1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest Band 1:25–29.

ERHARD BUSEK

Vision Mitteleuropa

Mitteleuropa in einer zukünftigen Europäischen Konföderation

 

„Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren.

Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen.”

(HANS BLUMENBERG, Die Sorge geht über den Fluß)

 

Lassen sie mich zuerst einige Eckpunkte der gegenwärtigen realen Verfassung Europas beschreiben. Diese sind so beschaffen, dass sie in die Zukunft hineinwirken. Nur dann kann man die Chancen und die Funktion des Mitteleuropa in einem zukünftigen Europa festmachen.

Das Europa von heute ist nicht mehr das Europa, das es vor fünf Jahren war. Das Europa in fünf Jahren wird sich wesentlich vom heutigen Europa unterscheiden. Wir sehen: Europa ist keine festgeschriebene allgemeingültige Ordnung. Europa folgt keiner wie immer gearteten inneren Systematik. „Nur eine schlechte Geographie, die den Faktor der Zeit vernachlässigt, wird Europa als ein Gebilde mit festgelegten Konturen betrachten”, schreibt der polnische Historiker Krzysztof Pomian. Er spricht weiter davon, dass es nur eine Geschichtsschreibung sein kann, die ihre eigenen Prinzipien vergisst, wenn sie Europa einen einzigartigen stets gleichleibenden Inhalt zuordnet, sei er religiöser, rechtlicher, ökonomischer, ethischer oder kultureller Natur. Die Genealogie Europas ist durchdrungen mit vielfältigen, unterschiedlichen und bisweilen einander ausschließenden Inhalten, deren spezifische Gewichte, Erscheinungsformen und Auswirkungen sich in Zeit und Raum wandeln.

Europäisch ist daher nicht, was einheitlich ist. Aber auch die Vielfalt reicht nicht aus, um die Statik der neuen Architektur Europas zu berechnen. Denn Europa ist im Fluss. Europa ist eine Bewegung. Europa ist der Gestaltung offen. Nur ein Begreifen von Europäischer Politik als eine prozesshafte „Umwegpolitik” wird der europäischen Wirklichkeit gerecht. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass wir die starre und verkürzte Definition von Europa hinter uns lassen müssen; zu Gunsten eines offenen und liberalen Begriffes von Europa, der alle Menschen miteinschließt, die Europäer sind. Welchen Inhalt geben wir also dem zur Hülse inflationierten Begriff Europa?

 

Europa und die EG

Öffnet man die Archive Europas so legt man eine Biographie frei, die gekennzeichnet ist von Brüchen und Grenzen. Die Erfahrung im Umgang mit Ausgrenzungen und Einbrüchen hat uns ein Geschick zur Bewahrung der längsten Zeit politischen Friedens in Europa beigebracht. Dieses Geschick, das nach dem Schock des 2. Weltkrieges geprägt war vom Willen zu einer Verständigung der Völker und von der Vorstellung eines Europa ohne Grenzen, ist eingeflossen in die Institutionalisierung von Gemeinschaften (EG) und Konferenzen (KSZE).

Angesichts einer sich verändernden Welt scheint es, als wären den europäischen Institutionen dieser Wille und diese Vorstellung abhanden gekommen. Gegenüber einer Welt, die aus den Fugen gerät, entpuppt sich die Europäische Gemeinschaft plötzlich als konservative Festschreibung einer politischen Ordnung, die längst der Vergangenheit angehört. Bisweilen wird die Europäische Gemeinschaft gleichgesetzt mit Europa. Aber sie ist es noch nicht. Und sie ist auf dem besten Weg, es auch nie zu werden. die Ohnmacht gegenüber einer hysterisch gewordenen Armee in Jugoslawien und die Hilflosigkeit gegenüber den Veränderungen in Ostmitteleuropa sind dafür ein Beweis.

Der Euro-train der Zwölfergemeinschaft fährt einer entscheidenden Weichenstellung entgegen. Entweder begibt sich die EG auf das Geleise einer zentralisierten politischen Union mit gemeinsamer Währungs-, Sicherheits- und Außenpolitik, oder es bleibt bei einer Marktverwaltung im Sinne einer losen Gemeinschaft weitgehend souveräner Staaten. Lassen sie mich dazu zweierlei anmerken:

Die zweite, früher von de Gaulle mit seinem „Europa der Vaterländer” verkündete, heute am stärksten von London favorisierte Vorstellung erlaubt die Perspektive einer raschen Erweiterung der Brüsseler Gemeinschaft. Ein loses Gefüge könnte auch zu einer schnelleren Einbindung mittel-osteuropäischer Staaten führen. Das Ziel einer zunehmenden politischen Integration ruft dagegen vordringlich nach Vertiefung der Gemeinschaft im harten Kern. EG-Kommissionspräsident Delors befürchtet sonst den Niedergang und Auflösung der Gemeinschaft, die es in seinem Augen bis jetzt bloß zu einer dynamischen Marktverwaltung gebracht hat. Während im Fall der zentralisierten Union die politische und wirtschaftliche Spaltung Europas bis auf Jahrzehnte prolongiert würde, droht in der anderen Variante der EG ein Spagat von zunehmender wirtschaftlicher Integration bei zunehmender politischer Dissoziation, der die von Delors ausgesprochenem Folgen haben könnte.

 

Die EG und Österreich

Für ein noch nicht der Gemeinschaft angehörendes Land wie Österreich bedeutet diese Unsicherheit, dass es im Unklaren darüber weilt, zu welcher Form der europäischen Gemeinschaft es eine Beitrittserklärung abgegeben hat. Feststeht, dass die Errichtung des EG-Binnenmarktes auf jeden Fall Auswirkungen auf Österreich haben wird. Egal ob Österreich dabei ist oder nicht, es bleibt auf keinen Fall alles beim Alten. Es stellt sich nur die Frage, ob Österreich bei der Gestaltung der Verfassung der neuen europäischen Gemeinschaft mitreden will.

Denn Österreich hat auch etwas zu sagen. Unser Land bringt nicht nur die Stabilität eines funktionierenden Sozialsystems, einer ausgeglichenen Wirtschaft und eines lebendigen Marktes in den europäischen Diskurs ein, sondern vor allem Kontinuität und Erfahrung im Umgang mit den Staaten Ost-Mitteleuropas. Die etwas andere Außenpolitik Österreichs dem Krieg in Jugoslawien gegenüber dokumentiert das geopolitisch bedingte Anderssein Österreichs. Österreich bringt auf Grund seiner Geschichte und seiner Nähe zu den Schauplätzen von ‘89 eine andere Qualität des Denkens und des Handelns in die europäische Politik ein. „L’Europe a besoin de l’Autriche” (Le Monde). Diese Besonderheit zeigt sich zum Beispiel an der lobenswerten Initiative des Außeninstituts der TU-Wien, das im Bereich des EG-Entwicklungsprogramms für Osteuropa „TEMPUS” sich zum besten und kompetentesten Europas hinaufgearbeitet hat. Ein Beweis dafür, dass die Unterstützung für Osteuropa nicht nur eine Frage des Geldes ist. Was gefragt wird, ist Engagement und professionelle Organisation.

Ich möchte damit sagen: Österreich hat die Chance, dem blass gewordenen Begriff Europa eine neue Qualität zu verleihen. Dazu müssen wir unsere Vorstellungen zur politischen Gestaltung des neuen Europa klar machen und unsere politischen Interessen und Ziele definieren. Das schulden wir der Idee und dem Schicksal Österreichs wie der Idee und dem Geschick Europas. Ein erster Schritt ist getan.

 

Der EWR und Europa

Der institutionelle Rahmen des EWR hängt schief. Da die EG sich als Rechtsgemeinschaft versteht, vermag sie außenstehenden Vertragspartnern, die nicht Mitglied sind, keine volle Mitbestimmung einräumen, was die Setzung neuen Rechts betrifft. Der EWR ist und bleibt daher die Konstruktion einer Etappe auf dem Weg zum Einen Europa.

Der EWR ist ein kleiner Schritt für die Welt, aber ein großer Schritt in Richtung eines ganzheitlich integrierten Europa. Auf zwei Fragen der europäischen Gegenwart gibt das größere Wirtschaftseuropa aber keine Antwort.

1. Europäische Hauptstadt ist nicht mehr Rom, sondern Brindisi, ist nicht mehr Paris, sondern die Banlieus, ist nicht mehr Berlin, sondern Hoyerswerda. Kaum ein Wahlkampf wird in Europa geführt, der nicht Bestandteile der verbalen Gewalt gegen Ausländer in sich trägt. Diese bereitet das Feld für die körperliche Gewalt. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck spricht sogar von einer „Modernisierung, bzw. Europäisierung der Apartheid”, die unter den Bedingungen eines aufklärischen Anspruches in Europa viele Konflikte heraufbeschwören würde.

Zwar ist wohl allen bewusst, dass diese Probleme europäische Dimension haben, aber das institutionalisierte Europa weiß keinen Ausweg. Mehr als zaghafte Empfehlungen hat es noch nicht gegeben. Im Symbol zeigt sich, dass in dringenden und drängenden Fragen die nationalen Individualismen über dem Gemeinschaftssinn stehen.

In der Art und Weise wie Europa mit der sprechenden und schlagenden Gewalt gegen Ausländer im inneren umgeht, drückt sich das Verhältnis Europas gegenüber der restlichen Welt aus: arrogant und ambivalent. Eurozentriert arbeiten wir eher an der Abschottung Europas von der Welt als an einer offenen Gemeinschaft. Zu Beginn der neunziger Jahre heißt die große Konfliktlinie: offene Republik versus Festung Europa.

2. Auf die drängenden Fragen und Hoffnungen der vom kommunistischen Joch befreiten Länder hat das westliche Marktgefüge noch immer keine Antwort gefunden. Tadeusz Mazowiecki beschreibt die Schwierigkeiten und Gefahren des Aufbauprozesses: „Der Aufbau der Demokratie auf den Ruinen des Kommunismus ist nicht nur der Austausch eines Segments des Gemeinwesens. Er umfasst alle Gebiete und zwar auf einen Schlag.” Mazowiecki spricht davon, dass die Revolutionen für Westeuropa eine Überraschung waren und dass aus mangelndem Verständnis für die Gefahren des demokratischen Wandels „die sich häufenden Schwierigkeiten heute oder morgen wiederum eine Überraschung bringen könnten”.

Auf keine dieser beiden verschiedenen Entwicklungen war Europa vorbereitet. Aber Europa hat es nicht verstanden, aus der Not eine Tugend zu machen und mit entschlossenen Schritten auf diese beiden Entwicklungen zu reagieren. Die Folge davon können böse Überraschungen in der Zukunft sein. Europa wäre nicht nur im Besitz eines geistigen und ökonomischen Potentials, um Zeichen und vor allem Aktionen zu setzen, sondern Europa hätte auch die Verantwortung dafür. Dieses Bewusstsein fehlt. Auch aus diesem Grund ist ein Überdenken der europäischen Institutionenwelt oder deren Umbau oder deren Neuerrichtung angesagt.

 

Europa und Mitteleuropa

Was hat das alles mit Mitteleuropa zu tun? Lassen sie mich zu Hans Blumenberg und die „Sorge geht über den Fluss” zurückkehren. Dieser schreibt: „Die Umwege sind es aber, die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben. Die vermeintliche »Lebenskunst« der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei”. Mitteleuropa als Umweg, der der totalitären, reinen Stringenz des Realen Sozialismus entgegengewirkt hat, besaß als kulturelle und politische Vision diese „Funktion der Humanisierung des Lebens”.

Es war eine menschliche, kosmopolitische Variante des Umwegs in Richtung Europa. In diesem Sinne müssen die Sätze von György Konrád verstanden werden, der 1986 geschrieben hat: „Mitteleuropa, das ist eigentlich nicht mehr als ein Traum. Und gerade das ist daran das Revolutionäre. Vermutlich haben die Visionen eine Chance verwirklicht zu werden. In politischer Hinsicht existieren weder Europa noch Mitteleuropa. Es existieren nur Ost und West. Wenn es Mitteleuropa nicht gibt, dann gibt es auch Europa nicht.”

Diese Sätze sind aktuell. Aus den Köpfen will die Mauer nicht hinaus. „Ost und West” ist nach wie vor eine bestimmende Kategorie. Aus dem Mitteleuropadiskurs können wir einiges an Substanz in die neunziger Jahre herübertragen. György Konrád besorgt dies selbst: „Lehnen wir den Kosmopolitismus prinzipiell ab, dann werden wir logischerweise irgendeinen nationalen Krieg rechtfertigen.” Aus dem Mitteleuropa in diesem Sinne könnte ein Konzept gegen den Flächenbrand des Nationalismus entstehen.

Mitteleuropa noch aus einem anderen Grund: der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat zu den Revolutionen in Osteuropa geschrieben: „Das Aufeinanderprallen der Worte, Freiheit gegen Freiheit, Wahrheit gegen Wahrheit, Gleichheit gegen Gleichheit, könnte am Ende einer Sinnentwertung zum Nihilismus führen. Im Namen dieser zu Parolen degradierten Wörter, im Namen der zur Staatslüge umgewandelten Wahrheit, wurden diese Völker schikaniert, unterdrückt, eingesperrt... Was aber tun sie unter unseren Augen anders, als das Programm des Dichters zu verwirklichen, »donner un sens plus pur aux mots de la tribu«?”

An dieser Wiederentdeckung der Worte können wir uns beteiligen. Gerade die Situation in Jugoslawien zeigt, wie wichtig die Diskussion um die bereits ad acta geglaubten Begriffe von Gleichheit, Selbstbestimmung, Nation, Regionalismus usw. ist. Denn früher oder später und spätestens zum Zeitpunkt der europäischen Einswerdung werden sie uns wieder beschäftigen.

Über den Träger Mitteleuropa könnte dieser internationale Diskurs stattfinden. Dies wäre zumindest ein erster Schritt in die Richtung der Internationalisierung von regionalen Konflikten. Das Mitteleuropa in einer zukünftigen europäischen Konföderation würde die Funktion wahrnehmen, die Rahmenbedingungen für einen offenen internationalen Dialog abzustecken, und könnte damit zu jener kosmopolitischen Instanz emergieren, von der György Konrád spricht, dass sie als „supranationale ideelle Autorität” das friedliche Zusammenleben der Nationen, Völker, Minderheiten und der Menschen garantieren könnte. Mitteleuropa kann in einem starken Netz guter Nachbarschaftsbeziehungen viele radikale Strömungen auffangen und den Einzelstaaten in ihren Schwierigkeiten und Sorgen einen verlässlichen Halt geben. Mitteleuropa könnte das internationale und multikulturelle Gespräch institutionalisieren und dadurch wesentlich zur Entwicklung und Stärkung demokratischer Strukturen beitragen.

 

Zusammenfassung

Europa folgt keinem Versteinerungsprinzip. Europa ist ein Prozess. Europa hat sich den universalen Menschenrechten verpflichtet. Entlang dieser Linie vollzieht sich die Bewegung Europa. Angesichts der neuen Herausforderungen von außen und von innen ist Europa von diesem Kurs abgedriftet. Es liegt an uns Europäern, den Begriff Europa mit neuen Inhalten zu füllen. Österreich könnte an diesem Werk seinen Anteil haben. Gemeinsam gilt es, das neue Europa zu finden; dann können wir uns „Verlieren/Aber vollkommen verlieren/Um dem glücklichen Fund Platz zu machen”. (Guillaume Apollinaire)

 

Erhard Busek, Vizekanzler (Österreich). Sein vorliegender Vortrag wurde am 20. 4. 1994 im Europa Institut Budapest abgehalten.