Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 1:67–80.
HORST HASELSTEINER
Föderationspläne in Südosteuropa
Ein in der staatsrechtlichen Theorie und in der politischen Zielsetzung wiederholt in den Vordergrund gerücktes Gliederungsprinzip für die Neugestaltung Südosteuropas ab dem 18., verstärkt im 19. und 20. Jahrhundert, war der Föderalismus. Dies hatte mehrere Ursachen, mehrere Motivationsebenen, auf die in der Schlusszusammenfassung eingegangen wird.
Der moderne Föderalismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Eine einheitliche, allgemein akzeptierte Theorie des Föderalismus fehlt bis heute.1 Dies wirkt sich vor allem bei den angebotenen Begriffsumschreibungen aus. Dennoch sei als Arbeitshypothese eine bewusst breit gefasste Definition an die Spitze gestellt: Der Föderalismus kann als innerstaatliches, überstaatliches und gesamtgesellschaftliches Gestaltungsprinzip bezeichnet werden, das der Regelung und dem Ausgleich der Beziehungen zwischen Teilbereichen und dem Ganzen dient.
Nun zu den Schwerpunkten des Beitrages: Es sollen beispielhaft jene Überlegungen und jene Versuche nachgezeichnet werden, die im Staatengrenzen überschreitenden, grenzübergreifenden Bereich des Föderalismus in Form der staatenbündischen Konföderation konzipiert waren. Aus der Fülle der Überlegungen und Projekte werden vier demonstrativ herausgegriffen:
– das serbische „Načertanije aus dem Jahre 1844
– Konföderationsvorstellungen im Donauraum und der Plan Ludwig Kossuths von 1862,
– die Balkan-Union der Konferenzen von 1930–1933, und schließlich die Balkan-Föderation 1944–1948.
Es ist bekannt, dass diese Ansätze und Versuche nicht verwirklicht wurden. Dennoch ist es lohnend, sich damit auseinanderzusetzen, da gerade durch die Analyse der nichtrealisierten Alternativen der konkrete historische Ablauf schärfere Konturen erhält.
Das „Načertanije von 1844
Eine der frühen Anregungen von außen zur Föderalisierung Südosteuropas ging von Paris aus. Sie ist verknüpft mit der führenden Persönlichkeit der polnischen Emigration von 1830, mit Adam Georg Fürst Czartoryski (1770–1861). Er entwickelte einen weitgespannten Plan mit folgender Grundüberlegung: Sein Hauptziel war 1. die Wiederherstellung des historischen Königreiches Polen. Daraus ergab sich 2. die Frontstellung gegenüber den Teilungsmächten, insbesondere gegen Russland und Österreich. Mit der Unterstützung Frankreichs und Großbritanniens und unter Beibehaltung der Integrität des Osmanischen Reiches schlug Czartoryski 3. die Aussöhnung und Zusammenarbeit aller kleineren Nationen zwischen der Ostsee und der Ägäis bis zum Kaukasus vor. (Damit ist er als Vorläufer und Inspirator der späteren „Intermarium”-Pläne einzustufen.) Als Endziel schließlich sah der Fürst 4. den Zusammenschluss der Völker dieser Großregion in einer Konföderation vor. Wesentlich beeinflusst im föderativen Teil seiner Vorstellungen wurde Czartoryski vom zwischen 1835/40 erschienenen Werk des französischen Politikers und Schriftstellers Charles de Tocqueville „De la démocratie en Amérique”; ein Phänomen, das bisher wenig bearbeitet wurde.2
Der konkrete Anstoß in Richtung Südosteuropa, Balkan, der Südslawen, in erster Linie an die Serben adressiert, erfolgte 1843. In seiner Denkschrift „Conseil sur la conduite à suivre par la Serbie” entwickelte Czartoryski Vorschläge für die innen- wie außenpolitische Grundhaltung des Fürstentums Serbien. Diese Konzeption wurde von seinem Agenten, dem Tschechen František Zach (1807–1892, dem späteren serbischen General und Kommandanten der Militärakademie in Belgrad und Prinzenerzieher) in Belgrad erläutert. In einer Reihe von Besprechungen mit dem Innenminister und Vertrauten des serbischen Fürsten Alexander Karadjordjevič (1806–1885, Fürst 1842–1858), mit Ilija Garašanin (1812–1874), legte Zach die Grundlinien dar und verfasste auf Ersuchen Garašanins ein zusammenfassendes eigenes Papier. Im Wesentlichen auf Grundlage des Zachschen Entwurfs (90% des „Načertanije” sind Zachsche Gedankengänge) aber unter anderer Akzentsetzung konzipierte Ilija Garašanin sein berühmtes „Načertanije”. Gedacht war es als privates, vertrauliches Programm zur Orientierung des Fürsten. Es wurde erst 1906 vom serbischen, nationalen Historiker Milenko Vukič evič im Belgrader „Delo” veröffentlicht; in der Monarchie war es bereits 1883 bekannt.
Inhalt und Zielrichtung des „Načertanije” seien in einigen Punkten zusammengefasst:
1. Auf der Basis des „heiligen, historischen Rechtes” soll das Serbische Reich Stefan Dušans wiederhergestellt werden. Dies sei keine „revolutionäre und umstürzlerische Tat”, denn durch die Ereignisse 1389, durch das Amselfeld, das Kosovo polje sei die historische Legitimität nur unterbrochen worden.
2. Die Voraussetzung für diese Restauration bildet der als sicher angenommene, unmittelbar bevorstehende Zerfall des Osmanischen Reiches.
3. Bedroht wird diese angestrebte Reichsbildung durch die unverkennbaren Aspirationen Österreichs und Russlands zur Expansion, durch die Absicht, die Balkanhalbinsel auf der Linie Vidin-Saloniki aufzuteilen. Die Frontstellung zu den hier angesprochenen „Teilungsmächten” sah Garašanin allerdings ein wenig differenzierter: Die Habsburgermonarchie wird als bleibender, unversöhnlicher Gegner eingestuft, beim orthodoxen Russland lässt der serbische Minister die eventuelle Möglichkeit einer späteren Kooperation offen.
4. Da den westeuropäischen Mächten Frankreich und Großbritannien die Etablierung eines eigenständigen christlichen Balkanreiches nach dem Kalkül Garašanins besser ins Konzept passt als die Etablierung Österreichs und Russlands, rechnet er mit der Unterstützung durch die beiden Mächte.
5. Der Sukkurs durch die übrigen benachbarten Balkanchristen, vor allem der jugo- bzw. südslawischen, ist anzustreben. Dies soll in konzentrischen Kreisen Schritt für Schritt verwirklicht werden, in Form eines Anschlusses an die Zentralmacht Serbien, wenn es sein muss in Form eines föderativen Anschlusses.3
Bemerkenswert für die Einordnung und Bewertung des Načertanije sind jene Auslassungen und jene Modifizierungen, die Garašanin im Vergleich zum Zachschen Plan bzw. Czartoryskis „Conseil” vorgenommen hat. Kaum eingegangen wurde auf die Beziehungen Serbiens zu Kroatien, auf die Stellung der Kroaten in Bosnien und der Hercegovina, die Kroaten als pars pro toto der übrigen Jugoslawien gesehen. Ausgespart blieben die innenpolitischen Voraussetzungen in Serbien für die Annäherung an die anderen Bevölker bzw. für die angestrebte Konföderation, wie überhaupt der föderative Ansatz des „Načertanije” eindeutig schwächer ausgeprägt war, der Aspekt der Einigungsbewegung unter serbischer, großserbischer Führung im Vordergrund stand. Garašanin sprach von einem „föderativen Bündnis Serbiens mit den anderen Völkern, die es umgeben”. Hervorzuheben ist auch die Reserve, der Vorbehalt, den der serbische Minister gegenüber den Bulgaren erkennen ließ, die aber trotz dieses Misstrauens angesprochen und miteingebunden werden sollten. Wirtschafts- und handelspolitische Überlegungen spielten nur sehr am Rande eine Rolle. Sie weisen allerdings in eine eindeutige Richtung und zeichnen eine später relevant gewordene Zone der Auseinandersetzung mit der Donaumonarchie vor: Der Zugang zur Adria über Skutari nach Ulcinj/Dulcigno stand im Mittelpunkt.
Resümierend ist festzuhalten:
1. Der föderative Gliederungsgedanke ist zwar recht schwach ausgeprägt, er ist aber vorhanden.
2. Die Frage, ob das „Načertanije” ein großserbisches, ein jugoslawisches oder ein südslawisches Programm vertritt, ist in der bisherigen Historiographie durchaus unterschiedlich beantwortet worden. Eine differenzierte Beurteilung, die weder dem Versuch einer vorwiegend, „jugoslawischen” bzw. „südslawischen” Etikettierung folgt noch einer exklusiven Einordnung als „Großserbisches Programm”, wird wohl anzustreben sein. Denn bei aller klaren Dominanz des großserbischen Elementes dürfen die zumindest in Ansätzen abzulesenden jugoslawischen, auch die etwas blasser ausgefallenen südslawischen Tendenzen nicht übersehen werden.
3. Die in der Denkschrift Ilija Garašanins niedergelegten Prinzipien und Zielvorstellungen spielten in den folgenden Jahrzehnten für die serbische Politik gegenüber der Donaumonarchie, und darüber hinaus für die Haltung der Serben gegenüber den anderen Jugoslawen bzw. gegenüber den Südslawen eine entscheidende Rolle.
Konföderationsvorstellungen im Donauraum und der Plan Ludwig Kossuths 1862
Im Revolutionsjahr 1848/49 waren die Grundvoraussetzungen für eine Neugestaltung des Donauraumes scheinbar gegeben. Wieder war es die polnische Emigration unter Fürst Czartoryski, die die Vertreter der kleineren Völker an einen Tisch zu bringen versuchte. Auf der Konferenz von Paris am 18. Mai 1849 wurde der Versuch unternommen, ein Arrangement, eine Aussöhnung zwischen den Magyaren, Rumänen und den Jugoslawen: den Serben, Kroaten und Slowenen unter Einbindung der Westslawen herbeizuführen. Eine konföderale Lösung unter weitgehender Wahrung der Integrität Ungarns und bei Anerkennung der nationalen Sondergruppen wurde vorgeschlagen. Eine neue stabile, konsensuale Ordnung dieser drei- bis viergliedrigen Konföderation oder Föderation sollte die Habsburgerherrschaft endgültig verdrängen und eine russische Intervention und Expansion verhindern. Von Ludwig Kossuth wurde dieser Kompromiss abgelehnt, er sah die Einheit des ungarischen Staates gefährdet. Den nichtmagyarischen Nationen schien das Bewahren der Integrität Ungarns zu sehr im Vordergrund zu stehen. Die Ereignisse im Sommer 1849 und die Kapitulation bei Világos setzten einen vorläufigen Schlusspunkt. Kossuth und andere führende Vertreter der Revolution von 1848/49 gingen in die Emigration und teilten das Schicksal der Polen.4
Nach 1849 setzte in der Emigration dann eine rege bi- und multilaterale Verhandlungstätigkeit ein, einige föderative Konzepte wurden vorgelegt. Bereits im Jänner 1850 trafen Garašanin, der piemontesische Agent Carosini und Kossuth zu Kooperationsgesprächen in Belgrad zusammen. Auf österreichischen Druck hin wurden die Beratungen abgebrochen. Zwei rumänische Vorschläge vom Jahresanfang 1850 von Ion Ghica und Nicolae Bălcescu liefen auf eine Konföderation der „Vereinigten Donaustaaten” hinaus und beriefen sich auf schweizerische bzw. amerikanische Muster. Sie wurden von Ludwig Kossuth genauso zurückgewiesen, wie er sich zunächst weigerte, mit dem von Giuseppe Mazzini im Juli 1850 gegründeten „Mitteleuropäischen Demokratischen Komitee” zusammenzuarbeiten. Auf einen weiteren Konföderationsversuch im Demokratischen Komitee, neuerlich vorgelegt von Nicolae Bëlcescu, reagierte Kossuth schließlich mit einem ersten Projektentwurf. Am 25. April 1851 legte er im osmanischen Exil in Kutahija sein „Exposé des principes de la future politique de la Hongrie” vor. Er trat für eine breitangelegte Konföderation ein, die auch die Westslawen und alle Balkanvölker – und dies unter der Souveränität der Osmanen – umfassen sollte. Dieser lose Staatenbund sollte gegen Habsburg und gegen Romanov gerichtet sein. Bei der Stellung des ungarischen Teiles zeigte sich Kossuth trotz aller versuchten Flexibilität nur wenig entgegenkommend: Die Integrität der Länder der Stephanskrone blieb gewahrt, der Gesamtföderation und Ungarn wurden leichte Anfänge des Personalitätsprinzips, konfessionelle und kulturelle Rechte der nationalen Gruppen nach dem Muster des osmanischen Millet-Systems und die Erweiterung der Lokal-, Verwaltungs- und Gemeindeautonomie konzediert. Den nichtmagyarischen Adressaten erschienen diese Konzessionen als nicht ausreichend. Die Kontaktgespräche zwischen der ungarischen Emigration, den Serben und Rumänen wurden in den Folgejahren zwar weitergeführt, erbrachten aber kaum reale Lösungsansätze. Die Ursachen dafür lagen in den nach wie vor bestehenden Auffassungsunterschieden bezüglich der Integrität Ungarns, in der Teilverwirklichung der rumänischen Zielvorstellungen durch die Vereinigung der Donaufürstentümer in den Jahren 1859/1861. Und schließlich in der Tatsache, dass Napoleon III. die Emigration und die Donau- und Balkanvölker zwar zur Zusammenarbeit ermutigte, sie aber bloß als Werkzeug seiner Politik (gegen Russland bzw. gegen Österreich) in den Jahren 1853–1859 benutzte.5
Der Einfluss der radikal national-revolutionären Kreise Italiens auf die Föderationskonzeptionen in Südosteuropa darf nicht gering veranschlagt werden. Auf Mazzinis „Mitteleuropäisches Demokratisches Komitee”, das radikale Demokraten und Revolutionäre aus ganz Europa vereinigte, wurde bereits hingewiesen. Schon im Jahre 1833 veröffentlichte Mazzini im „Giovine Italia” den Vorschlag, Ungarn möge sich an die Spitze einer „Freien Konföderation” mit Bulgarien, Serbien und Bosnien stellen. 1857 plädierte er in seinen „Vier Slawischen Briefen” in der „Italia del Popolo” für die Errichtung eines südslawischen, föderativen Staates, der Kroatien, Kärnten, Serbien, Montenegro, Dalmatien, Bosnien und Bulgarien umfassen sollte. Und 1866 schließlich, im Jahr der Krise für die Habsburgermonarchie und für das Osmanische Reich (Aufstand auf Kreta) trat er für die Ersetzung der beiden alten, überlebten Reiche durch eine Donaukonföderation und eine Slawo-Hellenische Föderation ein, um – wie er begründend meinte – die drohende Ausbreitung des reaktionären, antidemokratischen russischen Panslawismus hintanzuhalten. Aus ähnlicher Motivation heraus trat der nach dem Revolutionsjahr 1848 15 Jahre auf der Balkanhalbinsel (hauptsächlich in Griechenland) lebende venezianische Revolutionär Marco Antonio Canini für eine Kette von „zwischeneuropäischen Konföderationen auf demokratisch-republikanischer Grundlage” ein. Da vor allem im Donauraum und auf dem Balkan keine reinen Nationalstaaten möglich seien, sollten sich Polen-Litauen erneut, die Donaukonföderation und eine Föderation des Orients konstituieren.6
Der bekannteste Plan einer Donaukonföderation stammt aus dem Jahre 1862 und wird mit dem Namen Ludwig Kossuth verknüpft. Er beruht zwar weitgehend auf Kossuthschen Vorstellungen, die wir bereits kennengelernt haben. In der bekannt gewordenen Form stellt er aber im Kern das Ergebnis einer Reihe von Besprechungen dar, die Marco Antonio Canini mit Georg Klapka, einem weiteren prominenten Mitglied der ungarischen Emigration, abwickelte. Auf dieser Grundlage führte Canini am 1. Mai 1862 ein ausführliches Gespräch mit Kossuth. Die diesbezüglichen Notizen Caninis werden durch eine Indiskretion in der Mailänder Zeitung „Allenza” veröffentlicht. Kossuth protestierte zwar dagegen, billigte aber die im Artikel festgelegten Prinzipien. Vorgesehen war ein Staatenbund auf konföderativer Basis mit einem nun konkret ausformulierten, breiteren Anteil der gemeinsamen Angelegenheiten (Heerwesen, Außenpolitik, Wirtschaft, Finanzen und Zoll, Maße und Gewichte, Verkehrswesen) und komplementär dazu volle innere Kompetenzen der Teilstaaten. Der ungarische Staat war als Hegemonialmacht dieser Konföderation vorgesehen. In der Problematik der Integrität Ungarns waren nun marginale Änderungen festzustellen:
a) eine Vereinigung Kroatiens mit Serbien wurde angedeutet;
b) ein Plebiszit in Siebenbürgen über die staatsrechtliche Zugehörigkeit eventuell in Aussicht gestellt;
c) die südungarische Vojvodina (Wojwodschaft, Batschka, Banat) sollte auf alle Fälle bei Ungarn bleiben.
Der Minoritätenschutz ging über Position Kossuths vom April 1851 nicht hinaus. Wie bekannt, war die Reaktion auf Kossuths Donauföderationsplan überwiegend negativ. Neben den Nichtmagyaren inner- und außerhalb Ungarns sprachen sich nun auch Teile der ungarischen Emigration, die führenden liberalen Politiker in Ungarn selbst – sowohl die Vertreter der Beschluss- als auch der Adresspartei – dagegen aus. Als Illusion erwiesen sich die Erwartungen Kossuths: durch die angebotene Sicherung der jeweiligen nationalen Selbständigkeit, durch das angestrebte Schutz- und Verteidigungsbündnis die Abschirmung gegen Pangermanismus und Panslawismus glaubhaft zu machen und durch die offengelassene Möglichkeit des Anschlusses der anderen Balkanvölker einen Lösungsansatz für die Orientalische Frage zu bieten und damit sein Konzept attraktiv und akzeptabel zu machen.7
Die Balkan-Union der Konferenzen von 1930–1933
In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wurden der Föderationsgedanke und das Konzept der sozialen Reform bzw. der sozialistischen Revolution von den Agrarparteien und von den Linksgruppierungen, den Sozialisten und Kommunisten getragen. Damit wurde im Vergleich zu den beiden ersten Beispielen die Idee der engeren Zusammenarbeit und des Zusammenschlusses der Balkanstaaten von einer breiteren Bevölkerungsschicht getragen – dies gilt vor allem für die radikalen Agrarparteien in Kroatien (Stjepan Radič) und Bulgarien (Aleksandur Stoimenev Stambolijski).8 1923 und 1928/29 setzten sich in den beiden angesprochenen Balkanstaaten die Anhänger des Zentralismus und jene Gruppierungen durch, die eher der politischen Rechten zuzuordnen sind. Ende der zwanziger Jahre war man aber von einer befriedigenden Lösung der national-politischen und vor allem sozio-ökonomischen Probleme weit entfernt. Ja im Gegenteil, die Weltwirtschafskrise und vor allem die zunehmenden Schwierigkeiten der Agrarstaaten verschärften die Situation. Als neue Trägerschicht für die Bewältigung der anstehenden Probleme traten nun Persönlichkeiten des liberalen Lagers und gemäßigte Sozialdemokraten an. Das Ziel war jetzt nicht die radikale soziale Reform, eventuell der revolutionäre Umsturz, sondern Ausgleich und Friede nach innen und nach außen, vor allem die Bewältigung der sich auftürmenden wirtschaftlichen Probleme. In diesem Sinne wollte man die öffentliche Meinung gewinnen und den Druck der Öffentlichkeit auf die Regierungen wirken lassen. Sie sollten veranlasst werden, ihre Differenzen zu bereinigen, engere Beziehungen zueinander anzuknüpfen und in allen Bereichen, in der Wirtschaft, in der Sozial-, Verkehrs- und Bildungspolitik, im Gesundheitswesen und auch außenpolitisch zusammenzuarbeiten. Das Fernziel sollte eine Konföderation der Balkanstaaten in einer Balkan-Union sein.
Die Initiative für das Zusammenrücken ging vom griechischen Politiker Alexandros Papanastasiu (1879–1936) aus.9 Er setzt das Zusammentreten von offiziösen, halboffiziellen „Delegierten-Konferenzen” der sechs Balkanstaaten durch: von Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Griechenland und der Türkei. Die Zusammensetzung der Länderdelegationen wurde mit den jeweiligen Regierungen abgesprochen. Die Delegierten agierten auf den Zusammenkünften dann allerdings in Eigenverantwortung. Die Bedeutung der Konferenzberatungen wurde durch die Anwesenheit der Botschafter der Balkanstaaten unterstrichen. Für die vier Balkankonferenzen im Oktober 1932 in Bukarest und im November 1933 in Saloniki wurde eine eigene Organisationsstruktur mit Generalversammlung, Rat, Sekretariat und Nationalen Gruppen ausgearbeitet. Die meritorischen Beratungen erfolgten in sechs Kommissionen: Politik, Kultur und Wissenschaft, Soziales und Gesundheit, Kommunikation und Verkehr, Wirtschaft, Heerwesen und Militär. Trotz aller sachbezogenen Schwierigkeiten und bilateralen Differenzen leisteten die Kommissionen seriöse Arbeit und legten den Regierungen der Balkanstaaten eine Fülle von fundierten Einzelvorschlägen vor.10
Es ist kaum möglich, auf alle Bereiche der Tätigkeit der Balkan-Konferenzen einzugehen. Exemplarisch darf daher kurz auf die Wirtschaftskommission und auf die Arbeit im politischen Bereich eingegangen werden.
Auf die äußerst schwierige ökonomische Lage der Balkanstaaten – man denke an die Weltwirtschafts- und Agrarkrise mit dem auftretenden Preisverfall und den Exportproblemen – wurde bereits hingewiesen. Die Sachlage verschärfte sich noch durch die Tatsache, dass alle betroffenen Staaten eine ausgesprochene Agrarstruktur aufzuweisen hatten – der Prozentanteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten betrug in Bulgarien 81 Prozent, in Jugoslawien 79 Prozent, in Rumänien 78 Prozent und in Griechenland 54 Prozent. Sie traten daher auf den sich bietenden Exportmärkten als Konkurrenten auf.11 Dadurch bedingt waren die Wirtschaftsstrukturen der Staaten nicht komplementär, daher ergaben sich auch Probleme bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit untereinander und bei einer allfällig angestrebten Zollunion. Ein Zeichen für diese Schwierigkeiten: Ihr wechselseitiges Handelsvolumen machte nur ca. 1/10 des Gesamthandels aus. Dennoch wurden zahlreiche Vorschläge zur Kooperation und zur Problembewältigung vorgelegt und angenommen. Beispielhaft seien hier angeführt: die Errichtung einer Balkanischen Handels- und Industriekammer, einer Balkanischen Landwirtschaftskammer, eines Inter-Balkan Getreidebüros und einer gemeinsamen Börse, eines Tabak-Büros, einer Zentral-Union der Genossenschaften. Des Weiteren wurden Vorarbeiten für eine Währungsunion eingeleitet. Im Jahre 1933 schließlich wurde in Saloniki der Entwurf eines regionalen Wirtschaftsvertrages für den Balkan vorgelegt. Er sah die Intensivierung des Handels untereinander durch Meistbegünstigung vor und strebte ein akkordiertes, gemeinsames Auftreten auf Drittmärkten an. Überdies wurde angeregt, eine permanente Wirtschaftskommission für die anstehenden Fragen zu installieren.
Ähnliche wirtschaftspolitische Vorschläge wurden in der Krise der Zwischenkriegszeit von französischen Ministerpräsidenten André Tardieu und dem ungarischen Nationalökonomen und Finanzexperten Elemér von Hantos für den Donauraum vorgelegt. Der erfolgreichen Realisierung stellten sich – ähnlich wie bei den Balkanstaaten – die Sonderinteressen der betroffenen Staaten und die mangelnde Kooperationswilligkeit der europäischen Mächte und der USA entgegen.12
Die größten Divergenzen traten erwartungsgemäß im Bereich der politischen Zusammenarbeit auf. Der status-quo-Politik der Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges stand das Bemühen Bulgariens entgegen, eine Teilrevision des Friedensvertrages von Neuilly durchzusetzen. Zusätzlich belastend wirkten das Problem der Minoritäten und die Makedonien-Frage. Die Allianz und das Naheverhältnis Albaniens zu Italien wurden in erster Linie von Jugoslawien moniert. Die Kommission sah sich veranlasst, bilaterale Gespräche der Balkanstaaten und ein jährliches Treffen der Außenminister vorzuschlagen. Verfassungsentwürfe für die angestrebte konföderierte Balkan-Union in den Jahren 1930–1932 wurden von den Konferenzteilnehmern nicht akzeptiert. Als Ausweg wurde ein Fragebogen über die Verfassungsstruktur der Union an die einzelnen Ländern-Delegationen ausgesandt. Es gab bloß eine einzige Rückmeldung: Griechenland, d.h. Papanastasiu sprach sich für einen „Staatenbund” nach dem Muster des „Deutschen Bundes”, nicht nach jenem der Schweiz, der USA bzw. des Deutschen Reiches aus. Da es zu keiner Einigung über die Struktur abzuschließenden Balkan-Union kam, sahen sich vier der Balkanstaaten, nämlich Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und die Türkei veranlasst, ähnlich der Kleinen Entente im Jahre 1934 den Balkanpakt als Instrument des Antirevisionismus abzuschließen. Damit war die erhoffte Balkan-Union, eine alle Staaten umfassende Konföderation, durch ein multilaterales Bündnissystem ersetzt worden.13
Die Balkan-Föderation 1944–1948
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in der ersten Nachkriegszeit vollzog sich in Jugoslawien, Bulgarien, Albanien und Rumänien ein gesellschaftspolitischer Wandel. Mit der Etablierung des Kommunismus hatte sich die Basis der Zusammenarbeit der Balkanstaaten nach ihrem eigenen Selbstverständnis geändert.
Betrachten wir die Ausgangsposition Jugoslawien unter Josip Broz-Tito. Primäres Ziel war 1. die Etablierung der kommunistischen Gesellschaftsordnung des neuen, föderativen Staates.
2. Wurde versucht die politische, ideologische und wirtschaftliche Verbindung zur Sowjetunion auszubauen. Parallel dazu strebte man – bei aller selbstbewussten Wahrung der Eigenständigkeit – die Eingliederung in den „Ostblock” an, in dem Jugoslawien unter der Führung der UdSSR eine mitgestaltende, eine führende Rolle spielen wollte.
3. In Anlehnung an die Pläne und Vorstellungen der kommunistischen Parteien des Balkans in der Zwischenkriegszeit und der Haltung der Komintern wollte man eine Annäherung der Balkanstaaten erreichen. Denn auf neuer marxistischer Basis und mit internationaler Solidarität könne man nun die starken Spannungen und den alten Streit um Sonderprobleme (Makedonia z.B.) viel leichter beseitigen. Das Ziel war eine „Balkan-Föderation”, das Umlegen des innerjugoslawischen, neuen, sozialistischen Föderalismus auf die unmittelbaren Nachbarn, ja auf ganz Südosteuropa und eventuell sogar darüber hinaus. Den Anfang sollte die jugoslawisch-bulgarische Föderation machen.
Der erste konkrete Vorstoß erfolgte von jugoslawischer Seite. Im November 1944 befand sich Edvard Kardelj an der Spitze einer jugoslawischen Delegation in Sofia. Im Rahmen der bilateralen Gespräche legte er mit geschickter Berufung auf den Versuch Aleksandur Stoimenov Stambolijskis (1923) die Idee einer Föderation vor. Bulgarien und Jugoslawien sollten einen gemeinsamen Staat mit gemeinsamer Volksvertretung und Regierung bilden. Bulgarien sollte als 7. Teilrepublik der Föderation beitreten, das jugoslawische und das „bulgarische” Mazedonien vereinigt werden. Noch waren die Bulgaren etwas zurückhaltend. Sie wollten die Parität zwischen dem jugoslawischen und dem bulgarischen Teil Gegenwart wissen. Sie ließen aber durchaus erkennen, dass sie an einer Annäherung, an einer Zusammenarbeit und an einem eventuellen Zusammenschluss interessiert seien. Es kam zu einer Intensivierung der bilateralen Gespräche, der wechselseitigen Zusammenarbeit. Vor allem aber häuften sich die positiven Meinungsäußerungen zur Föderation auf beiden Seiten. Tito und Dimitrov rechneten fest mit der Zustimmung der Sowjetführung zum vorgesehenen Föderationsprojekt, in das die Jugoslawien gerne auch Albanien miteingeschlossen hätten.14
Am 1. August 1947 wurde in Bled nach Gesprächen zwischen Tito und Georgi Dimitrov ein Abkommen über die Ausarbeitung eines Beistandspaktes und einer Zollunion unterzeichnet. Diese beiden Verträge wurden nach vorheriger Information der Sowjetunion am 27. November 1947 von Tito und Dimitrov in Sofia unterzeichnet. Bei dieser Gelegenheit gab Tito folgende Erklärung ab: „Wir werden eine so allgemeine und enge Zusammenarbeit herbeiführen, daß die Frage einer Föderation nur noch eine Formalität sein wird...”15
In der Zwischenzeit hatten allerdings die Spannungen zwischen der jugoslawischen und der sowjetischen Führung zugenommen (gemischte Gesellschaften, Verhalten der sowjetischen Berater, Äußerungen über den Volksbefreiungskrieg, Aufbau eines eigenen Agentennetzes in Jugoslawien – Selbstbewusstsein der Jugoslawen, zahlreiche bilaterale Gespräche mit anderen Ostblockführern, eigener Weg bei der Kollektivierung etc.).
Anlass für eine dezidierte und konkrete Meinungsäußerung der Sowjetunion zu den Föderationsabsichten bot ein Radiointerview Georgi Dimitrovs am 21. Jänner 1948, nach Abschluss der bulgarisch-rumänischen Zollunion in Bukarest. Dimitrov deutete zwar an, dass die Etablierung einer Föderation oder Konföderation der Volksdemokratien auf breiterer Basis noch „verfrüht sei”. Er fuhr dann weiter fort: „Wenn die Frage reif geworden ist – was unweigerlich einmal der Fall sein wird –, werden unsere Völker sie lösen, und zwar die volksdemokratischen Nationen: Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien, Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und Griechenland – merken sie sich das, auch Griechenland! Sie werden dann entscheiden, was einmal sein soll – ob eine Föderation oder Konföderation, und ebenfalls wann und wie sie abgeschlossen werden soll. Ich kann nur sagen, dass bereits heute unsere Völker alles dafür tun, die Lösung dieser Frage für die Zukunft außerordentlich zu erleichtern. Ich darf noch besonders betonen, dass unsere Völker, wenn es einmal zu einer solchen Föderation oder Konföderation kommen sollte, die Imperialisten vorher nicht um Rat fragen und auf ihre Opposition nicht hören, sondern die Frage selbständig lösen werden, so wie es ihr eigenes Interesse und das Interesse der internationalen Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Nationen verlangt.”16
Die sowjetischen Reaktionen waren eindeutig ablehnend. In einer Pravda-Erklärung vom 28. Jänner 1948 hieß es, „...dass diese Länder keine derart fragwürdige und künstlich erzeugte Föderation oder Konföderation oder etwa eine Zollunion nötig haben; was sie brauchen, ist die Konsolidierung und Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und Staatshoheit durch die Mobilisierung und Organisierung der demokratischen Kräfte ihrer Völker im eigenen Inneren...”17
Georgi Dimitrov war gezwungen, sich bereits zwei Tage später von seiner Erklärung vom 21. Jänner zu distanzieren. Doch damit allein gab sich Stalin nicht zufrieden. Spitzendelegationen der beiden Balkanländer wurden nach Moskau zitiert. Dimitrov leitete die bulgarische Delegation, Tito war nicht gekommen, die Jugoslawen waren durch Djilas, Kardelj und Bakarič vertreten. In einer langen Nachtsitzung am 10. Februar verurteilte Stalin in scharfer Form das Vorgehen und die Haltung der beiden Staaten, vor allem ihre Föderations- und die darüber sachlich und räumlich hinausgehenden Konföderationsbestrebungen. Sie wären in keiner Weise mit der UdSSR abgestimmt worden. Damit war das Verdikt über die neuen Föderationsbemühungen ausgesprochen, der definitive Bruch mit Tito am 28. Juni 1948 setzte den endgültigen Schlusspunkt.18
Die vorgebrachten Beispiele und die vielen unerwähnt gebliebenen Föderationsvorschläge für Südosteuropa werfen eine Fülle von Fragen auf über die Motivation der Propagatoren, die Trägerschichten selbst und deren Zusammensetzung, die Ideologie und Genesis des südosteuropäischen Föderalismus, dessen Beeinflussung von außen, seinen Stellenwert und seine Einordnung, ob er – abgesehen vom binnenjugoslawischen Modell – nur als vergeblich angestrebte Utopie, als Gestaltungsprinzip mit mystischer Problemlösungskapazität, als idealistisches, eschatologisches Ziel einzustufen ist, und schließlich über jene Ursachen, warum diese grenzübergreifenden Föderationsbemühungen nicht verwirklicht werden konnten.
Zu den Motivationselementen des Föderalismus:
– Ausgangspunkt war zweifellos die Auffassung, dass sich auf Grund der multiethnischen Struktur in Südosteuropa eine rein nationalstaatliche Lösung der Grenzfragen nicht befriedigend, nicht alle Großgruppen befriedigen erzielen lässt.
– Die Völker strebten danach, die national-politische Fremdbestimmung und die so empfundene Unterdrückung durch die vorgegebenen multinationalen, zentralen Großreiche (Habsburgermonarchie und Osmanisches Reich) durch eine konsensuale Selbstbestimmung und durch den wechselseitig zugestandenen Freiheitsraum in einer selbst festgelegten, freiwillig eingegangenen Konföderation zu ersetzen. Dies stand unter dem häufig und immer wiederkehrend angesprochenen Motto: „Der Balkan den Balkanvölkern”!
– Der letzte Ansatz leitet zu einer weiteren Motivationsüberlegung über: Die Konföderation als stabilisierende, friedenssichernde Emanzipations- und Schutzgemeinschaft der kleineren Völker gegen die Dominanzansprüche der überlagernden bzw. bedrohenden Großmächte in der Nachbarschaft.
– Und diese homogenisierte, stabilisierte größere Gemeinschaft konnte viel chancenreicher nach außen auftreten: als politisch, wirtschaftlich und geistig umfangreichere und potentere Gruppierung, als selbstbewusste Kraft.
– Die Harmonisierungswirkung wurde aber auch für den Binnenbereich erwartet: die Verständigung über die bisher aufgetretenen wechselseitigen Probleme und Differenzen.
Wer waren die Protagonisten, die Trägerschichten des föderalen Gedankens?
– In einer ersten, frühen Phase – einsetzend bereits am Ende des 18. Jahrhunderts – sind vom Geist der Aufklärung, der radikalen Aufklärung der Französischen Revolution geprägte Einzelpersonen zu nennen, wie z.B. der Grieche Rigas Pheraios Velstinlis.
– Ihnen folgten die Vertreter einer begüterten, z.T. in den Randgebieten des Osmanischen Reiches ansässigen bzw. vornehmlich in Zentralorten außerhalb der Türkei sitzenden Kaufmannschicht (Odessa, Bukarest, Ofen und Pest, Triest, Venedig, Wien etc.).
– Die neuaufsteigende bürgerliche, z.T. frühliberale, aber auch die konservativdynastisch eingestellte Intelligenz der einzelnen Balkanvölker berief sich auf alte, mittelalterliche Legitimität, auf das historische wie auch auf das Naturrecht.
– Anstöße kamen aus den Krisen der Emigration bzw. aus dem nichtsüd-osteuropäischen Bereich (Czartoryski, Zach, Canini, Klapka, Kossuth, Mazzini etc.). Hier wären vor allem auch die zahlreichen Konföderationspläne der Emigration während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu erwähnen.
– Bereits auf eine breitere Basis konnten sich die Persönlichkeiten des radikalen Lagers stützen, seien es die Agrarparteien, seien es die Linksgruppierungen der Zwischenkriegszeit und nach 1945 die Kommunisten.
– Die führenden Köpfe des liberalen Lagers wie der gemäßigten Sozialdemokratie wurden in der Weltwirtschaftskrise in erster Linie und im Gegensatz zum 19. Jahrhundert von wirtschafts- und finanzpolitischen Überlegungen bei ihren Föderationsabsichten geleitet.
Zur ideologischen Basis des südosteuropäischen Föderalismus und zu den bisher noch nicht erwähnten Einflüssen von außen sind zu zählen:
– Die Orientierung nach ausländischem Muster, nach der Schweiz, nach den Vereinigten Staaten von Amerika, nach dem Deutschen Bund etc.
– Die Abstützung auf theoretisch angelegte Überlegungen zum Föderalismus wie zum Nationalismus, die zwar zum Teil bekannt ist, die aber noch einer genaueren Untersuchung bedarf: der Einfluss von Montesquieu, Kant, Schlözer, Herder, der Slawophilen und Panslawisten, von Tocqueville, Proudhon, der radikalen russischen Denker, von Constantin Frantz, Gierke und Aristide Briand.
– Zu beachten ist die eigenartige Wechselbeziehung, in welcher die beiden Integrationsbewegungen der Neuzeit zueinander stehen: der Nationalismus und der Föderalismus. Dies dokumentiert sich gerade in Südosteuropa ganz deutlich. Denn beide Konstruktionsprinzipien bewegen sich in Richtung Einheit, Homogenität, Sicherheit und Friedenssicherung, gehen aber von gegensätzlichen Prämissen, von unterschiedlichen Erwartungshaltungen aus: Nationalstaatliche Integration und das Streben nach föderativen Zusammenschluss stehen in dialektischer Beziehung zueinander wie These und Antithese.
Zum Abschluss ein kurzer Blick auf die Gründe des Scheiterns der Konföderationsbestrebungen in Südosteuropa: im außenpolitischen und im inneren Bereich. Außenpolitische Ursachen sind die Hegemonieansprüche einer oder gar mehrerer Großmächte, der Entzug der zeitweise gewährten Unterstützung durch eine Großmacht, die die Balkanvölker und deren Emigration nur als Werkzeug für der eigene Politik angesehen hatte, und die einer Konföderation wenig günstige gesamteuropäische und globale Situation. Dazu kommt noch, dass des Öfteren die „uniformierte”, mit der tatsächlichen Entwicklung im Inneren nicht vertraute Utopie der Außenstehenden, vor allem der Emigration, abgelehnt wird.
Die inneren Ursachen sind ebenfalls vielfältig und können nur demonstrativ angerissen werden. Die inneren Differenzen zwischen den südosteuropäischen Völkern respektive Staaten, das Überschneiden der wechselseitigen Expansionsbestrebungen der jeweiligen Binnenimperialismen führten häufig zu Mentalreservationen bei den Föderationsvorschlägen: Die eigene Zielsetzung stand im Vordergrund, den anderen gegenüber war man bloß zu Scheinkonzessionen bereit. Vor allem erwiesen sich die traditionellen, nationalen Antagonismen, die Feindbilder, die Heterostereotypen als wirkungsstärker als der Wunsch nach Verständigung, nach Vereinigung im Sinne des Großraumdenkens. Dadurch standen die kaum verdeckten Vormachtansprüche der einen oder anderen Seite einem ausbalancierten Gleichgewicht innerhalb der Konföderation entgegen. Über den Aufbau und das Funktionieren des angestrebten Bundes, ob er eher eine Föderation oder eher eine Konföderation sein sollte, herrschten nur diffuse, manchmal widersprüchliche Vorstellungen. In den meisten Fällen fehlte den Föderationsbestrebungen die nachhaltige Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten. In Anbetracht der zahlreichen Schwierigkeiten kam man gar nicht soweit, die konkret anstehenden Probleme der Zusammenarbeit einer fundierten Sachlösung zuzuführen. Die Konföderation blieb aufschlussreiche Utopie.
Anmerkungen
1 Ein summarischer Hinweis auf die Literatur soll genügen: Georg LAFORET, Föderalismus und Gesellschaftsordnung. Umrisse einer Philosophie des Föderalismus (Augsburg 1947); Franz W. JERUSALEM, Die Staatsidee des Föderalismus (Tübingen 1949); Robert A. KANN, Ein Beitrag zur Problematik des abendländischen Föderalismus. – Bewegung und Gegenbewegung. In: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag, hrsg. vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung und von der Wiener Katholischen Akademie (Graz/Wien/Köln 1965, 587–611); Franz DEUERLEIN, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips (München 1972); Klaus von BEYME, Föderalismus. In: Marxismus im Systemvergleich, hrsg. von C.D. KERNIG, Politik 1. red. Klaus von Beyme, 250–275; Karl Heinz WALPER, Föderalismus (Berlin 1966); Hans LENTZE, Föderalismus und Zentralismus in der europäischen Geschichte. In: Der österreichische Föderalismus und seine historischen Grundlagen (Wien 1969), 5–19.
2 M. MUKIEL, Czartoryski and Eropean Unity 1770–1861 (Princeton 1955); vgl. noch: Joachim Kühl, Föderationspläne im Donauraum und in Ostmitteleuropa (München 1958) 17 ff.; Rudolf WIERER, Der Föderalismus im Donauraum (Schriftenreiche des Forschungsinstituts für den Donauraum 1, Graz/Köln 1960) 59 f.
3 Wolf Dietrich BEHSCHNITT, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830–1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie (Südosteuropäische Arbeiten 74, München 1980) 54–65; Charles JELAVICH, Garašanin Nač ertanije und das großserbische Programm. In: Südostforschungen 27 (München 1968) 131–147; Dragoslav STRANJAKOVIC, Kako se postalo Garašaninovo „Nač ertanije” (Wie Garašanins „Nač ertanije” entstanden ist). In: Spomenik 91 (Beograd 1939) 65–115.
4 Vgl. KUKIEL, Czartoryski.
5 KÜHL, Föderationspläne 19–24; WIERER, Föderalismus 60–64; Robert A. KANN, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen von Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Ost, 5, Graz/Köln 1964) 2. Bd., 118 ff.: Gyula MÉREI, Föderációs tervek Délkelet-Európában és a Habsburg Monarchia 1840–1918 (Föderationspläne in Südosteuropa und die Habsburgermonarchie 1840–1918) (Budapest 1965) 70–85; Endre KOVCS, A Kossuth emigráció és az európai szabadságmozgalmak (Die Kossuth-Emigration und die europäischen Freiheitsbewegungen) (Budapest 1967).
6 Lefton S. STAVRIANOS, Balkan Federation: A History of the Movement Toward Balkan Unity in Modern Times (Hamden, Conn. 1964); KÜHL, Föderationspläne: WIRER, Föderalismus.
7 MÉREI, Föderációs tervek; KOVÁCS, Kossuth-emigráció; Jen KOLTAY-KASTNER, A Kossuth emigráció Olaszországban (Die Kossuth-Emigration in Italien) (Budapest 1960).
8 Zu Radič vg.: STAVRIANOS, Balkan Federation 214 f.; Andreas MORITSCH, Die Bauernparteien bei den Kroaten, Serben und Slowenen. In: Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert (Stuttgart/New York 1977) 359–402; Milan MARJANOVIČ , Stjepan Radič (Beograd 1938); Bogdan KRIZMAN, Stjepan Radič . Zivot, misao, delo. In: Korespondencija Stjepana Radiæa, 1. Bd (Zagreb 1972) 65–70. – Zu Stambolijski vgl.: STAVRIANOS, Balkan Federation 197, 202–206, 208–211; WIERER, Föderalismus 165 f.; Kunju KOZUCHAROV, Aleksandur Stambolijski. Biografič en oč erk (Sofia2 1968).
9 KÜHL, Föderationspläne 94 f.; STAVRIANOS, Balkan Federation 224 ff.
10 STAVRIANOS, Balkan Federation 223–236; KÜHL, Föderationspläne 94–98; vgl. desweiteren: T.I. GESHKOFF, Balkan Union. A Road to Peace in South-Eastern Europe (New York 1940): R.J. KERNER, H.N. HOWARD, The Balkan Conferences and the Balkan Entente 1930–1935 (Bekely 1936); N.J. PADELFORD, Peace in the Balkans. The Movement Towards International Organization in the Balkans (New York 1935).
11 League of Nations. Economic Commitee. The Agricultural Crisis 1 (Geneve 1931) 261 f.; STAVRIANOS, Balkan Federation 235–238.
12 WIERER, Föderalismus 177 ff.; KÜHL, Föderationspläne 46–50; Horst HASELSTEINER, Föderationen in Ostmittel-Europa. In: Festschrift zum 50 jährigen Bestand des Privatgymnasiums der Brüder der Christlichen Schulen (Wien 1978) 68 ff.
13 Holm SUNDHAUSSEN, Geschichte Jugoslawiens 1918–1980 (Stuttgart/Köln/Mainz 1982) 87 ff.; STRAVRIANOS, Balkan Federation 235–238.
14 Osteuropa-Handbuch: Jugoslawien, hrsg. von Werner MARKERT (Köln/Graz 1954) 162–165; Adam B. ULAM, Titoism and the Cominform (Cambridge 1952) 93 ff.; Hamilton F. ARMSTRONG, Tito and Goliath (Wien 1954) 310–315; SUNDHAUSSEN, Geschichte Jugoslawiens 149–159; WIERER, Föderalismus 186 f.
15 Osteuropa-Handbuch. Jugoslawien 162.
16 Vladimir DEDIJER, Tito. Autorisierte Biographie (Berlin 1953) 305 ff.; Jens HACKER, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939–1980 (Baden-Baden 1983) 395 f.
17 DEDIJER, Tito 306 f.; HACKER, Der Ostblock 396.
18 Adam B. ULAM, Expansion and Coexistence: Counterpoint in Soviet Foreign Policy. In: Problems of Communism 8/1959, 1–6; Milan BARTOS, Yugoslavia’s Struggle for Equality. In: Foreign Affairs 28/1949/50, 427–440; Piotre S. WANDYCZ, Recent Traditions of the Quest of Unity: Attempt Polish-Czechoslovak and Yugoslav-Bulgarian Confederations 1940–1948. In: Jerzy LUKASZEWSKI ed., The People’s Democracies after Prague. Soviet Hegemony, Nationalism, Regional Integration? (Bruges 1970) 35–99; DEDIJER, Tito 306 ff.; HACKER, Der Ostblock 396.