlernen. Kamen Deutsche in ungarische Divisionen, mussten sie ungarische, gerieten Ungarn in deutsche Divisionen, mussten sie deutsche Soldatenlieder mitsingen. Später bei den Übungen der paramilitärischen Organisation „Levente” durfte nur ungarisch gesprochen und gesungen werden.

Wie auch schon Béla Bartók und später Ingeborg Weber-Kellermann darauf hingewiesen haben, übernahmen die Volksgruppen vieles voneinander bzw. beeinflussten einander auch unbewusst. Gezielte diesbezügliche Untersuchungen wurden zwar nicht durchgeführt, aber im Repertoire der meisten Gewährspersonen, die oft 30–40–60 deutsche Lieder auf Tonband singen konnten, hätte man sicher eine Menge ungarischer Lieder finden können. Bei meiner Mutter kam es mehrmals vor, dass sie das gleiche Lied sowohl mit einem deutschen als auch mit einem ungarischen Text singen konnte („Einst ging ich vors Fensterlein” – „Jártam ablakid alatt egy holdvilágos éjjelen” oder „Still ruht der See ...” „Csendes a tó ...”).

Es gab auch Beispiele dafür, dass in den beiden Sprachen dieselbe Melodie mit einem Text völlig anderen Inhalts gesungen wurde.

In Waschkut/Vaskút (Schwäbische Türkei) lebten Deutsche mit Buniewazen (Serben) zusammen, letztere hatten bei ihren Hochzeiten und Festlichkeiten eine kleine Kapelle aus Zithern. Ob diese Volksgruppen Lieder voneinander gelernt haben, wurde noch nicht erforscht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich vieles in Tradition und Pflege. Die Zwangsaussiedlung der Deutschen (mehr als die Hälfte der Ungarndeutschen wurde nach Deutschland ausgesiedelt) bewirkte einen Bruch in der folkloristischen Tradition. Das Dorfleben änderte sich, die Muttersprache konnte nur im engeren, familiären Bereich ausgeübt werden. Auch das Singen und Erzählen in deutscher Sprache haben den öffentlichen Charakter verloren.

In der Vorkriegszeit gehörte die Pflege des ungarndeutschen Liedes zum Gemeinschafts- und Privatleben der Volksgruppe. Die Nachkriegszeit brachte bedeutende Verluste in diesem Prozess mit sich. Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, die Auflösung der Dorfgemeinschaften, die Umsiedlungen und nicht zuletzt die Zugehörigkeit zur zurückgebliebenen deutschen Minderheit, die Angst hatte, ihre angestammte Sprache zu sprechen, prägten das weitere Schicksal des deutschen Liedes. Im familiären Bereich und in den ganz wenigen Gemeinschaften, in denen Ungarndeutsche in größerer Zahl lebten, wurde das ungarndeutsche Lied zu einem Identitätsmerkmal der Nationalität. Man konnte die Jahresbräuche nicht immer vor der Öffentlichkeit, als Teil des Gemeindelebens ausführen. Vieles pflegte man im engeren Kreis, es war nur für sich, für die Familie, für die unsere Umgebung gedacht. Dies führte auch dazu, dass trotz bedeutender Bevölkerungsverluste bei den Zurückgebliebenen das Pflegen und Tradieren der Muttersprache und der deutschen Volkskultur eine erstrangige Aufgabe wurde.

Bis zum Ende der fünfziger Jahre können wir nicht über eine organisierte, bewusste Pflege der Folklore sprechen. Erst nach 1958/59 änderte sich die Situation. In dem damaligen sozialistischen System erkannte die Staatsmacht, dass auch für die in Ungarn lebenden Minderheiten eine Art – von oben gelenkte – Interessensvertretung notwendig ist. Es entstand ein Verband der Ungarndeutschen, der seine Aufgabe vor allem darin sah, die noch vorhandene deutsche Volkskultur, vor allem das Lied, den Volkstanz, die Volkstracht, durch organisierte Verbandsarbeit im ganzen Land wieder lebendig zu machen. Volkstanzgruppen und Chöre etablierten sich, Rundreisen in ungarndeutsche Regionen wurden organisiert, Sammelaktionen staatlich unterstützt. Sogar die damalige DDR dachte in ihrer Kulturpolitik an die Ungarndeutschen. Ethnographen und Volksliedforscher arbeiteten in Ungarn, unterstützt durch bilaterale Kulturabkommen, um an der Rettung ungarndeutschen Kulturgutes teilzunehmen. Unter der Leitung von Kurt Petermann entstand die größte Filmarchivierung ungarndeutscher Tänze und Festbräuche,6 Axel Hesse führte seine großangelegte Volksliedsammlung unter dem Motto „Auf den Spuren von Herder...”7 durch. In den sechziger Jahren kannte man die Ungarndeutschen vor allem als tanzende und singende Minderheit. Schwabenbälle in der Ballsaison in Budapest und auf dem Lande, Kulturrundreisen, Wettbewerbe („Reicht brüderlich die Hand”) in Komitaten und auf Landesebene dienten der Pflege und Bewahrung der Folklore.

Die ehemalige Intention von Remigius Sztachovics und von Bischof Michael Haas, die deutschsprachige Folkloretradition bewusst zu machen, hatte in dieser Zeit Priorität. Es entstanden die ersten Liedersammlungen der Nachkriegszeit. Karl Vargha leitete die Sammlung und Bearbeitung in Fünfkirchen/Pécs ein. Unter dem Titel „Schönster Schatz”8 wurden die ersten ungarndeutschen Liedersammlungen veröffentlicht. Texte von Kinderliedern, Reimen und Sprüchen sollten im Deutschunterricht für Nationalitäten verwendet werden. An den Universitäten wurden immer öfter volkskundliche Themen für Diplomarbeiten oder Dissertationen vergeben. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Liedgut der ungarndeutschen Handwerker gelenkt. Bergmannslieder wurden gesammelt und bearbeitet, die Liederhandschrift-Tradition der westungarischen Deutschen, der Heidebauern, wieder entdeckt.9 In den siebziger Jahren begründeten der damalige Verband der Ungarndeutschen und die Ungarische Ethnographische Gesellschaft eine Reihe zur Volkskunde der ungarländischen Nationalitäten. Unter dem Titel „Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen” erschien 1975 der erste Sammelband (anlässlich der ersten internationalen Konferenz zur Erforschung der Volkskunde der Minderheiten in Ungarn in Békéscsaba), dem bis 1999 weitere vierzehn Bände folgen sollten. Herausgeber und Redakteur der Reihe ist Karl Manherz. Ortsmonographien und Heimatbücher entstanden; sie enthalten reichlich Liedmaterial im Dienste der Identitätsstärkung. Paradoxerweise scheint in diesen Jahren der Gebrauch der Muttersprache, d.h. des Dialektes, zurückzugehen, aber es wird deutsch gesungen, erzählt und getanzt. In den achtziger Jahren normalisierten sich die Kontakte zur BRD, und Forschung und Pflege erhielten vielseitige Impulse von deutschen Institutionen: vom Johannes-Künzig-Institut in Freiburg, von den Verbänden der Heimatvertriebenen. Die vielseitige Forschungstätigkeit unter den in die BRD vertriebenen Deutschen ist besonders in der Tätigkeit eines Alfred Camman, eines Eugen Bonomi, der Südosteuropa-Gesellschaft und anderer mehr zu entdecken. Zahlreiche Publikationen in Ungarn, Bearbeitungen für Chöre und wissenschaftliche Analysen sollten dazu verhelfen, das deutsche Lied in Ungarn wieder lebendig zu machen. Ludwig Hollós bearbeitete die deutschen Balladen in Ungarn mit ihren sämtlichen Varianten.

1984 veröffentlichte der Budapester Europa Verlag eine Sammlung von Axel Hesse und Karl Manherz: „Holzapfels Bäumelein wie bitter ist dein Kern”,10 eine Sammlung von Liedern, Sprüchen, Reimen und Balladen der Ungarndeutschen. Die ungarische Übersetzung stammt von Márton Kalász. Das Buch war in Kürze vergriffen, 1995 erschien die zweite Auflage. Zwei Beispiele aus dieser Sammlung:

 

Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen

 

Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen,

er sehnet sich nach seinem Weib und Kind,

er muß durch einen tiefen Wald durch reisen,

so plötzlich stellt ein Räuber ihm den Weg.

 

Gib mir’s dein Geld, sonst muß i dich ermorden,

mit diesem Dolch durchbohr i’s deine Brust!

Mein Geld, mein Geld, das kann i’s dir nit geben,

ich bring es schon von weit an meiner Brust!

 

Was tragst du Geld auf deiner nackeder Brust?

Was tragst du Geld auf deiner nackeder Brust?

Ein Bild, ein Bild von meiner Mutter,

ein Bild, ein Bild, das trag ich selber inn’!

 

Du bist mein Freund, du sollst es auch verbleiben,

zum Bild der Mutter hab i’s keine Lust,

zehn Jahr sind hin, zehn Jahr sind schon vergangen,

verzeich, verzeich, dein Bruder steht vor dir!

 

Es war einmal ein braver Husar

 

Es war einmal ein braver Husar,

der liebt’ ein Mädchen ein ganzes Jahr.

Ein ganzes Jahr und noch viel mehr,

die Liebe nahm kein Ende mehr!

 

Und als ich in die Fremde kam,

da wurde mir mein Liebchen krank.

So krank, so krank bis in den Tod,

drei Tag, drei Nacht spricht sie kein Wort.

 

Und als ich diese Botschaft hört,

da setzte ich mich auf mein Pferd.

Ich nahm mein Rock und meinen Hut,

Und reiste nach mein Liebchen zu.

 

Und als er vor die Haustür kam,

da fing er schon zu weinen an.

Wein nicht, wein nicht du braver Husar,

es gibt noch Mädchen viel tausend ja.

 

Es gibt ja Mädchen viel tausend ja,

aber solche nicht, wie sie mir war.

Es gibt ja Mädchen viel tausend ja,

aber solche nicht, wie sie mir war.

Das Interesse für das deutsche Lied in Ungarn ist also sowohl in der Forschung als auch unter den Ungarndeutschen selbst, aber auch bei anderen Minderheiten vorhanden.

Durch die in den letzten zehn bis zwölf Jahren entstandenen Partnerschaften zwischen deutschen und ungarndeutschen Gemeinden, durch die Förderung des ungarndeutschen wissenschaftlichen Nachwuchses durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (Sitz in Bonn), durch die wachsende Zahl ungarndeutscher Germanistik-Studenten an den Hochschulen und Universitäten scheinen Pflege und Erforschung bzw. Bearbeitung des deutschen Liedes gesichert zu sein.

In einer Dissertation über die Bergmannslieder aus St. Iwan bei Ofen/ Pilisszentiván fasst Katalin Árkossy folgende Zielsetzungen zusammen:11Der grundlegende politische, wirtschaftliche, kulturelle und vor allem technologische Umbruch, der von den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg bis heute auch unser Land erfasst hat, hat tiefen Einfluss auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen, jeder Familie und innerhalb der Gesellschaft ausgeübt. Der allgemeine Modernisierungsprozess, die Urbanisierung und Industrialisierung lösen die geschlossenen Dorfgemeinschaften auf. Die Nähe der Stadt fördert das Pendlerwesen oder den Umzug, was die Kontinuität der Vermittlung spezifischer kultureller Werte stört.

Die Informationsflut über die Medien und Entwicklungen in anderen Bereichen haben Einfluss auf das tägliche Miteinander der Menschen, auf die Freizeitentwicklung und Interessenlagen jedes Einzelnen. Dadurch besteht die Gefahr, dass Althergebrachtes, wie Brauchtum und Gepflogenheiten, so zum Beispiel die Ausdrucksformen Volkslied und Volkstanz, nicht mehr innerhalb der Familie oder der Dorfgemeinschaft weitergegeben werden und verlorengehen.

In vollem Maße trifft diese Feststellung auf die Sprache und das Kulturgut der Ungarndeutschen zu, wo es darum geht, die Muttersprache und das kulturelle Erbe der Vorfahren in einer fremdsprachigen Umgebung, weit vom Herkunftsort entfernt, trotz teils erzwungener Assimilationsversuche zu bewahren.

Ich hatte Gelegenheit, durch eigene Beobachtungen über dreißig Jahre hindurch festzustellen, wie stark äußere Einflüsse auf den Gebrauch des Volksliedes und den Charakter des Volksliedgutes eingewirkt haben. Deshalb entstand der Gedanke, eine Dokumentation von Volksliedern anzulegen.

 

Ziel der Arbeit ist:

1. Durch die Dokumentation von Volksliedern einen kleinen Anteil zur Bewahrung von Brauchtum und Volksgut für die folgende Generation zu leisten. Das soll durch Dokumentation von Volksliedern eines eng begrenzten Territoriums, eben des Dorfes St. Iwan bei Ofen (Pilisszentiván), und speziell der Bergmannslieder erfolgen. Dabei soll untersucht werden:

– welche Lieder den hauptsächlichen Liederschatz in St. Iwan bildeten,

– ob Einflüsse aus anderen Territorien und von anderen Berufsgruppen zu erkennen sind,

– wie das Liedgut weitergegeben und womöglich verändert wurde,

– welche Möglichkeiten sich bieten, den Liedschatz in der Neuzeit lebendig zu halten.

2. Durch Untersuchung, Auswertung und Analyse der Dokumentation einen gesellschaftsübergreifenden Einblick in die Veränderung der Lebenssituation, gesellschaftlichen Werte, Normvorstellungen, ethnischen Identität, Sprache und Kultur der Ungarndeutschen zu geben. In der Untersuchung sollen folgende zentrale Problempunkte behandelt werden:

– Assimilationsprozess der Ungarndeutschen und dessen geschichtliche Ursachen,

– Wechselwirkung zwischen Sprache, Kultur und Identität,

– Volkskultur als Vehikel der Identität der Ungarndeutschen,

– heutige Möglichkeiten der Kulturtradierung ...

Ich denke, diese Ziele sollten die Pflege der Folklore der Ungarndeutschen auch zukünftig bestimmen.

 

Anmerkungen

 1

Claus Jürgen Hutterer: Die deutsche Volksgruppe in Ungarn. In: Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Budapest 1975, S. 11ff.

 2

Remigius Sztachovics: Braut-Sprüche und Braut-Lieder auf dem Heideboden in Ungern. Wien 1867.

 3

Ingeborg Weber-Kellermann: Der Volksliedbestand in einem deutsch-ungarischen Dorf. Beitrag zu einer volkskundlichen Charakteristik der Donauschwaben. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 13. Wien 1964, S. 98–130.

 4

Dokumentation im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.

 5

Vortragsmanuskript.

 6

Dokumentation im Musikwissenschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest.

 7

Sammlung Hesse. Dokumentation im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.

 8

Ludwig Hollós und Julius Gottfried Schweighofer (Hg.): „Schönster Schatz ...” Ungarndeutsche Volkslieder. Budapest 1979.

 9

Karl Manherz und Marietta Boross: Der St. Johanner Kodex. Budapest 1991.

10

Karl Manherz (Hg.): „Holzapfels Bäumelein wie bitter ist dein Kern”. Aus der Folklore der Ungarndeutschen. Budapest 1984, zweisprachig.

11

Katalin Árkossy: Sprache und Gesellschaft eines ungarndeutschen Bergmannsdorfes im Spiegel seines Liedergutes. In: Ungarndeutsches Archiv 1. Budapest 1997. (Schriften zur Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte der Deutschen in Ungarn). Periodikum des Germanistischen Instituts der Eötvös-Loránd-Universität.