VI.
Projekte, 2001–2005
Zusammenfassung der Resultate
der zwei wichtigsten Projekte des Institutes
2.
Der Systemwandel in Ungarn
Der Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft in Mitteleuropa und die neuerlangte Freiheit der in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone befindlichen Staaten waren einige der Ereignisse unserer Zeit, die die Weltpolitik beeinflussten und ihren Verlauf formten. Gleichzeitig bedeutet der Beitritt der mitteleuropäischen Staaten der Europäischen Union ebenfalls, dass die Europäische Union als Wirtschafts- und Produktionsgemeinschaft potentiell eine oder gar die stärkste Position in der Weltwirtschaft einnehmen kann. Aus diesem Grund wird eine der viel diskutierten Themen in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Geschichte und der Ablauf des Systemwandels in den einzelnen Staaten in Mitteleuropa sein. Und gerade mit der Osterweiterung der Europäischen Union kommt es zu einer in der Weltgeschichte ungewöhnlichen Erscheinung, nämlich, dass der Wechsel eines politischen Systems zu einem Wirtschaftswachstum in der Region führt.
I. Die Definition des Systemwandels
Die in Ungarn angewandten Begriffe, also Systemwandel oder Systemtransformation, galten nur in der deutschsprachigen Literatur als allgemein gebräuchlich (Systemwechsel). Die englischsprachigen Gebiete sprachen eher von einem Übergang („transition”) und heute wird bereits im Großteil der westlichen Fachliteratur „Übergang” benutzt. In den ehemaligen sozialistischen Ländern aber beharren wir auf den Gebrauch des Begriffes „Systemwandel” oder „Systemtransformation”, um auch damit zum Ausdruck zu bringen, dass es sich hierbei um mehr handelt als einen Übergang, oder was die Konnotation des Wortes birgt, gar einen spontanen Prozess. Unter dem Begriff Systemwandel verstehen wir eine Reihe von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Ereignissen, die dazu führen, dass das politische System der Proletardiktatur vom Mehrparteiensystem der bürgerlichen Demokratie abgelöst wird; es bilden sich die individuellen und kollektiven Freiheiten heraus; in der Wirtschaft (sowohl im staatlichen wie im privaten Sektor) herrschen die Gesetzmäßigkeiten und Instrumente der Marktwirtschaft; in der Gesellschaft wird ein gesellschaftspolitisches System zur Sicherung der Mobilität aufgestellt. Auf dem Gebiet der Kultur und Bildung gilt der freie Informationswechsel und die Chancengleichheit, das Individuum genießt sowohl im Inland, wie im Ausland uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, es bildet sich eine auf die griechisch-römische Demokratie beruhende zivilgesellschaftliche Initiative. Nach dem heutigen Stand der Forschungen ging der politische Systemwandel unter angemessenen Voraussetzungen in manchen Ländern innerhalb von einigen Monaten vor sich. Der Systemwandel in der Wirtschaft wurde innerhalb einiger Jahre – bis zur Mitte der 1990er Jahre – abgeschlossen. Der Systemwandel auf dem Gebiet der Kultur geschah ebenso rasch, der soziale Systemwandel mag aber (den Wandel der Traditionen, die allgemeine Denkweise der Gesellschaft miteinbegriffen) erst nach langen Jahrzehnten zum Ergebnis führen.
II. Der Systemwandel in einem ostmitteleuropäischen Vergleich
Die in Ungarn nach 1949 eingeführte Proletardiktatur war das politisch herrschende System, das von den Sowjets auf den von ihnen besetzten Gebieten überall zur Macht verholfen wurde. Wie jedes diktatorische Herrschaftssystem, regelte sie nicht nur die Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staat, sondern baute eine einheitliche (verstaatlichte) Besitzstruktur aus, führte ein Wirtschafts- und Kontrollsystem ein, dass den zentralen staatlichen Anweisungen zu folgen hatte. Deshalb kann der Ablauf des Systemwandels in einem Land (Ungarn) nur im Vergleich mit dem gesamten sowjetischen System verstanden werden. Es sind allein die vergleichenden Untersuchungen, die die spezifischen Züge der Proletardiktatur als System vorzeigen können, nämlich, welche Elemente des Systems unter sowjetischem Druck ausgebaut wurden, und welche Elemente den Vorstellungen von „örtlichen” Politiker entstammten. Die spezifischen Züge der Proletardiktatur in Ungarn sind gerade in letzter Zeit zum Vorschein gekommen, im Rahmen von internationalen Konferenzen, dann in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „História”, und später in einem vergleichenden Studienband, welches das politische System der sowjetischen Zone und der Verlauf der Ablösung des Systems behandelt wurde.
Es wurde ebenfalls klar, dass bei dem Systemwandel in den einzelnen Ländern – jeweils abhängig von den örtlichen Intellektuellen und der politischen Elite – der Ausgangspunkt im politischen Verwaltungswesen, in den Reihen der sich gerade bildenden Opposition oder, gar in Folge der Reformen Gorbatschows, in Moskau zu suchen ist. (Das bedeutet, dass die örtliche politische Elite – z. B. in der DDR, in der Tschechoslowakei, Bulgarien – sich eindeutig den Kräften widersetzte, die einen Wandel des politischen Systems anstrebten, aber auch den innerhalb und außerhalb der Partei formenden Gruppen, die Reformen einführen wollten.)
Es wurde auch klar, dass der Systemwandel in den verschiedenen Ländern auf den verschiedenen Gebieten der Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, des gesellschaftlich-öffentlichen Lebens begann. In Ungarn führten die Reformbestrebungen auf den Gebieten der Wirtschaft und der Kultur zum Systemwandel, in Polen geschahen diese auf den Gebieten der Politik und Kultur, usw.
Es wurde ebenso klar, dass das Tempo des Systemwandels in den einzelnen Ländern verschieden war. Was die in den einzelnen Ländern erfolgten Systemwandel gemeinsam haben, ist eine Beschleunigung des Vorgangs im Jahre 1989-90, wobei es nur in Polen, Ungarn und paradoxer Weise in der Sowjetunion ernstzunehmende innenpolitische Vorzeichen gab. Der Systemwandel auf dem Gebiet der Kultur und der Gesellschaft, welches gleichzeitig mit dem politischen Systemwandel oder darauf folgend vor sich ging, zeigt ein buntes Bild. Der größte Unterschied besteht in der Errichtung der neuen, bürgerlich demokratischen, bzw. marktwirtschaftlichen Institutionssysteme.
Im Vergleich mit den ehemaligen sozialistischen Ländern war der Systemwandel in Ungarn am besten vorbereitet, die Staatspartei integrierte, gerade als Auswirkung der Revolution von 1956, bereits nach 1963, später nach 1977 und 1984, immer öfter bürgerlich demokratischen Institutionssysteme zuerst in die Wirtschaftspolitik, dann in das Verwaltungswesen. Sie löste Schritt für Schritt die außenpolitische Isolation des Landes auf. (In erster Linie nach Frankreich und Deutschland hin.) Die Reformen Gorbatschows wirkten sich weltweit aus, und so ging die Aufweichung der ungarischen Proletardiktatur weiter voran, und bis zu den Jahren 1988-89 wurden neben den Reformern des Systems auch die immer lauter, die sich für die Ablösung des Systems aussprachen. Die Staatspartei des ungarischen Systems unternahm, verglichen mit den ehemaligen sozialistischen Staaten, den weitesten Weg in Richtung der bürgerlichen Demokratie, und nannte sich bereits in den letzten Jahren der 1980er Jahre mal offen, mal halboffiziell eine sozialdemokratische Partei.
Es zeigen sich neben den für ganz Ostmitteleuropa geltenden spezifischen Gegebenheiten durch die Einführung der sog. Perestroika in den einzelnen Staaten auch die existierenden Unterschiede. In Ungarn gilt ab 1987 die Perestroika als die „offiziell” anerkannte Politik, und das führt zur endgültigen Auflösung der außenpolitischen Isolation, zum zweistufigen Bankensystem und zur Besitzreform (1988), zum kulturpolitischen Systemwandel (1989-90), zur Errichtung des Mehrparteiensystems (10. März 1990), und schließlich zur Unterzeichnung des Vertrages über den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen.
Im Vergleich mit dem Systemwandel in anderen mitteleuropäischen Ländern nahm Ungarn einen vorrangigen Platz auf dem Gebiet der Wirtschaft, Politik und Kulturpolitik ein.
III. Die zeitliche Festlegung des Systemwandels
Die Definition des Begriffs „Systemwandel”, sowie der mitteleuropäische Vergleich hilft den ungarischen Systemwandel zeitlich einzuordnen. Chronologisch gesehen haben wir 1986 als den Anfang (das Einsickern der Reformen Gorbatschows nach Ungarn) und 1994 als den Abschluss des Systemwandels anerkannt. (In 1994, so stellten wir fest, konnte der Systemwandel nicht mehr umgekehrt werden: bei den zweiten freien politischen Wahlen kam „eine der Nachfolgeparteien” aus den Reihen der Opposition zur Macht und führte das zwischen 1989 und 1990 ausgebaute und später in seinen Grundzügen etwas abgeschwächte politische System weiter.) Der Schwerpunkt unserer Forschungen fällt gerade auf diesen Zeitraum. Aber gerade aus den obigen Ausführungen folgend soll die Periode vor 1986, bzw. nach 1994 als ein integranter Teil des in Ungarn erfolgten Systemwandels behandelt werden – selbstverständlich abhängig davon, welche Fachgebiete im Einzelnen untersucht werden. (Auf Grund unserer Forschungen vertreten wir die Ansicht, dass der soziale Systemwandel bis heute – also bis Anfang des Jahres 2005 – nicht abgeschlossen wurde. So beginnen wir die Chronologie des Systemwandels mit 1986, aber unternehmen eine detaillierte Untersuchung der Geschehnisse bis 2000, gerade weil wir bei unseren Forschungen die Geschichte des Alltags und die Errichtung von Institutionssystemen auf verschiedenen Ebenen ebenfalls miteinbeziehen.
Bei der Definition der Vorgeschichte des Systemwandels gibt es zwei gegensätzliche Auffassungen. Die eine Auffassung zählt die von innen ausgehenden Reformbestrebungen zur Vorgeschichte des Systemwandels. (So z.B. die in 1965 eingeführte wirtschaftliche Reform, die in 1974 begonnene Reform des Verwaltungswesens, die in 1982 angefangene Wahlreform, usw.) Nach Meinung der Vertreter dieser Auffassung kann man nicht rekonstruieren, ob die von innen ausgehenden Reformen das Bild eines anderen, bürgerlichen Staatssystems, vor Augen hatten oder lediglich die Proletardiktatur funktionsfähig zu machen wünschten. Es ist selbstverständlich, dass über das Endziel dieser Reformen nicht offen gesprochen werden durfte, da diese die Grundprinzipien und das Bestehen der Proletardiktatur an sich gefährdeten, und somit auch in der sog. „weichen” Phase mit sofortiger Wirkung erstickt worden wären. Die Zusammenfassung der Argumentation lautet folgender Weise: Es ist nicht wichtig, was die Reformer sagten, oder wer für die Einführung der Reformen kämpfte, wichtig ist welche Zielsetzungen sie hatten, und in wie weit diese Zielsetzungen durch die Ausführung von Maßnahmen verwirklicht wurden. – Die andere Auffassung grenzt den Systemwandel durch die Jahre 1988 und 1990 ein (eigentlich auf den Zeitraum der ersten und zweiten Németh-Regierung) und betrachtet die Reformen Gorbatschows in 1986 lediglich als Vorereignisse. Diese Auffassung geht von der politischen Zielsetzung aus und unterscheidet zwischen denen, die das System reformieren wollten, und die, die das System ablösen wollten. Die erste Auffassung betrachtet die Reformer aus der Zivil- und Parteisphäre des Parteistaates als die vorantreibende Kraft der Reformen, die zweite Auffassung dagegen erkennt nur die sich illegal oder später legal gegen das System auflehnenden politischen Kräfte als Vorbereiter des Systemwandels an. (Seit 1990 gibt es selbstverständlich auch eine Auffassung, die den Beginn des Systemwandels ab den ersten freien demokratischen Wahlen – April des Jahres 1990 – rechnet und die Ereignisse vor diesem Zeitpunkt unbeachtet lässt, und nur in manchen Fällen die politischen Geschehnisse der Jahre 1989 und 1990 als einen Teil der Vorgeschichte des Systemwandels anerkennt.)
Die Diskussionen über den zeitlichen Ablauf des Systemwandels sind heute vielmehr von den Legitimationsinteressen der politischen Kräfte geprägt. Die im Rahmen des Projekts von Historikern zusammengestellten Chronologien und Datenbanken, aber auch die von Mitarbeitern der Institute für Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Weltwirtschaft und des Forschungsinstituts für Soziologie angefertigten Studien geben diese Diskussionen treffend wieder.
IV. Der Systemwandel und die weltpolitischen Faktoren
Der Systemwandel in Ungarn (und in Ostmitteleuropa) war und ist bis heute ein Kampffeld zweiten Ranges in der neuen Weltpolitik und Weltwirtschaft. Die globale Betrachtung des Systemwandels weist auf die entscheidende Rolle von drei globalen Faktoren hin:
a) Die wirtschaftliche Globalisierung war ein wichtiger Faktor des Systemwandels. Aus der Reihe der Staaten des sozialistischen Blocks integrierte sich Ungarn bis zum Wendepunkt des Systemwandels am stärksten in diese wirtschaftliche Globalisierung ein. Dies geschah dank dessen, dass die ungarische politische Führung die überretteten Ergebnisse der Revolution von 1956 ausnutzte und die wirtschaftlichen „Schwächen” der Sowjetunion erkannte, sowie das Aufleben der jahrtausendlang bestehenden kulturellen und geistigen Anknüpfungspunkte der ungarischen nationalen Kultur zum Westen hin innerhalb des Staatssystems wieder duldete. Die ungarische Außenwirtschaft baute die Beziehungen nicht nur zu den vom sowjetischen System anerkannten Ländern hin aus, wie Deutschland und Frankreich, beteiligte sich nicht nur aktiv in der sog. Dritten Welt, sondern hielt mit den Vereinigten Staaten, den skandinavischen Staaten, und sogar mit Japan und China aktive wirtschaftsdiplomatische Beziehungen aufrecht. Als Ergebnis bildete sich eine in der Weltwirtschaft gut bewanderte Generation von Ökonomen, Handelskaufleuten und Bankiers heraus. Diese in der westlichen Marktwirtschaft bewanderten Fachleute (unsere Untersuchungen ergaben, dass sie einen Teil der intellektuellen Elite bilden) trieben den wirtschaftlichen Systemwandel voran. Denen ist unter anderem zu verdanken, dass in Ungarn als erstes das zwei-stufige Bankensystem, den Anforderungen der Marktwirtschaft entsprechend, errichtet wird, sowie die wirtschaftsrechtliche Harmonisierung in der Gesetzgebung beginnt. Dem letzteren ist es zu verdanken, dass die ungarische Wirtschaft während des Prozesses des politischen Systemwandels in die globalen Institutionen der Wirtschaft eingegliedert werden kann. Im weiteren, dass Ungarn während des Systemwandels das internationale Schuldenpaket, das bis zum Jahre 1990 angehäuft wurde und mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes drohte, angemessen gehandhabt werden konnte, und Ungarn in Osteuropa – dank der starken vermittelnden Rolle der Handelskaufleute und Bankiers – zum bedeutendsten Zentrum der Banken, und sogar zum Einkaufszentrum wurde.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung beeinflussten den Privatisierungsprozess auf grobe Weise. Die großen westlichen Investitionsfirmen strömten nach 1990 ins Land. (Zwischen 1990 und 2000 erschien in Ungarn mehr internationales Kapital als in den ehemaligen sozialistischen Ländern insgesamt – die Sowjetunion natürlich nicht mitgerechnet.) Die wirtschaftliche Privatisierung wurde bereits von dem nach Europa hin kompatibel ausgerichtetem Wirtschaftsrecht in den wichtigsten Verwaltungszweigen gewährleistet. In Ungarn machten die Produkte der privatisierten Industriegroßunternehmen 70 % des Außenhandels aus. Gleichzeitig bricht aber – ähnlich wie in den benachbarten sozialistischen Ländern – die auf die Sowjetunion angewiesene Schwerindustrie, und teils die Basis der Lebensmittelproduktion im Agrarwesen zusammen. Soziologische und ethnographische Studien, aber auch historisch-statistische Daten zeigen, dass die ländlichen Regionen allgemein abgeblieben sind (es gibt vor allem einen qualitativen Riss zwischen dem Lebensstandard der Menschen auf dem Land und in der Hauptstadt). Bei der Privatisierung der Unternehmen zur Lebensmittelaufarbeitung konnte kein inländisches Kapital einbezogen werden, so fielen diese in die Hände der großen internationalen Firmen, die die Rohstoffe für die Aufarbeitung aus ihren bereits ausgebauten ausländischen Quellen und von ausländischen Herstellern beziehen. Somit gibt es das Ungarn – mit seinen im europäischen Vergleich hervorragenden Eigenschaften das Klima, den Boden, die Wasserwirtschaft betreffend – das wir als ein lebensmittelproduzierendes Land kennen, nicht mehr. Es gibt diesbezüglich zwei Auffassungen: die eine sieht in der Landwirtschaft das Potential, womit Ungarn in den Markt einfallen kann, sofern eine strukturelle Umgestaltung der Produkte und eine Umgestaltung der Besitzstruktur durchgeführt werden. Die andere Auffassung vertritt die Meinung, dass die landwirtschaftliche Produktion noch weiter zurückgehen muss, da es in Europa bereits ein Überfluss an Lebensmitteln herrscht. Keine der zwei Auffassungen ist aber im Stande, ein angemessenes Zukunftsbild zu bieten – zumindest keins, das von den Vertretern beider Meinungen angenommen werden kann – welches darauf ausgerichtet wäre, dass ein angemessenes Verhältnis zwischen Umweltwirtschaft und Lebensmittelproduktion zustande kommt.
Die Vorteile und Nachteile der Weltwirtschaft, die Umgestaltung der ungarischen Wirtschaftsstruktur, die Umformung des ungarischen Wirtschaftsrechts und die Umgestaltung der ungarischen Gesellschaft und der sozialen – traditionsgebundenen – Struktur können wir den diese Prozesse behandelnden Studien entnehmen. (Die von den Instituten für Weltwirtschaft, Soziologie, Rechtswissenschaften und Ethnographie herausgegebenen Bänder, sowie von dem Institut für Geschichtswissenschaften zusammengestellte Chronologie und Datenbank.)
b) Die industriell-technische Revolution, die Anfänge der Informationsgesellschaft bestellten in erster Linie das Grab des sowjetischen Systems. Sowohl die historische Chronologie, wie die erstellten Datenbanken und die wirtschaftlichen Analysen zeigen, dass das sowjetische System nicht allein von der inneren Parteiopposition, auch nicht von den verschiedenen Gruppen der demokratischen Gruppen gestürzt wurde, sondern dass das sowjetische System in Folge des industriell-technischen Wettlaufs zusammengebrochen ist. Es nahm so schwere Lasten auf dem Gebiet der militärischen Aufrüstung und der industriellen Entwicklung auf sich, die nicht behebbare gesellschaftliche und politische Konflikte zeugten. Das bedeutendste Defizit im Prozess des Systemwandels, was die Gesellschaft den einst der sowjetischen Besatzungszone angehörenden Staaten zu verbüßen hat, ist die unvorbereitete Konfrontation mit der Informationsrevolution und die Anpassung an die Anforderungen der Informationsgesellschaft.
Ungarn konnte sich dank seiner relativen Freiheiten beim Außenhandel und im Bereich der Außenpolitik am ehesten in die neue Informations- und Wissensgesellschaft integrieren. Die Anzahl der pro Kopf anfallenden Hardware in Ungarn war nachweislich am höchsten. Es ist anzunehmen, dass die Anzahl der PC-Benutzer betreffend, was die Basis für die Herausbildung der Informationsgesellschaft bedeutet, Ungarn wahrscheinlich (ohne genaue Daten vorliegen zu haben) an erster Stelle lag, verglichen mit den anderen sozialistischen Staaten. Wenn man die Verbraucher- und zum Teil die Produktionszahlen bezüglich der neuen Kommunikationstechnologien (modernes Fernsehen, Radio, Halbleiter, usw.) betrachtet, waren Ungarn, die DDR und die Tschechoslowakei an erster Stelle. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass sich in den Jahren des Systemwandels in den Menschen in Ungarn eine besondere Art der Empfindlichkeit gegenüber den Segen der digitalen Welt herausgebildet hat. In den 1990er Jahren stand Ungarn öfters an erster Stelle der Statistiken, was die Anzahl der pro Kopf anfallenden Handys betraf; und dank den nach 1999 nacheinander mehrmals eingeführten Bildungsreformen holt die junge Generation mit Bezug auf Internetbenutzung schnell auf. Gleichzeitig ist es aber auch wahr, dass es der älteren Generation weit schwieriger, ist die Kenntnisse, die zur Benutzung der neuen Technik erforderlich sind, anzueignen. Dies bedeutet allerdings auch, dass in erster Linie bei der Umorganisation des Agrar- und Verwaltungswesens die Vorzüge dieser neuen, digitalen Art der Kenntnisvermittlung und Produktionsplanung nicht angewandt werden können.
Die neue industriell-technische Revolution bildet riesige, internationale Produktionssysteme heraus, um genauer zu sein, sie verschafft diesen Systemen einen global wirksamen Vorteil. Eines der Auswirkungen dieser rein profitbedachten Systeme ist die globale Umweltverschmutzung, bzw. die enorme Kohlendioxidemission. Unsere Prämisse ist: von unserer Seite wird jedes politische und technische System je nachdem beurteilt, in wie fern es die menschliche kulturelle Diversität, die soziale Chancengleichheit fördert, und in wie fern sie zur Bewahrung der Biodiversität der natürlichen, den Menschen umgebenden Welt, beiträgt. Der Systemwandel kann als ein Modernisierungsprozess gewertet werden, aber seine Effektivität wird von uns auch daran gemessen, welche Auswirkungen es auf die natürliche Umwelt hatte, welche naturgeschichtlichen Einflüsse im Laufe des Systemwandels mit Bezug auf den Boden, die Wasserwirtschaft, die Forstwirtschaft, die Tierwelt zu verbuchen sind. (Das Ergebnis ist ebenso negativ, wie in jedem neu industrialisierenden, relativ armen Land die Ausbreitung der technischen Zivilisation zu negativen Werten führt. Weil das Land in beiden Fällen arm und mittellos ist, und deshalb die zum Schutz der Umwelt unerlässlichen Systeme nicht ausgebaut werden können, und weil die Gesellschaft sich das umweltschützende Benehmen nicht aneignen kann, denn die Zeit zur angemessenen Vorbereitung der Menschen war wiederum zu knapp.)
Zusammenfassend ist unser Standpunkt zu diesem Themenbereich das Folgende: in einigen Zweigen der neueren industriellen-technischen Revolution (Elektronik, kulturelle Massenkommunikation, große Einkaufszentralen) fällt der Systemwandel in Ungarn positiv aus. Die Segen der neuen Informationsgesellschaft sind aber zum Teil den sozial Benachteiligten und zum Teil den älteren Generationen nicht zugänglich.
c) Die Beschleunigung der europäischen Integration brachte für Ungarn in dem von uns untersuchten Zeitraum bedeutende Vorteile. Die Annäherung zur europäischen Integration führte zur Modernisierung des politischen Systems, nicht zuletzt durch die Errichtung der demokratischen Institutionssysteme, aber auch zur Einführung einer Europa-Kompatibilität im Rechtssystem. Letztendlich kommt sowohl die wirtschaftliche Globalisierung, wie die Informationsrevolution eindeutig aus westeuropäischer Richtung nach Ungarn. Ebenso stammen die im alltäglichen Leben in Ungarn angewandten Lebensstrategien in erster Linie aus Westeuropa. Die wirtschaftlichen Studien weisen darauf hin, dass sich die ungarischen Produktionsgemeinschaften mit Hilfe des importierten Kapitals und des „Know-hows” der großen westlichen Investoren auch individuell in die europäische Gesellschaft integrieren.
Aber die ungarische Gesellschaft war bereits vor dem Beitritt in die Europäische Union beladen mit all den gesellschaftlichen Konflikten, die auch die Gesellschaft der verschiedenen westeuropäischen Staaten charakterisierte: die riesigen Metropole in Europa wachsen weiter an, da die Informatik ihnen weiterhin Vorteile auf den Gebieten der Wirtschaft und des Verwaltungswesens schafft, die ländlichen Regionen können nicht Schritt halten und bleiben zurück, es kommt zu einem erbitterten Kampf um die Lebensmittelmärkte. (Hier sprechen wir über einen Lebensmittelüberfluss, der nicht zu den Hungernden am anderen Ende der Welt transportiert werden kann, ungleich dem Überfluss an Industrieartikeln, die mit Leichtigkeit an jeden beliebigen Ort auf der Welt transportiert werden können.)
Die Vorbereitung Ungarns auf den Eintritt in die Europäische Union war bei Konferenzen und Veranstaltungen ein viel diskutiertes Thema. Die Diskussionen konzentrierten sich in erster Linie bei der Untersuchung des Systemwandels auf die innenpolitischen Konflikte und auf andere sozialbedingte Konflikte. Dies hat aber die Aufmerksamkeit von der Wichtigkeit der Vorbereitung der gesamten Gesellschaft auf die Union abgelenkt. Keiner der Regierungen in Ungarn widmete der Vorbereitung der Bevölkerung ausreichende Aufmerksamkeit, also welche Normen der Einzelne bei der Anwendung seiner individuellen Lebensstrategie in der neuen Situation – seine zu verfolgende Strategie als Arbeitnehmer miteinbegriffen – verfolgen soll.
Der Beitritt in die Europäische Union ist im Jahre 2004 erfolgt. All diese Schwierigkeiten – auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik oder gar der Beziehungen zwischen den außerhalb der Grenzen lebenden Minderheiten und der Mutternation oder der Vermarktung von Lebensmitteln der staatlichen Förderung der Lebensmittelproduktion – sind die Folgen, bzw. der Versäumnisse der Politik im Laufe des Systemwandels. Unsere Schlussfolgerung ist somit die Folgende: die politische und intellektuelle Elite war in den Jahren des Systemwandels gut vorbereitet auf die weltwirtschaftliche Globalisierung, zum Teil auf die neuen Wellen der industriell-technischen Revolution, lenkte allerdings wenig Aufmerksamkeit auf die mögliche Auswirkungen des Beitritts in die Europäische Union. Dies hat letztendlich dazu geführt, dass Ungarn heute in 2005 seine vorrangige Position von 1990, zu der Zeit als die Beschleunigung des Systemwandels erst begann, nicht mehr beibehalten konnte, seinen Vorteile und Kräfte „abgenutzt” und ausgeglichen hat.
Ferenc Glatz