Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 248–254.
ANNA GYIVICSÁN
Die Muttersprache der Slowaken in Ungarn
Im Kreis der auf dem Territorium des heutigen Ungarns lebenden Nationalitäten hat sich am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ein spezifisches, doch sehr ungünstiges, ja sogar ausgesprochen benachteiligendes Modell der Zweisprachigkeit herausgebildet. In diesem Modell gelangte die Sprache der Minderheiten in das Stadium der Diglossie.
Zur Herausbildung dieses ungünstigen Modells trug in einem hohen Maße auch der Diasporacharakter der Minderheiten in Ungarn bei, verhinderte doch diese Zerstreutheit – und verhindert es auch gegenwärtig noch – die innere kulturelle Kommunikation zwischen den Sprachinseln bzw. ein kulturelles Voranschreiten in einem gewissen Grade. Und all dies gilt in einem höheren Maße auch für die Sprache als ein grundlegendes Mittel der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Diese Diglossie in negativer Richtung kam im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschließlich im gesellschaftlichen Leben zur Geltung, in den letzten vier Jahrzehnten breitete sich die untergeordnete Rolle der (Nationalitäten-)Sprache auch auf die Familie aus. Die Frage ist, wie aus dieser ungünstigen Situation eine Zweisprachigkeit „geschaffen” („neu geschaffen”) werden kann, die einen gesellschaftlichen Rang hat und auch in der subjektiven Sphäre wieder neu zu leben beginnt, und zwar so, dass die gesunde und nützliche Triebkraft Kultur nicht nur einer engeren „Elite”, sondern einer vollständigeren Nationalitätengemeinschaft dient.
Der obige Problemkreis soll von mir am Beispiel der ungarländischen Slowaken dargestellt werden.
Als entscheidender Faktor im Prozess der sprachlichen Werteveränderungen ist in der Geschichte der Minderheiten in Ungarn die besondere, herausragende Rolle der Sprachen in Mittelosteuropa enthalten. Es ist bekannt, dass in dieser Region vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ein ganzes Jahrhundert hindurch, in den nationalen Bewegungen die Kultur und die Sprache eine herausragende Rolle spielt; die Sprache hatte eine politische Rolle erhalten, war zum Bestandteil des politischen Kampfes geworden. Im erwähnten Jahrhundert mussten die sich herausbildenden Nationen einen großen Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz der eigenen Sprache und Kultur austragen. Es hatte sich eine Atmosphäre herausgebildet, die man gewissermaßen übertrieben so charakterisieren könnte, „wessen Sprache siegt, dem gehört die Macht”. Dieser Prozess und das sich herausgebildete ungünstige Milieu ließ auch die Sprachinseln der ungarländischen Slowaken nicht unberührt, die in das Kreuzfeuer von zwei – der ungarischen und der slowakischen – nationalen Bewegungen, und innerhalb dieser der sprachlichen und kulturellen Bewegungen, bzw. der zwischen diesen Bewegungen entstandenen Kämpfe und Zwistigkeiten geraten; häufig lösten sie die ambivalenten Reaktionen und Verhaltensweisen der nationalen Gemeinschaft und der Individuen aus. Diese negativen historischen Wurzeln, diese kulturellen Erlebnisse motivieren auch in unseren Tagen immer noch die sprachlichen Werte und behindern es, dass im Bereich der ungarländischen Slowaken eine ausgeglichene slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit zustande kommen kann.
Unseren Vermutungen nach konnte der negative Trend der sprachlichen Werte in den slowakischen Sprachinseln in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen stärker werden, obzwar die aktive Mitteilungsform der Verhaltensweise in den letzten vier Jahrzehnten zunehmen konnte, als die Gemeinschaft immer häufiger mit der slowakischen Literatursprache und mit den modernen, institutionalisierten Formen der Sprache konfrontiert wurde. All das erlebte man aber schon zu dem Zeitpunkt, als sich die eigene lokale Sprache im Stadium der typischsten Diglossie befand, zu dem Zeitpunkt, zu dem die slowakische Sprache – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ganz isoliert vom gesellschaftlichen Leben den internsten Angelegenheiten der Gemeinschaft, der Familie und des Individuums diente, und nicht zu den äußeren Beziehungen der Gemeinschaft. In diesem Zustand der Rückentwicklung, in einem solchen Modell leben bei einigen kleineren Gemeinschaften oder bei einzelnen Schichten größerer slowakischer Gemeinschaften noch die lokalen Dialekte, und zwar so, dass weder der seit vier Jahrzehnten währende Unterricht der slowakischen Literatursprache, noch andere Formen der muttersprachlichen Bildung dieses benachteiligte Modell der sprachlichen Kommunikation verändern konnten.
Der Prozess des Werteverlusts der Muttersprache und der Raumgewinn der ungarischen Sprache widerspiegelt sich in den Angaben der Volkszählung, was die angegebene Muttersprache anbelangt [A], bzw. in den demographischen Angaben der muttersprachlichen Angaben, also in der Relation der Altersstufe und der Muttersprache [B].
[A] Die Zahl der auf dem Territorium des heutigen Ungarns lebenden Slowaken nach der Muttersprache entwickelte sich zwischen 1880–1990 wie folgt:
1880: 213 249
1900: 192 227
1910: 165 317
1920: 141 877
1930: 104 786
1941: 75 877
1949: 25 988
1960: 30 690
1970: 21 176
1980: 16 054
1990: 12 745
Einige Angaben über die Proportionen dieser negativen Veränderung in Prozent ausgedrückt:
zwischen 1880 und 1930, also innerhalb von 50 Jahren, ging die Zahl der Slowakischmuttersprachler von 213 249 auf 104 786 zurück, nahm also um mehr als 50 % ab. Zwischen 1930 und 1945, also kaum innerhalb von zehn Jahren, machte der Rückgang schon 29,3 % aus (von 104 786 auf 75 000).
Sowohl aus dem historischen statistischen Prozess, als auch aus den Proportionen in Prozent ausgedrückt ergibt sich, dass ein solcher paradoxer sprachlicher – und vermutlicher kultureller – Werteverlust eingetreten ist, für den es nicht leicht sein wird, eine „exakte” Erklärung zu geben – sei es nun unter Anwendung von vielseitigen, als auch von interdisziplinären Methoden. Die Beantwortung der Frage wird auch dadurch erschwert, dass im Kreis der anderen nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn diese umfangreiche negative sprachliche und kulturelle Veränderung nicht eingetreten ist. Wenn wir nämlich die muttersprachlichen Angaben der Volkszählungen bei den ungarländischen Slowaken und bei den anderen Nationalitäten miteinander vergleichen, zeigt dieser Vergleich, dass die Angaben bei den Slowaken am meisten sinken, und auf eine zu widersprüchliche, ambivalente Weise schwanken.
[B] Der Werteverlust bei der Muttersprache wird auch von den aufgrund der Volkszählungen analysierten Altersklassengliederungen unterstützt. Die unten stehende Tabelle stellt aus der Volkszählung des Jahres 1970 die Angaben der Muttersprachenangaben, die ungarischen und slowakischen Beziehungen bzw. die Gliederung nach dem Alter dar.
Lebensalter |
Männer |
Frauen |
||
Ungarn |
Slowaken |
Ungarn |
Slowaken |
|
0 – 14 |
1 044 334 |
870 |
985 535 |
809 |
15 – 39 |
1 772 168 |
2 473 |
1 761 649 |
2 605 |
40 – 59 |
1 128 614 |
2 897 |
1 252 245 |
3 527 |
60 – X |
707 573 |
3 106 |
926 270 |
4 642 |
insgesamt |
4 015 873 |
9 346 |
4 926 199 |
11 583 |
Auch ohne die tiefere Analyse der Angaben fällt ins Auge, dass bei den Slowaken die Altersklasse, die in der größten Zahl die Muttersprache übernimmt und sich dazu bekennt, die Generation der Ältesten ist, während bei den Ungarischmuttersprachlern die mit den größten Zahlen die gesellschaftlich aktivsten Generationen, die zwischen des Jahren 15 und 39 bzw. zwischen den Jahren 40 und 59 sind. Bei den Slowakischmuttersprachlern bedeuten die jüngeren Generationen eine immer niedriger werdende Zahlenreihe, in der die jüngste Gruppe (die 0- bis 14-Jährigen) im Vergleich zu den anderen Altersklassen die kleinste Gruppe darstellt, die neben den anderen Generationengruppen als „Torso” existiert. Die Zahl der jungen Altersstufen hat sowohl bei der Volkszählung des Jahres 1980 und bei der von 1990 weiter abgenommen. Das bedeutet wiederum, dass die klassische („instinktive”) Form der Kulturvermittlung-Kulturübergabe, die kulturelle Transmission innerhalb der Familie – zumindest den statistischen Indizes nach – in Gefahr geraten ist, und wahrscheinlich bei mehreren slowakischen Gemeinschaften ganz zu bestehen aufgehört hat: die jungen Generationen sind auf diesem klassischen Weg nicht zu Trägern der slowakischen Kultur und der slowakischen Sprache geworden und werden es auch nicht.
Die obigen Zahlen sind zum Teil die Spiegelbilder einer realen Situation. Denn die Kinder im Schulalter kennen schon seit ungefähr zwei Jahrzehnten die lokale Mundart nicht mehr, nehmen sie nicht mehr an, höchstens als passives Wissen. (Doch die letztere Erscheinung ist auch eher eine Ausnahme.)
Die Veränderung des sprachlichen Verhaltens der Kinder und Jugendlichen hat in den einzelnen slowakischen Siedlungen schon in den 1930er, vor allem aber in den 1940er Jahren begonnen. Meine familiensoziologischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass diese Veränderung sehr häufig innerhalb der Familie begonnen hat. Ob vielleicht der vorgestellte negative Änderungsprozess die Hoffnung dazu bietet, die ich in der Einleitung angesprochen hatte: gibt es überhaupt die Möglichkeit dazu, dass sich im Kreise der ungarländischen Slowaken eine „gleichrangige(re)” slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit herausbildet, die auch funktionsfähig ist. Dieses Bild und dieser Sprachzustand, die ich analysiert habe, waren zwischen 1965-1975 schon in Bezug auf alle slowakischen Siedlungen allgemein geworden, und zwar so, dass die gesellschaftliche Bedeutung der ungarischen Sprache auch außerhalb des institutionellen Rahmens stärker geworden ist, und dass die slowakische Sprache auf der Ebene der Gemeinschaft in einer benachteiligten Funktion beibehalten wurde, auch gegen diese Tatsache gerichtet, dass in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftliche Rolle der slowakischen Sprache in einigen Siedlungen und Institutionen wieder zu wirken begonnen hat. Die Mundart der Gemeinschaft hat das Stadium der vollständigen Krise, des vollständigen Absterbens erreicht. Auch in dem Fall, wenn sie in den Generation der über Fünfzigjährigen noch eine familiäre und eine beschränkte gemeinschaftliche Rolle hat. Hier geht es um die Krise und das Absterben jener Mundarten, auf denen bisher die asymmetrische slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit beruhte.
Die slowakisch-ungarische Zweisprachigkeit hat nach 1949 eine neue Quellenbasis erhalten. Es wurde das slowakische Unterrichtssystem oder das Unterrichtssystem von slowakischer Art (von den Kindergärten bis zum Lehrstuhl an der Hochschule) – wenn es auch bis heute noch nicht ganz komplett ausgebaut ist – und die außerschulischen kulturellen Institutionen ausgebaut (Klubs, Zeitung, Buchverlagswesen, slowakische Sendungen der Medien usw.), die zu Vermittlern der slowakischen Literatursprache geworden sind.
Bereits diesem neuen kulturellen Modell ist es zu verdanken, dass sich ein neues sprachliches System bzw. eine neue slowakisch-ungarische Zweisprachigkeitsfunktion herausgebildet haben: die slowakische Mundart/die slowakischen Mundarten. Sie lebt/leben auch als Kommunikationssprache in der engen Familie, doch auch in der engeren Gemeinschaft; die ungarische umgangssprachliche Kommunikation hat sich auch in diesem Bereich – abgesehen von wenigen Ausnahmen – verbreitet;
die slowakische UMGANGSSPRACHE: sie fehlt als kollektive Kommunikationssprache bei den slowakischen Gemeinschaft ganz; eine enge slowakische Intelligenz – vor allem durch die Vermittlung der Absolventen der Universitäten und Hochschulen in der Slowakei – verwendet sie gemeinsam mit der ungarischen Umgangssprache;
die slowakische LITERATURSPRACHE: die Mittlersprache der Schule und der kulturellen Institutionen; die Arbeits- und Schöpfersprache der slowakischen Intelligenz in Ungarn, also der Wissenschaftler, der Schriftsteller und der Pädagogen. Diese Schicht ist natürlich auch umfassender Inhaber der ungarischen Kultur und der ungarischen Sprache. In ihrer gesellschaftliche Kommunikation ist die ungarische Sprache und die ungarische Kultur dominierend. Damit dieses schwache sprachliche System zum Leben erwacht, bräuchte es eine ständige anregende Kraft und eine sprachliches Planen. In der nahen Vergangenheit hat dieses System für sein Funktionieren eine anregende Rechtsgrundlage bekommen, sichert doch das am 20. Oktober 1993 in Kraft getretene Nationalitätengesetz den Nationalitätengemeinschaften in Ungarn eine umfassende Autonomie der Verwaltung, der Kultur und des Unterrichts. Das Gesetz macht den Gebrauch der Muttersprache auf sozusagen allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens möglich. Die Realisierung des letzteren wird es im Falle der Slowaken – wie ich bereits mehrmals darauf verwiesen habe – erschweren, dass die in der Schule gelernte slowakische Literatursprache nur bei einer zahlenmäßig kleinen Intelligenz das Kennenlernen der slowakischen Umgangssprache und ihren sehr beschränkten Gebrauch ermöglicht hat.
Bei der Neugestaltung der gesellschaftlichen Rolle der slowakischen Sprache muss man aber auch mit einem neueren behindernden Faktor rechnen. Infolge der seit 1989 vor sich gehenden gesellschaftlichen Veränderungen wurde nämlich auf allen Ebenen der schulischen Institutionen der Unterricht der westlichen Sprachen zu einer primären Aufgabe. Der Unterricht der „kleinen Sprachen”, das Interesse für sie ist allmählich in den Hintergrund gerückt. Während z. B. im Jahr 1988 die slowakische Sprache in 76 Schulen von 7 637 Schülern gelernt wurde, lernten im Jahre 1991 nur mehr 5 527 Schüler in 67 Schulen Slowakisch. Leider hat sich dieses Bild auch im Schuljahr 1999/2000 in negativer Richtung verändert, als in 59 Grundschulen 4 424 Schüler in slowakischer Sprache oder die slowakische Sprache lernten. Auch das trifft zu, dass die muttersprachliche Angabe der Volkszählung des Jahres 1990 (12 745 Personen) bei der Volkszählung des Jahres 2001 ebenfalls gesunken ist, denn nur mehr 11 817 Personen bezeichneten die slowakische Sprache als ihre Muttersprache. Andererseits ist diese Zählung aber positiver, weil sie für die Lage der slowakischen Sprache auch vitalere Angaben enthält. So wird die slowakische Sprache von 18 057 Personen im Familien- und Freundeskreis verwendet, während 26 631 Personen in irgendeiner Form mit der slowakischen Kultur verbunden sind. Eine der interessantesten „slowakischen” Angaben der Volkszählung des Jahres 2001 ist die, dass die Angabe in Bezug auf die Zugehörigkeit zur slowakischen Nationalität weit über der Angabe der Muttersprache liegt (17 693). Bei den bisherigen Volkszählungen machte die Angabe in Bezug auf die Nationalität am häufigsten nur ein Viertel der Muttersprachenangabe aus. Nach der Darstellung der asymmetrischen Zweisprachigkeit der Slowaken in Ungarn muss gesagt werden, dass auch für die Nationalitätensprachen jene allgemeine sprachliche Gesetzmäßigkeit gültig ist, dass Quelle und Unterpfand der Entwicklung einer jeden Sprache ist: die möglichst umfangreiche gesellschaftliche Rolle der Sprache, darunter verstehen wir den Gebrauch der geschriebenen und gesprochenen Form der Sprache im politischen und im wirtschaftlichen Leben, in der Kultur, in der alltäglichen Kommunikation, in der Familie usw. Nur so kann die Sprache ein vollständiges Leben führen! Wenn irgendetwas in dieser Kette fehlt, wird die Entwicklung der Sprache schon verzerrt.
Was könnte man für die in der Diaspora lebenden Slowaken in Ungarn noch schaffen, was könnte man ihnen bieten, mit Institutionen helfen, damit die gesellschaftliche Rolle, der gesellschaftliche Wert zumindest zum Teil ansteigen kann? Falls diese erwünschte Veränderung nicht eintritt, kann die asymmetrische Zweisprachigkeit der ungarländischen Slowaken wirklich zu einer Sackgasse werden.