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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 4:109–118.

ATTILA PÓK

Die historischen Räume Europas*

 

Wir können als wichtigste soziale Funktionen des historischen Wissens drei Zielstellungen und Aufgaben hervorheben: die wissenschaftlich-kritisch darstellende, die symbolisch-monumentale und die erzieherische. Falls wir bei dieser Tagung die Zusammenhänge zwischen der offenen -Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft prüfen, sind anscheinend die zwei letzten Funktionen im Vordergrund: Einweihung von neuen historischen Denkmälern, historisch geprägte öffentliche Ereignisse (Neubeerdigungen, Umbenennung der Straßen, neue nationale Feiertage und schnell geschriebene neue Schulbücher) üben auf die Gesellschaft einen viel größeren Einfluss aus als dicke wissenschaftliche Monographien oder im engen Kreis der Fachhistoriker stattfindenden Vorträge und Diskussionen.

Das ist ganz bestimmt der Fall im Laufe der schon in Gang gesetzten Umwälzung, aber zurzeit der langen Periode der Vorbereitung der Änderungen, während der „Gärung”, kann der kritisch-darstellenden Funktion eine äußerst wichtige Rolle zufallen. Die Themen dieser wissenschaftlichen Bearbeitungen sollen keinesfalls direkt gegenwartsbezogen sein, um diese Funktion erfüllen zu können. Sei es die Periode der nationalen Staatsgründung oder das Zeitalter der Türkenkriege oder verschiedene soziale, politische, wissenschaftliche, sogar kulturelle Aspekte der bürgerlichen Umwälzung, wissenschaftliche Leistungen zu diesen und vielen anderen Themen können weitläufige soziale und politische Resonanz haben.

 

Drei Regionen?

Als ungarischer Historiker der zu einem Referat über die historischen Räume Europas gebeten wurde, habe ich als Ausgangspunkt eine solche Spitzenleistung der ungarischen Geschichtswissenschaft, den in 1979 entstandenen langen Aufsatz meines früh verstorbenen Mediavisten-Kollegen, Jenő Szűcs, über die drei historischen Regionen Europas gewählt.1 Der Aufsatz wurde als Beitrag zu einer „Festschrift” für István Bibó (1911–1979) geschrieben. Bibó war Jurist, Politikwissenschaftler und hat während der kurzen demokratischen Periode ungarischer Geschichte von 1945 bis 1948 einige brillanten Aufsätze über Grundprobleme ungarischer und ostmitteleuropäischer Geschichte geschrieben. In 1956 war er Minister in Imre Nagy’s Regierung und als letzter Mitglied dieser Regierung im Gebäude des ungarischen Parlaments nach der sowjetischen Invasion Budapests am 4. November 1956 schrieb er und lieferte dann persönlich Protestbriefe an westliche Botschaften in Budapest. Nach mehreren Jahren im Gefängnis, von etwa Mitte der 1970er Jahre an ist er eine Anziehungsfigur der sehr langsam entwickelnden demokratischen Opposition in Ungarn geworden.

Bibó ist in seinem Essays davon ausgegangen, dass Europa seit der Zeit der Staatsgründungen östlich des Flusses Rhein, von etwa 800 an in zwei Teile (Osten und Westen) aufgeteilt worden war und Ungarn im Laufe der 500 Jahre nach der Staatsgründung im Grunde genommen immer dem Westen angehörte. Als eine Folge von historischen Katastrophen (Türkenkriege) wurde dann Ungarn in den Osten gedrückt für 400 Jahre. Wegen der Ohnmacht der Machtstruktur der ungarischen Gesellschaft waren die Versuche des Rückkehres in den Westen erfolgslos, erst in 1945 eröffnete sich – für eine tragisch kurze Zeit – eine Möglichkeit für die Rückkehr „zur westlichen gesellschaftlichen Entwicklung”. Daraus folgt Bibó’s zentrale Fragestellung: in 1945 eröffnete sich von außen nur die Möglichkeit einer Revolution sozialistischer Art – die Traditionen, die tieflegenden Charakterzüge der ungarischen Gesellschaft hätten aber diesen Prozess unter die Kontrolle der Demokratie stellen können. Heute klingt es schon ziemlich anachronistisch, dass Bibó kurz vor seinem Tod in 1979 mit umsichtigen Worten hervorhob: die Demokratie ist kein Bestandteil des „bürgerlichen Überbaus”, sondern „eine objektive Technik für die Ausübung der Freiheit”, die „vom Sozialismus genauso angewendet sein kann wie eine im Westen hergestellte Feder”.2 Das große Dilemma ist wie man die unvermeidbare Revolution „von oben” unter der Kontrolle der Demokratie „von unten” verwirklichen kann. Westeuropa hat seine Revolution im 16.–18. Jahrhundert, Osteuropa im 20. Jahrhundert verwirklicht, meinte Bibó, die Region auf dem Grenzgebiet zwischen Westen und Osten(darin Ungarn) kannte aber nur gestürzte und Halbrevolutionen. Die sich in 1945 wieder einmal ergebende Möglichkeit war einmalig: die Revolution von oben war eine, aus dem „osteuropäischen” Hintergrund folgende Nötigkeit, die demokratische Kontrolle dieses Prozesses eine von den „westlichen” Gegebenheiten bestimmte historische Möglichkeit. Warum ist es nicht gelungen die sozialistische Revolution („ein großes historisches Unternehmen, um einen Ausweg aus der Sackgasse der östlichen Gesellschaftsentwicklung zu finden”) mit den „westlichen Techniken der Ausübung der Freiheit”3 zu verbinden?

Szűcs hat versucht auf Bibó’s essayistisch formulierte, Kernprobleme ungarischer und europäischer Geschichte betreffende Frage eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu geben. Dieser Versuch ist – meiner Meinung nach – die tiefgehendste Untersuchung zum Thema historische Räume in Europa seit Halecki4 geworden. Diese Problematik war äußerst gegenwartsbezogen an der Wende der 1970er und 1980er Jahre: es ging um die historischen Wurzeln der sowjetischen Kontrolle über die Länder zwischen Deutschland und Russland. War es immer das Schicksal von Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn immer entweder dem Westen oder andersmal dem Osten zu gehören? Oder es gibt nicht zwei, sondern drei historische Räume in Europa: West-, Mittel- und Osteuropa. Szűcs, wie praktisch alle Wissenschaftler und Politiker Europas in den 1970er und 1980er Jahren, ist davon ausgegangen, dass die politische Zweipoligkeit des Kontinents (sozialistische versus kapitalistische Länder) sehr langfristig sein wird und sein eigentliches Problem bestand darin, ob und wenn ja, in welchem Maße die historisch geprägten sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Traditionen der „mittleren” Region diesen politischen Druck lockern, einen gewissen Spielraum für die Gesellschaften der hier lebenden Völker gewähren können.

Szűcs beweist, dass seit etwa dem 9. Jahrhundert A.D. eine eindeutige Trennlinie in Europa bei der östlichen Grenze des Karolingenreiches (die Linie Elbe-Saale-Leitha) zu beobachten war: die von dieser Linie westlich liegenden Territorien waren als Occidens genannt. Zuerst kriegt dieses Gebiet den Namen Europa im historischen Sinne des Wortes als das Gebiet unter den Einfluss des Christentums trat. Es war natürlich falsch Europa mit dem vom westlichen Christentum eroberten Gebiet gleichzusetzen weil Byzanz den anderen Pol des Christentums vertrat. Das ist der Anfang von „historischen Räumen” in Europa: der eine Raum unter dem Einfluss von Rom, der andere unter dem Einfluss von Byzanz. Zwischen diesen beiden Polen, argumentiert Szűcs, entwickelte sich (besonders nach dem großen Schisma in 1054) eine ähnliche, genauso wichtige Trennlinie von der unteren Donau den östlichen Karpaten entlang, dann weiter entlang der großen Wälder zwischen Polen und Russland bis zum Baltikum. Dieses Gebiet (von der Elbe bis zu den Karpaten, vom Baltikum bis zum Adriatischen Meer) war gegen 1200 als Westeuropa (Europa Occidens) verstanden, die ehemalige Elbe-Leitha Grenze anscheinend vergessend. Es gibt viele sog. positive Merkmale (die Verbreitung der romanischen und gotischen Kunst, Renaissance und Reformation, autonome Städte, korporative Freiheiten, die Stände-Organisation) die diese östlichere Grenzlinie bestimmen – diese Erscheinungen sind nämlich östlich dieser Linie nicht oder kaum aufzufinden.

Es gibt aber auch ein sog. „negatives Merkmal”: die Elbe-Leitha Linie ist später, etwa nach 1500, eine wichtige Demarkationsgrenze im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sinne des Wortes geworden: ganz überraschend die Trennlinie von etwa 800 reproduzierend, entwickelte sich die sog. „zweite Leibeigenschaft” gerade östlich dieser Linie.

Die Folgerung von Szűcs war, dass es eine „Zwischenregion”, ein „Ost-Mitteleuropa”, seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts immer gab, so bestand seitdem Europa immer aus drei Regionen. Diese mittlere Region kann seiner Meinung nach auch auf weitere drei „Unterregionen” aufgeteilt werden (Polen, Brandenburg-Preußen, Habsburgerreich) die sich in der Art und Weise der Mischung von östlichen und westlichen Merkmalen unterscheiden.

Ein Hauptmerkmal dieser „Zwischenregion” ist das eigenartige Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Im westlichen Modell hat das Lehnswesen einen vertraglichen, beide Partner verpflichtenden Charakter. Ein Teil dieses Verhältnisses ist die Bewahrung der menschlichen Würde. Im Westen, zum Beispiel, im Laufe der lehnsrechtlichen Zeremonie (homagium) biegt sich der Vasall mit hochgehaltenem Kopf, stellt seine Hand in die Hand des Feudalherren und zum Abschluss der Zeremonie küssen sie einander. Im Osten, in den russischen Fürstentümern biegt sich der Vasalle bis zum Boden und küsst den Besatz des Kleides seines Herrn. In der Zwischenregion sind viele Übergangsformen zu beobachten: in Ungarn z.B. gibt es kein richtiges Lehnswesen, der vertragliche Charakter des Verhältnisses zwischen dem König und den verschiedenen Gruppen der Adeligen ist aber vorhanden.

Ein anderes Kennzeichen des westlichen Models ist die Abtrennung vieler staatlicher Aufgaben von der Königsmacht: viele Elemente der Souveränität werden in der feudalen Gesellschaft verteilt und so entstehen die sog. „kleinen Kreise der Freiheit”. In dieser Atmosphäre entwickelt sich der Gedanke des „contract social”. Die Idee der Trennung der kirchlichen und der staatlichen Macht spielt dabei eine wichtige Rolle, genauso wie die Verbreitung städtischer Autonomien. Diese sozialen, politischen Erscheinungen zeigen in die Richtung der Aufteilung der Souverenität. In der mittleren Region sind alle diese Merkmale aufzufinden: aber entweder in einer unvollkommenen oder verspäteten oder meistens in einer unvollkommenen und verspäteten Form.

In einem gemeinsamen Vortrag mit Jenő Szűcs (vor genau zehn Jahren) hat Péter Hanák Szűcs’s Stellungnahme zum Bestehen einer selbständigen mitteleuropäischen Region mit weiteren, die Periode der bürgerlichen Umwälzung betreffenden Argumenten unterstützt.5

In Mitteleuropa hatte die Modernisierung, argumentierte Péter Hanák, nicht nur äußere Quellen, sondern auch endogene Quellen, Grundlagen. Nämlich, neben der mit der Anwendung von Fronarbeit funktionierenden Grundherrschaft erscheinen Tendenzen der bürgerlichen Umgestaltung des Agrarwesens schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die steigende Anzahl von Häuslern, d.h. die Erscheinung einer Agrarmietarbeiterschicht zeigt in diese Richtung. In der mittleren Region erschien schon in der letzten Phase des Feudalismus, offen in der Form der Ablösung, versteckt in der Form der vertraglichen Pacht, das bürgerliche Eigentum. Das war legitimiert von der 1848-er Revolution und konsolidiert von der darauffolgenden Aufschwungsperiode. In der östlichen Region ist das reine bürgerliche Eigentum auf einen sehr engen Kreis begrenzt geblieben, die befreiten Leibeigenen sind nicht bürgerliche Eigentümer geworden.

Ein weiteres Argument für das Bestehen einer mittleren Region ist die hiesige Eigenart der Akkumulation des Mobilkapitals. Die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung ist nämlich nicht auf den Einfluss von ausländischem Kapital und auf die paternalistische Rolle des Staates (wie im Osten) zurückzuführen. Die Kapitalakkumulation fand nicht im Kreise der traditionellen städtischen Gesellschaft (wie im Westen), sondern (vom 18. Jahrhundert an) im Kreise des nicht „autochthonen” Bürgertums, unter den Einwanderern verschiedener ethnischen Gruppen (Deutsche, Griechen, Serben, Armenier und besonders Juden) statt. Der sich mit dem Handel von Agrarwaren beschäftigende, vom Immobilienkauf verbotene, nur über Mobilkapital verfügende Aufkäufer ist der Archetyp, historischer Ausgangspunkt des mitteleuropäischen kapitalistischen Unternehmers. Der typische Karriereweg vom Häusler über Aufkäufer und kapitalistischer Kaufmann zum kapitalistischen Unternehmer unterscheidet sich von dem westlichen Modell und noch mehr vom russischen Modell.

Weiterhin sprach Hanák über sein Hauptforschungsgebiet, die Geschichte der Habsburger Monarchie, betonend, dass das staatliche-politische System der Monarchie auch eine Zwischenstelle zwischen der westlichen parlamentarischen Demokratie und der östlichen Autokratie eingenommen hat, und so ganz genau die mitteleuropäische Eigenartigkeit vertrat.

 

Zwei Regionen?

Bekannte Historiker haben Kritik an dieser Auffassung ausgeübt oder schon vor der Publikation von Szűcs’ Arbeit andere Meinungen zum Thema vertreten. Die wichtigste These – besonders von Zsigmond Pach Pál seit Anfang der 60er Jahre vertreten,6 aber mit einer langen Vorgeschichte in der ungarischen Geschichtschreibung – ist die These der Abbiegung der ost- bzw. ostmitteleuropäischen Region von der westeuropäischen Entwicklung im 16.–17. Jahrhundert. Unter dem Einfluss der großen weltwirtschaftlichen Umgestaltung und der türkischen Expansion, der Türkenkriege, wird der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in der osteuropäischen Region (im Grunde genommen die Gebiete zwischen der Elbe und Russland) ausgeschoben; die zweite Leibeigenschaft, die Verstärkung der Gutswirtschaft usw. zeigen, dass dieses Gebiet von einer höheren Ebene der Entwicklung auf eine niedrigere Ebene zurückfiel. Trotz gelegentlicher Gegentendenzen ist die Konservierung der feudalen Strukturen (ein überproportionierter Anteil der Adeligen in der Gesellschaft, eine Stagnation der Städteentwicklung, die Verstärkung des Ständestaates, die Verschließung der „bürgerlichen” Wege des sozialen Aufstieges für Bauern etc.) im 16.–17. Jahrhundert ein Hauptgrund für die verspätete neuzeitliche bürgerliche Umwälzung der Region geworden. Die mit der Geburt der modernen nationalen Ideologien verbundenen Konflikte (zwischen dynastischen und nationalen Zielsetzungen, die für die Region typische fehlende Übereinstimmung der Grenzen von Staaten einerseits und nationaler Siedlungsgebieten andererseits) hat dann natürlich auch – betont diese Argumentation – zu der Zurückgebliebenheit der Region beigetragen, aber die „Hauptschuld” liegt bei der „großen Wende” im 16.–17. Jahrhundert. Eine Variante dieses Ausgangspunktes (mit sehr tiefen Wurzeln bis Ranke) geht davon aus, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa schon zurzeit der Geburt des europäischen Feudalismus entstanden sind. Diese Unterschiede sind grundlegend: im Osten sind keine Spuren der Antiquität aufzufinden, die meisten Städte sind keine Städte im westeuropäischen Sinne des Wortes, es gibt kein Bodeneigentum im westeuropäischen Sinne usw. und erst unter dem „Pull” der westeuropäischen Entwicklung, seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erschienen die westlichen Modelle in Osteuropa. Westeuropa brauchte nämlich Edelmetalle und Agrarprodukte vom Osten und die westlichen Randgebiete der osteuropäischen Region haben auf diese Herausforderung viel aktiver als die östlichen Zonen reagiert. So ist es zu einem eigentlichen Entzweireißen Osteuropas gekommen: auf dem Randgebiet Osteuropas entstand ein Gebiet vom Übergangscharakter mit dem Baltikum, Polen, Ungarn und Kroatien, wo die typisch osteuropäische Grundstruktur durch den starken westeuropäischen Einfluss bedeutend modifiziert wurde. (Die tschechischen und morawischen Gebiete hatten eine unter starke osteuropäische Einflüsse geratene westliche Grundstruktur.)

Die anderen östlichen Gebiete (Russland und der Balkan) wurden von westeuropäischer Nachfrage erst zu einer Zeit erreicht als die technischen Vorbedingungen des Transports schon vorhanden waren, also nur vom Anfang des Eisenbahn-Zeitalters an. Trotz der großen Unterschiede zwischen dem östlichen und westlichen Teil Osteuropas (wobei geographisch der westliche Teil mit dem Mitteleuropa der anderen Auffassung ungefähr identisch ist) sind die allgemeinen Charakterzüge Osteuropas bestimmend auch im kapitalistischen Zeitalter (wie z.B. die ungelöste Agrarfrage, Abhängigkeit der industriellen Entwicklung von den Exportmärkten und die direkte staatliche Intervention in die wirtschaftliche Entwicklung).7

Unter den politischen Umständen der 1970er und besonders der 1980er Jahre hatte die drei-Regionen-Auffassung einen politisch oppositionellen Charakter in Ungarn, aber auch in der Tschechoslowakei und Polen. Die offensichtliche politische Folgerung war nämlich eine Distanzierung von der Sowjetunion und die Auffassung war meistens von angesehenen aber weniger oder nicht etablierten Wissenschaftlern und Künstlern vertreten. Die „zwei-Regionen Theorie” war dabei hauptsächlich von auch sehr angesehenen, aber viel mehr etablierten Kollegen repräsentiert.

 

Regionen in Europa nach 1989

Seit dem Systemwechsel wird die ganze Problematik weniger diskutiert – paradoxerweise hat nämlich die mitteleuropäische Identität jetzt eine völlig andere politische Konnotation bekommen: statt Abgrenzung von der Sowjetunion, Abgrenzung von der westlichen Integration. Die unmissverständliche Botschaft der Mitteleuropa-Auffassung der 1980er Jahre seitens ihrer polnischen, tschechischen, ungarischen, österreichischen, usw. Vertreter war nämlich die Betonung der strukturellen Eigenschaften dieser Region gegenüber der Sowjetunion und den Balkan-Ländern. Es wurde gleichzeitig hervorgehoben, dass die „mittlere Lage” keinesfalls die gleiche Entfernung in beide Richtungen bedeutet: Mitteleuropa ist viel näher zum Westen als zum Osten. Unter den heutigen Umständen im Laufe der Diskussionen über den möglichen Termin der Integration der Länder zwischen Russland und Deutschland in die EU und in den NATO geht es um das Verstehen der Unterschiede zwischen West- und Mitteleuropa. Die Frage soll gestellt werden: wie steht es heute mit den feinen Analysen der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Struktur der als Mitteleuropa beschriebenen unabhängigen Region: können sie uns zu einer Folgerung ermuntern, dass die historisch tief gewurzelte Eigenartigkeit dieser Region an sich, also ohne den verschwundenen sowjetischen politischen Druck, die Integrationsbestrebungen dieser Länder in die EU und NATO erschwert? Und wie steht es heute mit der Auffassung über die historisch tief gewurzelte Teilung Europas in nur zwei Teile entlang der von den Vertretern der drei-Regionen-These als Westgrenze der mitteleuropäischen Region beschriebenen Linie?

Diese Linie hat eine sehr wichtige Rolle bei mehreren Forschern gehabt: wie das der von mir vorher lange zitierte Szűcs schreibt: „Die scharfe Demarkationslinie der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die nach 1500 Europa so zu sagen in zwei Teile geschnitten und den größeren östlichen Raum zu der zweiten Leibeigenschaft geführt hat, erstreckte sich fast genau entlang der Elbe-Leitha Linie. Und nach fast einem halben Jahrtausend, heute (in 1979) ist Europa viel eindeutiger als je wieder einmal entlang dieser Linie (nur mit einem kleinen Unterschied in Thüringen) in zwei „Lager” geteilt. Als ob Stalin, Churchill und Roosevelt an der 1130. Jahreswende des Todes von Karl des Großen den status-quo seiner Zeit studiert hätten.”8 Es ist bemerkenswert, dass – wie darauf uns Prof. Erdmann in 1963 aufmerksam gemacht hat – Friedrich Engels in 1853 aus Anlass des Krimkrieges über den an der orientalischen Frage sichtbar gewordenen Imperialismus die folgende Weise meditierte:

„Wenn es nicht gelinge, dem Ausgreifen Russlands durch eine energische Aktion der westlichen Mächte Einhalt zu gebieten, dann werde Russland eine Stellung an der mittleren Ostsee und an der Adria gewinnen, mit einem Ergebnis für den Verlauf der Westgrenze der russischen Macht, das Engels mit folgenden Worten beschrieb: Die stark gekrümmte Westgrenze des Reiches .. . würde einer Regulierung bedürfen, und es würde sich herausstellen, dass die natürliche Grenze Russlands von Danzig oder etwa Stettin bis Triest geht, das heißt, so müssen wir feststellen, einen Verlauf nehmen wird, der etwa der heutigen Trennungslinie zwischen dem kommunistischen und dem westlichen Machtblock entspricht.”9

Oder: was sagen wir heute zu der anderen Version der zwei-Regionen-Auffassung, die die „Bruchlinie” in Europa an der Ostgrenze des Mitteleuropas der drei-Regionen-Auffassung sieht. Diese Meinung hat neulich Samuel P. Huntington in seinem vor vier Jahren erschienenen Aufsatz sehr pointiert zusammengefasst:

 

”As the ideological division of Europe has disappeared, the cultural division of Europe between Western Christianity, on the one hand, and Orthodox Christianity and Islam, on the other, has re-emerged. The most significant dividing line in Europe, as William Wallace has suggested, may well be the eastern boundary of Western Christianity in the year 1500. This line runs along what are now the boundaries between Finland and Russia and between the Baltic states and Russia, cuts through Belarus and Ukraine, swings westward separating the more Catholic western Ukraine from Orthodox eastern Ukraine, swings westward separating Transylvania from the rest of Romania, and then goes through Yugoslavia almost exactly along the line now separating Croatia and Slovenia from the rest of Yugoslavia. In the Balkans this line, of course, coincides with the historic boundary between the Hapsburg and Ottoman empires. The peoples to the north and west of this line are Protestant or Catholic; they shared the common experiences of European history – feudalism, the Renaissance, the Reformation, the Enlightenment, the French Revolution, the Industrial Revolution; they are generally economically better off than the peoples to the east; and they may now look forward to increasing involvement in a common European economy and to the consolidation of democratic political systems. The peoples to the east and south of this line are Orthodox or Muslim; they historically belonged to the Ottoman or Tsarist empires and were only lightly touched by the shaping events in the rest of Europe; they are generally less advanced economically; they seem much less likely to develop stable democratic political systems. The Velvet Curtain of culture has replaced the Iron Curtain of ideology as the most significant dividing line in Europe. As the events in Yugoslavia show, it is not only a line of difference; it is also at times a line of bloody conflict.”10

 

Huntington denkt, dass diese kulturelle Trennungslinie noch viel tiefgehender sei als die früheren ideologischen, politischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Sozialwissenschaftler diesseits und jenseits des „samtigen Vorhanges” in Europa haben die äußerst schwierige Aufgabe ihre Politiker, Regierungen in dieser Frage zu beraten (falls die Politiker bereit sind zuzuhören): Welchen Einfluss können diese historischen–kulturellen Trennungslinien auf die Verwirklichbarkeit der wirtschaftlichen und politischen Integrationsvorstellungen in Europa ausüben?

 

Regionen in der Politik und in der Wissenschaft

Statt einer eindeutigen Stellungnahme zu der einen oder anderen Meinung komme ich jetzt zu der Hauptthese meines Referats: genauso wie vor dem zweiten Weltkrieg, nach dem zweiten Weltkrieg und besonders im Laufe des kalten Krieges gehörten die akademischen Diskussionen zum Thema „historische Räume Europas” zu dem politisch meist geprägten geschichtswissenschaftlichen Meinungsaustauschen. In den ehemaligen sozialistischen Ländern hat einfach das Aufwerfen der Frage (zuerst im engen Kreis von Wissenschaftlern und Künstlern, dann auch in breiteren Kreisen jüngerer Intellektuellen) zum Heranwachsen der offenen Gesellschaft maßgebend beigetragen. Jetzt, mehrere Jahre nach dem Ende der von dem OstenWesten Gegensatz dominierten weltpolitischen Situation soll die Frage über Europas historische Räume anders gestellt werden. Von einer heutigen globalen Perspektive gesehen wird – höchstwahrscheinlich – statt der Ost- West Entgegenstellung immer mehr der Nord-Süd Gegensatz das Hauptproblem der Weltpolitik darstellen und die Beziehungen zwischen der westlichen Zivilisation (im breitesten Sinne des Wortes) und den restlichen Teilen der Welt erscheinen als Hauptachse der Weltpolitik.

Der weltpolitische „Pull” drängt – meiner Meinung nach – Historiker in die Richtung der Suche nach den gemeinsamen Merkmalen Europas. Je mehr es gelingt die Bürger Europas – von Galway bis Moskau und vielleicht auch weiter – mit wissenschaftlich fundierten Argumenten über ihre gemeinsame Identität aufzuklären, desto mehr hat das alte Kontinent eine Chance, seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Positionen zu bewahren, sogar zu stärken.

Die Diskussionen über die historischen Räume Europas in der bipolaren Welt des kalten (und lauwarmen) Krieges haben neben ihren Beitrag zum Anwuchs der offenen Gesellschaft auch einen bedeutenden fachwissenschaftlichen Ertrag gebracht: viele vergleichende sozial-, wirtschafts-, rechtshistorische, kulturelle Untersuchungen waren direkt – indirekt von diesem politischen Faktor initiiert – im Westen nicht weniger als im Osten.

Meine Hypothese ist, dass heute das steigende Interesse an den historischen Wurzeln der gemeinsamen europäischen Identität auch wichtige fachwissenschaftliche Resultate bringen wird. Darf ich hier nur auf das wichtigste Problem hinweisen: Russland. Aufgrund einer von S.P. Huntington zitierten Umfrage von 1992 war 40 Prozent der Gefragten in Russland pro-westlich, 36 Prozent anti-westlich eingestellt.11 Wenn diese anti-westlichen politischen Gruppen gemeinsam mit den anti-russischen Tendenzen im Westen langfristig die Tür des Europäischen Hauses vor Russland schließen, kann es zu einer Konfrontation mit unabsehbaren Folgen haben. Ich bin sicher, dass diese politische Notwendigkeit um diese Tragödie zu vermeiden mit einer Ermunterung für die historische Forschung Richtung Suche der europäischen Strukturen in Russland dienen wird.

Und zum Schluss ein anderer Beispiel. Im Laufe des kalten Krieges haben viele Quellenveröffentlichungen, viele Monographen die negative Rolle Deutschlands im mittleren Europa beschrieben. Andererseits hat die deutsche Geschichtswissenschaft enorme Kräfte auf die Dokumentation des tragischen Schicksals der vom Osten vertriebenen Deutschen konzentriert.

Jetzt hat Deutschland, als der wichtigste Helfer der osteuropäischen postsozialistischen Länder (politisch genauso wie wirtschaftlich) eine reale Chance, West, Mittel und Osteuropa miteinander wirklich zu verbinden.12 Die fachwissenschaftliche Herausforderung hier ist die Dokumentation der langen Tradition der deutschen kulturellen Ausstrahlung Richtung Osten vom Schulwesen über Rechtswesen und sozialpolitische Gesetzgebung bis Musik, Literatur und schöne Künste usw.

Es ist auch höchstwahrscheinlich, dass der unaufhaltbare Prozess der europäischen Integration auch viele Forschungen zum Thema politische Einheit – kulturelle, soziale Vielfalt anregen wird.

Die Überlegungen zum Thema „Historische Räume Europas” haben mich also ziemlich weit, Richtung Prognosen geführt – aber wenn wir non scholae sed vitae discimus, war das kaum vermeidbar.

 

Anmerkungen

1

Erste „legale” Veröffentlichung des Aufsatzes: Történelmi Szemle 1981/3:313–359. Englische Übersetzung: The Three Historical Regions of Europe. Acta Historica Academie Scientiarum Hungaricae 1983/24:131–184.

2

Jenő Szűcs: The Three Historical Regions of Europe. Acta Historica Academiae Scientiarium Hungaricae 1983/2–4:131.

3

Jenő Szűcs. op.cit. 180.

4

Oscar Halecki: Borderlands of Western Civilisation. New York, 1952.

5

Szűcs Jenő–Hanák Péter: Európa régiói a történelemben(Die Regionen Europas in der Geschichte) Előadások a Történettudományi Intézetben 3. Budapest, 1986.

6

Sein Hauptwerk zum Thema: Nyugat-európai és magyarországi agrárfejldés a XV.–XVII. században (Westeuropäische und ungarische Agrarentwicklung im XV.–XVII. Jahrhundert). Budapest, 1963.

7

Gunst Péter: Kelet-Európa gazdasági-társadalmi fejlődésének néhány kérdése (Einige Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Osteuropas) Valóság, 1974/3:16–31. Eine sehr gute Zusammenfassung dieser Diskussionen wird von Gábor Gyáni gegeben: Történészviták hazánk Európán belüli hovatartozásáról (Historikerdiskussionen über den Platz unserer Heimat in Europa) Valóság, 1988/4:76–83.

8

Jenő Szűcs: op.cit. 133.

9

Karl Dietrich Erdmann: Historische Prognosen. In: Erich Bruck (Hrg.) Die Idee des Fortschritts. Neun Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens. Verlag C. H. Beck, München, 1963. 82.

10

Samuel P. Huntington: The Clash of Civilisations? Foreign Affairs 1993/3:29–31.

11

Samuel P. Huntington: op. cit. 44.

12

Siehe Hans Hecker: Mitteleuropa aus historischer Sicht. In: Hans Ester, Hans Ecker, Erika Poettgens (Hrg.): Deutschland, aber wo liegt es? Deutschland und Mitteleuropa. Analysen und historische Dokumente. Rodope, Amsterdam Atlanta, GA, 1993. 25–51.

 

* Vortag an der von der Universität Vilnius in Zusammenarbeit mit der Georg Soros open Lithuania Foundation, mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und mit dem Georg-Eckert Institut für Internationale Schulbuchforschung veranstalteten internationalen Tagung in Vilnius am 27. September 1996.