Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:80–83.
ERHARD BUSEK
Dankesrede anlässlich der Verleihung des Corvinus-Preises
Festvortrag
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist eine außerordentliche Auszeichnung nach István Szabó, Árpád Göncz, Gabriel Andrei Pleşu und Paul Lendvai den angesehenen Corvinus-Preis zuerkannt zu erhalten. Ich bedanke mich beim Laudator, Senator Dr. Herbert Batliner, beim Direktor des Europa Institutes Prof. Ferenc Glatz, beim Wissenschaftlichen Beirat, beim Stiftungsrat und allen Mitwirkenden, aber auch bei den vielen Freunden, die ich hier sehe. Matthias Corvinus, Hunyadi Mátyás hat mich immer tief beeindruckt. Er war in einer Phase Europas ein Herrscher in der Mitte des Kontinents, der vom aufgeklärten Humanismus dieser Zeit geprägt war und eine Art des Regieren vorweggenommen hat, die sich leider erst später generell durchgesetzt hat. Was mich auch fasziniert hat, und das als Wiener, war, dass er von den Wienern freudig aufgenommen wurde, sehr akzeptiert war, was man uns im Geschichtsunterricht immer verschwiegen hat. Dass sich Kaiser Friedrich III. nach Wiener Neustadt zurückziehen musste, die daher den Titel „die allzeit getreue” trägt, war nur die eine Seite der Medaille, wobei es gerade wieder das strategische Denken dieses Kaisers war, dass die Heiratspolitik dazu geführt hat, dass Ungarn und Österreich, damals die habsburgischen Erblande, durch eine lange Zeit einen gemeinsamen Weg gegangen sind. Gerade diese Gemeinsamkeit – ohne Nostalgie – war es, die mich immer sehr beeindruckt hat. Als Jahrgang 1941 gehöre ich einer Generation an, der es in Österreich geschenkt war, nach den Schrecken des Krieges und der Nazi-Zeit in ein Österreich hineinzuwachsen, das zu sich gefunden hatte, jedes Jahr besser lebte und heute ein Teil der europäischen Familie ist. Mir wird es unvergessen bleiben, als nach der Freude über die Freiheit von den Alliierten und dem Staatsvertrag 1955 wir die Flüchtlinge aus Ungarn im November 1956 erlebt haben, junge Menschen, die sich in Sicherheit bringen mussten vor der sowjetischen Macht und der Unterdrückung eines Freiheitswillens, der uns damals ungeheuer beeindruckt hat. Die letzten Worte im Rundfunk, der Appell an Europa, bleibt mir ewig im Gedächtnis. Auch unvergesslich bleibt mir, dass mich mein Vater über die für wenige Tage quasi nicht existierende Grenze zum Nachbarland Ungarn bis nach Győr geführt hat und von Erinnerungen aus seinem Leben in dieser Region sprach, die für mich fremd geklungen haben. Man soll es auch heute deutlich sagen: Für den Westen Europas, auch für Österreich haben in der großen Zahl der Bürger die Nachbarn auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs eigentlich lange nicht existiert, nur mehr in der Erinnerung der älteren Generation.
Nach 1956 war es der Prager Frühling 1968 und später in den 80er Jahren Solidarnosc und das Kriegsrecht, die uns in unserer westlichen Sattheit aufschrecken ließen und zeigten, was auch Europa ist. Es waren Erinnerungsspuren, die Großeltern und Eltern in mich hineingelegt hatten, und das direkte Erleben des August 1968 in Prag, das mich Mitteleuropa für mich entdecken ließ. Ich habe erkannt, dass man kein guter Österreicher und schon gar nicht ein Europäer sein kann, wenn man auf die Nachbarn vergisst. Viele haben auf diesem Weg geholfen, etwa die Historiker Wiens und Graz, die gerade hierher nach Ungarn einen lebendigen Kontakt aufrechterhalten haben. Es war Péter Hanák, Ferenc Glatz und andere, die ihre Partner waren. Es war aber auch die aus der Literatur wie etwa György Konrád, Figuren des Geisteslebens, etwa Nemeskürty, Kosáry und Niederhauser, die in dieser Zeit nicht nur für ihr Land eine große Bedeutung gewonnen haben. Es war István Szent-Iványi, heute EU-Abgeordneter, der mich – als von den Kommunisten von der Universität relegierter Student – durch Ungarn führte und mir sogar ein Bulgakow-Stück lang ins Ohr auf Deutsch übersetzte, übrigens eine Inszenierung von István Eörsi.
Es ist heute die Stunde, dafür Dank zu sagen, dass mir alle diese Menschen hier in Ungarn, aber auch in den anderen Ländern, die heute Mitglied der EU sind oder hoffentlich bald sein werden, beigebracht haben, was wirklich Europa ist. Unvergesslich bleibt mir, dass ich mit wenigen und bescheidenen Risken für Menschen etwas tun konnte, die mit vollem Risiko sich für Demokratie und Europa eingesetzt haben. Für mich war es eine Form des Pfadfindertums, Manuskripte für György Konrád zu schmuggeln, eine Druckmaschine für Gábor Demszky und László Rajk von Wien über die Grenze nach Budapest zu bringen, damit sie die Samisdat-Zeitschrift „Beszélő” drucken konnten und einiges mehr. Mir wird unvergesslich bleiben, dass ich bei der zweiten Landesversammlung von Magyar Demokrata Fórum in Esztergom ein Referat halten durfte, wo angesichts der Bedrohung der Naturlandschaften an der Donau in Ungarn und Österreich erst recht wieder Gemeinsamkeit sichtbar wurde. Wir haben damals den Schlachtruf „Gegen Nagy/burg und Hain/maros” geboren, wobei in unserer beider Länder der Kampf gegen diese Donaukraftwerke eine katalytische Wirkung hatte, in Ungarn vor allem in Richtung Demokratie. Damals habe ich József Antall, den späteren ersten demokratisch legitimierten Ministerpräsidenten kennen gelernt, der durch die Jahre hin bis zu seinem frühen Tod für mich ein Freund geblieben ist. Der ungarischen Schriftstellervereinigung verdanke ich viele Einsichten, aber auch die Zusammenarbeit zwischen den Zeitschriften „Europai Utas" und dem „Wiener Journal” ist einer dieser Marksteine. Árpád Göncz wieder gab mir wichtige Einsichten in das Geistesleben dieses Landes, wobei ich mich auch an die Aufführungen seiner Stücke in Wien mit Freude erinnere. Es ist ein reicher Bogen von Erlebnissen, der von Konfrontationen anlässlich einer Jubiläumspräsentation der „Europäischen Rundschau” von Paul Lendvai mit dem damaligen Regime über TV-Diskussionen wie „Café Central” aufgenommen im Café New York bis hin zu Veranstaltungen des Europa Instituts reicht.
Viel wäre noch zu erzählen, das längst Geschichte geworden ist. Es ist aber eine europäische Geschichte, die uns zeigt, dass wir in diesem Raum nicht nur ein „Laboratorium für Weltuntergänge” sein können, sondern auch eine Versuchsstation für die Zukunft Europas. Das gibt Hoffnung, besonders in einer Zeit, wo es offensichtlich nicht gut um das Verständnis Europas in einigen Ländern steht.
Ein solcher europäischer Weg ist von Ferenc Glatz schon gegangen worden, als er 1989 sein Amt als Erziehungsminister antrat. Auch ich war damals frisch in einer ähnlichen Aufgabe. Über Vermittlung der Wiener Historiker (Arnold Suppan) haben wir uns in Österreich unweit der ungarischen Grenze getroffen, wo mir Ferenc Glatz mitteilte, dass er den verpflichtenden Russisch-Unterricht suspendieren werde und als Ersatz dringend 40–50 Lektoren für die deutsche Sprache brauche. Wir müssen es zugeben: das was wir Westen genannt haben, war auf die Veränderungen im damaligen Osten wirklich nicht vorbereitet. Umso mehr habe ich heute noch Respekt vor allem vor den jungen Leuten, die sich in Österreich entschlossen haben, diese Herausforderung anzunehmen und innerhalb weniger Wochen als Lektoren in den verschiedensten Schulorten Ungarns antraten. Optimistische Perspektiven hatten wir, zu denen auch die Weltausstellung Budapest-Wien zählte, wo ich in enger Zusammenarbeit mit Ferenc Glatz und Károly Manherz ein Projekt betrieb, das an der mangelnden Einsicht in Wien gescheitert ist. Wir hätten damals der Welt ausstellen und zeigen können was Mitteleuropa für Europa bedeuten kann. Daraus ist leider nichts geworden, wohl aber aus dem Europa Institut, das uns heute hier zusammengeführt hat und sich vor allem der Aufgabe, Geschichte und Dialog zu vermitteln, gewidmet hat.
An dieser Stelle möchte ich dem Laudator und dem Benefaktor dieses Institutes Herbert Batliner meinen Dank sagen. Ich betone immer wieder, dass er eine Persönlichkeit ist, die nicht nur in den materiellen Voraussetzungen, sondern auch in den geistigen Bedingungen Grenzüberschreitung betreibt und ermöglicht. Ich habe das hier in Budapest schätzen gelernt, genauso wie beim Europainstitut Salzburg, bei der Schaffung des Kleinstaatenpreises und der Ermöglichung beachtlicher wissenschaftlicher Werke. Es ist ein umfassendes Opus, ein Lebenswerk, das Herbert Batliner mit seinen Stiftungen und unter persönlichem Einsatz geschaffen hat. Es wurde dadurch nicht nur viel möglich, sondern es war immer auch eine kritische Partnerschaft, wobei das Kritische im Sinne der Unterscheidung der Geister verstanden werden muss. Herbert Batliner ist nicht nur ein großzügiger Partner, sondern auch ein drängender, dem Qualität am Herzen liegt. Grillparzer lässt seinen Rudolf II. im „Bruderzwist in Habsburg” zu einem Freund davon reden, dass er eine Auszeichnung trägt: „Unsichtbar ist sie zu tragen”, nämlich im Herzen. Das gilt wohl unter europäischen Perspektiven für Herbert Batliner – es ist eine Auszeichnung für Europa, ihn zu haben.
Fünfzehn Jahre habe ich die Freude, im Europa Institut tätig zu sein. Gerade die gegenwärtige Situation der Europäischen Einigung verlangt es, auch dazu einige Bemerkungen zu machen. Was sich rund um die europäische Verfassung abgespielt hat und noch abspielen wird, ist im Moment kein Anlass zur besonderen Freude. Ich glaube aber, dass man mit ein wenig Distanz den gesamten Vorgang sehen muss. Europäische Integration ist eine Geschichte des Auf und Ab, wobei Europa seit den Römerverträgen 1957 das Talent hat, auch aus seinen Niederlagen zu lernen. Wir sind mit der neuen Situation von 1989 Schritt um Schritt fertig geworden, obwohl es viele Katastrophenszenarien gab. Der letzte Erweiterungsschritt ist uns eigentlich sehr rasch zur Selbstverständlichkeit geworden, weil es eine Rückkehr in die Normalität eines Kontinents darstellt, wo Nachbarschaft und gemeinsame Verantwortung die leitenden Gesichtspunkte sind. Hoffentlich lernen die 25 Staats- und Ministerpräsidenten, dass Europa keine Kopfgeburt sein kann, sondern verlangt, dass man die Bürger auf diesem Weg mitnimmt, Europa erklärt und so dem Civis Europaeus schafft, den Citoyen, der sich als Teilhaber dieses Geschehens auffasst. Das verlangt Kenntnis, Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Gegenwart und den Entwürfen zur Zukunft. Gerade dabei ist es verständlich, dass immer wieder die Nachfrage nach der Identität Europas, nach den europäischen Werten gestellt wird. Dass es keine Angelegenheit der Regierenden, sondern muss aus dem Bereich der Wissenschaft, der Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft und wie ich aus persönlicher Überzeugung auch sagen möchte, aus dem Glauben kommen. Der Kriegsgeneration hat nach 1945 der Einigungsprozess Hoffnung auf Frieden gegeben, aus der in der späteren Folge eigentlich mehr und mehr ein europäischer Wirtschaftsprozess geworden ist. Das ist notwendig, aber zu wenig. Wir haben in vielen Gesichtspunkten die Teilung Europas noch nicht verwunden, wir wissen in Wirklichkeit noch nicht genau, wer unsere Nachbarn sind und müssen uns die Tiefe der Geschichte aneignen, denn darin sind Schätze verborgen, allerdings auch Erfahrungen wie wir es nicht machen sollen. Wir reden von europäischen Perspektiven, Werten und was Europa ist. Darin liegt die Bedeutung des Hinweises auf Matthias Corvinus, den dieser Preis gibt. Die Welt der Renaissance von damals war eine, die nicht aus den Grenzen lebte, sondern zur Grenzüberschreitung aufgefordert hat. Wie selbstverständlich sind damals gelehrte Künstler und Architekten, Studenten und Handelstreibende durch Europa gezogen und haben ihre Spuren hinterlassen. Der Geist des Matthias Corvinus ist in Europa notwendig, grenzüberschreitend und umfassend.
Von Herzen danke ich dem Europa Institut und allen, die an diesem Werk beteiligt sind, für die Auszeichnung, die ich durch sie erhalten habe. Für mich ist das eine bleibende Verpflichtung.