Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 25:210–212.
FERENC MÁDL
Bildungs- und Kultusminister (1992-94), Mitglied der UAW,
Begründungsprofessor des Europa Instituts Budapest,
Präsident der Republik seit 2000
Für unsere unmittelbare kulturelle Umgebung, den Karpatenbecken ist eine kulturelle Vielfalt charakteristisch. Wie Jenő Szűcs darauf hinwies, ist Ungarn am Grenzgebiet der drei großen Kulturregionen Europas zu finden, und ist am engsten mit dem Westen, dem Okzident verbunden. Die Eigenartigkeit unseres Erbes kann erst dann eingeschätzt werden, wenn wir auch die östlichen Kulturelemente in Betracht ziehen, die von den ungarischen Staatsgründern mitgebracht wurden.
In unserer Region ist eigentlich jede Kultur eine Minderheitskultur, nicht nur wegen der ethnischen Vielfalt und der Relativität der Nationen zueinander, sondern auch im Vergleich zu den europäischen Kulturen. Diese Vielfalt ist zweifellos ein Wert, der nicht nur wegen uns selbst, sondern auch zur Bereicherung der Welt bewahrt werden soll.
Gegen die Vereinheitlichungstendenz der heutigen Gesellschaft kann die Vielfalt der Kulturen erst dann aufrechterhalten werden, wenn diese Gesellschaften dieses Ziel sehr bewusst anstreben, und der Schutz der kulturellen Vielfalt in die staatlichen Programme integriert wird. Die Traditionspflege und die Bewahrung der kulturellen Eigenartigkeiten eines Volkes sind nur teilweise die Aufgaben des Staates. Heutzutage sind die Möglichkeiten des Wissenserwerbs viel breiter, was in erster Linie den elektronischen Informationssystemen zu verdanken ist. Das Internet ist supranational. Ähnlicherweise vermittelt die globalisierte Konsumtion übernationale Informationen. All das bedeutet eine riesige Herausforderung, der man nicht auf individueller Ebene gerecht werden kann. Das Bildungswesen darf diesen Aspekt nicht außer Acht lassen. Es ist die Pflicht und das Recht der staatlichen Schulen, die lokalen und Minderheitskulturen zu schützen und die Bewahrung ihres kulturellen Erbes als Priorität zu behandeln, diese Aufgabe kann ja von keiner anderen Institution übernommen werden.
In der Regierungsperiode 1990-1994 konnte ich als Gestalter und Leiter der Kulturpolitik an der Rechtsetzung teilnehmen, die zum Erreichen dieser oben genannten Ziele dient. In der Präambel des Bildungsgesetzes von 1993 steht, dass es als Zielsetzung „die Vertiefung der Erziehung zum Patriotismus in der öffentlichen Ausbildung, und die Durchsetzung des Rechts der nationalen und ethnischen Minderheiten zum muttersprachlichen Unterricht” hat. (Das Ziel des Gesetzes ist natürlich im Allgemeinen die Versicherung des Rechts zur modernen Bildung.)
Als Minister nahm ich an mehreren großen internationalen Veranstaltungen teil, die das Aufrechterhalten und die Bewahrung der Kultur der kleinen Nationen zum Thema hatten. (An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass im Licht der Amerikanisierungstendenz sich sogar die Franzosen als eine Minderheit fühlen.) Wir waren uns einig, dass das nationale Kulturerbe jeder Nation Teil des Weltkulturerbes ist. Demzufolge drücken die nationalen Strebungen nach der Bewahrung der eigenen Traditionen universelle Werte aus. Aus dieser Hinsicht gibt es keine „großen” oder „kleinen” Nationen. Natürlich müssen die Großen andere Mittel verwenden, als die Kleinen – und die Letzteren haben viel größere Aufgaben vor sich. Das ist besonders wahr in unserer Region.
Es kann auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die übermäßige Teilnahme des Staates und der Politik mehr schadet, als nutzt. Es ist aber die Aufgabe des Staates, zu erreichen, dass die Gesellschaft die zivilen und sonstigen Initiativen mit dem nötigen Taktgefühl behandelt, und an der Kulturfinanzierung teilnimmt. In der Zeit der Globalisierung sind die Traditionen von den Marktmechanismen der immer einheitlicheren Weltkultur gefährdet. In diesem Bereich ist der Nationale Kulturfonds beispielhaft innerhalb und außerhalb unserer Region. In diesem Fall funktioniert die staatliche Finanzierung und die beruflich-gesellschaftliche Kontrolle seit einem Jahrzehnt erfolgreich. Der Fonds wurde allein darum kritisiert, dass nicht immer genügende Förderungen zur Verfügung standen – aber es gibt wohl keine Summe, die groß genug ist, um alle zu befriedigen, die daraus nicht bekamen.
Während der Jahrzehnte, in denen wir die Fortschritte der Welt hinter dem eisernen Vorhang kaum gespürt hatten, erhielten sich hier in der Isolation, viele Werte, die im Westen zum Opfer der Entwicklung fielen. Das Phänomen erschien eigentlich schon vor Jahrhunderten, aber damals war die Umwandlung weniger auffällig. Letztendlich bedeutet die Region der neuen EU-Mitgliedsstaaten eine eigenartige kulturelle Genbank. Wir müssen darauf achten, dass dieses Erbe nicht den Veränderungen zum Opfer fällt, und der Beitritt nicht zur Selbstaufgabe wird. Wie ich sehe, bemerkten viele diese Gefahr, was Grund zur Hoffnung ist. Wir dürfen aber nie vergessen, dass wir, Ungaren für die ungarische Kultur verantwortlich sind, und keine EU-Förderung oder UNESCO-Unterstützung diese Kultur für uns bewahren kann.
Es macht einen oft traurig zu sehen, wie viele es gibt, die aufgrund der beeindruckenden wirtschaftlichen Beispiele der Meinung sind, dass die Welt auch im geistlichen Sinne vereint werden soll. Sie glauben, dass eine kleine Nation mit einer kleinen Kultur gleichzustellen ist, und es altmodisch oder beleidigend sei, der Bürger einer kleinen Nation zu sein. Das ist natürlich nicht wahr – nicht einmal in der Wirtschaft. Es kann mit mehreren Forschungen bewiesen werden, dass die Bewahrung der Traditionen und die Kohäsion der nationalen Gemeinde zu dem Erfolg solcher Unternehmen beitrug, wie IKEA und Nokia – um nur zwei bekannten Beispielen zu nennen. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmens ist, mit selbstbewussten Leuten zu arbeiten, die ihre Identität bewahren, und ihre Kultur als Grundlage nehmen können.
Seit 1990 ließ Ungarn einen langen Weg hinter sich, was die Umstrukturierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens betrifft. Die Kultur und Traditionen Ungarns veränderten sich nur insoweit, dass die Möglichkeiten und die Ausgeliefertheit, die die Freiheit der Kultur mit sich brachte, verschiedene Reaktionen hervorriefen. Inzwischen konnten wir beobachten, dass auch die ungarische Literatur auf dem „Weltmarkt” erschien und mehr ungarische Bücher übersetzt wurden, als je zuvor. Die ungarischen Künstler bekamen noch nie so viele Aufmerksamkeit und Anerkennung (u.a. den Nobel Preis und andere bedeutende Preise) wie in diesem Jahrzehnt.
Die ungarische bildende Kunst wird immer anerkannter und der Kulturaustausch wird immer dominanter in den Verbindungen. (Die Musik war traditionell eine unserer wichtigsten Exportwaren.) Die Verbindungen der ungarischen und ausländischen Wissenschaftler und Institutionen entwickelten sich auch in den letzten Jahren, und jetzt müssen wir die Gefahr des „Braindrains” überwältigen. Es ist jedoch ermutigend, dass das ungarische Wissenschaftswesen sich an dem wissenschaftlichen Leben der Welt anschließen konnte, und große Anerkennung erwarb.
All das ist von besonderer Bedeutung für das Ungarnbild, das von der Welt wahrgenommen wird. Die internationale Anerkennung der ungarischen Kultur trägt dazu bei, dass unsere Werte auch im Inland mehr Aufmerksamkeit bekommen, und regt die Investoren dazu an, neue Möglichkeiten zu entdecken.
Das Letztere ist äußerst wichtig, da die geistige Welt von Natur aus konservativ ist, und sich langsam ändert. Die fünfzehn Jahre, die zwischen der Abbau des eisernen Vorhangs und dem EU-Beitritt vergingen, sind aus diesem Aspekt eine sehr kurze Zeit. All das, was wir für das Aufrechterhalten unserer scheinbar kleinen und sensiblen Kultur getan haben ist nur der Anfang, die Zeit der wahren Herausforderungen und Aufgaben fängt erst jetzt an.