1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 1:81–88.

ALOIS RIKLIN

Politische Ethik

Karl Kraus hätte wohl gespottet: Sie wollen über politische Ethik sprechen? Dann entscheiden sie sich für das eine oder das andere! In der Tat, wer in der Politik der Vergangenheit und der Gegenwart die Amoral sucht, der wird sie in Hülle und Fülle finden. Zumal wer unser Jahrhundert in dieser Absicht durchforscht, der wird um die Feststellung nicht herumkommen, dass es den Gipfelpunkt politischer Massenmorde in der gesamten Menschheitsgeschichte zu verantworten hat und dies unter Anleitung, Rechtfertigung und Komplizenschaft der Wissenschaft, von Naturwissenschaftlern, Ärzten, Philosophen, Juristen, Ökonomen und Managern. Der Kritiker wird vielleicht sogar resigniert Ambrose Bierce recht geben wollen, der unsere Zivilisation wie folgt definiert hat: „Das Abendland ist jener Teil der Welt, der westlich (beziehungsweise östlich) des Morgenlandes liegt. Es wird größtenteils von Christen bewohnt, einem mächtigen Unterstamm der Hypokriten, dessen Hauptbeschäftigungen Mord und Betrug sind, von ihnen vorzugsweise als „Krieg” und „Handel” bezeichnet. Dies sind auch die Hauptbeschäftigungen des Morgenlandes.”

Jean-Jacques Rousseau schrieb indessen: Wer Politik und Ethik trennen will, der hat weder vom einen noch vom andern etwas begriffen. Man kann Vergangenheit und Gegenwart auch nach moralischen Denkansätzen, moralischen Vorbildern und moralischen Verhaltensweisen absuchen, und man wird ebenfalls fündig werden. Es ist die Aufgabe wertgebundener Wissenschaft, nicht nur die politischen Heucheleien zu entlarven, sondern auch die positiven Errungenschaften wahrzunehmen. Gerade eine auch geisteswissenschaftlich verstandene Politikwissenschaft wird es für ihre vornehmste Pflicht halten, die politischen Schatzkammern der Ideen-, Verfassungs- und Kunstgeschichte zu hüten und, wenn man genug Verstand und etwas Glück hat, ein kleines bisschen zu mehren.

Letzteres ist, Ambrose Bierce und Karl Kraus zum Trotz, die Absicht dieses Beitrags: eine Auswahl der Schätze politischer Ethik der westlichen Zivilisation in einer Zusammenschau vorzustellen, nach dem Motto: „Lieber einäugig als blind” oder „lieber blauäugig als zynisch”.

Herald Szeemann wäre zu raten, eine Ausstellung der Schätze politischer Ethik des Abendlandes nach drei Themengruppen aufzufächern.

Erste Themengruppe: personorientierte politische Ethik. Sie sucht die Lösung in der moralischen Qualität der Politiker. Platon hat den personalistischen Ansatz in die berühmten Worte gefasst: „Solange die Philosophen nicht Könige werden oder die Könige...echte und gute Philosophen, solange nicht politische Macht und Weisheitsliebe in der gleichen Person vereinigt sind, solange wird es kein Ende des Malaise geben...”

Zweite Themengruppe: institutionorientierte politische Ethik. Sie sucht die Lösung in guten Institutionen. Aus so krummem Holz, als der Mensch gemacht ist, kann nichts Grades entstehen, schrieb Immanuel Kant. Aber, fuhr er an anderer Stelle fort, eine gute Staatsorganisation vermöge selbst aus einem Volk von Teufeln zwar nicht moralisch gute Menschen, wohl aber gute Bürger zu machen. Allerdings fügte er wohlweislich hinzu: wenn sie nur Verstand haben.

Dritte Themengruppe: resultatorientierte politische Ethik. Sie ermisst die Moralität der Politik an ihren Wirkungen. Max Weber hat diese Sicht im Begriff der Verantwortungsethik zum Ausdruck gebracht. Danach ist der Politiker für die voraussehbaren Folgen seiner Handlungen und Unterlassungen verantwortlich.

Personorientierte politische Ethik

Der Quäker William Penn hat in seiner Schrift zur Gründung von Pennsylvania den personalistischen Ansatz noch ausschließlicher als Platon so formuliert: Wenn die Politiker gut sind, dann setzen sie sich durch, auch wenn die Institutionen schlecht sind; sind die Politiker aber schlecht, dann taugen auch gute Institutionen nicht.

1. Politikerspiegel: Eine Fundgrube personorientierter politischer Ethik sind die Politikerspiegel, meist in Gestalt der Fürstenspiegel, selten der Ratsleutespiegel. Politikerspiegel sind Schriften, in denen das Vorbild des Staatsmannes beschrieben wird, sei es als Biographie geschichtlicher Persönlichkeiten oder als spekulatives Modell des idealen Politikers oder als Erziehungs- und Bildungsprogramm künftiger Amtsträger. Die Literaturgattung erstreckt sich über einen Zeitraum von gut 3500 Jahren, beginnend in den alten Reichen Ägyptens, Babylons und Israels über die griechisch-römische Antike zu den byzantinischen, karolingischen, hochmittelalterlichen, humanistischen, reformatorischen und nachreformatorischen Politikerspiegeln, mit Niederschlägen auch in politischen Dramen von Shakespeare, Corneille und Calderon oder in Opern von Monteverdi und Händel, bis sie in der Neuzeit allmählich aussterben. Insgesamt sind es bestimmt über ein halbes Tausend Werke. Im Zentrum steht die Berufsethik politischer Amtsträger. Vieles wäre auch aus heutiger Sicht lesens- und bedenkenswert, besonders die „Institutio principis christiani” des Erasmus von Rotterdam. Indessen wird in den unzähligen modernen Führungslehren diese großartige Überlieferung gemieden wie vom Teufel das Weihwasser, mit Ausnahme ausgerechnet des fast zeitgleich mit dem Erasmischen Fürstenspiegel entstandenen „Principe” Machiavellis, der darin – nach Verhaftung, Folterung und Verbannung – in einem durchaus verständlichen Wechselbad von depressiver Stimmung und manischem Fieberrausch die Tradition ins pure Gegenteil verkehrte. Kommt dazu, dass die amerikanischen und schweizerischen Veranstalter von Machiavelli-Kursen für Manager ihren Gewährsmann gründlichst missverstanden, nämlich im Sinne egoistischer Karriereplanung, während Machiavelli seine amoralischen Ratschläge immer und ausschließlich im höheren Interesse der Staatsräson abgab.

2. Politische Kunst: Die Politikerspiegel wurden ab dem Spätmittelalter von der Literatur in die bildende Kunst der republikanischen Rathauskultur transponiert, zuerst in Italien, dann auch in den Niederlanden, Deutschland, Polen und der Schweiz. Es sind dies die allegorischen, legendären und historischen Veranschaulichungen politischer Tugenden und Laster, guter und schlechter Regime, guter und schlechter Politiker.

Eines der frühesten, in der politischen Substanz und künstlerischen Kraft großartigsten Zeugnisse republikanischer Rathauskunst ist der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über das gute und das schlechte Regiment im Palazzo pubblico von Siena aus dem Jahre 1340. Das Werk füllt zur Gänze die Wände des Sitzungssaales der Regierung der Nove, mit der Allegorie des „buon governo” in Stadt und Land auf der rechten Längswand sowie der Allegorie des „mal governo” und seiner Wirkungen auf der linken Längswand.

Auf der rechten Seite der Allegorie des guten Regiments thront ein greiser Herrscher. Er stellt die Personifikation der sienesischen Kommune dar. Die Kommune lässt sich von sechs weltlichen Tugenden beraten: Justitia/Gerechtigkeit, Temperantia/Besonnenheit, Magnanimitas/Großgesinntheit, Prudentia/ Klugheit, Fortitudo/Stärke und Pax/Friede. Als spirituelle Kraftquellen der Kommune schweben über dem Haupt der Herrscherfigur drei Engel; sie symbolisieren die drei göttlichen Tugenden Spes/Hoffnung, Caritas/Liebe und Fides/ Glaube. Auf der gleichen Höhe erkennen wir links die göttliche Tugend der Sapientia/Weisheit. Sie inspiriert auf der mittleren Ebene die Gesetzesgerechtigkeit. Die von der göttlichen Weisheit erleuchtete irdische Gerechtigkeit bewirkt auf der unteren, menschlichen Ebene die Concordia/Eintracht. Von den Waagschalen der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit läuft je ein Band in die linke Hand der Concordia. Diese verknüpft die beiden Bänder zu einer Kordel und übergibt sie dem letzten der vierundzwanzig Bürger oder Amtsträger, die gemessenen Schrittes in Zweierkolonne zum Regenten schreiten. Die linke Kolonne hält die Kordel in der rechten Hand, die rechte Kolonne in der linken. Der vorderste der Vierundzwanzig übergibt das Band der Gerechtigkeit in die Hand des greisen Herrschers, welche das Zepter hält. So schließt sich der Kreis.

3. Politischer Eid: Während die Politikerspiegel und die politische Ethik in der Kunst heute fast ausgestorben sind, hat sich ein anderes Phänomen personalistischer Ethik seit der griechischen Antike gehalten und rund um die Welt ausgebreitet: der politische Eid:

Der politische Eid ist ein feierliches, öffentliches Versprechen, sei es der Amtsträger, ihr politisches Amt in bestimmter Weise auszuüben, sei es der Soldaten, ihre Heimat unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen, sei es der Bürger, die gegebene Ordnung und deren Amtsträger zu achten.

Uns Schweizern müsste dieses Element personorientierter politischer Ethik besonders nahe gehen, lassen wir uns doch in Erinnerung an den legendären Rütlischwur im Inland (und Ausland) als „Eidgenossen” bezeichnen. Wie die Athener in der Antike und die Florentiner in der Renaissance leisten die Appenzeller seit einem halben Jahrtausend alljährlich anlässlich der Landsgemeinde den Bürgereid. Die Zeremonie ist von besonderer Eindringlichkeit und gipfelt nach Ermahnung, Vereidigung des Landammanns und Verlesen der Formel des Bürgereids in einem feierlichen Versprechen, das die Landleute im Ring mit erhobenen Schwörfingern Zeile um Zeile dem Landammann wie ein Gebet nachsprechen:

              „Das habe ich wohl verstanden,

              wie es mir vorgelesen und eröffnet worden ist.

              Das will ich wahr und stets halten,

              treulich und ungefährlich.

              Also bitte ich,

              dass mir Gott und die Heiligen helfen. Amen.”

Institutionorientierte politische Ethik

Nichts ist gegen Missbrauch gefeit, auch nicht die personalistische politische Ethik in ihren verschiedenen Ausprägungen. Politikerspiegel können in geschichtsklitternde Hagiographien entarten, wie die spätantiken und mittelalterlichen Verherrlichungen des Usurpators Augustus. Politische Kunst kann zu Personenkult verkommen, wie im Nürnberger Rathaus der Triumphzug Maximilians I., zu dem sich Albrecht Dürer hergab. Da werden nämlich dem Kaiser des unheiligen Römischen Reiches deutscher Nation nicht nur 36 Herrschertugenden angedichtet, sondern – weit schlimmer – ein Sieg über die Helvetier; in Tat und Wahrheit haben wir aber vor 500 Jahren bei Frastanz dank einer List unsern letzten Sieg errungen. Der politische Eid kann die totale Unterwerfung erzwingen, wie der Führereid in Hitler-Deutschland. Robespierre rechtfertigte den Terreur als Emanation der Tugend. Wie heißt es doch in Lessings „Minna von Barnhelm”? Von Tugend spricht, wer keine hat.

Die personorientierte Ethik ist aber nicht nur missbrauchsanfällig; sie greift zu kurz. Gegen die Versuchungen der Macht sind gutgemeinte berufsethische Ratschläge erfahrungsgemäß ein schwacher Schutz. Bernhard Shaw spottete: „Tugend ist Mangel an Gelegenheit.” Und Karl Popper warf den politischen Denkern von Platon bis Rousseau und Marx eine falsche Fragestellung vor. Die grundlegende Frage der politischen Theorie sei nicht: „Wer soll herrschen?”, sondern „Wie können wir unsere politischen Institutionen so gestalten, dass auch unfähige und unredliche Politiker keinen großen Schaden anrichten?”

In diesem Punkt hat sich Popper geirrt. Es ist nicht so, dass die Staatsdenker früherer Zeiten seine Fragestellung vernachlässigt hätten. Vielmehr haben sie ab der griechischen Antike eine Reihe von institutionellen Sicherungen gegen den Missbrauch der Macht und für den rechten Gebrauch der Macht entwickelt. Es handelt sich um eigentliche Erfindungen, von Menschen erdachte und in der politischen Wirklichkeit erprobte Innovationen, die mindestens so bedeutsam sind wie die technischen Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder des Computers. Es sind vor allem die folgenden fünf:

1. Machtbändigung: Die erste Erfindung ist die Machtbändigung, die Bändigung der politischen Macht durch Gesetze. Nicht Menschen, sondern Gesetze sollen herrschen. Platon hat diese Idee im Politikos und in den Nomoi als erster auf den Begriff gebracht. Und sein Schüler Aristoteles hat sie um die Unterscheidung von Verfassung und Gesetz erweitert. Der Prozess der Verschriftlichung des Rechts verdichtete sich in der Neuzeit zur geschriebenen Verfassung und verband sich mit dem Postulat der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze.

2. Machtbeschränkung: Die zweite Erfindung ist die Machtbeschränkung. Die durch Gesetze gebändigte Macht soll beschränkt und gesteuert werden durch jedem Menschen zukommende Grundrechte. Diese Grundrechte sind vorstaatlich, überstaatlich, in der Natur des Menschen begründet, nicht vom Staat verliehen, aber vom Staat zu gewährleisten und in ihrer Substanz unantastbar. John Locke hat diese Idee der Menschenrechte als erster kristallklar begründet und als Endzweck aller Politik postuliert.

3. Machtteilung: Die dritte Erfindung ist die Machtteilung. Die durch Gesetze gebändigte sowie durch die Menschenrechte beschränkte und gesteuerte Macht soll zusätzlich geteilt werden. Montesquieu ist nicht der Erfinder dieser Idee, aber ihr wirkungsvollster Herold. Freilich wird er meist missverstanden im Sinne einer strikten Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Dieses Missverständnis hat ganze Generationen von Juristen verwirrt und verwirrt sie bis zum heutigen Tag. Auch gäbe es bessere Machtteilungskonzepte, vor allem eine noch fast unbekannte Vorgabe von Donato Giannotti aus dem frühen 16. Jahrhundert. Entscheidend bleibt die Grundidee Montesquieus: Weil die Politiker zum Machtmissbrauch neigen, wenn sie nicht auf Widerstand stoßen, deshalb „il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir”.

4. Machtbeteiligung: Die vierte Erfindung ist die Machtbeteiligung, die Teilhabe der Machtunterworfenen an der gebändigten, beschränkten und geteilten Macht. Wir nennen dieses Phänomen Demokratie. Die Athener gelten als die Erfinder. Perikles hat sie in der Rede auf die im Peloponnesischen Krieg Gefallenen verherrlicht. Allerdings gelangte sie erst im 20. Jahrhundert mit dem allgemeinen Wahlrecht aller erwachsenen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen zur vollen Geltung.

5. Machtausgleich: Die fünfte Erfindung ist der Machtausgleich. Im Rahmen der gebändigten, beschränkten und geteilten Macht unter Beteiligung der Machtunterworfenen soll zudem Sorge getragen werden, dass das Machtgefälle zwischen starken und schwachen Individuen und Gruppen, zwischen Reichen und Armen, Gesunden und Kranken, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Produzenten und Konsumenten, Berufstätigen und noch nicht oder nicht mehr im Erwerbsprozess stehenden, Arbeitenden und Arbeitslosen in angemessener Weise gemildert wird. John Rawls hat diese Sozialstaatsidee in seiner Theorie der Gerechtigkeit am tiefgründigsten ausgelotet und sowohl gegen einen kruden Egalitarismus, als auch gegen einen sozialdarwinistischen Utilitarismus abgegrenzt.

Resultatorientierte politische Ethik

So großartig diese politischen Erfindungen sein mögen, auch sie sind gegen Missbrauch nicht gefeit. Was Paracelsus für die Medizin erkannt hat, gilt genauso für die Politik: Es kommt immer auf die Dosis an. Übertriebener Machtausgleich kann zur Ausbeutung aller durch alle führen. Übertriebene Machtbeteiligung in der direkten Demokratie und übertriebene Machtteilung kann ein überbremstes oder gar handlungsunfähiges politisches System bewirken. Übertriebenes Grundrechtsdenken kann im lähmenden Rekursstaat enden. Und die Gesetzesherrschaft kann in der Normenflut versinken.

Aber selbst ungeachtet der Missbräuche, sind die personalistischen und institutionalistischen Ansätze politischer Ethik unzureichend. Sie sind einseitig inputorientiert. Was nützen Tugendkataloge und institutionelle Konstrukte, wenn sie dennoch moralisch fragwürdige Ergebnisse zeitigen? Hier setzt die resultatorientierte politische Ethik ein. Sie legt das Augenmerk auf die Outputs der Politik.

1. Verantwortungsethik: Max Weber war natürlich nicht der erste Denker, der sich gegen eine reine Gesinnungsethik wandte und ihr die Verantwortungsethik entgegenstellte. Schon Thomas von Aquin, Francesco Guicciardini und Michelangelo haben beispielsweise in der Tyrannenmorddebatte gemahnt, die Folgen zu bedenken. Auch wird Max Weber oft verkürzt wiedergegeben, so als ob er die Gesinnungsethik von sich gewiesen hätte. Tatsächlich hielt er indessen Gesinnungs- und Verantwortungsethik nicht für absolute Gegensätze, vielmehr verstand er sie als wechselseitige Ergänzungen, die zusammen erst den berufenen Politiker ausmachen.

Vor allem aber hat Weber die Verantwortungsethik in doppelter Hinsicht relativiert. Einerseits soll der Politiker verantwortlich sein für die Folgen seiner Politik, soweit sie voraussehbar sind. Die besten Physiker der Welt, die in den fünfziger Jahren Bedenken gegen das nukleare Wettrüsten äußerten, haben die negativen Folgen der friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht vorausgesehen. Nachträglich ist man immer klüger. Anderseits ist fast jegliches politische Handeln ambivalent, insofern es auch mit unerwünschten Nebenfolgen verknüpft ist. Der Politiker hat eben nicht die Wahl zwischen dem absolut Guten und dem absolut Bösen. Er muss das Bestmögliche wählen, und das ist meistens das kleinere Übel.

2. Pragmatismus: Moralische Ambivalenz allen Handelns und Nichthandelns sowie Unvorhersehbarkeit aller Folgen mahnen zur Vorsicht. Deshalb empfahl Karl Popper ein pragmatisches „social engineering” der kleinen Schritte, um die Folgen und Nebenfolgen im Sinne von „trial” und „error” unter Kontrolle zu halten.

Popper hat diese Argumentation in der Auseinandersetzung mit Platons Utopismus entwickelt. Sie leuchtet mit Blick auf die Probleme griechischer Stadtstaaten der Antike ein. Aber hält sie auch angesichts der gegenwärtigen Weltprobleme stand? Hält sie stand gegenüber dem ungeheuren Problemdruck, dem Mittel- und Osteuropa seit der antikommunistischen Revolution ausgesetzt sind? Hinken wir mit unserem Pragmatismus nicht hoffnungslos hinter den Problemen von Krieg, Hunger, Verelendung, Arbeitslosigkeit, Raubbau, Umweltzerstörung und Überbevölkerung hinterher? Haben wir überhaupt noch die Zeit, die Selbstzerstörung der Erde mit einer Politik der kleinen Schritte aufzuhalten?

3. Mitwelt-, Umwelt- und Nachweltethik: Nicht genug damit. Alle bisherige Ethik war eine Ethik des Gleichzeitigen, des räumlich Nahen und des Unmittelbaren. Im Blick war der Nächste hic et nunc. Die Natur des Menschen und die Natur der Dinge schien ein- für allemal festzustehen.

Die moderne Technik hat den Menschen nunmehr aber die Macht ungeahnter Fernwirkungen in Raum und Zeit eröffnet. Der Mensch hat die Fähigkeit erlangt, die Natur und den Menschen zu verändern. Dieser Machtzuwachs ruft nach einer neuen Ethik. Max Weber und Karl Popper hatten die lebende Generation im Auge: Mitweltethik. John Rawls beschäftigte sich über die Mitwelt hinaus mit dem Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen: Nachweltethik. Arthur Rich ergänzte die anthropozentrische Ethik durch eine Ethik der Natur der Sache: Umweltethik. Im „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation” von Hans Jonas fließen Mitwelt-, Nachwelt- und Umweltethik zusammen.

Von der Synthese zum Weltethos

Je tiefer wir in die Probleme der politischen Ethik eindringen, umso mehr gelangen wir vom Hundertsten ins Tausendste und ertappen uns beim Gedanken an die saloppe Unterscheidung von Wissenschaft, Philosophie und politischer Ethik. Wissenschaft ist, wenn jemand mit verbundenen Augen in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht, die nicht drin ist. Politische Ethik ist, wenn jemand mit verbundenen Augen in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht, die nicht drin ist und ausruft: Ich hab sie!

Doch kapitulieren wir nicht zu früh! In der Antike hielten sich personalistische und institutionalistische politische Ethik im Gleichgewicht. Im Mittelalter überwog der Personalismus, in der Neuzeit der Institutionalismus. Der Paradigmenwechsel erfolgte in der Florentiner Renaissance. Zur gleichen Zeit trat die resultatorientierte Bewertung der Politik ins Blickfeld, zunächst im Machiavellismus ohne, später mit Beachtung moralischer Anforderungen. Eine Erkenntnis drängt sich nach allem auf, eine Katze ist drin, und die sollten wir festhalten: Unsere Zeit braucht eine Synthese aller drei Ansätze politischer Ethik, der resultatorientierten ebenso wie der institutionorientierten und der personorientierten.

Aber auch diese Folgerung bleibt vorläufig. Das schlimmste Defizit dieses Grundrisses politischer Ethik ist die Beschränkung auf die abendländisch-christliche Tradition. Hier setzt das „Projekt Weltethos” des Schweizer Theologen Hans Küng ein. Nach Küng hat die Welt, in der wir leben, nur dann eine Chance zum Überleben, wenn sich die Gläubigen der verschiedenen Weltreligionen mit den Nichtgläubigen auf ein Grundethos wenigstens einiger verbindender und verbindlicher Normen und Werte verständigen. So gigantisch dieses Projekt klingt, ein bei uns kaum zur Kenntnis genommener Anfang ist unter der Führung von Hans Küng letztes Jahr gemacht worden, als sich die 6500 Teilnehmer der Weltparlaments der Weltreligionen in Chicago auf eine gemeinsame Charta politischer Ethik einigten.

Mit Blick auf das Projekt Weltethos ist die Synthese abendländisch-christlicher politischer Ethik nur eine Mitgift, aber immerhin eine Mitgift. Thomas Hobbes hat geschrieben: The sciences are small powers. Die politische Ethik erst recht ist eine kleine Macht, aber immerhin eine Macht.

* 1992 im Europa Institut Budapest abgehaltener Vortrag.