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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:183–196.

GEORG BRUNNER

Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union und die nationalstaatliche Gesetzgebung

 

I. Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union

Der Titel meines Vortrags suggeriert, dass die Europäische Union (EU) über eine Minderheitenpolitik verfügt. Davon bin ich allerdings nicht ganz überzeugt. Wenn sie aber eine hätte, müsste man diese unter zwei Gesichtspunkten untersuchen, die sehr unterschiedliche Bilder einer Minderheitenpolitik erkennen lässt. Ich denke an den Unterschied zwischen der Minderheiteninnenpolitik und der Minderheitenaußenpolitik der EU.

 

1. Die Minderheitenaußenpolitik der EU

Wenn ich mich nicht irre, waren die Mitgliedstaaten der EU noch vor Erreichung des Unionsstadiums, als Europäische Gemeinschaften gezwungen, sich zum ersten Mal eingehender mit Minderheitenfragen zu beschäftigen. Dies war vor rund zehn Jahren. Den tragischen Hintergrund dieses Zwanges stellte der im Sommer 1991 ausgebrochene Jugoslawienkrieg dar, der die Aufmerksamkeit der Westeuropäer anfangs eher auf die Rechte der serbischen Minderheit in Kroatien als auf die Rechtswidrigkeit der jugoslawisch-serbischen Aggression lenkte. Der auf der Friedenskonferenz in Den Haag am 11. November 1991 unterbreitete Vorschlag der EG hielt vor allem das Schicksal der serbischen Minderheit vor Augen, als er von den unterschiedlichen Mitteln des Minderheitenschutzes die territoriale Autonomie als Lösung für jene Gebiete empfahl, wo die Mehrheit der lokalen Bevölkerung von einer Minderheit gebildet wird. In den von den EG-Außenministern dann am 16. Dezember angenommenen Richtlinien zur Anerkennung der neuen Staaten Mitteleuropas und der Sowjetunion wurde die Erfüllung dieser Anforderung zur Voraussetzung für die Anerkennung der jugoslawischen Nachfolgestaaten gemacht. Dieser Anforderung war Kroatien schon am 4. Dezember dieses Jahres durch die Verabschiedung eines Verfassungsgesetzes über den Minderheitenschutz nachgekommen. Die für die serbische Minderheit hier vorgesehene kommunale Autonomie auf der Grundlage der Gemeinden fand aber vor dem Badinter-Ausschuss keine Gnade, so dass die kroatische Gesetzgebung gezwungen war, die territoriale Autonomie auf regionale Ebene zu heben. Der Umstand, dass in den fraglichen Gebieten der Krajina infolge der serbischen Okkupation gar keine kroatische Staatsgewalt existierte, scheint von keiner Seite für ein besonders störender Umstand gehalten worden zu sein. Als dann der kroatische Staat im Laufe des Jahres 1995 seine Gebietshoheit wieder herstellte, gab es infolge der Flucht der Serben aus diesem Gebiet hier keine serbische Minderheit mehr. In Ermangelung dieser Voraussetzung eines Minderheitenschutzes hat das kroatische Parlament (Sabor) die Regelungen über die Territorialautonomie zuerst ausgesetzt und später aufgehoben. Auf diese Art und Weise hatte das Vorgehen der Westeuropäer vielleicht eine interessante Lösung zum Gegenstand einer theoretischen Diskussion gemacht, doch führte dies zu keinem praktischen Ergebnis.

In der Folgezeit kam es zu keiner wiederholten Bekundung einer derartigen Hochschätzung der territorialen Minderheitenautonomie. Da die Westeuropäer z.B. im Zusammenhang mit den Problemen der ungarischen Minderheiten in der Slowakei und in Rumänien nicht auf diese Idee gekommen sind, kann deren vorübergehende und räumlich beschränkte Popularität wahrscheinlich mit dem außergewöhnlichen, den internationalen Frieden bedrohenden Charakter des Jugoslawienkrieges erklärt werden.

Zum Bestandteil einer für Friedenszeiten bestimmten, „normalen” EU-Außenpolitik ist die Zielsetzung des Minderheitenschutzes erst im Jahre 1993 im Zusammenhang mit der Osterweiterung geworden, die im Juni dieses Jahres auf dem Gipfel in Kopenhagen unter der Bezeichnung „Achtung und Schutz der Minderheiten” in den Katalog der Aufnahmekriterien gelangt ist. Ebenfalls in diesem Jahr war es Brauch geworden, die Präambeln der mit den Beitrittskandidaten abgeschlossenen Assoziierungsabkommen (Europa-Abkommen) mit der schmückenden Bemerkung zu versehen, dass der Übergang zu einer neuen Staats- und Wirtschaftsordnung, in der die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, zu denen auch die Minderheitenrechte gehören, geachtet werden, mit Hilfe der Gemeinschaft fortgeführt und abgeschlossen werden muss. In den mit der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn bereits im Dezember 1991 abgeschlossenen Assoziierungsabkommen war diese Feststellung noch nicht enthalten. Auf der anderen Seite gehen die mit den baltischen Staaten im Jahre 1995 abgeschlossenen Assoziierungsabkommen noch einen Schritt weiter, indem Artikel 77 oder 78 dieser Verträge, der sich mit der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Unterrichtswesens beschäftigt, unter den Schwerpunkten die Förderung des Sprachunterrichts erwähnt, mit besonderer Rücksicht auf die unter der Bevölkerung des Landes lebenden Minderheiten. Aus der Formulierung der Texte geht jedoch leider nicht hervor, ob z. B. im Falle der in Estland lebenden russischen Minderheit der Unterricht der russischen oder aber der estnischen Sprache gefördert werden sollte.

Die Beantwortung dieser Frage ist mit den traditionellen Methoden der Auslegung von Rechtsnormen genauso wenig möglich wie die Ermittlung dessen, was das Erfordernis des Minderheitenschutzes von Kopenhagen inhaltlich verlangt. Dieser Frage kann man nur empirisch näher kommen, indem man die seit 1998 vorgelegten Fortschrittsberichte der EU-Kommission über die auf dem Gebiet der Aufnahmekriterien erreichten Ergebnisse der Beitrittskandidaten systematisch studiert. In jedem Länderbericht befasst sich ein Kapitel mit dem Minderheitenschutz, und es wäre zu erwarten, dass die hier zu findenden Feststellungen sich nach einem Maßstab richten und dessen Quelle angeben. Was das letztere angeht, verkehrt sich die Erwartung nur allzu bald in eine Enttäuschung: Was auch von der EU-Kommission für gut oder schlecht gehalten wird, auf eine Rechtsgrundlage für die Bemerkung wird nirgends verwiesen. Es entsteht der Anschein, dass die Quelle der Werturteile das allgemeine Rechtsempfinden oder noch eher Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte sind. Unter solchen Umständen kann nur auf dem induktiven Wege einer Analyse der häufiger vorkommenden kritisierten Punkte der Versuch zur Rekonstruktion der Wertmaßstäbe der EU-Kommission unternommen werden. Wovon ist also am häufigsten in den Kapiteln über den Minderheitenschutz der Berichte der Kommission die Rede?

a) Die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit in Estland und Lettland

Von Anfang an bildet die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit ständig das Thema der Minderheitenkapitel über Estland und Lettland. Vor dem historischen Hintergrund des stalinistischen Völkermordes und der darauf folgenden Zwangsrussifizierung und unter Berücksichtigung der demographischen Situation – nach den Angaben der Volkszählung des Jahres 1989 machten die Esten 61,5 %, die Letten 52 % der Bevölkerung ihres Landes aus – könnte ein objektiver Beobachter den Eindruck gewinnen, dass die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit sehr großzügig ist, ermöglicht sie doch fast allen zur Zeit der sowjetischen Tyrannei im Lande angesiedelten russischen und nicht-russischen Einwohnern den Erwerb der Staatsangehörigkeit ihrer neuen Heimat, wenn sie nicht unmittelbar an der Unterdrückung teilgenommen haben und wenn sie bereit sind, die neue Staatssprache, bis zu einem gewissen Grade zu erlernen. In der Vergangenheit war bisher noch keine befreite Kolonie den einstigen Kolonisatoren gegenüber so großzügig. Dennoch wurde die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung dieser beiden baltischen Länder von Westeuropa eher kritisch beurteilt, und diese kritische Einstellung ist auch in den Berichten der EU-Kommission zu spüren. Die Kritik hat in der Zwischenzeit Früchte getragen, und vor allem Lettland hat in seiner Gesetzgebung wesentliche Veränderungen zu Gunsten jener vorgenommen, die Ausländer sind und den Status eines Minderheitenangehörigen erhalten wollen. Nach einem allgemeinen Rechtsprinzip ist nämlich die Staatsangehörigkeit Voraussetzung für die Minderheitenstatus. Aufgrund der Kommissionberichte kann eindeutig fest- gestellt werden, dass das Ziel der EU die Erleichterung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit, d. h. die Integration der Ausländer auf dem Wege der Gewährung des Minderheitenstatus ist. Diese Zielsetzung ist in rechtlicher Sicht insofern interessant, als sie über keinerlei juristische Grundlage verfügt. Dem Völkerrecht zufolge kann jeder Staat souverän darüber entscheiden, wen er in seinen Staatsbürgerschaftsverband aufnehmen will, und es besteht keine Verpflichtung zur Verleihung der Staatsangehörigkeit. Der einzige rechtlich kritisierbare Punkt wäre der, wenn ein Staat den alteingesessenen Minderheiten den Minderheitenstatus verweigern würde. Über die Dauer des Zeitraumes, nach welchem von Alteingesessenheit gesprochen werden kann, kann man sich natürlich streiten. Die Festlegung der Dauer von einem Jahrhundert im ungarischen Minderheitengesetz scheint vernünftig zu sein. Im Baltikum kann die ungefähr 45 Jahre währende sowjetische Besatzung auf keinen Fall lang genug sein, um der jeweiligen Volksgruppe einen Anspruch auf Anerkennung als Minderheit zu vermitteln, so dass weder die Staatsbürgerschaftsgesetzgebung noch die Minderheitengesetzgebung der baltischen Staaten irgendeinen Anhaltspunkt für eine berechtigte Kritik bieten. Es hat den Anschein, dass die Grundlage für die EU-Kritik weder das Recht noch die Moral, sondern die politische Zweckmäßigkeit ist, d. h. die Würdigung der Interessen Russlands und die Vermeidung der ethnischen Spannungen.

Die Verhütung von Spannungen ethnischen Charakters ist auch der entscheidende Grund für die Kritik, die von der EU-Kommission in ihrem Bericht von 1998 an der tschechischen Staatsangehörigheitsgesetzgebung geübt wurde. Das tschechische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1992 sicherte den slowakischen Staatsangehörigen ursprünglich unter der Voraussetzung eine Option auf die tschechische Staatsangehörigkeit zu, dass der ständige Wohnsitz der betreffenden Person seit zwei Jahren die Tschechische Republik sein muss und dass die betreffende Person in den letzten fünf Jahren keine vorsätzliche Straftat begangen hat. Ungefähr 100 aus der Slowakei stammenden Zigeunern fiel es offenbar schwer, die letztgenannte Voraussetzung zu erfüllen, aus welchem Umstand die westliche Kritik die Schlussfolgerung zog, dass das gesetzliche Erfordernis der Unbestraftheit eine auf die Diskriminierung der Sinti und Roma abzielende Maßnahme verkörperte. Demgegenüber wies das tschechische Verfassungsgericht in seinem Beschluss vom 13. 11. 1994 mit Recht darauf hin, dass die strafrechtliche Unbescholtenheit bis zu einem gewissen Grade zu den international üblichen Voraussetzungen der Einbürgerung gehöre und sich aus der Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Staatsangehörigen zu schützen, ergebe. Obzwar das tschechische Verfassungsgericht die fragliche Bestimmung des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit dieser Begründung als verfassungskonform ansah, wurde diese Regelung unter dem Einfluss der westlichen Kritiker im Jahre 1999 vom Gesetzgeber geändert.

b) Fragen des Sprachgebrauchs

Einen recht großen Raum nimmt in den Berichten der Kommission die Frage des Sprachgebrauchs ein, und zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit abweichenden Zielsetzungen.

Die Ausführungen in Bezug auf Estland und Lettland ermöglichen es, die vorstehend gestellte Frage zu beantworten, der Unterricht welcher Sprache eigentlich den Gegenstand von Artikel 77 bzw. 78 der Assoziierungsverträge bildet. Die ersten Berichte erwecken den Eindruck, dass vom Unterricht der estnischen bzw. lettischen Staatssprache für die russischsprachigen Minderheiten die Rede ist, wobei gewisse Mängel zu bemerken sind. Die EU spricht sich also dafür aus, dass den Minderheiten unentgeltlich effiziente Möglichkeiten zur Aneignung der Staatsprache angeboten werden, damit sie die Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen können. Die Kritik verfolgt also eindeutig die Absicht der Integration. In den letzten Länderberichten erscheint die Kritik jedoch in einem neuen Gewand. Jetzt wird die perspektivisch geplante Zurückdrängung der russischen Sprache im Schulunterricht kritisiert. Diese Kritik ist zweifelsohne durch die Absicht des Minderheitenschutzes motiviert, dient aber zugleich der Segregation. Über den vorzugswürdigen Zweck der Minderheitenpolitik lässt sich natürlich diskutieren, doch wäre es richtig, wenn derjenige, der eine Kritik äußert, sich zuerst selbst klar machen würde, ob er die Integration oder die Segregation für die richtige Zielsetzung hält. Zweifelsohne ist aber die Kritik der EU-Kommission des lettischen Sprachengesetzes berechtigt, welche den obligatorisch vorgeschriebenen Gebrauch der lettischen Sprache in gewissen Sphären des Wirtschaftslebens betrifft. Hier ist zum größten Teil von der Privatsphäre die Rede, in der der freie Gebrauch der Sprache schon aus dem internationalen Schutz der allgemeinen Menschen- und Minderheitenrechte abgeleitet werden kann. Außerdem verweist die Kommission mit Recht darauf, dass die lettische Sprachregelung perspektivisch gesehen auch dem freien Verkehr des europäischen Gemeinschaftsrechtes und der Niederlassungsfreiheit widerspricht.

In den Berichten über die Slowakei und Rumänien ist ein ständiges zentrales Thema der Unterricht und der Gebrauch der ungarischen Sprache, und zwar mit der Zielsetzung des Minderheitenschutzes also der Segregation. Der Grundtenor der Berichte ist in Bezug auf die Slowakei eher kritisch, in Bezug auf Rumänien eher lobend, abgesehen von der sich auf die Verzögerung der geplanten Gründung der mehrsprachigen Petõfi-Schiller-Universität beziehenden Kritik. Was den Unterricht der türkischen Minderheitensprache in den bulgarischen Schulen anbelangt, halten die Berichte ihn für auf einem mittleren Niveau stehend. Die Situation habe sich gebessert, jedoch noch nicht ausreichend.

c) Die Situation der Zigeuner

Der größte Teil der kritischen Bemerkungen ist auf die Situation der Zigeuner gerichtet. Ausgangspunkt für ein jedes Land, wo ein Sinti-und-Roma-Ethnikum existiert, ist die nachteilige soziale Situation und die gesellschaftliche Diskriminierung der Zigeuner. Nur Slowenien erscheint in einem milderen Licht. Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit der Sinti und Roma und ihr unterdurchschnittlicher Bildungsstand werden überall erwähnt; ihr höherer Anteil auf dem Gebiet der Kriminalität wird jedoch nirgendwo angesprochen. Offensichtlich begründet ist die Kritik, die gegen die in Einzelfällen vorkommenden Übergriffe der Polizei oder gegen die Unterlassung des Schutzes gegen die aus der Gesellschaft stammenden Angriffe gerichtet ist. Einer eingehenderen Analyse bedarf jene Kritik, nach der die von den betroffenen Ländern zur Beseitigung der nachteiligen gesellschaftlichen Situation der Sinti und Roma ergriffenen Maßnahmen nicht effizient genug sind. Da nicht geleugnet werden kann, dass in allen Beitrittskandidatenländern Programme zur Unterstützung der Sinti und Roma gestartet wurden und zu diesem Zweck aus dem Staatshaushalt größere Summen zur Verfügung gestellt werden als zur Unterstützung der anderen Minderheiten, müsste die Begründetheit der Kritik zuerst unter Berücksichtigung der jeweiligen finanziellen Möglichkeiten des Staates und des allgemeinen Rechtsprinzips der Verhältnismäßigkeit untersucht werden. Sofern die EU-Kritik die angeblich nicht ausreichende staatliche Unterstützung der Sinti und Roma als Diskriminierung bezeichnet, wird hiervon nachstehend noch in einem anderen Zusammenhang die Rede sein. An dieser Stelle möchte ich nur im Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz die Bemerkung machen, dass es keine geltende völkerrechtliche Verpflichtung zur positiven finanziellen Unterstützung der Minderheiten gibt. Eine derartige Verpflichtung ergibt sich auf universeller und europäischer Ebene weder aus Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte noch aus der Europäischen Konvention über Menschenrechte, noch aus dem 1998 in Kraft getretenen Minderheitenrahmenabkommen. Die Kritik hat also keine völkerrechtliche Grundlage. Dies ist zwar bedauerlich, da in Fachkreisen allgemein anerkannt ist, dass die Wahrung und Pflege der Minderheitenidentität als Ziel des Minderheitenschutzes eine positive Förderung durch den Staat voraussetzt. Seltsam ist jedoch, dass die EU-Kommission mit dieser Kritik sich auch im Namen jener westeuropäischen Länder äußert, die auf dem internationalen Plan bisher leidenschaftlich gegen alle derartigen Bestrebungen des Minderheitenschutzes aufgetreten sind und diese erfolgreich behindert haben. Das niedrige Niveau des internationalen Minderheitenschutzes kann unter anderem auf die internationale Politik der Kritiker zurückgeführt werden.

d) Sonstige Gesichtspunkte

Nachstehend möchte ich kurz noch einige kritische Punkte von geringerer Bedeutung und besondere Punkte streifen.

Zweifelsohne begründet ist die Kritik an Artikel 11 Absatz 4 der bulgarischen Verfassung, nach dem es untersagt ist, politische Parteien auf ethnischer oder religiöser Grundlage zu gründen. Die Aktivitäten der die Interessen der türkischen Minderheiten vertretenden Bewegung für die Rechte und Freiheitsrechte, ihre ständige Vertretung im Parlament und der Umstand, dass sie aufgrund des Beschlusses des bulgarischen Verfassungsgerichts vom 21. April 1992 nicht verboten ist, beweist aber, dass ausnahmsweise auch die Rechtswirklichkeit besser sein kann als das geschriebene Recht. Das Verbot der Vereinigten Mazedonischen Organisation „Ilinda” im Sinne des Beschlusses des Verfassungsgerichts vom 29. Februar 2000 ist auf einer anderen, doch diskutierbaren Grundlage erfolgt.

Im Falle von Ungarn wird in den Berichten beanstandet, dass die Minderheiten nicht im Parlament vertreten sind. Obzwar in einigen Ländern eine derartige parlamentarische Minderheitenvertretung anzutreffen ist (in Rumänien, Slowenien, Kroatien und in Montenegro), ist dies ganz sicher nicht Bestandteil des internationalen oder europäischen Standards. Die Kritik könnte hier nur auf die internen Vorschriften der ungarischen Rechtsordnung gegründet werden. Auf die Details möchte ich hier nicht eingehen, doch möchte ich bemerken, dass die vermeidbare internationale Kritik durch ein ungeschicktes Verhalten aller ungarischen Verfassungsorgane ausgelöst worden ist.

In Estland hat der spezifische Justizkanzler durch eine Gesetzesänderung aus dem Jahre 1999 die Rechte eines Ombudsmanns für Menschenrechte erhalten. Außerdem ist die Schaffung eines Amtes des Ombudsmanns im nordöstlichen, von der russischsprachigen Minderheit bewohnten Gebiet geplant. Dieses ist aber noch nicht errichtet worden, was jetzt von der EU-Kommission kritisiert wird. Die Kritik hat keine völkerrechtliche Grundlage, und aus diesem Beispiel kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass man mit Versprechen vorsichtig sein soll, weil ein ohne Verpflichtung abgegebenes Versprechen sehr rasch zur Quelle der Kritik werden kann.

Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass im Bericht für 2000 Polen deshalb kritisiert wurde, weil es das Europäische Rahmenabkommen über den Schutz der Nationalen Minderheiten, das – wie bereits erwähnt wurde, – international 1998 in Kraft getreten war, noch nicht ratifiziert hat. Die Ratifizierung durch Polen ist seitdem erfolgt, und das im Grunde genommen zu nichts verpflichtende und deshalb ohne Gefahr zu unterzeichnende Rahmenabkommen ist seit dem 1. April 2001 auch für Polen wirksam. Wenn die Anspornung der polnischen guten Absichten in Bezug auf den Minderheitenschutz durch die EU bei dieser symbolischen Äußerung mitgewirkt hat, ist dies zu begrüßen. Seltsam ist jedoch auch hier, dass von den 15 Mitgliedstaaten der EU bisher 5 das Rahmenabkommen noch nicht ratifiziert haben, und zwar Belgien, Frankreich, Griechenland, Luxemburg und Portugal.

 

2. Die Minderheiteninnenpolitik der EU

In den Grunddokumenten und im sekundären Rechtsmaterial der EU ist von Minderheitenschutz nicht die Rede. Der Minderheitenschutz kann auch nicht mittelbar aus Artikel 6 Absatz 2 des EU-Vertrages abgeleitet werden, wo von der Achtung unter zwei alternativen Voraussetzungen der Grundrechte die Rede ist. Die eine ist die Sicherstellung des fraglichen Grundrechts durch die Europäische Menschenrechtskonvention. In dieser Konvention ist der Minderheitenschutz nicht enthalten. Artikel 14 der Konvention enthält nur das Diskriminierungsverbot, unter anderem auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Die andere Voraussetzung ist die, dass das fragliche Grundrecht zu den gemeinsamen verfassungsmäßigen Überlieferungen der Mitgliedstaaten zu zählen und deshalb als Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts zu bezeichnen ist. Leider ist auch diese Voraussetzung nicht erfüllt, weil das innerstaatliche Minderheitenschutzrecht der 15 Mitgliedstaaten sehr verschieden ist. Es gibt unter den Mitgliedstaten auch solche, die die Existenz von Minderheiten trotz der offensichtlichen Fakten einfach abstreiten. Das beste Beispiel hierfür ist Frankreich, wo der Conseil constitutionnel in seinem Beschluss vom 9. Mai 1991 die Formulierung im Statut über die Verwaltungsautonomie Korsikas „le peuple corse, composante du peuple français” deshalb für verfassungswidrig erklärt hatte, weil sie dem verfassungsmäßigen Begriff von der Einheit des französischen Volkes widerspreche. Ähnlich ist auch die Einstellung Griechenlands, wo das Vorhandensein einer mohammedanischen (nicht türkischen!) Minderheit nur deshalb bekannt ist, weil diese im Friedensvertrag von Lausanne 1923 Griechenland aufgenötigt wurde.

Das europäische Gemeinschaftsrecht kennt also keinen Minderheitenschutz. Demgegenüber fixiert es das Prinzip das Nationalstaates, indem es in Artikel 6 Absatz 3 des EU-Vertrages heißt: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaten”.

Wenn es die Absicht der EU wäre, den Minderheitenschutz nicht nur außenpolitisch zu vertreten, sondern ihn auch in der Union anzuwenden, so hätte die im Dezember 2000 angenommene Charta der Grundrechte von Nizza die Möglichkeit geboten, dies zu verkünden. Obzwar es die Aufgabe dieser Charta wäre, die europäische Werteordnung zu widerspiegeln, sucht man in ihr den Minderheitenschutz vergeblich. Dies ist kein Zufall – als ob der Minderheitenschutz einfach vergessen worden wäre –, sondern Absicht. Im Laufe der Beratungen war vom Minderheitenschutz die Rede, und was als Ergebnis davon schließlich in Artikel 22 der Charta aufgenommen wurde, ist die positive Beurteilung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

Was das Gemeinschaftsrecht enthält, ist der auf den ersten Blick ziemlich entlegene allgemeine Gleichheitssatz mit zwei ausdrücklich benannten Diskriminierungsverboten im EG-Vertrag: 1. das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Artikel 12) und 2. seit Amsterdam die Ermächtigung der Gemeinschaftsorgane, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem wegen des Geschlechts, der Rasse und der ethnischen Herkunft zu bekämpfen (Artikel 13). Obzwar diese beiden Vorschriften anscheinend höchstens in einem mittelbaren Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz stehen, haben in der Rechtspraxis der Gemeinschaft der allgemeine Gleichheitssatz und die besonderen Diskriminierungsverbote für unser Thema in zwei Richtungen Bedeutung erlangt, und zwar in einer Weise, die meiner Meinung nach bedenklich ist.

a) Diskriminierung der Zigeuner

Vom EU-Rat wurde am 29. Juni 2000 unter Nr. 2000/43/EG eine Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft erlassen. Das Ziel der Richtlinie ist der Kampf gegen die Diskriminierung, also gegen die benachteiligende Ungleichbehandlung, und zwar der Kampf gegen die direkte und die indirekte Diskriminierung. Als indirekte Diskriminierung gelten jene scheinbar neutralen Maßnahmen, die geeignet sind, zu einer Rasse oder zu einer ethnischen Gruppe gehörende Personen zu benachteiligen, es sei denn, dass diese Maßnahmen durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Demnach ist nicht die ratio legis, also das Ziel der Regelung maßgebend, sondern ihre tatsächliche, d. h. – da die tatsächlichen Wirkungen der Regelung in einem frühen Zeitpunkt der Kontrolle kaum feststellbar ist – die vermutete Wirkung. Die so umfassend festgelegte Diskriminierung ist sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich untersagt, in erster Linie auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnisse, der Inanspruchnahme der sozialen Leistungen und des Unterrichtswesens. Die Mitgliedstaaten haben bis zum 19. Juni 2003 die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in das innerstaatliche Recht zu treffen. Hinsichtlich der Mittel haben sie bis zu einem gewissen Grad freie Hand, doch ist die Erzwingbarkeit der Beseitigung der angeblichen Diskriminierung auf gerichtlichem Wege obligatorisch. Die Ungleichbehandlung ist nur glaubhaft zu machen, und Aufgabe des Beklagten ist es, nachzuweisen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung nicht verletzt worden ist.

Die Folgen der erwähnten Richtlinie haben eine große Tragweite. Auf dem Gebiet des Privatrechts führt sie zu empfindlichen Einschränkungen der Vertrags- und Unternehmensfreiheit und folglich zu einer Stärkung der gegen die Marktwirtschaft gerichteten Tendenzen. Von einem Arbeitsmarkt (Angebot, Nachfrage) kann noch weniger die Rede sein als bisher. Wenn eine Stelle z. B. über eine Ausschreibung zu besetzen ist, hat der Arbeitgeber nachzuweisen, weshalb der sich bewerbende Zigeuner (besonders wenn von einer Frau die Rede ist) ungeeigneter ist als der jenige, der die Ausschreibung gewonnen hat. Die auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu erwartenden Folgen möchte ich an einem Beispiel illustrieren, das aus dem Bericht des Jahres 1999 des ungarischen Ombudsmanns für nationale und ethnische Minderheitenrechte stammt und sich auf das Schulwesen bezieht. Im Bericht wurde festgestellt, dass der Anteil der eine Sonderschule besuchenden, also geistig leicht behinderten Romakinder zwischen dem Schuljahr 1974/75 und 1992/93, d. h. im Verlaufe von 18 Jahren von 26,1 % auf 42,6 % gestiegen sei. Die Gründe hierfür hat der Ombudsmann gründlich untersucht und auch die Mängel von mehreren pädagogischen Auswahlmethoden dargestellt. Weshalb die Mängel der Methoden gerade die Romakinder benachteiligt hätten, ist für mich auch nach der Lektüre eine offene Frage. Der Ombudsmann gelangte zumindest zu folgender Feststellung: „Der im Vergleich zur Gesamtheit der Bevölkerung weit überdurchschnittliche Anteil der Romakinder im System der Sonderschulen verwirklicht – was das Ergebnis anbelangt – die negative Diskriminierung der Romakinder. Bei der Feststellung der Schulreife verwenden die Expertenausschüsse, die die Kinder untersuchen, nämlich nicht nur ausschließlich wertneutrale Tests, sondern behandeln als behindert auch wegen ihrer sozialen Umstände und ihrer kulturellen Andersartigkeit über gewisse Kenntnisse nicht verfügende Kinder".

Über die Richtigkeit dieser Feststellung kann man heute (noch) diskutieren, und man könnte z. B. – abgesehen von der Stichhaltigkeit der konkreten Untersuchung – zwei logische Gegenargumente vorbringen: 1. wenn die schlechtere Schulreife Folge der sozialen Umstände ist, ist dies uninteressant, weil die Unterscheidung auf ethnischer Grundlage erfolgt; 2. wenn die schlechtere Schulreife Folge der kulturellen Andersartigkeit ist, ist dies relevant. In diesem Fall könnte das Ergebnis der identischen Schulreife nur um den Preis der Verringerung der kulturellen Identität der Sinti und Roma erreicht werden. Hier taucht die Frage auf: Was ist wichtiger? Die Integration um den Preis der Assimilierung? Oder die Bewahrung der ethnischen Identität um den Preis der Segregation? Und wer entscheidet, was besser ist? Infolge seiner öffentlichen Macht der Staat oder aufgrund ihres persönlichen Selbstbestimmungsrechtes die betroffenen Roma?

Über die Fragen kann man, wie ich es erwähnt habe, heute noch diskutieren, im konkreten Fall auch vor Gericht. Ein derartiger gerichtlicher Streit wurde vor kurzem in Tschechien ausgetragen, wo der Anteil der Romakinder in den Sonderschulen 70 % ausmacht, also bedeutend höher ist als in Ungarn, aber noch immer niedriger als in der Slowakei, wo ungefähr 90 % der Schüler in den Sonderschulen Zigeuner sind. Die Organisation „Europäische Zentrale für die Rechte der Roma” mit Sitz in Budapest hat wegen Diskriminierung Klage gegen das tschechische Unterrichtsministerium und die Leiter der Sonderschulen erhoben. Die Klage wurde vom tschechischen Obersten Gericht im Oktober 1999 abgewiesen. Die Begründung des Urteils ist mir nicht bekannt, ich vermute aber, dass sie das Ergebnis des freien richterlichen Abwägens von verschiedenen Fakten und juristischen Gesichtspunkten enthält. Nach der Umsetzung der erwähnten EG-Richtlinie in das innerstaatliche Recht dürfte ein derartiges Urteil kaum mehr vorstellbar sein. Wenn sich die Eltern der Romakinder oder eine Interessenvertretungsorganisation unter der Geltung der Richtlinie auf die zitierte Feststellung des ungarischen Ombudsmanns beriefen, so würde das unter Berücksichtigung der Unparteilichkeit und des Ansehens des Ombudsmanns zweifelsohne ausreichen, um die Vermutung einer unzulässigen Diskriminierung zu begründen. Die Folge wäre eine Umkehr der Beweislast, d. h. das Unterrichtsministerium bzw. die Leiter der Schulen müssten beweisen, dass die geistige Zurückgebliebenheit auch dann bestehen würde, wenn die kulturelle Umgebung außer Betracht bliebe. Dies kann aber kaum bewiesen werden.

Die beiden Beispiele können auch miteinander gekoppelt werden, wie das der ungarische Minderheitenombudsmann auf Seite 223 seines Berichts des Jahres 1999 macht, wo Folgendes zu lesen ist:

„Zur gleichen Zeit weisen die im Unterrichtswesen auftretenden Probleme weit über die Rahmen des institutionellen Systems hinaus, machen sich doch die Auswirkungen des schulischen Misserfolgs der Zigeunerschüler später, auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag bemerkbar.”

Wenn dies aber zutrifft, dann ist die schlechtere Eignung der Romabewerber bei der Stellensuche eine Folge der Diskriminierung im Schulwesen. Eine weitere Folge hiervon ist, dass der private Arbeitgeber bei seiner Entscheidung die schlechtere Eignung nicht berücksichtigen darf und im konkreten Fall einen weniger geeigneten Roma statt eines geeigneteren Nicht-Roma-Arbeits-suchenden einstellen muss.

b) Die Praxis des Europäischen Gerichtshofes bei der Beurteilung der nationalen Minderheitenschutzgesetze

Das Recht der Europäischen Gemeinschaften kennt zwar keinen ausgesprochenen Minderheitenschutz, doch hat der vom innerstaatlichen Recht gewährte Minderheitenschutz den Europäischen Gerichtshof schon mehrmals beschäftigt. Die Frage war die, inwiefern der Minderheitenschutz mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Der relevante Maßstab des Gemeinschaftsrechts war wiederum das Diskriminierungsverbot, und zwar sowohl in dem 1965 entschiedenen Fall Mutsch als auch in dem im Jahre 1998 entschiedenen Fall Bickel und Franz, in denen es um das Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit ging.

In beiden Fällen bildete der Gebrauch der deutschen Muttersprache als Gerichtssprache auf Antrag eines ausländischen Angeklagten den Streitgegenstand:

– im ersten Fall auf Antrag des Herrn Mutsch, eines luxemburgischen Staatsangehörigen deutscher Muttersprache, vor einem Gericht im deutschen Sprachgebiet in Belgien, wo den belgischen Staatsangehörigen der Gebrauch der Muttersprache der deutschen Minderheit gewährleistet ist;

– im zweiten Fall ging es um den Antrag des Österreichers Bickel und des Deutschen Franz vor einem Südtiroler italienischen Gericht, wo die italienischen Staatsangehörigen als Minderheitenangehörige ihre deutsche Muttersprache gebrauchen können.

Der Europäische Gerichtshof wollte eine benachteiligende Diskriminierung darin erblicken, dass in bestimmten Gebieten Belgiens und Italiens der Gebrauch der deutschen Muttersprache vor Gericht nur den Angehörigen einer Minderheit und nicht auch den Ausländern gewährleistet ist. Obzwar die beiden Urteile unter dem Vorbehalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stehen, also die Staaten nicht unbedingt zur gleichen Behandlung der Ausländer wie der Minderheitenangehörigen verpflichten, sind die Folgen für die Zukunft nur schwer überschaubar. Man kann nicht genau wissen, wann die Rechtspraxis die Bestimmungen des Minderheitenschutzes zu Ausländerschutzvorschriften umdeuten wird. Diese Frage ist jetzt in Westeuropa in erster Linie für die deutsche Sprache interessant. Nach der Osterweiterung der EU kann sie dem Gebrauch der ungarischen Sprache in Slowenien, der Slowakei und Rumänien einen erweiterten Anwendungsbereich sichern.

Diese anfängliche Praxis des Europäischen Gerichtshofes kann sehr leicht kontraproduktiv wirken. Sind doch die EU-Mitgliedstaaten weder aufgrund des Völkerrechts noch aufgrund des Gemeinschaftsrechts dazu verpflichtet, durch Gewährung von Vorrechten des Sprachgebrauchs für den Minderheitenschutz zu sorgen. Wenn sie dies aber großzügig dennoch tun, müssen sie mit dem Risiko rechnen, dass die Vorrechte auch von den Ausländern in Anspruch genommen werden. Ist es unter solchen Umständen nicht klüger, den Minderheitenschutz abzubauen, um Risiken zu vermeiden?

 

II. Die Minderheitengesetzgebung der Nationalstaaten

Zur entsprechenden Analyse der Minderheitengesetzgebung der Nationalstaaten steht hier nicht ausreichend Platz zur Verfügung. Die Beschreibung der Details würde den Anspruch einer Monographie erheben und kann deshalb hier nicht vorgenommen werden. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es wichtiger, einige allgemeine Gesichtspunkte hervorzuheben und einige allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zuerst kann festgestellt werden, dass die Bestimmungen des Minderheitenschutzes im Völkerrecht und im Gemeinschaftsrecht so wenig umfangreich sind und nur einen so minimalen Standard sichern, dass die Erfüllung dieser Anforderungen sehr einfach ist. Das Minderheitenrecht der mittel- und osteuropäischen Länder entspricht diesen geringen Anforderungen ohne weiteres, was von einigen westeuropäischen Staaten nicht behauptet werden kann. Die entsprechende Ausgestaltung des Minderheitenrechts ist in erster Linie Aufgabe der einzelnen Nationalstaaten. Auf diesem Gebiet haben sie einen großen Abwägungsspielraum, und das Minderheitenrecht der einzelnen Staaten weist tatsächlich große Abweichungen auf. Aufgrund eines Vergleichs könnte man einzelne Staaten wegen ihrer Großzügigkeit loben und andere wegen Engherzigkeit kritisieren, doch würde uns das in das Reich der Details führen.

Die Gründe für die große Vielfalt der Minderheitenrechtssysteme sind nicht nur in der unterschiedlichen Bereitschaft der einzelnen Staaten zum Minderheitenschutz, sondern auch in der Vielfalt der einzelnen Minderheitensituationen zu suchen. Jede einzelne Minderheitensituation ist individuell, und dieser Umstand erschwert die Formulierung von allgemeinen Empfehlungen. Deshalb möchte ich nur kurz den meiner Meinung nach richtigen Ausgangspunkt umreißen. Ich gehe davon aus, dass ein recht großes Einvernehmen darüber besteht, dass das Wesentliche des Minderheitenschutzes die Gewährleistung der Möglichkeit ist, dass die in einer Minderheitensituation befindliche Volksgruppe ihre kulturelle Identität bewahren und pflegen kann. Ist dieser Gesichtspunkt als Ausgangspunkt akzeptierbar, dann folgt hieraus, dass der richtige Minderheitenschutz in erster Linie als Möglichkeit ausgestaltet werden muss. Ob die Volksgruppe und deren Angehörige von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, muss ihrer eigenen Entscheidung überlassen bleiben, wie sich dies auch aus der Idee des individuellen und kollektiven Selbstbestimmungsrechts ergibt. Der Staat hat also vor allem ein gesetzgeberisches Angebot vorzulegen und muss es im Übrigen den Minderheiten selbst überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen oder nicht. Unter diesem Gesichtspunkt scheint die vom estnischen Minderheitengesetz gebotene Personalautonomie vorbildlich zu sein. Macht die russische Minderheit von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so kann man diese Haltung nur so deuten, dass sie das nicht braucht. Diese liberale Regelungskonzeption bedeutet zugleich auch, dass in erster Linie die betroffene Minderheit selbst zur Entscheidung darüber berufen ist, ob ihre weitere Entwicklung eher in die Richtung der Integration oder der Segregation oder auf dem Mittelweg einer doppelten Identität verlaufen soll. Im Vergleich hierzu können die Zielsetzungen der Minderheitenpolitik des Staates nur sekundärer Natur sein, sie müssen durch konstitutionelle Werte gerechtfertigt werden. So ist es vorstellbar, dass eine auf Integration abzielende Minderheitenpolitik des Staates mit dem Ziel der Vermeidung gesellschaftlicher Spannungen und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann. Im Falle der Roma könnte man an das aus dem Sozialstaatsprinzip ableitbare Ziel der Beseitigung der Chancenungleichheit denken. Gegen ihren Willen kann aber kein liberaler Staat eine Minderheit zu etwas zwingen. Der mögliche Minderheitenschutz und die zulässige Minderheitenpolitik sind übrigens von zwei Seiten her begrenzt: die eine ist das Verbot der Zwangsassimilation, die die Grenze jedweder Integrationspolitik bedeutet; die andere ist das Erfordernis der staatsbürgerlichen Treue, die für die Realisierung der Segregationsmöglichkeiten ein endgültiges Hindernis darstellt.

Was die Rolle der Europäischen Union auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes anbelangt, befürchte ich, dass grundsätzlich keine positiven, anregenden Wirkungen zu erwarten sind. Die EU erhebt zwar den nationalstaatlichen Beitrittskandidaten gegenüber Forderungen des Minderheitenschutzes, doch sind die Anforderungen zufällig, in Bezug auf ihre Begründung und Ziele unklar, sie sind Produkte tagespolitischer Opportunitätserwägungen und nicht einer durchdachten Konzeption. Die wichtigste Zielsetzung ist wahrscheinlich die Aufrechterhaltung der jeweils vorhandenen Ruhe gegenüber jenen Gefahren, die von der EU als solche bezeichnet werden. Das unglückliche Agieren der EU in den unterschiedlichen Phasen der Jugoslawienkrise und auch bei anderen Gelegenheiten lässt jedoch darauf schließen, dass die Urteilsfähigkeit der EU bei der Beurteilung von Gefahrensituationen gelegentlich nur mangelhaft ist. Im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess sind die von der EU-Kommission erhobenen Forderungen des Minderheitenschutzes zum Teil zu begrüßen, zum Teil nicht. Da ihre Adressaten, für die diese bestimmt sind, nur die außenstehenden Beitrittskandidaten und nicht die „beati possidentes” sind, tragen sie auf jeden Fall das Odium der Einseitigkeit und der Scheinheiligkeit.

Die von der EU erhobenen Forderungen können jedoch nur bis zum Zeitpunkt des Beitritts erhoben werden. Dann kommt die Innenpolitik zur Geltung, in der der Minderheitenschutz unmittelbar keine Rolle mehr spielt. Mittelbar muss aber befürchtet werden, dass der Minderheitenschutz auch bei den gutwilligen Nationalstaaten in den Hintergrund rücken wird. Einerseits deshalb, weil sich die meisten osteuropäischen Staaten in höherem Maße und auf noch höhere Budgetmittel fordernde Art und Weise mit den sozialen Problemen der Sinti und Roma befassen müssen, also mit solchen sozialen Problemen, die kaum etwas mit dem Wesen des Minderheitenschutzes, mit der Bewahrung und Pflege der kulturellen Identität zu tun haben. Darüber hinaus wird sich die EU natürlich nicht gegen jene Bestrebungen einzelner Mitgliedstaaten wenden, die ihren Minderheiten geschützte rechtliche Positionen sichern wollen. Diese wohlgesinnten Mitgliedstaaten werden aber intensiver darüber nachzudenken haben, ob der Preis für den Minderheitenschutz nicht zu hoch sein wird, wenn alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaten daraus Nutzen ziehen wollen. Die anrufenden Diskriminierungsverbote in der Gemeinschaft werden voraussichtlich nicht nur auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes große Schwierigkeiten verursachen.

Das Gesamtbild ist letzten Endes nicht allzu rosig. Damit aber nicht nur Dornen in ihm enthalten sind, möchte ich meinen Vortrag mit etwas Positivem schließen. Ich glaube, es kann mit Gewissheit vorausgesagt werden, dass die Abschaffung oder die Lockerung der Grenzen in Bezug auf die EU-Mitgliedstaaten die Pflege der Beziehungen zwischen den nationalen Minderheiten und ihrem Mutterland erleichtern wird. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich dazu beitragen, dass das Problem des Minderheitenschutzes allmählich an Bedeutung verlieren wird.